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Der Lambert Schneider Verlag ist ein Imprint der WBG
© 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Redaktion: Inke Hoefer, Düsseldorf
Satz: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. Donau
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ISBN 978-3-650-40189-2
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-650-40190-8
eBook (epub): ISBN 978-3-650-40191-5
Vorwort
Kindheit und Jugend (1819–1839)
Glückliche Kindheitsjahre in New York
Tod des Vaters und drohende Armut
Als Hilfsmatrose nach Liverpool
Zwischen Autobiographie und Fiktion – Redburn
Vier Jahre im Pazifik (1840–1844)
Die Walfangreise
Unter den Kannibalen – Typee
Ein Vagabundenjahr im Südpazifik – Omoo
Experimente und Aufbrüche (1845–1849)
Vom Matrosen zum Schriftsteller
Eintritt in eine bürgerliche Existenz
Ein missglücktes Experiment? – Mardi
Brotschriftstellerei – White-Jacket
Eine Reise in die Alte Welt
Ein Magnum Opus entsteht (1850–1851)
Unterwegs zu einem neuen Projekt
Übersiedlung in die Berkshires
Die Freundschaft mit Nathaniel Hawthorne
Von der „Walreise“ zum Walkosmos
Durch die Ozeane des Menschseins (1851)
Moby-Dick als menschlicher Mikrokosmos
Suche nach ultimativer Wahrheit
Vorgriff auf die Moderne
Desillusionierung und neue Strategien (1852–1853)
Ein gewagtes Experiment – Pierre
Zwischen Autobiographie und Schauerromanze
Eldorado für Biographen
Burnout und missglückte Versuche
Neue Wege mit literarischen Zeitschriften (1853–1855)
Annäherungen an das kurze Erzählen
Große Kurzprosa – „Bartleby the Scrivener“
Der verborgene Vulkan der Sklaverei – „Benito Cereno“
Abrechnung mit Amerika (1855–1857)
Entmythologisierte Geschichte – Israel Potter
Schreiben in Zeiten des Umbruchs
Ein amerikanisches Narrenschiff – The Confidence Man
Auszeit von Amerika
Reisen, Vorträge und frühe Gedichte (1851–1863)
Eine Reise ins Heilige Land
Öffentliche Vorträge
Schiffsreise nach San Francisco
Rückübersiedlung nach New York
Versdichter und Zollinspektor (1864–1876)
Im Schatten des amerikanischen Bürgerkrieges – Battle-Pieces
Zollinspektor im New Yorker Hafen
Eine spirituelle Autobiographie in Versen – Clarel
Stille Jahre bis zum Ende (1877–1891)
Rückzug ins Private
Späte Gedichte
Zwischen Rebellion und Konformismus – Billy Budd
Was von Melville bleibt
Zeittafel
Bibliographie
Personenregister
Werkregister
Danksagung
Fast jeder hat schon irgendwann von Moby-Dick gehört, und viele kennen auch den Namen des Autors. Das Interesse an ihm ist ungebrochen, nicht zuletzt weil im deutschsprachigen Raum hervorragende Neuübersetzungen seiner Hauptwerke erschienen sind. Aber wer – außer Fachamerikanisten – weiß wirklich Bescheid über Herman Melville, den größten und am meisten besprochenen Schriftsteller Amerikas und in fast alle Sprachen übersetzten Weltautor? Die poetische Dichte, die geistige und psychologische Durchdringung seiner Werke und ihre vielschichtige Verflechtung von realistischer Faktizität und universalen Sinnbezügen eröffneten in seiner Zeit literarisches Neuland. Er überschritt den kulturellen Erfahrungshorizont, die Darstellungsformen und Rezeptionsgewohnheiten seiner Zeitgenossen so grundlegend, dass er bei Lesern und Kritikern weitgehend auf Unverständnis stieß und darüber stillschweigend zu einem Vorläufer der Moderne wurde. „Sein Genius war zu groß“, bemerkte eine seiner Enkelinnen viele Jahre später, „um damit eine Familie mit vier Kindern ernähren zu können“ (Parker, 2012, 497). Bestenfalls erinnerte man sich an ihn noch als den „Mann, der unter den Kannibalen lebte“ und der als junger Exmatrose ohne literarische Vorbildung einen faszinierenden, exotischen Südseeroman geschrieben hatte.
Wiederentdeckt wurde Melville erst dreißig Jahre nach seinem Tod, als der junge Literaturwissenschaftler Raymond Weaver 1920 im Haus seiner Enkelin, Eleanor Melville Metcalf, auf das unvollendete Manuskript des Kurzromans Billy Budd stieß und den Sensationsfund im Jahr 1924 posthum veröffentlichte. Es war der Beginn des Melville-Revivals, der rasch anwachsenden Neuentdeckung Melvilles durch ein breites Lesepublikum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eines jahrzehntelangen wissenschaftlichen Prozesses intensiver biographischer, interpretatorischer und kulturgeschichtlicher Aufarbeitung.
Das Erstaunliche an Melvilles Schriftstellerkarriere ist, dass er im Grunde nur elf Jahre seines 72-jährigen Lebens als Prosaschriftsteller tätig war. Zwischen 1846 und 1857 schuf er acht Romane und 18 Erzählungen, dann zog er sich aufgrund finanzieller Misserfolge und kritischer Verrisse aus der professionellen Schriftstellerkarriere zurück. 1860 trat er – für insgesamt 19 Jahre – eine Beamtenstelle als Zollinspektor im New Yorker Hafen an und schrieb in den restlichen drei Jahrzehnten seines Lebens fast nur noch Versdichtungen. Sein internationaler Ruhm beruht heute – neben einer Handvoll herausragender Erzählungen – vor allem auf seinem Meisterwerk Moby-Dick (1851). Im deutschsprachigen Raum haben zwei brillante, an die Qualität des Originals herankommende Neuübersetzungen durch Matthias Jendis und Friedhelm Rathjen – letztere auch in Form eines 30-stündigen, von Christian Brückner gelesenen Hörbuchs – neue Leserkreise erschlossen.
