Rebecca Michéle
Die Erbin von Clashmore House
Roman
Michéle, Rebecca: Die Erbin von Clashmore House. Hamburg,
Dryas Verlag 2022
Originalausgabe
Epub-ISBN: 978-3-948483-75-3
Pdf-ISBN: 978-3-948-483-76-0
Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
Print-ISBN: 978-3-948483-74-6
Lektorat: Christa Pohl, Heßdorf
Korrektorat: Sabrina Hirsch, Ober-Ramstadt
Satz: Dryas Verlag, Hamburg
Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de)
Umschlagmotiv: © Polina Lebed / iStock / Getty Images Plus und © Franco Bissoni / stock.adobe.com
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Der Dryas Verlag ist ein Imprint der Bedey und Thoms Media GmbH,
Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.
© Dryas Verlag, Hamburg 2022
(1. Auflage 2022, Dryas Verlag, Hamburg)
Alle Rechte vorbehalten.
http ://www.dryas.de
Inhaltsverzeichnis
„EINS“
„ZWEI“
„DREI“
„VIER“
„FÜNF“
„SECHS“
„SIEBEN“
„ACHT“
„NEUN“
„ZEHN“
„ELF“
„ZWÖLF“
„DREIZEHN“
„VIERZEHN“
„FÜNFZEHN“
„SECHZEHN“
„SIEBZEHN“
„ACHTZEHN“
„NEUNZEHN“
„Nachwort und Danksagung“
EINS
Schottland – 1746
Das Quietschen der sich öffnenden Tür klang wie ein Schrei in der sonst stillen, tiefschwarzen Nacht.
»Wer ist da?« Heiser erklang eine Stimme aus dem Dunkel der windschiefen Bretterhütte.
»Ich bin es«, flüsterte die junge Frau und schlüpfte in die Kate. Erst nachdem sie die knarzende Tür hinter sich geschlossen hatte, entzündete sie die mitgebrachte Kerze. Die Fenster waren mit Läden verschlossen, so musste sie nicht fürchten, dass der Lichtschein nach draußen drang. Das nächste Haus lag zwar eine knappe Meile entfernt, dazwischen gab es nur freies, von Felsbrocken übersätes Hochland, in diesen Zeiten musste sie trotzdem vorsichtig sein und durfte nur wenigen Menschen vertrauen. »Ich bringe Euch Essen.«
Auf einem Strohsack in der Ecke kauerte eine Gestalt, die sich jetzt aufrichtete. Das Licht der flackernden Kerze fiel auf ein bartloses Gesicht mit vollen Lippen und hellbraunen Augen. Der Mann wirkte kaum älter als der freche Nachbarsjunge in ihrem Heimatdorf, der noch keine zwanzig war. Sie aber wusste, dass dieser Mann hier in der schmutzigen, zerrissenen Uniform, gerade mal vier Jahre älter, in seinem Leben bereits mehr erlebt hatte als andere in Jahrzehnten.
Dem mitgebrachten Korb entnahm sie einen in ein Tuch gewickelten Laib Haferbrot, ein Stück Käse und einen Krug Bier und legte alles auf den Hocker, das einzige Möbelstück in der kargen Behausung.
»Hat dich jemand gesehen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gewartet, bis alle zu Bett gegangen und die Lichter gelöscht waren.«
Er griff nach dem Krug, trank durstig, brach sich dann Stücke von Brot und Käse ab und kaute langsam.
»Das Brot ist trocken.«
»Verzeihung, Sir«, sagte sie leise. »Ich konnte nicht wagen, das frisch gebackene Brot mitzunehmen, in der Früh wäre es unweigerlich bemerkt worden. Morgen kann ich Euch vielleicht ein Stück Hammelbraten bringen.«
»Ich hasse Hammelbraten!« Unwillig runzelte er die Stirn. »Verdammt, wie lange muss ich noch in diesem Loch ausharren? Bis ich alt und grau bin oder bei lebendigem Leib von den Ratten aufgefressen werde?«
Sie verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass es in der Hütte keine Ratten gab. Die Gegend war so karg, dass selbst die hässlichen Nager kaum Nahrung fanden.
»Der Herr, dem Ihr die Nachricht habt zukommen lassen, wird sich bestimmt bald melden.« Ihre Stimme klang hoffnungsvoller, als ihr zumute war. »Ihr müsst Euch gedulden, Sir.«
»Geduld …« Zum ersten Mal lächelte er und wirkte mehr denn je wie ein großer Junge. »Ich mag viele Tugenden haben, Geduld gehört nicht dazu.« Er musterte sie mit einem eindringlichen Blick, der ihr Schauer über den Rücken jagte. »Ich wollte nicht unhöflich sein«, sagte er versöhnlich, »schließlich habe ich dir mein Leben zu verdanken. Wie ist eigentlich dein Name, Mädchen?«
»Fionnghal.«
»Fionnghal«, wiederholte er. Er betonte den Namen mit dem weichen, singenden Akzent, der seiner Stimme zu eigen war. »Ein guter, alter schottischer Name.«
Sie nickte. »Einst gehörte meine Familie zu einem der größten und mächtigsten Clans der Inseln«, sagte sie stolz.
»Dann hat dein Vater für die große Sache tapfer gekämpft.« Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Leider nicht, Sir. Er starb kurz nach meiner Geburt. Meine Mutter hat wieder geheiratet, und auch mein Stiefvater ist Euch ergeben.«
»Getreue gibt es inzwischen nur noch spärlich«, sagte er bitter.
»Ihr müsst Vertrauen haben, Sir. Mögt Ihr im Moment auch verloren haben, Eure Zeit wird kommen. Eines Tages wird Schottland wieder …«
»Nein, Mädchen!« Herrisch schnitt er ihr das Wort ab. »Ich mag zwar jung sein und des Lebens unerfahren – nichts weiter als ein haltloser Aufschneider, wie meine Feinde behaupten, die Realität sehe ich dennoch. Es ist vorbei, unwiderruflich vorbei. Ich hatte meine Chance, bin aber aufs Schändlichste hintergangen und verraten worden.«
Sie schwieg, denn ihr fiel kein Argument ein, das seine Meinung hätte widerlegen können. Auch wenn sie erst zweiundzwanzig Jahre zählte, in einer guten Familie behütet und in finanziellem Wohlstand aufgewachsen war, war sie dennoch nicht weltfremd. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass der junge Herr ein weiteres Mal die Gelegenheit bekommen würde, sein von Gott gegebenes Recht einzufordern.
Er verspeiste den Käse und das Brot bis auf den letzten Krümmel, das Bier teilte er sich ein. Dann stand er auf.
»Ich möchte spazieren gehen, Mädchen.«
»Jetzt?«
»Es ist mitten in der Nacht, weit und breit ist kein Mensch, und wenn ich nicht an die frische Luft komme, werde ich noch verrückt.«
Aufmerksam sah sie sich um, als sie die Hütte verließen. Die Feinde lauerten überall. Nicht nur sein, auch ihr Leben wäre verwirkt, würden sie entdeckt. Am schwarzen Himmel funkelten vereinzelt Sterne, so konnten sie nur wenige Yards weit sehen. Fionnghal, die sich in der Gegend auskannte, führte ihn zum nahegelegenen See. Das Wasser war vollkommen ruhig, und er ließ sich auf einen Felsbrocken am Ufer nieder.
