image

Image

 

Dieter Wunderlich

Sprachen der Welt

Warum sie so verschieden sind
und sich doch alle gleichen

 

 

 

 

 

Image

Impressum

Menü

Inhalt

I.     Siebentausend Sprachen – jede einzelne so komplex wie einzigartig

1. Der Mensch, das sprechende Lebewesen

2. Wie grenzen wir Sprachen ab?

3. Über die Vielzahl und Vielfalt der Sprachen

4. Worin besteht eine Sprache? – Zur Anatomie einer Sprache

5. Was die Ausländer am Deutschen stört

6. Die ‘Design’-Merkmale menschlicher Sprache

7. Biologische und kulturelle Evolution

8. Jede Sprache ist in überraschender Weise einzigartig

II.    Große und kleine Sprachen – wie die Sprachen sich auf die Regionen der Welt verteilen

1. Die Menschen und ihre Sprachen verteilen sich sehr ungleich auf die fünf Kontinente

2. Die Sprachen mit den meisten Sprechern

3. Die kleinen Sprachen der Jäger und Sammler

4. Ackerbaukulturen nach dem Ende der Eiszeiten

5. Hirten- und Reitervölker

6. Sprachfamilien sind aufgrund von Landwirtschaft gewachsen

7. Spezielle Sprachgruppen

III.   Sprachfamilien – welche Sprachen wie miteinander verwandt sind

1. Die romanischen Sprachen stammen vom Latein ab – und von wem stammen die germanischen Sprachen ab?

2. Die historisch-vergleichende Methode zur Bestimmung der Sprachverwandtschaft

3. Die Sprachfamilien Europas

4. Die Sprachfamilien Afrikas

5. Die Sprachfamilien Asiens

6. Die Sprachfamilien Ozeaniens

7. Die Sprachfamilien Amerikas

8. Makrofamilien

IV.   Sprachen im geographischen Raum – wie sich Sprachen ausbreiten

1. Was passiert mit den Sprachen, wenn sich die Bevölkerungen trennen?

2. Sprachkontakte, Entlehnungen, Sprachbünde

3. Kamerun – ein Land, in dem sich die Sprachfamilien begegnen

4. Bevölkerungswanderungen – entschlüsselt durch linguistische und geographische, archäologische und genetische Untersuchungen

5. Die austronesische Expansion

6. Die Bantu-Expansion in Afrika

V.    Entstehung der Sprachen – wie Sprache entstanden ist und wie neue Sprachen entstehen

1. Was es heißt, dass Sprache entsteht: Sprachfähigkeit oder Einzelsprache?

2. Biologische Voraussetzungen der Sprachentstehung

3. Konnte der Neandertaler sprechen?

4. Das kommunizierende Gehirn benutzt Spiegelneuronen

5. Sprache könnte als Gebärdensprache entstanden sein

6. Gibt es ein Sprachgen?

7. Wie sah die Ursprache aus?

8. Zweisprachigkeit als Motor der Sprachentwicklung

9. Über Codeswitching zur Mischsprache

VI.   Alte und neue Sprachen – wohin sich die Sprachen entwickeln

1. Klassische Sprachen

2. Ursprüngliche Sprachen

3. Sprachen im Übergangsfeld von Morphologie und Syntax – Performances der kleinen Völker

4. Sprachen in entwickelten Kulturen

5. Sprachliche Medien

6. Standardsprache neben Mundarten und Sondersprachen

7. Das Auf und Ab in der Geschichte von Sprachen

8. Sprachensterben und Wiederbelebung von Sprachen

VII.  Sprachtypen und Sprachmerkmale – wie verschieden Sprachen sein können

1. Der Turmbau zu Babel – das sprachliche Andersseinwollen

2. Morphologische Sprachtypen

3. Über die Reichhaltigkeit von Kategorien

4. Typologie der Wortstellungen im Satz

5. Typologie der Argumentrealisierung

VIII. Sprachuniversalien – was allen Sprachen gemeinsam ist

1. Warum es Sprachuniversalien geben muss

2. Sprachuniversalien im biologischen Raum

3. Formbezogene Sprachuniversalien

4. Die Unterscheidung von Nomen und Verb ist zentral für jede Sprache

5. Könnten Sprachuniversalien variieren?

Anhang

Literaturverzeichnis

Weitere herangezogene Quellen und erwähnte Publikationen

Wichtige Webadressen

Verzeichnis der verwendeten Zeichen

Verzeichnis der Abkürzungen für grammatische Kategorien

Sachregister

 

I.       Siebentausend Sprachen –
jede einzelne so komplex wie einzigartig

1. Der Mensch, das sprechende Lebewesen

Überall in der Welt sprechen Menschen miteinander. Für jeden Menschen ist die Sprache, die er in Familie und Alltag spricht, der Mittelpunkt seines sozialen und geistigen Lebens. Die eigene Sprache ist oft auch die der Brüder, Schwestern, Freunde, Kameraden und Kinder; sie stiftet soziale und personale Identität. Doch jeder von uns hat Menschen erlebt, die das, was wir sagen, nicht verstehen und die etwas sprechen, das wir nicht verstehen. Jemanden nicht zu verstehen, ist allerdings eine graduelle Angelegenheit. Man kann auf Menschen treffen, die man nur manchmal nicht versteht, oder auf solche, die man fast nie versteht. Die Fähigkeit zur Verständigung ist ganz wesentlich von der Sprache abhängig, aber auch von anderen Faktoren. Man kann sich mittels Gesten und Gegenständen, die man in die Hand nimmt, auch noch in der fernsten Gegend immer noch ein wenig verständigen; manchmal können allein die äußeren Umstände schon unser Verstehen leiten.

Unsere erste Frage erscheint trivial: Was ist denn nun eine Sprache? Eine vorläufige Antwort ist: Sie ist ein natürlich gewachsenes Verständigungsmittel zwischen Menschen. ‘Natürlich’ heißt: Die Kinder lernen die Sprache aufgrund eigenen Impulses, man muss sie nicht dazu anhalten. Sie behalten das, was sie hören, und bauen daraus ihre grammatischen Regeln. ‘Künstliche’ Sprachen (Programmiersprachen, Logiksprachen, Morsesprachen, Esperanto, Pilotensprache) gehören somit nicht zum Gegenstand dieses Buches. ‘Natürliche’ Sprachen sind aber nicht notwendigerweise Lautsprachen, auch Gebärdensprachen können gelernt werden; sie sind weder langsamer noch weniger effektiv als Lautsprachen. Lautsprachen sind nur die natürlichere Option in einer Gemeinschaft hörender Menschen. Es gehört zur Tragik der menschlichen Kulturen, dass Gehörlosen meistens versagt wurde, ihre eigenen Sprachen zu bilden und zu tradieren; das änderte sich erst im Laufe des 20. Jhs. Sofern im Folgenden nicht die Besonderheiten der Lautsprachen im Vordergrund stehen, sind Gebärdensprachen immer mitgemeint, wenn von Sprachen allgemein die Rede ist.