Literatur- und Kulturwissenschaftler sind seit einem Jahrhundert bemüht, in einer unerhörten Fülle von Monographien und Artikeln Melvilles Leben und Werk auszuloten und interessierten Lesern nahezubringen. Vor allem im Bereich der biographischen Erforschung haben sie unverzichtbare Basiswerke hervorgebracht. Jay Leyda veröffentlichte im Jahr 1951 The Melville Log, eine zweibändige chronologische Totaldokumentation von Melvilles Leben in Form aller damals verfügbaren Quellen – Briefauszüge, Rezensionen und Aufzeichnungen aller Art. Hershel Parker fügte 1969 ein überarbeitetes und ergänztes Supplement hinzu und schrieb gleichzeitig über Jahrzehnte hinweg an einer enzyklopädischen Biographie. Der erste Band des fast 2000 Seiten umfassenden Werks erschien im Jahr 1996, der zweite 2002. In seiner Vollständigkeit, die auch Melvilles verzweigten Familienclan in die Betrachtungen einbezieht, ist es bis heute das unübertroffene biographische Standardwerk. Wegen seiner zuweilen übermäßigen Anhäufung zum Teil trivialer Details und der generellen Verweigerung interpretatorischer Zugänge lässt es dennoch manche Leserwünsche offen. Ebenfalls im Jahr 1996 erschien die 700-seitige Biographie von Laurie Robertson-Lorant und fügte mit ihrem persönlicheren und aktualisierenden Zugang neue biographische Akzente hinzu. Der von Brian Higgins und Hershel Parker herausgegebene Sammelband Herman Melville. The Contemporary Reviews (1995) ergänzt die biographischen Werke durch eine kulturgeschichtlich überaus aufschlussreiche Zusammenstellung aller verfügbaren zeitgenössischen Rezensionen zu Melvilles Schriften.
Alle vier genannten Werke wurden nie ins Deutsche übersetzt und bilden mit ihrer Überfülle an Informationen die Grundlage der vorliegenden Biographie. Dieser geht es nicht darum, neue „Fakten“ in Archiven und Privatsammlungen auszugraben, sondern die in der amerikanischen und internationalen Melville-Forschung über viele Jahrzehnte angesammelten Materialien und Erkenntnisse deutschsprachigen Lesern in einer erzählerisch lebendigen Form nahezubringen. Da die wirklich essentiellen, über das rein Faktische hinausgehenden biographischen Einsichten nur aus Melvilles fiktionalen Werken gewonnen werden können, stehen diese im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen. Angestrebt wird eine Balance zwischen einer „äußeren“ (faktischen) und einer „inneren“ (literarischen) Annäherungsweise. Sie versucht, Melville als konkreten Menschen, aber gleichzeitig auch als einen über seine Zeit und sein kulturelles und historisches Umfeld hinausragenden Schriftsteller verständlich zu machen.
In deutscher Sprache liegen bislang vier neuere biographische Werke vor. Elizabeth Hardwicks ursprünglich im Jahr 2000 als Penguin-Taschenbuch herausgebrachte, 2002 in deutscher Übersetzung erschienene Kurzbiographie ist eine geistreiche, aber stark impressionistisch verkürzte Darstellung und lässt den biographisch interessierten Leser über weite Strecken im Stich. Andrew Delbancos exzellente, von Werner Schmitz kompetent ins Deutsche übersetzte Biographie Melville – His World and Work (2005, dt. Melville. Biographie, 2007) ist weiter gefasst und geht stärker auf historische, kulturelle und politisch aktualisierte Zusammenhänge ein. Das für eine einschlägig vorgebildete amerikanische Leserschaft konzipierte 470-seitige Buch verliert sich jedoch häufig in lange kultur- und literaturgeschichtliche Exkurse auf Kosten genauer individualbiographisch orientierter Werkanalysen. Auch Alexander Pechmanns erste umfassende deutschsprachige Biographie Herman Melville. Leben und Werk (2003) ist ein informatives, gut recherchiertes Buch, entspricht jedoch – vor allem im Bereich der Werkinterpretationen – nicht mehr dem heutigen Forschungs- und Reflexionsstand. Der bislang verdienstvollste und vollständigste Beitrag zur biographischen Erschließung Melvilles im deutschsprachigen Raum ist die von Werner Schmitz und Daniel Göske ins Deutsche übersetzte, mit einem biographischen Kommentar herausgegebene Textsammlung Herman Melville. Ein Leben. Briefe und Tagebücher (2004). Die vorliegende Biographie greift in ihren Textzitaten größtenteils auf dieses unverzichtbare Werk zurück.
Trotz der Masse an vorhandenem Material oder auch gerade deswegen ist eine neue Biographie ein schwieriges Unterfangen. Melville macht es seinen Biographen alles andere als leicht. Er selbst schrieb keine Memoiren und hinterließ nur relativ wenige konkrete autobiographische Hinweise auf sein Alltags- und Familienleben oder sein schriftstellerisches Werk. Im Vergleich zu anderen amerikanischen Autoren seiner Zeit – etwa Mark Twain, Walt Whitman oder Jack London – war sein äußeres Leben nicht sonderlich ereignisreich. Der Geschäftszusammenbruch und frühe Tod des Vaters, eine fast vierjährige Walfang- und Schiffsreise als 20-Jähriger in die Südsee, die Verheiratung mit Elizabeth Shaw, der großbürgerlichen Tochter des angesehenen Bostoner Höchstrichters Lemuel Shaw, und die vier Kinder, die aus der Ehe hervorgingen, die Übersiedlung der Familie von New York in die ländlichen Berkshires in Massachusetts, die intensive Freundschaft mit Nathaniel Hawthorne und einige Reisen – in den Mittelwesten, nach England, Palästina und San Francisco – sowie der tragische Selbstmord des ältesten Sohnes Malcolm waren die wenigen Höhe- und Tiefpunkte. Melvilles Lebensweise war nach seiner Heirat eher hausgebunden und familiär, aber gleichzeitig geprägt von seiner künstlerischen Introvertiertheit und manischen Schreibbesessenheit. Neben gelegentlichen häuslichen Pflichten, regelmäßigen Spaziergängen, Wanderungen, Kurzurlauben und dem Stöbern in Buchhandlungen und Bibliotheken verbrachte er seine Tage in der Regel von früh bis spät schreibend und lesend in seinem Arbeitszimmer. Die letzten dreißig Lebensjahre als Zollbeamter und die Zeit nach seiner Pensionierung in New York waren von seiner Augenschwäche und chronischen Ischias- und Rückenschmerzen stark beeinträchtigt.