»Setz dich zu mir«, forderte er sie auf.
Der Stein war so schmal, dass sich ihre Körper berührten. Als er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie an sich zog, verkrampfte sich ihr Körper.
Schmunzelnd fragte er: »Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?«
»Nein, Sir, natürlich nicht«, versicherte sie hastig. Angst empfand sie in seiner Nähe wahrlich nicht.
»Ich bin dir sehr dankbar, Fionnghal. Deine nächtlichen Besuche sind die einzigen Lichtblicke in dieser trostlosen Zeit. Sag, Mädchen, hast du einen Liebsten?«
»Aber Sir!«
»So abwegig ist meine Frage nicht. Du bist eine attraktive junge Frau im heiratsfähigen Alter. Sag, gibt es jemanden, dem dein Herz gehört?«
Seine romantische Ausdrucksweise berührte sie. Er dachte wohl nicht daran, dass sie in naher Zukunft einen Mann würde heiraten müssen, den ihr Stiefvater ausgewählt hatte. Gefühle spielten in einer Ehe keine Rolle. Das war in ihren Kreisen üblich, und Fionnghal kannte es nicht anders. Wenn sie aufrichtig zu sich selbst war, dann musste sie sich eingestehen, dass es durchaus jemanden gab, der ihr Herz berührte, obwohl sie ihn erst wenige Tage kannte. Für sie war er der schönste Mann, der ihr je begegnet war. Ihn umgab eine Aura, der sie sich nicht entziehen konnte. Trotz seiner Jugend strahlte er etwas aus, das im letzten Jahr Tausende so sehr in den Bann gezogen hatte, dass sie ihm euphorisch gefolgt waren – viele bis in den Tod. Jeden Abend betete Fionnghal zu der Heiligen Jungfrau, sie möge dafür sorgen, dass er seinen Feinden bald entkommen konnte, auch wenn dies für sie bedeutete, ihn niemals wiederzusehen.
Sie räusperte sich. »Ich muss zurückgehen, Sir. Nicht, dass meine Mutter aufwacht und bemerkt, dass ich nicht in meinem Bett bin.«
Sie machte sich von ihm frei und stand auf. Auch er erhob sich, legte zwei Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. Er war nur wenig größer als sie, das schwache Mondlicht spiegelte sich in seinen schönen Augen.
»Bekomme ich einen Kuss, Fionnghal?« Sein charmantes Lächeln ging ihr durch und durch. »Mit einer süßen Erinnerung auf den Lippen könnte es mir gelingen, endlich Schlaf zu finden, anstatt mich ruhelos von einer Seite auf die andere zu wälzen, stets in der Furcht, mein Leben könnte jeden Augenblick vorbei sein.«
Sie atmete schneller und wehrte sich nicht, als sich seine vollen, sinnlichen Lippen auf ihre senkten. Alles in ihr schien bei diesem Kuss zu lodern, doch heftige Gefühle ließen sie wanken. Er würde sie verlassen, sie selbst tat alles dafür, damit es bald geschehen konnte. Niemals würde er in dieses Land zurückkehren können, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen. Heute und hier wollte sie den Moment jedoch genießen und nicht an die Zukunft denken.
Als seine geschickten Finger begannen, ihr Mieder aufzuschnüren, wusste sie, dass sie niemals einen anderen Mann derart innig würde lieben können.
ZWEI
Schottland – August 1997
Clashmore …
Das länglich-schmale Ortsschild war zur Hälfte von einem üppig blühenden Ginsterbusch überwuchert. Pamela sah es erst im letzten Moment. Sie bremste ab und atmete erleichtert auf. Vor fünf Stunden war sie auf dem Flughafen von Glasgow gelandet, hatte den Mietwagen in Empfang genommen und sich durch den dichten, stockenden Verkehr auf der M8 erst nach Osten und dann nach Norden gequält. In der ersten Stunde hatte sich Pamela mit schweißnassen Händen ans Lenkrad geklammert. Zum ersten Mal in ihrem Leben fuhr sie einen Wagen mit Rechtssteuerung und im Linksverkehr musste sie sich erst zurechtfinden. Bei einem kleinen Rasthaus am Rand von Inverness hatte sie eine Pause eingelegt. Der Kaffee war gefriergetrocknet und lauwarm, der Schinken auf dem Sandwich hatte nach Gummi geschmeckt, aber die Waschräume waren einwandfrei sauber gewesen. Nach der Stadt waren die Straßen eng und kurvig geworden. Immer wieder hatte Pamela anhalten müssen, um sich auf der Straßenkarte, die ausgebreitet auf dem Beifahrersitz lag, zu orientieren.
Die Worte der Großmutter klangen in ihren Ohren: »Das Dorf Clashmore liegt am Fuß der Clashmore Berge, im Tal des Flusses Clashmore.«
Pamela hatte gelacht. »In Schottland hat wohl alles nur einen Namen.«
Louisa Davison war ernst geblieben. »Pam«, sie nannte ihre Enkelin meistens beim Kosenamen, »du wirst in Schottland eine völlig andere Landschaft und Infrastruktur als bei uns vorfinden. Atlanta hat zwar auch viele historische Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, drüben jedoch«, Louisas Blick aus den sherryfarbenen Augen, die auch im Alter nichts von ihrem Glanz verloren hatten, verklärte sich, »in Schottland sind einhundert Jahre lediglich ein Wimpernschlag der Geschichte. Häuser, die so alt sind wie hier in Atlanta, gelten dort als Neubauten.«
»Hast du deine Heimat jemals vermisst, Grandma?«
»Meine Heimat ist Atlanta.« Entgegen ihrer entschlossenen Worte fiel ein Schatten über das runzlige Gesicht der Frau. Vor drei Wochen war Louisa Davison achtzig Jahre alt geworden, körperlich setzten ihr die typischen Alterswehwehchen zu, aber geistig war sie absolut fit. Sie streckte den Arm aus, ihre feingliedrigen Finger schlossen sich um das Handgelenk der Enkelin. »Pam, ich werde bald von dieser Erde abberufen werden. Nein, widersprich mir nicht«, rief sie, als Pamela den Mund öffnete. »Mit dem Tag unserer Geburt ist gewiss, dass wir sterben werden, der eine früher, der andere später. Mein Leben war erfüllt – nicht immer von Höhen geprägt, ich musste auch dunkle Täler durchschreiten und war manches Mal kurz davor zu verzweifeln, aber alles, was geschah, hat mich zu der Frau gemacht, die ich heute bin.«
Erwartungsvoll sah Pamela ihre Großmutter an. Sie kannte Louisa Davison als lebenslustige, optimistische Frau, immer ein Lächeln auf den Lippen und freundlich zu allen Menschen.
»Was hast du erlebt?«, fragte sie leise. »Was ist geschehen, das dich traurig gemacht hat?«
Louisa blieb die Antwort schuldig und wechselte das Thema: »Du hast alles? Die Flugtickets, die Buchungsbestätigung des Mietwagens, die richtigen Straßenkarten und die Unterlagen von Clashmore? Hast du alles verstanden oder noch Fragen? Du weißt, was du zu tun hast?«
Pamela nickte und klopfte auf die Umhängetasche, die neben ihrem Sessel stand.