Als Verständigungsmittel für alle möglichen Gelegenheiten hat Sprache eine komplexe Organisationsstruktur: Da sind einmal die Laute (bzw. die Gebärden), die man äußert; durch eine Kombination von Lauten stellt man ein Wort her, mit dem eine bestimmte Bedeutung verbunden ist. Solche Wörter (Formelemente oder Morpheme) werden zu ganzen Sätzen kombiniert, um einen Gedanken auszudrücken. So komplex ein Gedanke auch sein mag, man kann einen Satz oder einen (aus mehreren Sätzen bestehenden) Paragraphen formen, die ihn ausdrücken. ‘Ich habe heute ein neues Wort gelernt’ kann man gut sagen – das Vokabular ist zwar groß, kann aber von Zeit zu Zeit erweitert werden. ‘Ich habe heute einen neuen Satz gelernt’ klingt irgendwie komisch – man kann jeden Tag neue Sätze bilden, die noch nie jemand gesagt hat. Die Grammatik einer Sprache erlaubt das.

Kinder lernen lange daran, die richtigen Laute einer Sprache zu bilden, so wie sie auch lange daran lernen, ihre Finger so zu bewegen, dass sie einen Knoten in ihre Schnürsenkel machen können: Die Lautung einer Sprache sind durch Routinen festgelegte Aktivitätsmuster des Gehirns. Das Vokabular einer Sprache muss gelernt werden; jeder kennt tausende oder zehntausende von Wörtern; man kann Wörter passiv wiedererkennen, auch wenn man sie aktiv nicht benutzt. Das Vokabular einer Sprache besteht in Laut-Bedeutungs-Zuordnungen, die im sprachlichen Gedächtnis verankert sind. Da die Grammatik offensichtlich sehr kreativ ist, muss sie aus Regeln bestehen, die in eher abstrakter Weise Satzteile oder -blöcke miteinander kombinieren; nicht die Sätze selbst, sondern die erzeugenden Regeln gehören zu unserem Sprachgedächtnis. Zusammenfassend lässt sich sagen: Sprachen sind im menschlichen Gehirn verankert. (Dass man Wörterbuch und Grammatik aufschreiben kann, ist – an der langen Geschichte der Menschheit gemessen – ein recht spätes zivilisatorisches Produkt.) Wenn aber Sprache ins Gehirn gehört, müssen meine Sprache und deine Sprache nicht dieselben sein. So ist es denn auch: Sofern menschliche Biographien und Lerngeschichten verschieden sind, variieren auch die Sprachen der Menschen, mehr oder weniger. Kleine Variationen erwarten wir, große Variationen bringen uns zu einer ganz anderen Sprache.

2. Wie grenzen wir Sprachen ab?

Um Sprachen zählen zu können, muss man sie individuieren. Wir zählen dabei Sprachgemeinschaften, in denen sprachliche Verständigung möglich ist. Damit eine Sprache der Verständigung dienen kann, müssen die in ihr vorkommenden Varianten von Lautung, Vokabular und Grammatik hinreichend ähnlich sein. Räumliche Trennung (oder soziale Schichtung) führt unweigerlich zu verschiedenen Dialekten (bzw. Soziolekten), selbst wenn sich alle Sprecher zu einem gewissen Zeitpunkt zu einer einheitlichen Standardsprache verabredet haben sollten. Doch solange sich Sprecher der verschiedenen Dialekte untereinander verständigen können, liegt auch nur eine Sprache vor. Oft wird die lexikalische Distanz als Richtwert genommen: Wenn 80 – 90 % der Wörter trotz lautlicher Variation erkennbar übereinstimmen, spricht man von Dialekten einer Sprache. Die verschiedenen romanischen Sprachen wie Italienisch, Spanisch, Französisch, Rumänisch, alles Nachkommen des Latein, weisen immerhin noch 75 % gemeinsamer Wörter auf, während die romanischen und germanischen Sprachen, die sich schon vor 4000 Jahren trennten, nur noch 25 % gemeinsamer Wörter haben.

Neben solchen messbaren graduellen Differenzen zwischen Dialekten bzw. Sprachen gibt es den Faktor der politischen Identität. Menschen, die sagen, wir sprechen eine andere Sprache als die da, grenzen sich ab; Menschen, die sagen, wir haben eine gemeinsame Sprache mit denen, betonen dagegen die gemeinsame Identität. So wurde unter neuen politischen Umständen Serbokroatisch (eine erst im 19. Jh. gefundene einheitliche Standardsprache) nach dem Zerfall des jugoslawischen Staates in Serbisch und Kroatisch getrennt; unterstützend wirkte sich aus, dass Serbisch in kyrillischer Schrift und Kroatisch in lateinischer Schrift geschrieben wird und dass Serbien traditionell zur griechisch-orthodoxen Kirche, Kroatien aber zur römisch-katholischen Kirche gehört. – Hätte der niederländische Unabhängigkeitskrieg nicht in einem eigenen erfolgreichen Staatswesen gemündet, wären die niederländischen (niederfränkischen) Dialekte vielleicht ebenso wie die plattdeutschen (niederdeutschen) Dialekte weiterhin zur deutschen Sprache gezählt worden. – Das in Pakistan gesprochene Urdu und das in Indien gesprochene Hindi gelten unter Linguisten als eine Sprache (Hindustani), sie haben sich aber aufgrund islamischer bzw. hinduistischer Religionszugehörigkeit voneinander entfernt: Das hochsprachliche Urdu hat viele Wörter und Wendungen aus dem Persischen und Arabischen entlehnt, während Hindi auf Sanskrit zurückgriff. Urdu wird in persio-arabischer Schrift geschrieben, Hindi in der indischen Devanagari-Schrift. Diese Unterschiede waren der Anlass dafür, dass das Ende der Kolonialzeit mit zwei separaten Staatsgründungen besiegelt wurde.

Dass Sprachen letztlich ein von den Menschen so empfundenes identitätsstiftendes Band darstellen, spiegelt sich auch in ihren Namen. Viele Sprachen haben für die eigenen Sprecher einen Namen, der übersetzt so etwas wie ‘ehrenwerter Mensch’, ‘Volk’ oder ‘Vaterland’ bedeutet, während alle anderen einfach ‘Ausländer’ (griech. barbaros) sind. In der linguistischen Literatur werden die von den Kolonisten gegebenen Fremdnamen nunmehr oft durch die selbstgewählten Namen ersetzt (z.B. Nishnaabemwin statt Ojibwe für eine in Kanada gesprochene algonkische Sprache, oder Sacha für die nordostsibirische Turk-Sprache Jakutisch). Interessanterweise nannten sich die kalifornischen Wiyot-Indianer Soulátluk‘ – wörtlich: ‘dein Kiefer’ (wobei man so wunderbar assoziieren kann: ‘wenn du deinen Kiefer bewegst, produzierst du eine Sprache mit mir’).