In seinen zwischenmenschlichen Beziehungen war Melville eher zurückhaltend, verletzlich und nicht besonders kommunikativ. Da außerdem zu seinen Lebzeiten sein Bekanntheitsgrad relativ gering war, gibt es von ihm kaum Gesprächsaufzeichnungen oder zeitgenössische Beschreibungen. Auch seine Korrespondenz ist wenig ergiebig. Während zum Beispiel von Henry James 12.000 Briefe erhalten sind, gibt es von Melville nur ca. 300, und diese beziehen sich hauptsächlich auf alltägliche Angelegenheiten zwischen Familienangehörigen oder auf Besprechungen mit Verlegern und Lektoren, vor allem mit seinem literarischen Mentor Evert Duyckinck. Melville scheute sich, seine publizierten Werke zu kommentieren, geschweige denn sie autobiographisch oder inhaltlich zu erläutern. Nur in seinen Briefen an Hawthorne in den Jahren 1850 und 1851 ließ er seinen Gefühlen und Gedanken freien Lauf. Leider sind die für Melvilles Schriftstellerkarriere enorm wichtigen Antwortbriefe Hawthornes nicht erhalten. Melville hatte die – für den Biographen – fatale Angewohnheit, Briefe, auch die seiner engsten Freunde und Verwandten, nach einiger Zeit zu entsorgen, als wollte er die Nachwelt vor allzu Persönlichem bewahren. Sogar der Briefverkehr mit seiner Mutter und seiner Frau Lizzie ist größtenteils verschwunden oder nur in einigen fragmentarischen Abschriften erhalten. Auch die verschiedenen Manuskriptfassungen seiner Werke, die Aufschlüsse über seine Schaffensprozesse hätten geben können, sowie seine öffentlichen Vorträge erachtete er als nicht aufbewahrenswert. Tagebücher führte er keine; nur auf seinen späteren Reisen benutzte er Reisejournale, um Fakten und Eindrücke zur Verwertung in seinen schriftstellerischen Werken zu horten. Viele Anspielungen auf Besichtigungsorte und Reisebegegnungen, vor allem in Moby-Dick, gehen auf diese Journal-Einträge zurück, obwohl auch diese in der Regel knapp und ohne tiefergehende Betrachtungen sind. Nur selten werden zwischen den Zeilen Gefühlsregungen erkennbar, etwa das Heimweh nach seinem Zuhause und der Familie am Ende seines Englandaufenthalts oder die depressive Grundstimmung während seiner Palästinareise.
Aufgrund dieses Mangels an direkten Informationen neigen Biographen häufig dazu, Analogien zwischen Melville und den Charakteren in seinen Werken herzustellen und irrtümliche Rückschlüsse zu ziehen. Im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Outsidern (isolatos) in vielen seiner Romane und Erzählungen war Melville in Wirklichkeit kein eingefleischter Einsiedler oder Eigenbrötler, wie dies etwa Raymond Weaver annahm, sondern war eingebettet in einen riesigen bürgerlichen Familienclan – die Melvilles, Gansevoorts und Shaws – mit ihren zahllosen Brüdern und Schwestern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen, Schwägern und Schwägerinnen. Sie waren untereinander eng verbunden, besuchten sich häufig und korrespondierten miteinander. Für den Biographen ist es oft mühsam, diese verflochtenen familiären Beziehungen mit ihren immer wiederkehrenden gleichen Vornamen auseinanderzuhalten und im Einzelnen zu verfolgen. Hershel Parker zitiert akribisch die vielen Korrespondenzen und beschreibt im Detail die Besuche und regelmäßigen Zusammenkünfte an den verschiedenen Familienstandorten Pittsfield, Albany, Boston und New York. Vieles davon ist für den heutigen Leser eher belanglos geworden und berührt zumeist nur Oberflächen und Ränder. Dennoch wirft es Licht auf die ansonsten nur schemenhaften Umrisse von Melvilles äußerem Leben, vor allem sein Netzwerk von Abhängigkeiten. So wäre seine Schriftstellerlaufbahn ohne den selbstlosen Einsatz seines älteren Bruders Gansevoort bei der Erstveröffentlichung von Typee, ohne die ständigen finanziellen Zuwendungen des großzügigen Schwiegervaters Lemuel Shaw und des wohlhabenden Onkels Peter Gansevoort sowie ohne die Rechtshilfen seines jüngeren Rechtsanwalt-Bruders Allan nur schwer möglich gewesen. Vor allem aber hielt ihn – trotz mancher dramatischer Ehekrisen – die lebenslange loyale Verbundenheit mit seiner Frau Lizzie in allen praktischen Dingen und in ihrer Rolle als Erbin und Finanzverwalterin über Wasser. Melville, der in seinen Werken nur wenige weibliche Charaktere gestaltet, war lebenslang von hilfsbereiten Frauen umgeben. So verpflichtete er nicht nur Lizzie, sondern auch seine Schwestern Augusta und Helen und später seine Tochter Frances zu den mühsamen handschriftlichen Kopier-, Reinschrift- und Korrekturarbeiten seiner schwer leserlichen Manuskripte.
Wie schon erwähnt, kann alles Wesentliche, was über Melvilles geistige Verfassung und sein inneres Leben zu erfahren ist, im Grunde nur aus seinen schriftstellerischen Werken abgeleitet oder erschlossen werden. Nur ihnen vertraute er sich an, wenn auch zumeist auf fiktionale und verfremdete Weise. Mehr als bei anderen Autorenbiographien sind deshalb genaue und behutsame Textinterpretationen unverzichtbar. Leben und Werk sind bei Melville so unauflöslich verknüpft, dass eine „innere Biographie“ ohne die genaue Aufarbeitung seiner Werke nicht fassbar wäre. Stellt man sich jedoch dieser zeitlich aufwändigen Herausforderung, wie es die vorliegende Darstellung versucht, dann eröffnet sich eine ungemein faszinierende Vielschichtigkeit und tiefe Welthaltigkeit. Melvilles Auseinandersetzung mit den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Bewegungen und Krisen seiner Zeit, ihren Widersprüchen und Paradoxien und darüber hinaus mit den sozialen und psychologischen Erscheinungsformen menschlicher Existenz insgesamt bildet ein zeitloses, über Amerika weit hinausgehendes literarisches Manifest. Die existentielle Unbehaustheit, die darin zum Ausdruck kommt, verdichtet sich – vor allem in Moby-Dick – zu einer großen Sinnsuche in Form metaphorischer Reisen durch die Ozeane des Menschseins. Es ist die Zielsetzung dieses Buches, die fortdauernde Aktualität des Melville’schen Werkes heutigen Leserinnen und Lesern neu erfahrbar zu machen.
Als Herman Melville am 1. August 1819 in New York City zur Welt kam, war die Stadt noch lange nicht die große Metropole, zu der sie in den nachfolgenden Jahrzehnten heranwachsen sollte. Aber schon damals war sie eine quirlige und weltoffene Hafenstadt, die sich in ihrer Gründungsgeschichte von dem strengen, kalvinistisch geprägten Boston, der Stadt Melvilles väterlicher Vorfahren, deutlich unterschied. Während die puritanische „City upon a Hill“ im Norden zum theokratischen Mittelpunkt der Neuen Welt aufstieg, hieß New York anfänglich noch New Amsterdam und hatte eine ganz andere, vorwiegend holländisch-koloniale Vergangenheit. Melville wurde in beide Welten hineingeboren. Sowohl die väterliche Yankee-Tradition als auch die holländischen Wurzeln seiner Mutter hinterließen in ihm tiefe Spuren.