»Mein Flug nach London geht morgen früh«, erwiderte sie. »Durch die Zeitverschiebung werde ich spät am Abend in Heathrow landen, dort in einem Hotel übernachten, und am nächsten Vormittag nach Glasgow weiterfliegen. So werde ich wohl in zwei Tagen in Clashmore sein. In dem Dorf muss ich mir eine Unterkunft suchen, aber du meinst, das sei kein Problem.«
Louisa nickte. »Es ist zwar Hauptsaison in Schottland, aber Clashmore liegt ziemlich abgelegen. Ich denke, du wirst ein gutes Bed & Breakfast im Dorf finden, in der Umgebung gibt es sicherlich kein Hotel.« Sie faltete die Hände im Schoß und sah Pamela eindringlich an. »Gebe Gott, dass alles reibungslos verläuft. Ich verlange sehr viel von dir, mein Kind. Wenn du die Angelegenheit lieber doch nicht machen willst, würde ich es verstehen.«
»Grandma!« Pamela beugte sich vor und küsste Louisas welke, warme Wange. »Du hast mich als Baby zu dir genommen, als dein Sohn, mein Vater, und meine Mutter gestorben sind. Du hast dich immer um mich gekümmert und dafür gesorgt, dass ich ein sorgloses und glückliches Leben hatte. Zum ersten Mal bittest du mich nun um einen Gefallen.« Schmunzelnd fügte sie hinzu: »Zumal du alle Kosten der Reise bezahlst, und ich wollte immer schon mal nach Europa.«
»Du rufst mich an, wenn du mit Mr Patterson gesprochen hast?«, fragte Louisa.
»Selbstverständlich, Grandma. Ich werde dem Makler Dampf machen, den Verkauf rasch abzuwickeln.«
Die Nachricht, dass ihre Großmutter ein Haus in Schottland besaß, hatte Pamela ziemlich überrascht, obwohl sie natürlich wusste, dass Louisa in Schottland geboren war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie mit ihrem amerikanischen Mann in die Staaten gekommen und hatte diese seither nicht wieder verlassen. Da Louisa auf weitere Fragen nicht antwortete und sich in ihr Schneckenhaus zurückzog, wenn man versuchte, sie zu etwas zu drängen, hatte es Pam dabei belassen. Nun wollte Louisa das Haus verkaufen, weil es für sie ein Klotz am Bein war, doch die alte Frau wollte es nicht allein dem Makler und die anschließenden Vertragsverhandlungen den Anwälten überlassen und hatte deshalb ihre Enkelin gebeten, nach Schottland zu reisen, um den Verkauf persönlich in die Wege zu leiten und zu überwachen. Schriftlich hatte Louisa zu einem ansässigen Makler Kontakt aufgenommen und ein Treffen am Tag nach Pamelas Ankunft in Clashmore vereinbart.
»Vielleicht hat der Makler schon einen Interessenten für das Haus. Da ich keinen hohen Betrag möchte, wird es sicher Kundschaft geben. Aber ich muss dir noch was sagen, Pam.«
»Grandma?«
Louisa griff nach Pamelas Hand und drückte sie fest. »Hör mir jetzt gut zu, mein Kind. Bevor das Haus neue Besitzer bekommt, musst du eine Kassette finden. Sie ist aus schlichtem Holz, etwa so groß wie ein Schulheft. Wenn du sie gefunden hast, musst du sie vernichten. Am besten verbrennst du den Kasten.«
»Eine Kassette? Verbrennen?«, wiederholte Pamela konsterniert. »Was ist drin? Schmuck? Warum soll sie vernichtet werden?«
»Pamela Davison, ich kann und werde deine Fragen nicht beantworten. Du brauchst nicht mehr zu wissen. Du musst mir in die Hand versprechen, dass du, wenn du die Kassette findest, ihren Inhalt vernichten wirst!« Louisas Blick fixierte den ihrer Enkelin. »Bevor er nicht zerstört ist, darf das Haus auf keinen Fall in fremde Hände übergehen.«
Das klang geheimnisvoll und weckte Pamelas Neugier. Sie sagte: »Klar, ich mach’s, Grandma. Wo finde ich die Kassette?«
»Ich kann dir nicht sagen, wo genau sie heute ist«, antwortete Louisa. »Geh zuerst in das Zimmer im ersten Stock am westlichen Ende des Korridors. Dort wirst du einen Schrank finden, wenn er überhaupt noch da ist. Schiebe ihn zur Seite. Ein hölzernes Wandpaneel ist locker. Vielleicht haben wir Glück, und die Kassette ist dort noch verborgen.«
»Ein Geheimversteck?« Pamelas Augen weiteten sich gespannt. »Was soll ich tun, wenn sie nicht da ist?«
»Dann musst du in den anderen Räumen suchen«, antwortete Louisa. »Ich habe dir alle Vollmachten ausgestellt, ergo kannst du im Haus frei ein und aus gehen und wirst ausreichend Zeit haben, nach der Kassette zu suchen. Wie ich dir bereits erklärte, kannst du in meinem Haus leider nicht wohnen.« Louise seufzte. »Clashmore steht schon lange leer, die Strom- und Wasserversorgung wird längst abgeschaltet sein, wenn die alten Leitungen überhaupt noch funktionieren. Deswegen kann ich für das Objekt auch nicht viel verlangen. Der neue Besitzer wird eine Menge investieren müssen, um das Haus wieder bewohnbar zu machen.«
Zum ersten Mal kamen Pamela Zweifel, ob der Verkauf wirklich schnell über die Bühne gehen würde.
»Wer sollte so ein altes Haus haben wollen?«, fragte sie. »Nichts gegen ein bisschen Romantik, aber irgendwo im Nirgendwo …«
»Viele Menschen suchen genau diese Einsamkeit und Ruhe, mein Kind.« Louisa küsste ihre Enkelin auf die Stirn. »Ich danke dir, dass du bereit bist, die weite Reise zu unternehmen und mir meinen letzten Wunsch zu erfüllen.«
»Ach, Grandma!« Lachend winkte Pamela ab. »Du wirst noch viele Wünsche haben und sie verwirklichen. Warum willst du mir nicht sagen, was es mit der ominösen Kassette auf sich hat?«
Bedeutungsvoll hob Louisa die Augenbrauen, und Pamela fragte nicht weiter. Sobald sie das Objekt gefunden hatte, würde sie wissen, was darin aufbewahrt wurde, denn die Großmutter hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie die Kassette nicht öffnen durfte.
Nun hatte sie ihr Ziel erreicht. In Flugzeugen konnte Pamela nicht schlafen, und die vergangene Nacht in London hatte den Jetlag auch nicht vertrieben. Heute würde sie früh zu Bett gehen, um morgen Nachmittag für das Treffen mit dem Makler ausgeruht zu sein. Zuerst brauchte sie aber eine gemütliche und saubere Unterkunft.