Für das Deutsche hat Karl der Große den Namen lingua theodisca durchgesetzt, mit theodisc als der latinisierten Form des germanischen Adjektivs thiodisk (ahd. diutisc), das aus dem Substantiv thioda ‘Volk’ gebildet ist und ‘zum Volk gehörend’ bedeutet. Typische Fremdnamen des Deutschen sind bekanntlich German, Allemande, Saksa und Njemetski. Für Caesar waren die Völker östlich des Rheins Germanen, für die Franken waren es Alemannen, für die Balkanvölker waren es Sachsen, und für die Nordslaven einfach ‘Ausländer’.

3. Über die Vielzahl und Vielfalt der Sprachen

Der „Ethnologue“ von 2013 zählt 7105 lebende Sprachen. Diese Sprachen sind nach Art der Sprache (Lautsprache, Gebärdensprache, Mischsprache usw.), nach Zugehörigkeit zu einer Sprachfamilie (möglicherweise auch zu einer Makrosprache) und nach der geographischen Region, in der die Sprache gesprochen wird, klassifiziert. Viele Sprachen sind sehr gut bekannt, von vielen anderen Sprachen weiß man nur sehr wenig. Im WALS, einem Weltatlas der Sprachstrukturen, sind 2600 Sprachen mit ihren sprachlichen Merkmalen und dem geographischen Mittelpunkt der Sprachregion aufgeführt; dabei ist darauf geachtet, dass nach allen Kriterien und von überall her möglichst viele Sprachen repräsentativ erfasst sind. Die geographischen Mittelpunkte der Sprachen verteilen sich auf alle bewohnten Gebiete der Erde.

Image

Verteilung der Sprachen in der Welt.

© Kilu von Prince

Neben großen Flächen mit geringer Sprachendichte existieren einige wenige Gebiete mit großer Sprachendichte – das sind die Hotspots: Dort gibt es viele verschiedene kleine Sprachen, neue Sprachen konnten sich bilden und haben sich möglicherweise von hier aus verbreitet. In Amerika sind das die Regionen längs der Westküste Nordamerikas, Mittelamerika (Mexiko und Guatemala) und die Quellgebiete des Amazonas (in Peru, Ekuador und Brasilien). In Afrika gehört dazu ein ganzer Gürtel südlich der Sahara von Westen (mit dem Zentrum in Kamerun) nach Osten (mit einem Zentrum im Südsudan und in Südwestäthiopien). Kaukasus-Sprachen erstrecken sich zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. In Süd- und Südostasien gehören dazu die südlichen Himalaya-Abhänge, Regionen in Birma und Vietnam, die Philippinen, Papua-Neuguinea, Melanesien und die Nordküste Australiens. Sprachen, die sehr dicht nebeneinanderliegen, sind keine Weltsprachen. Diese Sprachen sind besonders interessant und wertvoll, weil sie die große Vielfalt der Sprachen verkörpern.

Ethnologue und WALS

Der Ethnologue ist ein seit 1951 ständig erweitertes und aktualisiertes Verzeichnis aller Sprachen der Welt (die 16. Auflage 2009 und die 17. Auflage 2013 sind verschieden organisiert; man kann sie beide online benutzen). Herausgeber ist das Summer Institute of Linguistics (SIL), eine Nonprofit-Organisation, die sich seit ihrer Gründung 1934 an der Erforschung von etwa 2500 Sprachen beteiligt hat. Für Sprachgruppen, bei denen sich die Fachwelt nicht einig ist, ob es Dialekte einer einzigen Sprache oder eine Anzahl separater Sprachen sind, hat Ethnologue 2013 den Begriff der Makrosprache eingeführt. Zu ihnen werden u.a. Chinesisch, Standard-Arabisch, Malaiisch, Mongolisch, Kurdisch, Serbo-Kroatisch und Quechua gerechnet – alles Sprachen, die, in ganz verschiedenen Gegenden gesprochen, sich unterschiedlich aufgefächert haben.

WALS („The World Atlas of Language Structure“) wird vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig (seit 2011 online) herausgegeben. Der Atlas will die Verteilung lautlicher, lexikalischer und grammatischer Eigenschaften der Sprachen der Welt möglichst repräsentativ erfassen; dazu wurde ein Korpus von 200 Sprachen aus allen Gegenden und Sprachfamilien der Welt zur genaueren Untersuchung ausgewählt und nun Stück für Stück erweitert. Gegenwärtig sind sprachliche Merkmale von mehr als 2600 Sprachen aufgenommen.

4. Worin besteht eine Sprache? – Zur Anatomie einer Sprache

Die wichtigste Eigenschaft aller Menschensprachen ist, dass sie einfache bis komplexe Formen haben, die einfache bis komplexe Bedeutungen ausdrücken. Es geht immer sowohl um Formen als auch um Bedeutungen; und sie sind so zahlreich, dass man alles, was man begrifflich unterscheiden kann oder will, auch sprachlich unterscheiden kann. Mit anderen Worten, Sprache verknüpft zwei Arten von Fähigkeiten: auf der einen Seite die sehr differenzierte Produktion und Wahrnehmung von Lauten (bzw. Gebärden), auf der anderen Seite die ebenso sehr differenzierten begrifflichen Vorstellungen, Gedanken oder Intentionen. Produktion und Wahrnehmung sind zeitlich linear (alles erfolgt im zeitlichen Nacheinander – wie in der Musik), während die begrifflichen Gebilde vor allem hierarchisch komplex sind. Ein Beispiel ist das Wort Vögel, das so etwas wie ‘mehrere fliegende Lebewesen’ abbildet (und mit Raubvögel, Vogelgrippe, Vögler usw. leicht abgewandelt werden kann):

Image

[fö:gl] ↔

In nuce enthält unsere ‘Definition’ der Sprache ein sehr komplexes, manchmal auch strittiges und bis heute nicht ganz ausgelotetes Forschungsprogramm.

(1) Begriffliche Konstruktionen brauchen Einheiten und komplexbildende Operationen, die beliebig viele Möglichkeiten erzeugen (man sagt gerne, unendlich viele, obwohl man das ja nicht zählen kann), sie sind also von sich aus kreativ (‘rekursiv’ im mathematischen Sinne).

(2) Lautliche Konstruktionen brauchen ebenfalls Einheiten und komplexbildende Operationen, die beliebig viele Möglichkeiten erzeugen und so sprachliche Kreativität garantieren.

(3) Begriffliche und lautliche Konstruktionen könnten sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Hunde, Elefanten oder Schimpansen können begrifflich fast dasselbe leisten wie Menschen; andererseits können bestimmte Arten von Papageien lautlich fast dasselbe (oder sogar mehr) leisten wie Menschen. Auf der jeweils anderen Seite sind sie dem Menschen jedoch klar unterlegen.

(4) Mit dem Aufkommen menschlicher Sprache (der Assoziation dieser beiden Bereiche) könnte sich die jeweilige Fähigkeit durch gegenseitiges Aufschaukeln weiter verbessert haben: Kluges Denken ist vom Sprechenkönnen abhängig, und kluges Sprechen ist vom Denkenkönnen abhängig.