Henry Hudson, ein englischer Seekapitän in niederländischen Diensten, hatte 1609 den Hudson River als wichtigstes Einfallstor in das Innere des Kontinents erkundet und die Voraussetzungen zur Gründung der Kolonie New Netherlands im Jahr 1621 geschaffen. Die Manhattan-Insel in der Hudson-Mündung wurde den Algonkin-Indianern zum Spottpreis von 60 Gulden (ca. 24 Dollar) abgekauft und darauf eine befestigte Siedlung errichtet.Der größere Teil der Siedler zog jedoch weiter flussaufwärts und gründete Fort Orange und andere Niederlassungen im weiteren Umkreis von Albany, der heutigen Hauptstadt des Bundesstaates New York. Unter dem legendären Gouverneur Peter Stuyvesant erlebte die Kolonie ihre wirtschaftliche Blüte und entwickelte sich zur Drehscheibe des Transatlantik- und Ostindienhandels. Aber all dies fand im Jahr 1664 ein abruptes Ende, als Großbritannien, die zweite maritime Weltmacht in dieser Zeit, die holländische Kolonie ohne nennenswerten Widerstand annektierte und sie dem britischen Hoheitsgebiet eingliederte. Die wohlhabenden New Amsterdamer Kaufleute und Reeder waren nicht gewillt, eine militärische Belagerung und Seeblockade über sich ergehen zu lassen. Sie führten clevere Verhandlungen mit den neuen Machthabern und ließen es sich weiterhin in ihrer Stadt gut gehen, die jetzt in New York umbenannt wurde und bald zur wichtigsten Hafenstadt in der Neuen Welt heranwuchs. Durch die stark zunehmende englische, französisch-hugenottische, deutsche und jüdische Zuwanderung und die ersten aus Afrika importierten Sklaven verlor New York jedoch im 18. Jahrhundert allmählich seine ursprünglich holländischen Merkmale. Nur einige sprachliche Gewohnheiten, z.B. die zu englischen „cookies“adaptierten beliebten holländischen „koekjes“,sowie etliche bauliche Spuren sind übriggeblieben. Bei Grabungen im südlichen Teil Manhattans stößt man gelegentlich immer noch auf Delfter Kacheln oder die gelben Backsteinreste holländischer Kolonialhäuser (Shorto, 23–114).
Um 1819 – Melvilles Geburtsjahr – hatte New York 120.000 Einwohner, eine Zahl, die sich bis 1850 durch Massenimmigration verzehnfachte und bis zu seinem Todesjahr 1891 auf drei Millionen anwuchs. Neunzig Prozent der ursprünglichen Einwohner waren Nachkommen holländischer,englischer und anderer europäischer Einwanderer aus der Kolonialzeit. Trotz starker ethnischer und religiöser Unterschiede bildeten sie die protestantische Führungsschicht der Stadt und lebten als Reeder, Kaufleute, Händler und Makler hauptsächlich vom Überseehandel. Im Hafen,dessen hölzerne Piers, Kais, Lagerhäuser und Kontore sich über einen elf Meilen langen Küstenstreifen erstreckten, legten die großen Übersee-Handelsschiffe an und löschten und luden ihre Waren. Dort herrschte ein lebendiges, buntes multiethnisches Treiben von Seeleuten,Händlern, und Abenteurern aus aller Herren Länder. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Battery an der Südspitze Manhattans, wo einst das alte holländische Fort stand,liegt Pearl Street 6, das erste New Yorker Domizil der Melvilles.Leider wurde das Haus im 19. Jahrhundert abgerissen und nur eine unscheinbare Plakette erinnert heute noch an Melvilles Geburtsort.Die Spaziergänge der Familie auf der langgezogenen Promenade entlang der an den Kais vertäuten Handelsschiffe und ihrer Mastenwälder, die seltsamen Sprachen und verschiedenen Nationalitäten der Seeleute gehörten zu Melvilles frühen Kindheitserinnerungen. Am Hafen wehte die Luft der weiten Welt, wie dies in einer Passage am Beginn von Moby-Dick zum Ausdruck kommt:
Dort liegt nun eure Inselstadt der Manhattos, umgürtet mit Kais wie die Inseln im Indischen Meer mit Korallenriffen – der Handel umgibt sie mit seiner Brandung. Nach rechts und nach links führen euch die Straßen zum Wasser. Ihr südlichster Zipfel ist die Battery, jene stolze Mole, die von Wogen umspült, und von Brisen gekühlt wird, welche nur wenige Stunden zuvor kein Land vor sich sahen. Schaut Euch die Scharen der Wassergaffer dort an, Tausende und Abertausende von Sterblichen, gefangen in ozeanischen Träumereien. (MD, 33–34)
New York war damals die weltoffenste und multikulturellste Stadt der USA, aber die Lebensbedingungen dort waren alles andere als angenehm. Das im Winter feuchtkalte und im Sommer schwüle Klima, der Gestank der schlecht funktionierenden und unhygienischen Müllentsorgung, das Gewimmel und der Lärm der Pferdekarren und Kutschen in den Straßen und vor allem die von Seeleuten und Schiffspassagieren eingeschleppten Krankheiten und Seuchen schufen eine ungesunde Umgebung. In den Sommermonaten – auch in Melvilles Geburtsmonat – zwangen ausbrechende Cholera-, Typhus- und Gelbfieberepidemien tausende Bewohner, aus der Stadt in die umliegenden Landgebiete zu flüchten.
Melvilles Vater, der Textilkaufmann Allan Melvill [sic], war Abkömmling einer angesehenen Patrizierfamilie aus Boston und entfernter Nachfahre eines schottischen Adelsgeschlechts, von dem einige Angehörige ins vorrevolutionäre Amerika ausgewandert waren und sich in Boston niedergelassen hatten. Der Großvater Major Thomas Melvill hatte sich als politischer Kampfgefährte des Revolutionsführers Samuel Adams und durch die Beteiligung an der Boston Tea Party und der Schlacht am Bunker Hill einen Namen gemacht. Einige Teeblätter aus dieser Zeit in einem Glasgefäß am Kaminsims des Elternhauses wurden wie eine Reliquie gehütet. Aber trotz der Verwurzelung in der patriotischen Vergangenheit gehörten Melvilles Großeltern zu den liberalen Bostonians. Sie hatten sich aus der engen puritanischen Vergangenheit gelöst und gehörten einer der unitarischen Kirchengemeinden an, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Umkreis liberaler Harvard-Theologen herausgebildet und 1825 zur American Unitarian Association zusammengeschlossen hatten. Die Unitarier unter der Führung ihres Gründervaters, des charismatischen Geistlichen William Ellery Channing, lehnten die puritanische Prädestinationslehre und die Doktrin der angeborenen Verworfenheit des Menschen ab. Sie glaubten nicht an die heilige Dreifaltigkeit, sondern an den Menschensohn Jesus und seine moralische Autorität. Sie sahen keinen Gegensatz zwischen Christentum und menschlichem Verstand, verachteten jede Form von Dogmatismus und setzten sich für eine tolerante Religiosität und praktische Menschenliebe ein. In spiritueller Selbstbildung sahen sie die wichtigste Aufgabe des Menschen. Zwei Jahrzehnte später entwickelte sich aus dem Unitarismus unter dem Einfluss von Ralph Waldo Emerson der säkulare Transzendentalismus als typische Ausprägung der amerikanischen Romantik.