Durch das Dorf Clashmore zog sich eine lange, schnurgerade Straße, rechts und links kleine, zweistöckige Häuser. Pamela fragte sich, ob Louisas eines davon war. Wohl eher nicht, denn die Gebäude an der Hauptstraße waren alle in einem guten Zustand und sahen bewohnt aus. Die genaue Adresse hatte Louisa ihr nicht genannt und gemeint, in den ländlichen Gegenden Schottlands gäbe es keine Straßennamen, in der Regel hätten die Häuser nur Namen.
Pamela bremste und hielt vor einem zweistöckigen Pub aus grauem Stein mit dunkelgrün gestrichenen Fensterläden. Über der ebenfalls grünen Holztür baumelte ein metallenes Schild mit der Abbildung eines jungen Mannes in altmodischer Kleidung und Lockenperücke und den verschnörkelten Worten Bonnie Inn. Sie stieg aus und drehte am Knauf. Die Tür war verschlossen.
»Ich mach’ erst um sieben auf.«
Pamela fuhr herum. Sie hatte nicht bemerkt, dass ein gedrungener Mann mit einem struppigen, graugesträhnten Vollbart sich ihr genähert hatte. In seinem Mundwinkel hing eine brennende Zigarette. Obwohl Pamela nur mittelgroß war, reichte ihr der Mann gerade mal bis zur Schulter.
»Ich suche ein Zimmer«, sagte Pamela freundlich.
Die dunklen Augen des Mannes verengten sich, er musterte sie von oben bis unten.
»Bist nich’ von hier, was?«
»Ich komme aus den Vereinigten Staaten«, antwortete Pamela ehrlich. Sein Auftreten und das leicht schmuddelige Äußere stießen sie zwar ab, aber sie sehnte sich nach einer heißen Dusche, einem herzhaften Essen und einem weichen Bett.
»Was willste hier? Kommen selten Fremde ins Dorf.«
Er nuschelte mit starkem Akzent, manche Wörter erahnte Pamela mehr, als dass sie sie verstand.
»Meine Großmutter ist Schottin. Ich möchte ihre Heimat kennenlernen. Vermieten Sie Zimmer?«
Der Mann schüttelte den Kopf, nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel und deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite.
»Versuch’s bei Kirsty, die hat immer was frei. Das rote Haus mit den gelben Läden.«
»Danke. Gibt es in der Nähe ein Hotel?«
»Nee, wozu auch? Ich denk’, in Beauly könnt’s was geben. Weiß es aber nicht genau, war schon lange nicht mehr in der Stadt.«
Bei der Erwähnung von Beauly fiel Pamela ein, dass der Makler, den Louisa mit dem Verkauf ihres Hauses beauftragt hatte, dort sein Büro hatte. Vielleicht sollte sie sich besser in Beauly eine Unterkunft suchen? Andererseits war sie im Dorf Clashmore näher an Louisas Haus, in dem sie, neben dem Verkauf, eine Aufgabe zu erledigen hatte.
»Kann ich heute Abend bei Ihnen essen?«, fragte Pamela hoffnungsvoll.
»Nee, hab’ niemanden, der kocht. Bier und ’nen guten Whisky kannste haben. Von beidem hab’ ich reichlich.« Er tippte sich an die Stirn und schlurfte ohne Abschiedsgruß davon.
Pamela stieg wieder in den Wagen, fuhr ein paar Meter weiter die Straße entlang und in die Einfahrt des beschriebenen Hauses. Es war dreistöckig, im viktorianischen Stil erbaut, rechts und links neben dem Eingang zwei Erker mit bodentiefen Fenstern, die sich über zwei Stockwerke erstreckten. Das Haus sah ansprechend aus. Pamela wuchtete den Hartschalenkoffer, eine Reisetasche und ihr Beautycase aus dem Kofferraum und schleppte das Gepäck die drei Stufen zur Eingangstür hinauf. Sie war nur angelehnt. Pamela trat in eine kleine Lobby mit einem runden Tisch, zwei Stühlen und einem Tresen, der so etwas wie die Rezeption darstellte. Aus dem hinteren Bereich, der mit einem dunkelblauen Vorhang von der Lobby abgetrennt war, drangen die typischen Kommentare eines Fußballspiels.
»Hallo? Ist hier jemand?«
Als niemand erschien, schlug Pamela auf die Messingklingel auf dem Tresen. Prompt trat eine Frau hinter dem Vorhang hervor. Sie trug ein ärmelloses, mit bunten Blumen bedrucktes, Sommerkleid und war so füllig, dass ihr Kinn nahtlos in ihren Hals überging.
»Latha math«, begrüßte sie Pamela in gälischer Sprache und lächelte, dabei verschwanden ihre Augen nahezu in den umliegenden Hautfalten.
»Guten Tag«, erwiderte Pamela den Gruß. »Ich bin auf der Suche nach einem Zimmer.«
»Hm …« Die Frau kratzte sich am Kinn. Ihr Blick fiel auf Pamelas umfangreiches Gepäck, ein Lächeln zuckte in einem Mundwinkel. »Ich muss sehen, ob noch was frei ist. Ist schließlich Hauptsaison.« Sie nahm ein Buch und blätterte durch die Seiten.
An der Wand hinter ihr hingen vier altmodische Schlüssel mit Nummern. Für Pamela sah es nicht danach aus, als sei die Pension überfüllt. Dennoch wartete sie geduldig.
»Nummer drei ist frei«, sagte die Frau schließlich.
Pamela trat näher. »Wo muss ich mich eintragen?«
»Das ist nicht nötig. Ich brauche nur Ihren Namen.«
»Pamela Davison.«
»Ich bin Kirsty.«
»Kirsty …?«
»Lennox, für Sie einfach nur Kirsty.« Sie schmunzelte. »Wie lange werden Sie bleiben, Pamela?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Machen Sie Urlaub in Schottland?«, stellte Kirsty die nächste Frage. Wie der bärtige Mann verbarg sie nicht ihre Neugier. »Sie kommen aus Amerika, richtig?«
»Beides Mal ein Ja«, antwortete Pamela. »Ich würde jetzt gern auf mein Zimmer gehen. Kann ich bei Ihnen einen Kaffee und ein Sandwich bekommen?«
»Ein Wasserkocher ist auf dem Zimmer, zu essen mache ich nichts.«
Pamela hatte es befürchtet. In ihrem Magen klaffte inzwischen ein großes Loch. Hoffnungsvoll fragte sie: »Und Abendessen?«
Kirsty schüttelte den Kopf. »Bei mir gibt’s nur Frühstück. Versuchen Sie es bei Morag, die Straße hinunter. Sie macht die besten Sandwiches im ganzen Clashmore Valley.«
Pamela nahm den Schlüssel mit dem klobigen Holzgriff, auf dem die Nummer 3 in knallroter Farbe aufgemalt war, und griff nach ihrem Koffer.