(5) Der Motor für die Sprachverbesserung könnte darin bestehen, dass man komplexere Bedeutungen auf entsprechende Laute abbilden will, oder darin, dass man die Fähigkeit zu komplexeren Lauten bedeutungsmäßig differenzieren möchte. Oder in der Kombination von beidem.

(6) Zu komplexen lautlichen Konstruktionen fähig zu sein, heißt zweierlei: Laute wahrnehmen zu können und Laute herstellen zu können. Es müssen sich das menschliche Ohr zusammen mit der akustischen Wahrnehmung auf der einen Seite und das menschliche Stimmorgan (Stimmlippen des Kehlkopfes und ihre Einbettung im Mundatmungstrakt) auf der anderen Seite entsprechend entwickelt haben. (In diesem Punkt kann man gut erkennen, dass Gebärdenkonstruktionen eigentlich die bessere Variante waren: Man brauchte eine gute visuelle Wahrnehmung und eine gute Produktionsmöglichkeit für Gebärden – bewusst steuerbare Bewegungen von Arm-, Hand-, Finger-, Gesichts-, Augen-, Kopf- und Körperhaltungsmuskeln.)

(7) Eine Sprache muss das zeitliche Nebeneinander von Lauten und die hierarchische Einordnung von Begriffen in Einklang bringen (was hierarchisch zueinander gehört, soll auch zeitlich zueinander gehören). Davon zeugen u.a. die Wortstellungsregeln der Grammatik. Verb und Objekt gehören begrifflich zueinander – aber: Steht das Objekt vor oder nach dem Verb, und unter welchen Bedingungen könnten sie lautlich getrennt werden? Steht das Frage‘zeichen’ am Anfang oder am Ende der Frage?

Phoneme als Grundeinheiten

Jede Menschensprache benutzt diskrete Grundeinheiten, die selbst keine Bedeutung haben, aber Bedeutungen unterscheiden können: die Phoneme. Man ermittelt die Phoneme einer Sprache durch paarweisen Vergleich. Dazu muss man sich natürlich die gesprochene Sprache vorstellen, denn die Schrift versucht die Phoneme bereits durch passende Buchstaben zu erfassen – was nicht immer vollkommen gelingt: Nicht jede Sprache hat eine eigene Schrift, und die Schrift beruht oft auf veralteten Aussprachen. Außerdem unterliegen die Phoneme selbst auch noch phonologischen Regeln: so gehört zu radeln das Wort Rad, das aber [rat] gesprochen wird. (Auslautverhärtung: stimmhafte Konsonanten werden am Wortende stimmlos.)

Im Paarvergleich zeigt sich, dass Rad und Rat eigentlich nicht im Konsonanten, sondern im Vokal verschieden gesprochen werden: [rat] vs. [ra:t] – in Rad ist der Vokal ungespannt, in Rat ist er gespannt und dadurch länger (angezeigt durch ‘a:’). Man kann sich nun das Experiment vorstellen, bei dem die Lautfolge [rat] in vielen Zwischenschritten allmählich in [ra:t] überführt wird. Fast bei jedem Hörer gibt es einen Punkt, wo er nicht mehr das erste Wort (Rad), sondern das zweite Wort (Rat) versteht; dazwischen gibt es nichts. Ganz ähnlich sollte man den Übergangspunkt zwischen [rat:әn] (Ratten) und [ra:tәn] (raten) finden können. Die Sprachwahrnehmung ist kategorial: diskrete Phoneme führen zu diskreten Wörtern. – Den Paarvergleich kann man natürlich auch an anderen Stellen eines Wortes durchführen: In der Wortmenge {lappen, latten, lacken, lallen, lassen, laschen, lachen} lassen sich 8 verschiedene Konsonantenphoneme, in der Wortmenge {passe, tasse, kasse, basse, gasse, fasse, lasse, nasse, masse, rasse, hasse} sogar 11 verschiedene Konsonantenphoneme erkennen.

Jede Sprache hat ihre ganz eigenen Phoneme. Grundsätzlich sind immer mehr Konsonanten als Vokale vorhanden, aber der Grund dafür ist nicht ganz klar; vielleicht gibt es mehr Möglichkeiten, Konsonanten zu differenzieren als Vokale. Die Sprachen mit dem kleinsten Überschuss an Konsonanten sind Andoke, eine Sprache in der Amazonasregion von Südkolumbien, die 9 Vokale und 10 Konsonanten besitzt, und Rotokas, eine Ostpapua-Sprache auf der Insel Bougainville (im Norden der Salomonen), mit 5 Vokalen (a, e, i, o, u) und nur 6 Konsonanten (p, t, k, g, v, r). Rotokas gilt zugleich als die Sprache mit den wenigsten Phonemen überhaupt; sie hat u.a. zweisilbige Wörter, die nur aus Vokalen bestehen, wie ou.a ‘ich bekomme’ und oe.a ‘sie.plural’.

Die Sprachen mit den meisten Konsonanten (im Verhältnis zu den Vokalen) sind die nordwestkaukasischen Sprachen. Der Bzyp-Dialekt des Abkhasischen kennt 67 Konsonanten zu 2 Vokalen, und von Ubyx, einer ausgestorbenen Sprache, heißt es, dass es sogar 81 Konsonanten zu 2 Vokalen gab. Diese beiden Vokalphoneme waren vermutlich ein zentraler und ein tiefer Vokal (ə und a). – Zu den Sprachen mit 3 Vokalen gehört das klassische Arabisch (a, i, u), zu denen mit 4 Vokalen das Aztekische (a, e, i, o). Die Zahl der Vokale kann sich durch Prozesse wie Umlautung, Nasalierung oder Längung offenbar auch schnell verändern. So ist bemerkenswert, dass das Spanische nur 5 Vokale kennt (a, i, e, o, u), während das Französische 16 Vokale hat.

Man könnte denken, dass eine Sprache mit wenigen Vokalen viele Konsonanten braucht und eine Sprache mit wenigen Konsonanten viele Vokale benötigt, um expressiv erfolgreich zu sein (d.h. alles in ihr ausdrücken zu können). Dem ist aber nicht so. Das oben erwähnte Rotokas hat nur 6 Konsonanten bei 5 Vokalen. Am anderen Ende der Skala steht die in Botswana gesprochene Khoisan-Sprache !Xóõ mit fast so vielen Konsonanten wie Ubyx (nämlich 77), aber 31 Vokalen; die Zahl der Phoneme kann also zwischen 11 und 110 schwanken. In jedem Fall ist die Zahl der Phoneme relativ klein, doch wenn man Wörter aus ihnen bildet, indem man verschiedene Phoneme aufeinander folgen lässt, ergeben sich extrem viele mögliche Wörter, mit denen man entsprechend viele Bedeutungen assoziieren kann.