Melvilles Vater Allan war von der liberalen Gesinnung seiner Eltern geprägt und folgte darüber hinaus dem kosmopolitischen Weltbild seines um sechs Jahre älteren Bruders Thomas. Dieser war im internationalen Bankgeschäft tätig und hatte während eines mehrjährigen Bildungsaufenthalts in Europa eine französische Bankierstochter geheiratet. In Paris, wo er bis 1811 lebte, lernte er fließend Französisch und bahnte internationale Geschäftsbeziehungen an.Als ihm Allan nach Europa folgte und sich ebenfalls zwei Jahre in Paris aufhielt, nahm ihn der ältere Bruder unter seine geschäftlichen Fittiche. Auf Wunsch seines Vaters stattete er auch der Melville-Familie auf ihrem Adelssitz in Schottland einen Besuch ab, ohne jedoch die Beziehung aufrechtzuerhalten. Dem ursprünglichen Familiennamen fügte erst Melvilles Mutter nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1832 das abschließende e hinzu, um einen Neubeginn in ihrem familiären Leben zu manifestieren.
Nach mehreren Geschäftsreisen in Europa eröffnete Allan 1812 in Albany, der Hauptstadt des Staates New York, eine Importfirma für französische Modeartikel und Kurzwaren – Leinenhandschuhe, Parfums, Straußenfedern, Satinstoffe, Stickereien etc. Dort lernte er die damals 19-jährige, aus bester Familie stammende Maria Gansevoort kennen und heiratete sie zwei Jahre später. Das junge Paar zog vorübergehend in das feudale Haus ihrer verwitweten Mutter Catherine Van Schwaick Gansevoort an der Market Street und Maria brachte in kurzen Abständen zwei Kinder zur Welt. Die Familie verkehrte in den vornehmsten Kreisen der Stadt und war unter anderem mit dem Gouverneur des Staates De Witt Clinton befreundet. Trotzdem war es nicht Albany, sondern New York City, der führende Handelsplatz des Staates, der Melvilles Vater anlockte.
Auch seine Mutter Maria Gansevoort war amerikanisches Urgestein, aber auf ganz andere Weise als die Bostoner Großeltern. Sie entstammte der holländisch-kolonialen Oberschicht von Upstate New York,deren Vorfahren einst Fort Orange gegründet hatten. Die breite Wasserstraße des Hudson Rivers war die Lebensader der niederländischen Kolonie und eröffnete den Zugang zum Handel mit Biberpelzen in den damals noch kaum erschlossenen Wildnisgebieten im Westen. Bis heute erinnern zwei Biber und eine Windmühle im New Yorker Wappen an diese Gründerzeit. Entlang des Stromes sprangen neben Albany etliche Kleinstädte und Dörfer mit niederländischen Namen aus dem Boden, in denen die kalvinistisch geprägte Reformierte Niederländische Kirche das Sagen hatte.Bis ins 19. Jahrhundert war das Holländische weit verbreitet, und noch Melvilles Mutter sprach mit ihrer Großmutter Holländisch. In der Regel waren die niederländischen „Patrone“ begüterte Händler, Landwirte, Bierbrauer und Geschäftsleute. Sie lebten in behäbigen, mit Delfter Kacheln und schweren Mahagoni-Möbeln ausgestatteten Land- und Stadthäusern und nahmen führende Positionen in der regionalen Wirtschaft und Politik ein. Es war die Urheimat der Van Burens und Van Vechtens, der Roosevelts oder Vanderbilts, die zur Herausbildung des amerikanischen Nationalcharakters kräftig beigetragen haben. Der Schriftsteller Washington Irving hat dieser gediegenen kolonialen Welt in seiner Knickerbocker’s History of New York (1809) und in Erzählungen wie „Rip Van Winkle“ oder „The Legend of Sleepy Hollow“ idyllische Denkmäler gesetzt. Zusammen mit James Fenimore Cooper und William Cullen Bryant bildete Irving den Mittelpunkt eines Kreises früher New Yorker Schriftsteller, die unter dem Namen „The Knickerbocker School“in die amerikanische Literaturgeschichte eingegangen sind.
Die um die Mitte des 17. Jahrhunderts aus Holland eingewanderten Gansevoorts hatten es als Bierbrauerdynastie zu beträchtlichem Wohlstand und Ansehen gebracht und waren mit führenden Patrizierfamilien wie den Van Rensselaers oder Van Schaicks verwandtschaftlich verbunden. Marias Vater Peter Gansevoort war ein berühmter General im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und ist als siegreicher Verteidiger von Fort Stanwix gegen aus Kanada vordringende britische Truppen und Mohawk-Indianer in die amerikanische Geschichte eingegangen. Einige Straßen, Plätze und Hotels in New York erinnern bis heute an ihn und ein inzwischen abgerissenes Fort in der Hafeneinfahrt von New York trug seinen Namen. Seine Tochter Maria war eine gebildete, luxusgewohnte Dame, und die Porträts, die es von ihr gibt, stellen sie als eine selbst- und standesbewusste resolute Person dar. Im Gegensatz zu ihrem liberalen unitarischen Ehemann bestand sie darauf, dass ihre Kinder, auch ihr zweiter Sohn Herman, gemäß ihrer Familientradition in der Reformed Dutch Church von New York getauft und in der Folge bibelstreng erzogen wurden. Als überzeugte Kalvinistin glaubte sie an die Vorbestimmtheit und Sündhaftigkeit des Menschen, der nur durch ein arbeitsames und tugendhaftes Leben seine Erwähltheit von Gott unter Beweis stellen konnte. Nach dem frühen Tod ihres Mannes verstärkte sich Marias Religiosität und damit auch der Druck auf ihre heranwachsenden Söhne und Töchter. Auch der junge Herman, der dem weltoffenen Vater und seiner freizügigen Lebensart nahestand, bekam dies zu spüren. Unter den kulturellen Prägungen seines Lebens – Boston, New York und Albany – war die Welt der Mutter nach dem Tod des Vaters für Herman die nachhaltigste und auch problematischste. In seinem Roman Pierre wird er viele Jahre später von ihr in der Gestalt der Mrs. Glendinning ein nicht sehr schmeichelhaftes fiktionales Porträt zeichnen.