»Colin!«, rief die Frau und schob den Vorhang beiseite. »Bring unserem Gast das Gepäck auf Zimmer drei.«
»Doch nicht jetzt! Die Rangers haben gegen die Celtics ein Tor geschossen, und Larsen kann …«
»Colin!« Kirstys Stimme wurde scharf. »Du kommst sofort her und hilfst Ms Pamela!«
»So ein Scheiß aber auch.«
»Colin, reiß dich zusammen!« Mit einem verlegenen Ausdruck sah sie zu Pamela. »Mein Sohn ist gerade in einem schwierigen Alter.«
Ein mittelgroßer, kräftig gebauter Teenager mit einem runden Gesicht und schulterlangen, strähnigen Haaren trottete aus dem Hinterzimmer. Er trug verwaschene Jeans und ein schmuddeliges T-Shirt. Aus wasserhellen Augen musterte er Pamela so unwillig, dass sie nahe dran war zu sagen, sie könne ihr Gepäck allein aufs Zimmer bringen. Colin schnappte sich den Koffer und die Reisetasche und stapfte die mit einem roten Teppich belegten Stufen hinauf. Pamela nahm das Beautycase und folgte ihm. Vor der rechten Tür im ersten Stock ließ er das Gepäck fallen, murmelte: »Rein schaffen Sie es wohl selbst«, und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Gleich darauf hörte Pamela, wie der Ton des Fernsehers lauter gedreht wurde, und dass die Mannschaft der Rangers ein weiteres Tor geschossen hatte.
Das Zimmer war quadratisch mit einem der Erkerfenster mit den bodentiefen Scheiben. Die Einrichtung war einfach und zweckmäßig. An der Wand befand sich das Waschbecken, eine weitere Tür, die in ein Badezimmer führte, gab es nicht. Sie ging zurück in den Flur und öffnete die Tür am Ende des Ganges. Hier fand sie das Badezimmer, musste aber feststellen, dass es keine Duschkabine gab. Lediglich eine Badewanne mit zwei Wassereinläufen und keine Handbrause. Pamela drehte am Hahn mit der verschnörkelten Aufschrift Hot. Es blubberte in der Leitung, alles, was jedoch herauskam, war ein Rinnsal. Und das war nicht mehr als lauwarm.
»Ziemlich rückständig«, murmelte Pamela. Notgedrungen würde sie heute auf ein Bad verzichten müssen. Nun, wenn alles glattging, war Louisas Haus in ein paar Tagen verkauft. Dann wollte Pamela nach Edinburgh fahren, sich in ein schickes Hotel einmieten und die Sehenswürdigkeiten der Stadt ansehen. Grandma war so großzügig, dass sie ihr erlaubte, noch ein paar Tage Urlaub dranzuhängen.
Urlaub … Pamela seufzte. Sie war ohne Arbeit und hatte immer Urlaub. Das war einer der Gründe, warum sie Louisas Bitte ohne zu zögern gefolgt war. Die Trennung von Joe hatte sie noch nicht verarbeitet, obwohl sie es gewesen war, die gegangen war. Vor drei Jahren hatte sie das Medizinstudium aufgegeben, weil Joe – ein erfolgreicher Schönheitschirurg – gemeint hatte, er brauche eine Frau, die ihm den Rücken freihält. Pamela hatte in einer prächtigen Villa am Stadtrand von Atlanta gewohnt, inmitten eines weitläufigen Gartens, der ebenso wie das große Haus und der Pool von Dienstboten gepflegt und instandgehalten wurde. Regelmäßig empfingen sie Gäste oder waren zu Dinnerpartys eingeladen, die Wochenenden verbrachten sie mit Tennis, auf dem Golfplatz oder beim Tanzen. Es war ein Luxusleben, das Pamela zunächst wie ein Traum vorgekommen war. Bald schon aber war ihre Beziehung zu Joe für Pamela zu einem Albtraum geworden, denn er sah sie als seinen Besitz an. Einen attraktiven, charmanten Besitz, den er seinen Freunden und solchen, die sich als Joes Freunde bezeichneten, präsentierte, um von ihnen beneidet zu werden. Er mochte ein ausgezeichneter Arzt sein, der mit dem Skalpell viele Frauen glücklich machte, privat war er ein Egomane und Narzisst. Über jeden Schritt, den Pamela ohne ihn tat, musste sie Rechenschaft ablegen, schließlich untersagte er ihr jegliche Kontakte zu ihren früheren Bekannten. Selbst die Besuche bei Grandma Louisa versuchte Joe zu unterbinden. Vor sechs Monaten hatte es ihr dann endgültig gereicht. Pamela hatte einzig ihre persönlichen Sachen, mit denen sie in die Villa eingezogen war, zusammengepackt und war heulend bei Louisa angekommen. Die alte Frau hatte keine Fragen gestellt, sondern ihre Enkelin tröstend in die Arme genommen, ihren köstlichen New York Cheesecake gebacken, für den Pamela alles andere stehen ließ, und das Bett in ihrem früheren Kinderzimmer frisch bezogen. Sie hatte Pamela auch nicht gedrängt, wieder zur Universität zu gehen oder sich einen Job zu suchen, und Pamela fühlte sich noch nicht dazu bereit. Joe war es gelungen, sie in Selbstzweifel zu stürzen. Regelmäßig hatte er ihr klargemacht, sie sei ohne ihn ein Nichts, ein Niemand, nur von ihm abhängig. Sie fühlte sich so unwichtig und bedeutungslos, als könnte ihr im Leben nie wieder etwas gelingen. Erst in den letzten Wochen war es langsam besser geworden, und dass Louisa diese verantwortungsvolle Aufgabe ausgerechnet ihr anvertraute, hatte Pamela einen Schub in Richtung Normalität gegeben. Lange genug hatte sie ihre Wunden geleckt, jetzt war es an der Zeit, das Leben mit beiden Händen wieder anzupacken und nach vorne zu blicken.
Nachdem Pamela ihren Koffer ausgepackt und ihre Kleidung in dem geräumigen Kleiderschrank verstaut hatte, spritzte sie sich Wasser ins Gesicht und zupfte ihr kinnlanges, dunkelblondes Haar zurecht. Ein lautes Knurren im Magen riet ihr, auf Make-up zu verzichteten, um schneller zu etwas Essbarem zu kommen.
Die Übertragung des Fußballspiels war inzwischen beendet, denn von hinter dem Vorhang hörte Pamela einen Mann über das Balzverhalten von Fasanen sprechen. Von Kirsty und ihrem Sohn war nichts zu sehen. Pamela verließ das Haus und wandte sich nach rechts. Am Ende der Straße hatte Kirsty erklärt, gäbe es Sandwiches. Pamela erreichte das kleine Café nach wenigen Minuten. Morag’s Sandwiches war in halbbogenförmiger blauer Schrift auf das Schaufenster gepinselt. Die Tür war allerdings verschlossen. Pamela klopfte und rief: »Hallo!«, doch im Café regte sich nichts. Vergeblich suchte sie nach einem Schild mit den Öffnungszeiten. Verflixt, es war doch erst sechs Uhr! Sie blickte die Straße entlang. Das Dorf hatte weder einen Bäcker noch Metzger, aber am Ende der Hauptstraße sah sie ein kleines Lebensmittelgeschäft. Pamela eilte auf das Haus zu, erkannte aber schon von Weitem, dass auch dieser Laden geschlossen war. Wie bei Morag’s gab es auch kein Schild mit den Verkaufszeiten. Pamela vermutete, dass wohl jeder öffnete und schloss, wie es ihm gerade in den Kram passte. Sie dachte daran, zurück nach Inverness zu fahren, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Auch wenn im Sommer in den Highlands die Sonne erst spät unterging – sie war erschöpft und müde und wollte nicht riskieren, hinter dem Steuer einzuschlafen.