Als Beispiel sei ein Ausschnitt des Deutschen mit nur 6 Phonemen betrachtet:

Wie viele Wörter sind in entenbraten verborgen? Aus {a, b, e, n, r, t} lassen sich fast 50 einfache deutsche Wörter bilden (Vorsicht: Hier sind die gesprochenen Laute notiert – egal, wie die Wörter im Deutschen tatsächlich geschrieben werden): {ab, an, abent, aber, abt, ar, art, ba:n, ban, bant, bar, bare, baren, bart, bat, ben, be:r, bert, be:t, brant, brent, braten, eben, ente, erbe, ernte, nabe, nar, narbe, na:t, nater, nent, net, rabe, ran, rant, rar, rat, rate, tane, tand, tarn, tat, te:r, trab, tran, trene, trent}

Es sind noch mehr möglich, auch zusammengesetzte wie eben entenbraten.

In einem nächsten Schritt können abgeleitete oder zusammengesetzte Wörter gebildet werden, aus diesen dann ganze Phrasen, einfache und zusammengesetzte Sätze. Jede Sprache hat ihr eigenes System der Wortbildung (Morphologie) und Satzbildung (Syntax); es sind teilweise verhältnismäßig einfache Regeln, teilweise auch sehr komplexe.

Sehr einfach ist die Flexion im Englischen. Der Plural z.B. nimmt nur Bezug auf den letzten Laut des Wortes: /-iz/ nach einem Sibilanten (kiss – / kisiz/), /-s/ nach einem stimmlosen Laut (cat – /kæts/), sonst stimmhaftes /-z/ (boy – /boiz/). Interessanterweise gilt genau dieselbe Regel für die 3. Person im Singular Präsens (he kisses, he talks, he goes), woran man erkennt, dass es sich bei der Variation {-iz, -s, -z} um eine ganz normale lautliche Regularität handelt. Die Regel selbst kann also sehr einfach lauten: Der englische Plural endet so wie die 3.sg.präs. auf ein stimmhaftes /-z/, das lautlich seiner Umgebung angepasst wird. Ausländer, die Englisch lernen, haben kein Problem mit dem Plural. Eher haben sie ein Problem mit den unregelmäßigen Verben oder den Partikelverben, insgesamt aber ist der Einstieg ins Englische relativ einfach. Englisch ist fast ideal als Zweitsprache. Die meisten Sprachen haben mehr Schwierigkeiten in ihrem Profil – Schwierigkeiten, die ein Muttersprachler kaum bemerkt, die dem Ausländer aber schnell auffallen.

5. Was die Ausländer am Deutschen stört

Jede Sprache hat ihr charakteristisches typologisches Profil. Im Sprachenvergleich interessiert oft weniger, was den Sprachen gemeinsam ist, als vielmehr das, was sie von anderen abhebt. Was man sich unter einem typologischen Profil vorstellen kann, sei hier kurz an einigen Besonderheiten des Deutschen illustriert. Die folgende Liste dient dazu, eine Vorstellung über das Ausmaß an Unregelmäßigkeiten oder Ungewöhnlichem in unserer Sprache zu bekommen; gleichzeitig könnte sie uns zu Nachsicht mit den Deutsch lernenden Zeitgenossen verleiten.

Umlaut

Ausländer haben es schwer mit Umlautvokalen, die sich von ihrem Partner durch die vorgeschobene Zunge unterscheiden; sie alle werden mit zwei Punkten über dem Vokal geschrieben: ä neben a, äu neben au, ö neben o und ü neben u. Meistens sind es bestimmte morphologische Änderungen am Wort, die zu einem Umlaut führen; früher waren dafür einmal Nachsilben mit i oder j verantwortlich, heute ist es gleichsam eine unerwartete zusätzliche Eigenschaft. In Verbindung mit den Nachsilben -ig und -lich, die ja ein i enthalten, kommt Umlaut manchmal vor, manchmal aber auch nicht. Also einerseits Hass-hässlich, Wasser-wässrig, aber andererseits Haarhaarig (trotz Härchen), Sand-sandig, Hand-handlich (trotz Hände), Farbefarblich (trotz färben), Gast-gastlich (trotz Gäste). Nebeneinander gibt es gewaltig, faltig, aber sorgfältig. Viele andere Nachsilben lösen Umlaut aus, z.B. Blatt – Blätt-chen, Makelmäkel-n, wartenWärt-er, hart – härt-er, Bart – Bärt-e; manchmal reicht die Information ‘Plural’ wie in Gärten, Töchter, Mütter. Einige Wörter kennen nur den Umlaut, z. B. Bär, Tür, König, ohne dass es ∗Bar, ∗Tur oder ∗Kon mit dieser Bedeutung heute noch irgendwie gäbe. Das ganze Umlautfeld ist im heutigen Deutsch eine Sammlung von Unregelmäßigkeiten, die man einzeln lernen muss. Was früher mal eine Regel war, würde heute zu lauter falschen Formen führen. Umgekehrt muss man erstaunt sein, dass ganz neue Nomina wie Auto (aus Auto-mobil, griech. ‘Selbst-Beweger’) im Niederrheinischen den Umlaut bekommen können: Autöchen.

Genus

Etwas, worüber Ausländer immer stolpern, ist das Genus (das grammatische Geschlecht) des Deutschen. Die Sonne, der Mond – aber le soleil, la lune im Französischen. Im Englischen ist das Genus verschwunden; letzte Reste bei den Personalpronomen sind rein semantisch: he oder she sagt man bei höheren Lebewesen, sonst it. Noch viele andere Sprachen kommen ohne Genus aus (Chinesisch, Japanisch, Koreanisch, Persisch, Tamil, Thailändisch, Türkisch, Ungarisch, Vietnamesisch); Menschen, die mit diesen Sprachen aufgewachsen sind, haben es schwer mit dem Deutschen. Aber auch solche, deren Muttersprache zwei Genera (Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Hebräisch, Arabisch, Paschto, Hindi) oder sogar drei Genera kennt wie das Deutsche (Griechisch, Latein, Polnisch, Russisch), haben es schwer. Es gibt keine erkennbare Regel, wonach das Genus verteilt wird, außer dass männliche Lebewesen vorwiegend maskulin und weibliche Lebewesen vorwiegend feminin sind. Zwar sind Himmelsrichtungen, Winde, Niederschläge, Mineralien, Erden und Gesteine im Deutschen vorzugsweise maskulin, Baum- und Blumennamen, auch Flussnamen dagegen eher feminin; doch niemand weiß, warum. Überall gibt es Ausnahmen (der Ahorn, der Krokus, der Main).