1818 verlegte Vater Allan seine Firma nach Manhattan, nicht zuletzt, um den gehobenen Ansprüchen der Gansevoorts entsprechen zu können. Im Jahr darauf kam Herman als drittes von insgesamt acht Kindern auf die Welt. Seine Kindheit war eingebettet in großbürgerlichen Wohlstand sowie in die muntere Schar von drei Brüdern und vier Schwestern: Gansevoort (1815), Helen (1817), Augusta (1821), Allan (1823), Catherine (Kate, 1825), Frances (Fanny, 1827) und Thomas (1830). Besonders nahe stand ihm der dreieinhalb Jahre ältere Bruder Gansevoort, dessen selbstbewusste Art er sich zum Vorbild nahm. Auf mehreren Geschäftsreisen über den Atlantik baute der Vater seine Handelsbeziehungen erfolgreich aus. Nach der noch bescheidenen Pearl Street übersiedelte die Familie bald in immer repräsentativere Häuser an der Cortland Street, der Bleecker Street und zuletzt am Broadway, wo der Vater 1828 am Höhepunkt seiner Geschäftskarriere ein elegantes Wohnhaus in geziemender Entfernung von den ungesunden Wohngegenden am Hafen anmietete.
Da es kaum Aufzeichnungen über das Leben der Familie in dieser Zeit gibt, sind die Biographen auf Melvilles fiktionale Werke angewiesen. So gibt der junge Ich-Erzähler Wellingborough am Beginn des Romans Redburn (1849) einen nostalgischen Rückblick in die familiäre Umgebung seiner Kindheit:
Wir hatten mehrere Möbelstücke in der Wohnung, die von Europa mitgebracht worden waren [...], Ölgemälde und seltene alte Stiche aus dem Besitz meines Vaters, die er selbst in Paris gekauft hatte und die im Speisezimmer hingen. Zwei davon waren Seestücke [...]. Dann besaßen wir auch einen großen Bücherschrank, der in der Diele stand, so groß wie ein kleines Haus. Er hatte eine Art Untergeschoss mit Schloss und Schlüssel, und oben hatte er Glastüren, durch die man die langen Reihen alter Bücher sehen konnte, die in Paris, London und Leipzig gedruckt waren. [...] Dann besaßen wir zwei große grüne französische Mappen mit kolorierten Stichen, schwerer als ich in jenen Jahren zu heben vermochte. Jeden Samstag holten meine Brüder und Schwestern sie aus der Ecke hervor, wo sie aufbewahrt wurden, breiteten sie auf dem Boden aus und schauten sie sich mit nie versagendem Vergnügen an. (R, 10–11)
Besonders eingeprägt hat sich dem jungen Herman „das Bild eines großen Wals, so groß wie ein Schiff, vollgesteckt mit Harpunen, und drei Boote fuhren, so schnell sie konnten, hinter ihm her“ (R, 11). Beeindruckend war auch das Porträt des Vaters als eines etwas arrogant dreinblickenden jungen Dandys in einer mit Messingknöpfen verzierten Weste und hochgebürsteter Stirnlocke. Das größte Prunkstück des Hauses war jedoch ein altmodisches französisches Kriegsschiff aus Glas, dessen Schilderung im ersten Kapitel von Redburn zwei Seiten einnimmt. Der Vater hatte es in jungen Jahren als Geschenk für einen Großonkel von einer Europareise aus Hamburg mitgebracht. Nach dessen Tod ging es an die Geberfamilie zurück. Im jungen Wellingborough/Herman erweckt das gläserne Schiff „unbestimmte Träume und Sehnsüchte“ (R, 12) nach einem künftigen Leben als Seemann. Immer wieder dringt er in seiner Phantasie in das Innere der La Reine ein und versetzt sich in die Aktivitäten der kleinen blau gekleideten Matrosen in der feingesponnenen gläsernen Takelage.
Die elf Jahre seiner Kindheit im privilegierten Elternhaus waren die sorgloseste Zeit in Melvilles Leben. Den fürsorglichen Eltern standen eine Schar von Kindermädchen, Hauslehrern, Dienstmägden, eine Köchin und ein Hausdiener zur Seite. Die kosmopolitische Atmosphäre, die vom Vater ausging, und die exotischen Erzählungen über seine Reisen und Abenteuer in ferne Länder, die er in geselliger Runde von sich gab, sowie die anregenden Gegenstände, Bilder und Bücher erweckten schon im kindlichen Herman eine Art Fernweh: „Ich zweifle nicht daran“, bekennt Wellingborough im Roman, „dass diese Vorahnung mit meinem späteren unsteten Leben in Zusammenhang stand“ (R, 12). Darüber hinaus gab es viele, zum Teil enge Beziehungen zu den Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen. Um der Schwüle New Yorks und den berüchtigten Epidemien in den Sommermonaten zu entgehen, gab es wochenlange Familienbesuche und Sommerferien in Albany oder bei den Großeltern in Boston. Dort begegnete Herman auch dem stattlichen weißhaarigen Onkel väterlicherseits, Kapitän John D’Wolf, der ihm von einem Schiff auf einer Expeditionsseereise im Pazifik erzählte, das von einem riesigen Wal gerammt wurde. Melville setzte ihm später im 45. Kapitel von Moby-Dick ein Denkmal. Am liebsten jedoch war Herman bei seinem Onkel Thomas Melvill Jr. in Pittsfield in den Berkshires am Ostrand von Massachusetts, wo dieser die vom Großvater übernommene Farm bewirtschaftete. Nach dem frühen Tod seiner französischen Frau heiratete er noch einmal und setzte zusätzlich zu den sechs Kindern aus erster Ehe acht weitere in die Welt.
Im Gegensatz zu der kosmopolitischen Lebenswelt des Vaters zeugten die ehrwürdigen Mahagoni-Möbel und alten Familienporträts, die die Mutter aus ihrem Familienbesitz nach New York mitbrachte, von der bodenständigen und konservativen, in der kolonialen Vergangenheit verankerten Geisteshaltung der Gansevoorts. In besonderem Maß galt dies für das feudale großelterliche Haus an der Market Street in Albany, mit der Herman eng vertraut war. In Redburn preist er die alte „Mansion“ mit ihren vielen Giebeln und lange vor der Revolutionszeit aus Holland importierten Ziegeln als ehrwürdiges Gegenstück zu den hässlichen modernen Zweckbauten in Liverpool (R, 168). Die holländischen Interieurs und Stilmöbel, die kostbaren Gegenstände aus Silber und Porzellan sowie die kunstvollen Spiegel und Uhren wären schon damals der Stolz eines jeden kolonialhistorischen Museums gewesen. Den größten Schatz bildeten jedoch die militärischen Erinnerungsstücke an General Gansevoort: sein spartanisches Feldbett, sein Säbel, seine Uniformen, Fahnen und Banner, eine erbeutete britische Messingtrommel und das berühmte, von Gilbert Stuart gemalte Ölgemälde des Kriegshelden. Einer der Höhepunkte in der Geschichte des Hauses war der Besuch des legendären französischen Generals Lafayette anlässlich der Eröffnung des Bunker-Hill-Memorials im Jahr 1825. Wie stolz Allan und Maria auf diese Familiengeschichte waren, zeigt sich daran, dass sie ihren Stammhalter Gansevoort nannten. Auch Herman konnte sich, wie aus seinen Werken und Briefen immer wieder hervorgeht, diesem prägenden Einfluss nicht entziehen. Die Gegensätzlichkeit zwischen dem väterlichen und dem mütterlichen Einfluss und der frühe tragische Tod des Vaters hinterließen in Melville seelische Wunden, die er nie überwinden konnte und die seine spätere innere Zwiespältigkeit begründeten.