»Hoffentlich gibt’s morgen ein gutes Frühstück«, murmelte sie, vergrub die Hände in den Jackentaschen und kehrte in die Pension zurück. Wenigstens konnte sie sich im Zimmer eine Tasse Tee aufbrühen, und ein Abend ohne Essen schadete ihrer Figur nicht. Joe hatte immer gesagt, an ihrem Körper gäbe es einige Problemzonen, an denen er Fett absaugen und die Haut straffen wollte. Pamela war froh, sich geweigert zu haben, dass Joe aus ihr ein Püppchen nach seinen Vorstellungen formte. Sie war zwar nicht dick, aber eine Frau mit weiblichen Rundungen, und inzwischen stand sie dazu. Ein weiterer, wichtiger Schritt beim Aufbau ihres Selbstwertgefühls.
Nach acht Stunden in tiefem, traumlosem Schlaf erwachte Pamela, als sie ein Sonnenstrahl an der Nase kitzelte. Zuerst dachte sie, sie hätte verschlafen. Der Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch sagte ihr aber, dass es erst zehn Minuten vor sechs Uhr war. Trotzdem stand sie auf, ging zum Fenster und schob es nach oben. Pamela sog die reine, frische Luft, in der ein Hauch von Torf lag, tief in ihre Lungen. Ihr Blick ging über die Dächer der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite, dahinter breitete sich eine grüne, hügelige Landschaft aus. Am Horizont erhoben sich karge, felsige Berge in einen nahezu wolkenlosen Himmel. In ihrem dünnen Pyjama fröstelte Pamela. Die Sonne täuschte. Ein Morgen in den Highlands war auch im Hochsommer kühl.
Pamela schlüpfte in ihren Bademantel, schnappte sich den Kulturbeutel und tappte durch den Korridor zum Badezimmer. Im Haus war alles noch still. Sie sehnte sich danach, sich richtig waschen zu können, und öffnete die beiden Wasserhähne an der Badewanne. Es dauerte fünfzehn Minuten, bis die Wanne so weit mit warmem Wasser gefüllt war, dass sie zumindest ein Sitzbad nehmen konnte. Das Haarewaschen war eine weitere Herausforderung. Es blieb ihr nichts anderes übrig als die bereitstehende, altmodische Porzellankanne immer wieder mit Wasser zu füllen, um sich das Shampoo auszuspülen. Glücklicherweise waren ihre Haare glatt und nur kinnlang, sonst hätte die Prozedur sicher länger gedauert. Pamela hüllte sich gerade in ihren Bademantel, als es an der Tür klopfte.
»Einen Moment, ich bin gleich fertig.«
Sie hörte eine weibliche Stimme mit einem harten Akzent rufen: »Lassen Sie sich Zeit, ich habe es nicht eilig.«
Als Pamela das Badezimmer verließ, traf sie auf eine junge Frau mit raspelkurzen, blonden Haaren. Sie trug ebenfalls einen Bademantel, unter ihrem Arm klemmte ein pinkfarbener Kulturbeutel.
»Hi, ich bin Rosemary«, stellte sie sich vor. »Blöd, dass es nur ein Badezimmer gibt. Gestern Abend waren mein Freund und ich aber zu müde, um nach einer anderen Unterkunft zu suchen.«
»Mir erging es ebenso«, erwiderte Pamela. Rosemary war ihr auf Anhieb sympathisch, ihren Akzent konnte sie indes nicht einordnen. Sie war keineswegs Schottin, wahrscheinlich auch keine Engländerin.
Zehn Minuten später hatte Pamela die Haare geföhnt, war angezogen und ging mit laut knurrendem Magen hinunter. Das Frühstück wurde in dem Zimmer serviert, das direkt unter ihrem lag und ebenfalls einen Erker mit bodentiefen Fenstern hatte.
Kirsty begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und erkundigte sich, ob sie gut geschlafen hatte.
»Wie ein Murmeltier«, antwortete Pamela fröhlich, denn sie hatte den Tisch entdeckt, auf dem Cornflakes, Obst, Joghurt und Milch standen. »Wo darf ich mich setzen?«
»Wo Sie wollen, Pamela.«
Sie wählte den Tisch im Erker mit Blick auf die Straße, und Kirsty fragte sie, wie sie ihre Eier mochte. Pamela entschied sich für Spiegeleier. Ihre Erwartung an das Frühstück wurde nicht enttäuscht, bis in einem Punkt: Auch hier gab es nur gefriergetrockneten Kaffee, den sich die Gäste mit heißem Wasser aus dem Wasserkocher selbst zubereiteten. Offenbar waren Filterkaffeemaschinen in Schottland unbekannt. Pamela brühte sich dann doch lieber einen Schwarztee auf, der in vier verschiedenen Sorten angeboten wurde. Neben dem Spiegelei wurden ihr zwei kleine, fette Schweinewürstchen, zwei kross gebratene Speckscheiben, eine Schöpfkelle gebackene Bohnen in Tomatensoße, gebratene Tomaten und Champignons, frittierte Kartoffelecken und Buttertoast serviert. Pamela mundete alles bis auf die Scheibe gebratener Blutwurst, die sie auf dem Teller zurückließ. Zum Nachtisch nahm sie sich einen Apfel aus dem Obstkorb. In diesem Moment kamen die junge, blonde Frau und ein großer, schlaksiger Mann in den Frühstücksraum. Er nickte Pamela zu.
»Ich bin Heiko.« Einen solchen Namen hatte Pamela nie zuvor gehört, und er fügte grinsend hinzu: »Rosemary und ich kommen aus der Schweiz. Eigentlich heißt sie Rose-Marie, das kann hier aber niemand aussprechen, auch nicht meinen Namen.«
»Wir wandern durch die westlichen Highlands«, erklärte Rosemary. »Machen Sie auch Urlaub in Schottland?«
Pamela nickte. Sie sah keine Veranlassung, dem jungen Paar, mochten sie noch so sympathisch sein, den Grund ihres Aufenthaltes in Clashmore zu erklären. Sie wünschte ihnen guten Appetit beim Frühstück und suchte nach Kirsty. Sie fand sie in der kleinen Küche, wo die Wirtin das benutzte Geschirr per Hand abwusch. Einen Geschirrspüler gab es anscheinend ebenso wenig wie eine Kaffeemaschine.
»Kirsty, darf ich Sie etwas fragen?«
»Nur zu, wenn ich die Antwort weiß.«
»Wo finde ich das Clashmore House?«
Aus Kirstys fleischigen Wangen wich alle Farbe, eine Tasse entglitt ihren Händen und zersprang auf dem hellen Fliesenboden. Kirsty schien es nicht zu bemerken. »Das Clashmore House?«, wiederholte sie heiser. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich möchte mir das Haus ansehen.«
»Warum?«
Mit gerunzelter Stirn antwortete Pamela: »Man hat mir von dem Haus erzählt. Es soll sich in diesem Dorf oder zumindest in der Nähe befinden.«
Kirsty sah sie nicht an. Dem Schrank unter dem Spülbecken entnahm sie einen Handbesen und eine Schaufel, bückte sich und fegte die Scherben zusammen. Dabei atmete sie schwer, was bei ihrer Körperfülle wohl von der Anstrengung des Bückens kam, und war sichtlich nervös. Pamela bemerkte das Zittern ihrer Hände.