Jedes Wort hat sein eigenes Genus, man muss es zusammen mit dem Wort lernen. Nicht selten haben Wörter mit zwei verschiedenen Bedeutungen auch zwei verschiedene Genera: der/die Kiefer, der/die Heide, der/die See, der/das Schild, der/das Erbe, der/das Laster, die/das Mark, die/das Steuer – das zeigt uns, dass das Genus wirklich mit jedem Wort (qua Wortform + Bedeutung) variieren kann. – Suffixe verhalten sich wie Wörter, sie haben meistens ein festes Genus. Wörter auf -er, -ler, -ner, -ling, -and, -ant, -är, -eur, -ismus, -ist und -(at)or sind maskulin; meistens sind es Berufs- oder Tätigkeitsbezeichnungen, bei denen dann durch -in die weibliche Form entsteht (außer bei Lehrling-∗in), aber auch Nicht-Personen (Gener-ator, Vibr-ator) und Abstrakta (Fasch-ismus, Rass-ismus) sind maskulin. Wörter auf -ei, -heit/ -(ig)keit, -schaft, -ung, -ade, -age, -anz, -erie, -ie, -ik, -(at)ion, -ität, -(at)ur, die in der Mehrzahl Abstrakta bezeichnen, sind merkwürdigerweise feminin. Nur Verkleinerungsformen auf -chen oder -lein sind neutrum, und zwar gleichgültig, ob sie mit Mann oder Frau gebildet sind (das Männchen, das Fräulein).

Plural

Mit dem Plural ist es nicht viel anders als mit dem Genus; jedes Wort hat eine Pluralform, die man kennen muss und nicht mit einer einfachen Regel bilden kann. Mit ein wenig Gewitztheit kann man oft die wahrscheinlichste Form treffen, aber im Einzelfall auch irren. Alle eigentlich nicht als typisch deutsch angesehenen Wörter (Lehnwörter, Abkürzungen) haben den s-Plural (Autos, Uhus, Sozis, Kaffs, Drinks, Lkws). Fast alle Wörter, die auf -e enden, und sehr viele Feminina haben den n-Plural (Tante, Torte, Frau, Tat). s- und n-Plural sind nie mit einem Umlaut verbunden, während die drei anderen möglichen Pluralformen einen Umlaut haben können: endungsloser Plural (der Bogen – die Bögen, die Mutter – die Mütter), e-Plural (die Hand – die Hände), er-Plural (das Lamm – die Lämmer). Wann aber der Umlaut eintritt und wann nicht, muss man wissen.

Was den endungslosen Plural betrifft, tritt er interessanterweise bei fast allen maskulinen oder neutralen Wörtern auf, die auf -el,-er,-en enden (die Ferkel, die Keller, die Schlitten), während feminine Wörter mit diesen Endungen den n-Plural haben (die Kacheln, die Schwestern). e-Plural und er-Plural sind tendenziell mit einsilbigen maskulinen bzw. neutralen Wörtern (evtl. kombiniert mit Umlaut) verbunden: die Kerl-e, die Hähn-e einerseits und die Kinder, die Hühner andererseits. – Mit den Pluralformen auf -n vermischt sich das, was man schwache Deklination im Deutschen nennt; bei ihr haben auch alle maskulinen nicht-nominativen Singularformen eine n-Endung: des Bauern, des Hirten, des Helden, des Erben.

Zusammenfassend lässt sich sagen: In der Antwort auf die Frage, wie die Pluralform eines Wortes im Deutschen lautet, mischen sich Erwägungen aufgrund der Herkunft, der Endung, des Genus, der Umlautfähigkeit sowie der Möglichkeit einer schwachen Deklination. Wenn man dies nicht schon als Kind gelernt hat, kann man leicht verzweifeln – oder Neues entdecken: der Tor – die Toren, der Mohr – die Mohren, der Chor – die Chöre, das Tor – die Tore, das Moor – die Moore, das Rohr – die Rohre, das Labor – ?, der Motor – ?

Starke und schwache Verben Die starken Verben sind eine besondere Delikatesse des Deutschen (übrigens auch des Englischen); sie gehören zum germanischen Erbe und sind durch Reimklassen bestimmt: der Vokal ändert sich in der Vergangenheitsform (Präteritum) und manchmal auch im Partizip, wie in befehlen-befahlen-befohlen. Der Fachausdruck für diesen Vokalwechsel heißt Ablaut. Die schwachen Verben sind die später hinzugekommenen, sie sind vollkommen regulär: -t für die Vergangenheit und ge-…-t für das Partizip. So gehört fehlen selbst wegen seiner Herkunft aus altfrz. faillir zu den schwachen Verben: fehlen-fehlten-gefehlt. Bilden wir ein neues Verb wie faxen, kennen wir sofort auch die anderen Formen, nämlich faxen-faxten-gefaxt.

Die heutigen starken Verben

sind irregulär geworden; man muss sich jedes einzeln merken. Manche lassen sich noch in Reimklassen ordnen, wie ei-i-i (bleiben, reiben), ie-o-o (biegen, fliegen) und a-u-a (tragen, schlagen), aber diese Reimklassen sind kleiner geworden, und die Laute haben sich verändert. Woher weiß man, dass in all den folgenden Paaren das erste Verb stark, aber das zweite Verb schwach ist: laden-baden, fangen-bangen, lassenhassen, graben-laben, fragen-wagen, raten-waten, biegen-kriegen, schiebenlieben? Es wird sogar noch komplizierter, wenn es drei Reimmöglichkeiten gibt, wie in meiden-mieden, leiden-litten, neiden-neideten, oder gehen-gingen, stehen-standen, wehen-wehten. Manchmal existiert eine starke und eine schwache Variante des Verbs mit leicht verschiedener Bedeutung: er schliff die Sense, aber er schleifte den Sack. Je häufiger ein Verb gebraucht wird, desto eher kann man sich die Formen merken, während Verben, die selten benutzt werden, nicht so gut zu merken sind – mit der Tendenz, dass sie schließlich zu einem regulären Verb werden (saugen-sogen > saugten; speisen-spiesen > speisten; glimmen-glommen > glimmten).

Trennbarer oder nichttrennbarer Verbzusatz?

Durch präpositionsartige Zusätze kann man die Zahl der Verben fast explosionsartig steigern: Zu einem Verb wie ziehen kann man beziehen, entziehen, erziehen, hinterziehen, überziehen, anziehen, ausziehen, umziehen und viele andere mehr bilden. Dabei werden die Eigenschaften der verbalen Wurzel stets bewahrt: ziehen ist stark (zog, gezogen), entsprechend sind es auch alle Verben auf -ziehen (umgezogen usw.); aber setzen ist schwach, und alle Verben auf -setzen sind es ebenfalls (umgesetzt usw.). Aus verwandten Sprachen wie Latein, Französisch, Englisch oder Russisch kennt man ähnliche Verbzusätze. Ein besonderes Problem im Deutschen ist zu wissen, welche Verbzusätze trennbar und welche untrennbar sind. Untrennbare Verbzusätze heißen auch Präfixe, die trennbaren heißen Partikeln. versprechen ist untrennbar: sie versprachen es ihm, sie haben es ver-sprochen; aber ansprechen ist trennbar: sie sprachen ihn an, sie haben ihn angesprochen.