In New York besuchte Herman ab seinem sechsten Lebensjahr vier Jahre lang die New York Male Highschool und anschließend ein Jahr lang die elitäre Grammar School am Columbia College. 1826 beschreibt Vater Allan seinen Sohn in einem Brief an Onkel Peter Gansevoort als einen „waschechten Knickerbocker“, der im Vergleich zum brillanten Bruder Gansevoort zwar „sprachlich etwas zurückgeblieben und von langsamer Auffassung ist“ (Leyda, 25), aber durch seine Ernsthaftigkeit und solide Wesensart seinen Vorfahren in Albany durchaus Ehre macht. Vier Jahre später kam er noch einmal zu einer ähnlichen Beurteilung. Die angeblichen kaufmännischen Ambitionen, die er darin Herman zuschreibt, entsprachen jedoch eher seinem eigenen Wunschdenken als der Realität:
Herman macht größere Fortschritte als vormals, und obwohl er kein glänzender Schüler ist, hält er sich achtbar und würde besser vorankommen, wenn man ihn dazu bringen könnte, mehr zu lernen – er ist ein höchst liebenswertes und unschuldiges Kind, und ich kann’s nicht über mich bringen, ihn zu zwingen, vor allem da er sich offenbar das Kaufmännische als bevorzugtes Berufsziel erwählt hat, und diese praktische Tätigkeit kann wohl ohne viel Buchgelehrsamkeit auskommen. (S/G, 11)
Die grüblerische und phantasiebegabte Veranlagung seines Sohnes blieben ihm offensichtlich ebenso verborgen wie seine eigenen kaufmännischen Schwächen. Trotz seiner Weltläufigkeit und Bildung und der guten Beziehungen zu prominenten Verwandten und Freunden entpuppte sich Melvilles Vater auf Dauer als ein äußerst zweifelhafter Geschäftsmann. Immer häufiger war er durch fehlgeschlagene riskante Transaktionen gezwungen, hohe Kredite aufzunehmen, ohne sie zurückzahlen zu können. Nach außen ließ er sich das drohende Desaster nicht anmerken, hielt an seiner großzügigen Lebensweise fest und verspekulierte sich dabei immer mehr. Wenn ihm die Gläubiger allzu sehr auf den Fersen waren, lieh er sich vom Vater, von seinem Schwager Peter oder von seinem besten Freund, dem Bostoner Richter Lemuel Shaw, größere Geldbeträge. Aber die schlechte Wirtschaftslage ging auch an diesen Sponsoren nicht spurlos vorüber und verstärkte ihre Sorge um den Erhalt des Familienvermögens. Als der Großvater nach der Wahl Andrew Jacksons zum amerikanischen Präsidenten seine Beamtenstellung in der Bostoner Hafenbehörde verlor, schützte er seine Frau und die drei unversorgten Töchter vor drohenden finanziellen Verlusten, indem er Allans Schulden von dessen Erbanteil abzog. Darüber, ob Maria von dem sich zusammenbrauenden finanziellen Zusammenbruch Bescheid wusste, gibt es nur Vermutungen. Als sich die Krise zuspitzte, litt sie an Angstzuständen, Kopfschmerzen und Depressionen und übersiedelte mit ihren Kindern ins elterliche Albany.
Steigende Importzölle, unvorhergesehene Zinserhöhungen, ein immer stärker werdender Konkurrenzdruck sowie eine gravierende Fehlinvestition in ein scheiterndes Handelsunternehmen trieben Allan schließlich in den finanziellen Ruin. Trotz verzweifelter Bemühungen musste er im Dezember 1830 Bankrott anmelden und die Firma auflösen. Das Haus am Broadway musste aufgegeben, die Dienstboten entlassen und sogar wertvolle Stücke der Bibliothek verkauft werden. Maria wurde nach New York zurückgerufen, um mit dem ältesten Sohn Gansevoort den Abtransport der Familienmöbel nach Albany durchzuführen. Der Vater harrte indes mit Herman im leer geräumten Haus am Broadway aus, bevor auch sie bei Nacht und Nebel in einem Dampfboot nach Albany abreisten. Wie schwer der elfjährige Herman unter dem dramatischen Ereignis litt, beschreibt er zwanzig Jahre später in Redburn: „Aber ich darf an diese köstlichen Tage nicht denken – es war vor dem Bankrott und dem Tode meines Vaters nach dem wir aus der Stadt wegzogen –, denn wenn ich daran denke, steigt mir etwas in meiner Kehle hoch und droht mich zu ersticken“ (R, 42).
In seinem späteren Leben sprach Melville selten über seine Kindheitsjahre in New York; zu schmerzlich waren die Erinnerungen daran. Die verwitwete und gebrechliche Großmutter Catherine Van Schaick Gansevoort, in deren Haus die zehnköpfige Familie im September 1830 Zuflucht fand, war den ungeordneten Verhältnissen nicht gewachsen. Um ihr nicht länger zur Last zu fallen, mieteten Allan und Maria kurz vor ihrem Tod im Dezember eine Wohnung in der nahen Clinton Street. Schwager Peter Gansevoort vermittelte Allan eine leitende Position in einer Pelzfirma in Albany, während die Söhne wieder zur Schule gingen. Dann aber brach die letzte große Katastrophe über die Familie herein, als der Vater völlig unerwartet starb. Nach aufreibenden Auseinandersetzungen mit Gläubigern in New York am 8. Dezember 1831 wollte er nach Albany zurückkehren, das Schiff blieb jedoch wegen eines starken Eisganges am Hudson hängen. Allan musste die letzten 60 Meilen bei klirrender Kälte in einer offenen Kutsche zurücklegen und am Ende den zugefrorenen Fluss zu Fuß überqueren. Er zog sich eine schwere Lungenentzündung zu, nahm jedoch die Arbeit wieder auf und hielt bis zum Jahresende durch. Dann aber raubten ihm die ständige nervliche Belastung, psychische Spannungen und Schlaflosigkeit die letzte Widerstandskraft. Er verfiel in tiefe Depressionen und Verwirrungszustände und erlitt am 8. Januar 1832 im Alter von nur 50 Jahren einen schrecklichen Tod. Herman wurde Zeuge des Tobens und Schreiens des im Fieberdelirium wahnsinnig gewordenen sterbenden Vaters. Es war ein Trauma, das ihn sein ganzes späteres Leben nicht mehr losließ und das er erst viele Jahre später in Pierre literarisch aufzuarbeiten versuchte. Der ungerechte Tod des geliebten Vaters stürzte ihn in tiefe Zweifel an den gütigen unitarischen Gott, an den er bis dahin geglaubt hatte.