»Können Sie mir nun sagen, wie ich zum Clashmore House komme oder nicht?«, fragte Pamela ungeduldig. »Sonst frage ich jemand anderen.«
»Das ist nicht nötig«, murmelte Kirsty, ohne Pamela anzusehen. »Ja, das Haus ist in der Nähe. Ich an Ihrer Stelle würde aber einen großen Bogen darum machen.«
»Warum? Spukt es dort etwa?«, fragte Pamela amüsiert. »Ich fürchte mich nicht vor weißen Frauen und kopflosen Reitern.«
Kirsty hob den nun hochroten Kopf und sah Pamela tadelnd an. »Nein, Geister gibt es in den Mauern von Clashmore keine, trotzdem sollten Sie besser nicht dorthin gehen. Es gibt in der Gegend andere Sehenswürdigkeiten, die sich mehr lohnen.«
»Wären Sie trotzdem so freundlich, mir den Weg zu beschreiben?«
Schwer atmend, eine Hand auf den Rand des Spülbeckens gestützt, zog sich Kirsty auf die Füße. »Nun gut, wenn Sie darauf bestehen. Sie müssen ja wissen, was Sie tun«, murmelte sie. »Aber beklagen Sie sich nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Nehmen Sie die Straße nach Westen, biegen Sie nach dem Wäldchen links ab, dann immer geradeaus. Der Weg endet direkt vor Clashmore House.«
»Das klingt, als läge es ziemlich weit außerhalb«, bemerkte Pamela nachdenklich.
»Etwa zwei Meilen, können auch drei sein«, erwiderte Kirsty. »Genau weiß ich es nicht, ich gehe nie dorthin.«
Pamela dankte und verließ die Küche, Kirstys Blicke im Rücken körperlich spürend. Auf die Reaktion der Wirtin konnte sie sich keinen Reim machen, nur vermuten, dass sich um Clashmore House wohl eine Legende rankte. Ihre Großmutter hatte ihr erzählt, in Schottland gebe es kaum ein altes Haus, in dem angeblich nicht irgendwann etwas Schreckliches geschehen war und es deshalb nicht mit rechten Dingen zuging. Clashmore House stand seit über fünfzig Jahren leer, kein Wunder, wenn die Einheimischen dachten, mit dem Haus stimme etwas nicht. Kirstys nebulöse Andeutungen hatten jedoch Pamelas Neugier geweckt. Sie wollte nicht bis zu dem Termin mit dem Makler am Nachmittag warten, sondern gleich einen Blick auf Louisas Haus werfen und sich einen ersten Eindruck verschaffen. Eigentlich hatte sie zu Fuß gehen und die frische Luft genießen wollen, wenn es aber wirklich drei Meilen waren, nahm sie besser den Wagen. Dass Louisas Haus so weit vom Dorf entfernt war, hatte sie nicht erwartet. Wer es kaufte, musste die Einsamkeit besonders lieben.
Kirsty hatte den Weg gut beschrieben, allerdings nicht erwähnt, dass die Straße nach dem Wald keine richtige Straße, sondern ein schlechter Feldweg war. Pamelas Mietwagen, ein Vauxhall Corsa Mk I, hatte sie zwar gut vom Flughafen Glasgow in die westlichen Highlands gebracht, für einen schmalen Pfad war er denkbar ungeeignet. Die Erde war matschig, in den Pfützen stand brackiges Wasser, und in der Mitte wucherten Gras und Unkraut. So schlecht der Weg auch war – irgendwie war es auch romantisch. Die Wipfel des hohen, dichten Gebüsches berührten sich über dem Weg und bildeten einen grünen Tunnel. Vor einem großen Schlammloch hielt Pamela an. Sie wollte nicht riskieren, dass sich der Wagen im Dreck festfuhr. Das Dorf war gute zwei Meilen entfernt, und in diese einsame Gegend verirrte sich wohl nur selten jemand. Pamela erinnerte sich daran, dass Joe mehrmals davon gesprochen hatte, sich ein mobiles Telefon anzuschaffen, das man überall hin mitnehmen und telefonieren konnte. Diese Teile waren jedoch recht klobig, zudem horrend teuer, außerdem bezweifelte Pamela, in den Highlands überhaupt Empfang zu haben. Nicht einmal das Mobilfunknetz des Bundesstaates Georgia war lückenlos erschlossen, und Amerika war sicher deutlich fortschrittlicher als Schottland. Sofort leistete Pamela stumme Abbitte über diesen Gedanken. Bisher hatte sie kaum etwas von Schottland gesehen und wollte kein vorschnelles Urteil fällen. Aber die beiden Hähne am Waschbecken und der Badewanne und die fehlende Brause waren wirklich nicht gerade fortschrittlich.
»Langsam bezweifle ich immer mehr, dass das Haus überhaupt jemand kaufen wird«, murmelte sie vor sich hin. Wenn der Feldweg die einzige Zufahrt war, musste der neue Eigentümer eine Menge Geld in die Hand nehmen, um eine asphaltierte Straße bauen zu lassen, denn im Winter, wenn Schnee lag, war hier wohl nur schwer ein Durchkommen.
Kirsty hatte nicht gesagt, wie weit es genau war, doch sie wollte lieber zu Fuß weitergehen. Beim Aussteigen versank sie bis zu den Knöcheln im Matsch. Er drang feucht und kalt von oben in ihre Schnürschuhe ein.
»Na, prima!«, rief sie ärgerlich. »Hoffentlich bekomme ich die Dinger jemals wieder sauber.« Zum Glück hatte sie ein zweites Paar feste Schuhe mitgenommen, wozu ihr Louisa geraten hatte.
VergnügenUnterhaltung
Pamela schätzte, etwa eine halbe Meile von ihrem Wagen entfernt zu sein, als sie die Kuppe des Hügels erreichte und sich die Bäume und das Gebüsch lichteten. Der Blick ging frei in ein schmales Tal, durch das ein Bach gurgelte. Hier stand ein dreistöckiges Haus, zwei Enden von runden, mit Zinnen bewehrten Türmen flankiert, aus deren Spitze jeweils zwei weitere, kleine Türmchen wie Ableger einer Pflanze hervorwuchsen. Ein Dutzend Kamine ragten aus dem Flachdach empor, die bleiverglasten Fenster im Erdgeschoss waren klein, die Front nahezu vollständig mit Efeu überwuchert.
»Das ist ja ein kleines Schloss!« Laut dröhnte Pamelas Stimme in der Stille der Natur. Grandma hatte nicht erwähnt, dass sich ihr Haus in der Nähe eines herrschaftlichen Gebäudes befand, das einer alten Ritterburg glich. Louisas Haus war wohl eines der Cottages, die früher die Pächter oder höhergestellten Bediensteten bewohnten. Da aus zwei der Kamine Rauch aufstieg, musste das schlossartige Anwesen bewohnt sein. Pamela wollte hingehen und nach dem Haus ihrer Großmutter fragen.