Die reinen Präfixe entstammen meistens früheren unbetonten Präpositionen: be-, ent-, er-, ge-, ver-, zer- wie in beziehen, entziehen, erziehen, gezieren, verzieren, zerlassen. Die meisten der trennbaren Zusätze sind identisch mit Präpositionen (ab, an, auf, aus, bei, …) oder Adverbien (fern, fertig, fest, fort, frei, gegen, …) Es gibt aber auch Präfixe, die mit aktuellen Präpositionen identisch (und immer unbetont) sind: durch-, hinter-, über-, unter-, um-, auch wieder-. Hier gibt es nun manche Minimalpaare, die sich nur durch die Betonung unterscheiden, wie durchziehen – ’durchziehen (mit dem Betonungszeichen vor der betonten Silbe), die verschiedene Bedeutungen und auch verschiedene Partizipformen haben (durchzogen, ’durchgezogen).

untrennbar (Präfix)

trennbar (Partikel)

wir durch’zogen ganz Spanien

wir zogen dann die Sache ’durch

er hinter’zog Steuern

er zog den Wagen da’hinter

er über’zog seinen Kredit

er zog sich eine Weste ’über

er unter’zog sich dem Gesundheitstest

er zog sich eine Weste ’unter

er um’fuhr den Zaun

er fuhr den Zaun ’um

er wieder’holte seine Frage

er holte sich das Buch ’wieder

Sein- oder haben-Perfekt?

Holländer, Franzosen und Italiener haben ebenfalls die Wahl zwischen sein- und haben-Perfekt, die aber etwas anders ausfällt als im Deutschen, wo zusätzlich ein Nord-Süd-Gefälle festzustellen ist: Wir haben den Nachmittag am Strand gelegen oder an der Bar gestanden und haben abends auf der Mole gesessen, heißt es nördlich des Mains; südlich dagegen sagt man: Wir sind nachmittags am Strand gelegen oder an der Bar gestanden und sind abends auf der Mole gesessen.

Bei transitiven Verben kann man sich recht sicher sein, dass sie ein haben-Perfekt haben (er hat es zerbrochen, er hat es geschmolzen, es hat mich berührt), und wenn es ein gleichlautendes intransitives Verb gibt, hat es ein sein-Perfekt (es ist zerbrochen, es ist geschmolzen), genauso wie natürlich auch das sein-Passiv mit sein gebildet wird (es ist verliehen, es ist ausgetrunken). Viele intransitive Verben haben aber ein haben-Perfekt (Regen hat eingesetzt, Kisten haben rumgestanden, die Oper hat angefangen), andere wieder ein sein-Perfekt (sie sind abgereist, angekommen, eingeschlafen, der Ballon ist geplatzt). Auch bei den Verben mit Dativ gibt es beides (sie hat ihm geholfen, aber: sie ist ihm gefolgt). Die Wetterverben haben wieder haben-Perfekt (es hat geregnet und gedonnert), sein und werden aber ein sein-Perfekt (er ist in Kiel gewesen, er ist befragt worden).

Im norddeutschen Standarddeutsch ist der Normalfall das haben-Perfekt, und die Verben mit sein-Perfekt muss man sich extra merken. Bei den Bewegungsverben verlangen z.B. nur die mit einer Zielangabe das sein-Perfekt: sie sind aus dem Saal getanzt; aber: sie haben drei Stunden getanzt.

Verbstellung im Haupt- und im Nebensatz

Viele Sprachen haben die unmarkierte Verbstellung SVO (Subjekt-Verb-Objekt), andere haben SOV oder VSO (oder noch andere Grundstellungen), wenn aber das Objekt vorausgesetzt (topikalisiert) wird, dann kann es auch mal vorangestellt werden (that boy I’ve never seen). Im Nebensatz hat das Deutsche SOV, ähnlich wie Türkisch oder Japanisch: als wir ihn besuchen wollten, aber bei weil ist das dann manchmal strittig, und man sagt auch: weil er war nicht zuhause. Das ist die Hauptsatzstellung, die nun nicht dem Muster SVO (wie im Englischen oder Französischen) folgt, sondern der Verbzweitstellung. Das heißt, vor dem Verb muss irgendetwas stehen: das Subjekt, das Objekt oder ein Adverbial (das Subjekt selbst kann somit entweder vor oder nach dem Verb stehen):

wir besuchten ihn gestern
gestern besuchten wir ihn
ihn besuchten wir gestern
(markiert)

Das ist nun für viele eine ganz unerwartete Regularität. Käme man von einer SVO-Sprache, würde man ∗gestern wir besuchten ihn erwarten, was aber im Deutschen ziemlich verpönt ist. Käme man von einer SOV-Sprache, wäre vielleicht ∗gestern wir ihn besuchten zu erwarten, was aber bestenfalls im Nebensatz geht, nur besser mit dem Subjekt vorne: (als) wir ihn gestern besuchten. Nicht nur, dass das Deutsche zwischen Hauptsatz- und Nebensatzstellung unterscheidet; die Hauptsatzstellung steht dazu noch im Konflikt mit dem, was in den meisten anderen Sprachen gebräuchlich ist.

Verbzweit ist zwar nicht ein völliges Unikum unter den Sprachen der Welt, jedoch ein sehr seltenes Phänomen. Man findet es im Germanischen (im Deutschen und Niederländischen sowie, etwas anders gestaltet, im Schwedischen, Norwegischen und Isländischen), schon ziemlich selten in anderen indoeuropäischen Sprachen (im Bretonischen, im Altfranzösischen und im nordindischen Kashmiri) und wirklich nur als eine sehr zufällige Ausprägung in den austronesischen Sprachen Taiof (1400 Sprecher auf einer kleinen Insel bei Bougainville) und Sisiqa (einige tausend Sprecher auf einer der Salomon-Inseln) sowie in der uto-aztekischen Sprache Tonomo O’odham (14.000 Sprecher in Arizona und Mexiko). Mit anderen Worten: das uns so natürliche Verbzweit hat absoluten Minderheitsstatus unter den Sprachen der Welt und muss deshalb die meisten Ausländer sehr irritieren.

6. Die ‘Design’-Merkmale menschlicher Sprache

Die wesentlichen Eigenschaften menschlicher Sprache kann man ermitteln, indem man herausfindet, in welchen Punkten sich Menschen prinzipiell anders als andere Lebewesen verhalten – im Unterschied zu jenen Punkten, in denen sie sich allenfalls etwas differenzierter als andere Lebewesen verhalten.

(1) Menschen kommunizieren primär über den vokal-auditorischen Kanal (wie es auch Vögel, Elefanten, Delphine und Wale tun) – im Unterschied zu den Primaten, die auf dem gestisch-visuellen Kanal flexibler sind.

(2) Menschen können ihre Rolle als Sprecher und Hörer sehr schnell austauschen, fast gleichzeitig sowohl zuhören als auch selber reden. Es ist schon erstaunlich, wie viel ein Mensch noch wahrnehmen kann, wenn er spricht. Und ebenso erstaunlich ist, wie sensibel Signale für den Sprecherwechsel bzw. für die Verhinderung des Sprecherwechsels gesetzt werden. Für die menschliche Interaktion hat sich ein komplexes turntaking-System entwickelt. So etwas findet sich allenfalls rudimentär in der Tierwelt.

(3) Menschen haben ein großes Repertoire an Zeichentypen, vor allem verwenden sie neben indexikalischen und ikonischen Zeichen auch Symbole.