Der 17-jährige Bruder Gansevoort war nun gezwungen, die Rolle des Familienerhalters zu übernehmen und sein geplantes Harvardstudium aufzugeben. Herman musste die Schule abbrechen und eine Stelle als Botenjunge an der New York State Bank antreten. Zu allem Unglück raffte im Juli 1832 eine aus New York nach Albany eingeschleppte Cholera-Epidemie hunderte von Menschenleben hinweg. Die Mutter flüchtete mit den Kindern auf die Farm ihres Schwagers Thomas Melvill, wo Gansevoort in der Landwirtschaft mithalf, während Herman zu seinem Bankjob in Albany zurückkehren musste.
Im September dieses Jahres starb der 81-jährige Großvater in Boston. Die Familienstreitigkeiten, die aus der Testamentsvollstreckung hervorgingen, waren für Maria und die Familie ein niederschmetternder Schock: Wegen der Schuldenlast Allans, die der Vater mit seinem Erbanteil aufgerechnet hatte, ging Maria leer aus. In ihrer Not wandte sie sich hilfesuchend an Lemuel Shaw, den besten Freud ihres Mannes. Vergeblich versuchte Shaw die Frau und Töchter des Verstorbenen dazu zu bewegen, Maria zumindest einen Teil des Erbes zukommen zu lassen. Verbitterung und gegenseitige Anschuldigungen vergifteten hinfort die Familienbeziehungen, die schließlich mit dem Tod der Bostoner Großmutter im darauffolgenden Jahr abbrachen.
Im Mai 1834 vernichtete ein Brand das Pelzlager der Firma, für die Gansevoort und aushilfsweise auch Herman arbeiteten. Es war ein Schlag, von dem sich der Betrieb nicht mehr erholte. In der Wirtschaftspanik des Jahres 1837 mit ihren Bankenzusammenbrüchen und wilden Finanzspekulationen musste Gansevoort den Bankrott anmelden. Die Mutter war nun gezwungen, den Rest ihres durch Darlehen belasteten Familienerbes zu verpfänden, um die noch unmündigen Kinder zu versorgen. Herman suchte wieder bei Onkel Thomas in den Berkshires Zuflucht, arbeitete auf der Farm und begann extensiv Bücher aus dessen Bibliothek zu lesen. Er verehrte den jovialen Onkel, der in der provinziellen landwirtschaftlichen Umgebung mit seinen guten Umgangsformen die Aura eines gestrandeten europäischen Aristokraten ausstrahlte. Besonders interessierte sich Herman auch für dessen ältesten Sohn Thomas. Dieser hatte als Offiziersanwärter auf einem amerikanischen Kriegsschiff den Südpazifik befahren und dabei die Marquesas-Insel Nukuhiva besucht, die später in Hermans Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. In den Sommermonaten 1837 genoss Herman die prächtigen Hügel- und Berglandschaften der Berkshires und unternahm ausgedehnte Wanderungen. 13 Jahre später werden ihn die guten Erinnerungen an diese Zeit dazu bewegen, sich dort niederzulassen.
Im Herbst übernahm er die Stelle eines Aushilfslehrers in einer lokalen Distriktschule, um die Mutter finanziell zu entlasten. Er plagte sich mit 30 Schülern aller Alters- und Ausbildungsstufen ab, bevor er nach einiger Zeit frustriert das Handtuch warf. „Mögen Redner von den weithin verbreiteten Segnungen der Bildung in unserem Land schwärmen“, schreibt er seinem Onkel, „blickt man jedoch auf die Praxis, so werden die hohen und zuversichtlichen Hoffnungen, die ihr eindrucksvolles Auftreten in der Theorie erweckt – ein wenig zunichte gemacht“ (S/G, 16). Im September kehrte Herman nach Albany zurück, besuchte nach fünfjähriger Schulunterbrechung die Albany Classical School und anschließend die Lateinklasse der Albany Academy. Sein Hauptinteresse in dieser Zeit galt jedoch den Debattierclubs der Albany Young Men’s Association, an denen er sich eifrig beteiligte. Er verfasste pseudonyme Leserbriefe für lokale Zeitungen und veröffentliche anonym „From the Writing Desk“ – zwei von Edgar Allan Poe inspirierte Erzählfragmente. Die belanglosen Texte waren nicht viel mehr als rhetorische Fingerübungen und noch keine wirklichen Vorboten seiner späteren schriftstellerischen Tätigkeit.
Um ihre Lebenskosten niedrig zu halten, gab die Mutter 1838 das Mietshaus in Albany auf und übersiedelte mit den Kindern in eine bescheidenere Behausung in Lansingburgh, einem Dorf am Hudson 18 km weiter nördlich. Ihre Finanzlage mit 50.000 Dollar Bankschulden wurde immer prekärer, und ihr Bruder Peter, der jetzt das Haus der Gansevoort-Eltern übernahm, musste ihr mit Geldzuweisungen für Miete und Lebenskosten unter die Arme greifen. In den Wintermonaten absolvierte Herman einen Kurs an der Ingenieursschule von Lansingburgh, aber sein Versuch, im Anschluss über Vermittlung des Onkels eine Anstellung als Landvermesser in der lokalen Kanalverwaltung zu bekommen, schlug fehl. Verbittert über das brotlose Hin und Her der ständigen Jobsuche heuerte der inzwischen 19-jährige Herman kurzentschlossen als Hilfsmatrose auf einem zwischen New York und Liverpool verkehrenden Handelsschiff an. Als die St. Lawrence, beladen mit Baumwolle für die Textilfabriken in Manchester, im Juni 1839 von New York aus in See stach, begann für Melville ein neuer Lebensabschnitt. Im Roman Redburn, den er zehn Jahre später schrieb, zieht der Ich-Erzähler das Fazit aus seiner schwierigen Jugend:
Schweren Herzens und mit nassen Augen ließ meine arme Mutter mich ziehen. Vielleicht hielt sie mich für einen missgeleiteten, eigensinnigen