Im Tal angekommen sah sie, dass sich um das Grundstück eine meterhohe, zum Teil mit Unkraut überwucherte Mauer, zog. Ein großes Eingangstor war zwar vorhanden, um die massiven Eisenstäbe schlang sich allerdings eine rostige Kette mit einem Sicherheitsschloss. Es schien, als sei das Tor lange nicht mehr geöffnet worden. Pamela spähte durch die Gitterstäbe auf das etwa fünfzig Yards entfernte Haus. Aus der Nähe sah es längst nicht mehr so beeindruckend oder gar prachtvoll aus. Wo die Fassade nicht vom Efeu überwuchert war, bröckelte der Putz ab, die Mehrzahl der hölzernen Fensterrahmen waren morsch, die Scheiben schmutzig, die Fenster der oberen Stockwerke mit Brettern vernagelt. Auch auf dem Vorplatz und zwischen den Ritzen der fünf Steinstufen zur Eingangstür hinauf wucherten Unkraut und kleine gelbe Blüten. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Wäre nicht der Rauch aus den Kaminen, würde Pamela vermuten, das Haus sei unbewohnt.
Links neben dem Tor verlief entlang der Mauer ein Trampelpfad. Pamela folgte ihm, kam um eine Ecke und fand eine niedrige Pforte, halb zugewachsen von einem Busch mit blauen Blüten. Sie drückte auf die Klinke. Zu ihrer Freude sprang die Tür auf, und sie trat in einen erstaunlich gut gepflegten Garten auf der Westseite des Hauses. In mehreren Beeten wuchsen Kräuter wie Petersilie, Schnittlauch, Rosmarin und Thymian, in anderen gediehen Tomaten, Kohlrabi und verschiedene Blattsalate. Etwas weiter entfernt standen fünf mächtige Apfelbäume, die Kronen voll mit faustgroßen, gelb-roten Früchten, daneben eine üppige Hecke mit reifen, saftigen Brombeeren.
Pamela sah sich um. Der im Gegensatz zu der Verwahrlosung des Hauses akkurat angelegte Garten wies darauf hin, dass hier jemand wohnte. Sie fragte sich, wie die Leute auf das Grundstück kamen, wohl kaum durch die niedrige Pforte. Es musste eine zweite Einfahrt geben, die auch mit dem Auto passiert werden konnte – sofern man nicht schon auf dem Feldweg scheiterte. Wahrscheinlich fuhren die Leute hier Jeeps, um durch das unwegsame Gelände hierher zu gelangen. Einen Wagen konnte sie nicht entdecken, lediglich ein rostiges Fahrrad lag auf der Terrasse, die sich über die Westseite des Hauses zog und sich ebenso ungepflegt wie der Eingangsbereich präsentierte.
Sie hörte den Kies knirschen und drehte sich um. Ein riesiger Mann, sicher an die zwei Meter groß und mit Schultern wie ein Kleiderschrank, bog um die Ecke. Er schob eine Schubkarre vor sich her. Beim Anblick von Pamela blieb er stehen und blaffte: »Wie kommen Sie hier herein?«
Weder seine tiefe, raue Stimme noch sein Gesichtsausdruck waren freundlich. Am meisten überraschte Pamela jedoch seine Kleidung. Er trug eine eierschalenfarbene, mit einem Strick um die Taille gehaltene Kutte mit einer Kapuze, die locker auf seinen Schultern lag. Die bloßen Füße steckten in offenen Sandalen. Pamela schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre. Am auffälligsten waren seine blanke Glatze und zwei pechschwarze Augen, die sich stechend auf Pamela richteten.
»Entschuldigen Sie die Störung, Mister«, sagte Pamela und fragte sich, ob sie wohl in ein Kloster geraten war. Oder hatten schottische Gärtner die Vorliebe, sich wie Mönche zu kleiden? Unwillkürlich lächelte sie.
»Was machen Sie hier? Sie befinden sich auf Privatbesitz.«
»Ich wollte Sie nicht stören«, antwortete Pamela sanft. »Ich suche lediglich Clashmore House.«
»Warum?«
»Es muss ganz in der Nähe sein«, fuhr Pamela fort.
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Die Leute im Dorf«, antwortete Pamela und verstand plötzlich, warum Kirsty sich so seltsam verhalten hatte, als sie nach dem Haus fragte. Dieser Typ gehörte nicht unbedingt zur freundlichen und hilfsbereiten Sorte Mensch.
»Wer sind Sie?« Seine Augen verengten sich, eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel.
Pamela wurde langsam ungeduldig. »Hören Sie, es tut mir leid, dass ich einfach Ihren Garten betreten habe, aber vorn am Tor ist keine Klingel oder irgendetwas, mit dem ich mich hätte bemerkbar machen können.«
»Aus gutem Grund«, murrte der Hüne. »Wir wollen keinen Besuch.«
»Sagen Sie mir einfach, wo ich das Clashmore House finde, dann bin ich auch wieder weg.«
»Verschwinden Sie!« Der Mann beugte sich vor und zog eine Harke aus der Schubkarre. Pamela wich zurück.
»Meine Güte, ich wollte nichts anderes als eine harmlose Auskunft! Stellt Ihr Verhalten etwa die viel gerühmte schottische Gastfreundschaft dar?« Pamela schüttelte verwundert den Kopf über sein feindliches Gebaren. »Ihrer Kleidung nach sind Sie ein Mann Gottes. Bisher war ich der Meinung, als solcher sollten Sie allen Menschen gegenüber höflich sein.«
Ihre Worte machten keinen Eindruck auf den ungehobelten Kerl, denn er blaffte: »Gehen Sie und kommen Sie niemals wieder! Vergessen Sie Clashmore House und dass Sie jemals hier gewesen sind. Beim nächsten Mal werde ich Sie nicht so freundlich auffordern zu gehen.«
Den Stiel der Harke mit beiden Händen umklammert, die dichten, dunklen Brauen über der Nase zu einer Linie zusammengezogen kam er näher. Pamelas Selbstsicherheit schwand. Sie glaubte zwar nicht, dass der Mann ihr wirklich etwas antun würde, dennoch wollte sie es lieber nicht herausfinden. Sie drehte sich um und lief zu der Pforte. Über die Schulter warf sie einen Blick zurück. Der Glatzköpfige folgte ihr, und kaum war sie auf der anderen Seite der Mauer angelangt, wurde die Tür zugeschlagen und der Schlüssel im Schloss gedreht.
»So ein Grobian!«, schimpfte sie und merkte, dass ihre Knie zitterten. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie wirklich Angst gehabt. Bis sie Joe kennengelernt hatte, war Pamelas Leben von der Güte und Liebe ihrer Großmutter erfüllt gewesen. Joes Egomanie hatte sie zwar fast seelisch zerstört, aber gefürchtet hatte sie sich vor ihm nie.
Sie folgte dem Weg zurück zu ihrem Wagen und sah sich dabei ständig um. Durch die Hecken führte kein Weg, und auf gut Glück wollte Pamela nicht in den nahen Wald gehen, um nach Clashmore House zu suchen. Kirsty musste sich bei der Wegbeschreibung geirrt haben, vielleicht hatte Pamela sie auch falsch verstanden. Sie seufzte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ins Dorf zurückzufahren und den Termin mit dem Makler abzuwarten.