Ein Zeichen ist indexikalisch, wenn es an etwas im Interaktionsraum Vorfindliches anknüpft; typischerweise sind Zeigegesten dazu in der Lage, im weiteren Sinne auch Zeigewörter (Demonstrative wie hier-da-dort, hin-her) und die sog. deiktischen Ausdrücke, die sich auf die Hier-und-Jetzt-Situation beziehen (ich, du, jetzt usw.).

Ein Zeichen ist ikonisch, wenn es aufgrund seiner Form ähnlich ist zu dem, was es bedeutet. Wer mit Gebärden kommuniziert, hat es in diesem Punkt leichter; zu erklären, was Wendeltreppe heißt, ist schwer, wenn man nur Wörter benutzen darf, aber sehr viel leichter, wenn man die Hand nach oben kreisen lassen darf.

Ein Zeichen ist symbolisch, wenn es eine Situation gibt, in der seine Bedeutung eingeführt wurde (oder sich implizit aus der Situation ergibt). Man kann den Apfel in die Hand nehmen und ‘(Das ist ein) Apfel’ sagen. Was man da sagt, könnte man auch mit einer Birne in der Hand sagen, nur würde man dann die Bedeutung, die das Wort im Deutschen hat, verfehlen. Insofern ist es einleuchtend, dass man bei den Symbolen von arbiträren (willkürlichen) Zeichen spricht.

(4) Menschliche Sprachen sind produktiv und flexibel. Nicht nur, dass man mit dem gegebenen Vokabular beliebig viele neue, nie gehörte Sätze bilden kann; man kann mit den Mitteln der Sprache auch stets neues Vokabular erzeugen oder Wörter aus anderen Sprachen entlehnen und in die eigene integrieren. Insofern gibt es niemals Situationen wie bei der Entwicklung von Werkzeugen, Technologien oder Theorien, dass man sich in einer bestimmten Entwicklungsrichtung festgefahren hat und nun nicht mehr weiter weiß. Alles, was man ausdrücken will, kann man auch ausdrücken; mitunter muss man Terminologien ergänzen, aber dafür gibt es erprobte Strategien. Tierische Kommunikation ist zu einem großen Teil fixiert, teilweise genetisch vererbt, teilweise nach der Lernphase nicht mehr veränderbar, also viel weniger flexibel.

(5) Menschliche Sprachen sind lernbar und werden in einer Tradition weitergegeben. Dies bedeutet, dass jedes Kind bereits Sprachen um sich herum vorfindet, die es erwirbt und dabei die Grammatik dieser Sprachen rekonstruiert. Sprachen können sich aufteilen (Sprachfamilien bilden), voneinander beeinflusst werden (sprachliche Areale bilden) und auch zusammenfließen (sich zu Mischsprachen zusammentun). Alles erfolgt in einem Zusammenspiel von Erwachsenen, die mit den Kindern sprechen, und Kindern, die das, was sie hören, aufnehmen, sich aneignen und vielleicht modifizieren. Tierische Kommunikation ist nur teilweise lernbar – und wenn ja, bildet sie ebenfalls Traditionslinien und Varianten aus.

(6) Die sprachlichen Einheiten sind diskret, und die Musterbildung ist zweistufig. Die kleinsten Einheiten sind die Phoneme wie ä, j, k, r, die fein gesteuerten Routinen, Bewegungsabläufen im Mundraum, entsprechen. Dass man diese Einheiten als diskrete Einheiten versteht, liegt letztlich daran, dass man mit ihnen Bedeutungen unterscheidet: Im Deutschen kann man l und r unterscheiden, weil leib und reib, viel und vier verschiedene Bedeutungen haben; im Japanischen sind solche Unterscheidungen nicht möglich. Die Musterbildung heißt zweistufig, weil nicht die Laute selbst, sondern Lautverkettungen Bedeutungsträger, also Morpheme, sind; dadurch können sehr viel mehr elementare Bedeutungen unterschieden werden als in einem einstufigen System. Die Lautverkettungen tragen nicht als Ganze (holistisch) eine Bedeutung, sondern kraft dessen, dass sie aus diskreten Elementen bestehen; wechselt man einzelne Laute aus, ändert sich die Bedeutung in vorhersagbarer Weise. Bedeutungen werden also kombinatorisch ausgedrückt. Ansätze dafür gibt es auch in tierischer Kommunikation, aber niemals so fein differenziert und wohl auch nur selten zweistufig.

(7) Es gibt kleinste Elemente (Lexikoneinheiten, Morpheme), in denen eine lautliche Form mit einer Bedeutung gepaart ist, wie an, es, Grube, grunz, grün, ich, lach. Aus den kleinsten Elementen können regelmäßig und produktiv komplexe Äußerungen gebildet werden, wie grunz grün-e Grube, grunz ich an Grube, lach ich es an. Entsprechend der Zusammensetzung entstehen komplexe Bedeutungen, letztlich Sprechakte wie Aufforderungen, Behauptungen, Empfehlungen, Fragen, Vermutungen, Verwünschungen. Das System der Sprachregeln ist rekursiv (auf das Ergebnis wieder anwendbar), wie die folgenden Beispiele zeigen:

a.   Ein Kompositum kann Teil eines weiteren Kompositums sein (((straßen + bahn) + schienen) + pflege) + …

b.   Ein Relativsatz kann wieder einen Relativsatz einbetten: der Mann (der den Pfahl (der auf dem Weg (der nach Zirchow führt) steht) umgerissen hat) wird gesucht.

c.   Ein Komplementsatz kann wieder einen Komplementsatz enthalten: ich glaube, (er hat gesagt, (er wisse, (dass sie denkt, …)))

Einzelne der genannten Eigenschaften findet man auch bei anderen Lebewesen, aber niemals alle zusammen. Die meisten dürften schon beim Homo erectus vor 2 Mill. Jahren bestanden haben. Es ist strittig, was der letzte Baustein in der Entwicklung menschlicher Sprache war: Symbolisierung, Diskretheit oder Rekursivität? Unstrittig ist, dass menschliche Sprache das Produkt einer Evolution ist, die auf Vorformen innerhalb der tierischen Kommunikation fußt, zu einem einzigartigen Verständigungssystem führte und weiterhin stattfindet.

7. Biologische und kulturelle Evolution

Biologische Evolution führt zu Lebewesen, die am besten kommunizieren können. – Viele Lebewesen haben eine hohe Intelligenz, eine Vorstellung von sich selbst und ein differenziertes Sozialverhalten. Raben, Delphine, Elefanten, Schimpansen können sich im Spiegel erkennen, etwa einen roten Fleck auf der rechten Seite des Spiegelbildes auf ihren eigenen Körper beziehen und versuchen, ihn dort abzuputzen. Mit anderen Worten: sie haben einen Begriff von ‘ich’ im Unterschied zum ‘du’ (dem Gegenüber, der ein anderer ist), was eine ganz wesentliche Voraussetzung für Kommunikationsfähigkeit ist.