Unendliche Dankbarkeit gilt den Leserinnen und Lesern der Black Dagger. Ohne Euch wären die Brüder nicht auf Buchseiten verewigt.
Karen Solem, Kara Cesare, Claire Zion, Kara Welsh, Rose Hilliard – euch danke ich so sehr.
In Liebe zu meiner Familie und meinen Freunden, und mit fortwährender Hochachtung für meinen Exekutivausschuss : Sue Grafton, Dr. Jessica Andersen, Betsey Vaughan.
Die BLACK DAGGER-Serie:
Erster Roman: Nachtjagd
Zweiter Roman: Blutopfer
Dritter Roman: Ewige Liebe
Vierter Roman: Bruderkrieg
Fünfter Roman: Mondspur
Sechster Roman: Dunkles Er wachen
Siebter Roman: Menschenkind
J. R. Ward begann bereits während ihres Studiums mit dem Schreiben. Nach ihrem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestseller-Listen eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als neuer Star der romantischen Mystery.
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Mary sah auf den Wecker: 1:56. Bis zur Dämmerung würden noch Stunden vergehen, und an Schlaf war nicht zu denken. Immer, wenn sie die Augen schloss, sah sie Rhage mit all diesen Waffen behängt vor sich. Wie hatte sie ihn so im Streit gehen lassen können? Was, wenn ihm da draußen etwas zustieß?
Sie drehte sich auf den Rücken. Die Vorstellung, ihn vielleicht niemals wieder zu sehen, war so verstörend, dass sie sich weigerte, sich damit auseinanderzusetzen. Sie musste ihre widerstreitenden Gefühle wohl einfach hinnehmen.
Gott, sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen, bis zu dem Moment, in dem er gegangen war. Sie hätte ihn fest umarmt. Und ihn streng dazu aufgefordert, auf sich aufzupassen, auch wenn sie keinen blassen Schimmer vom Kämpfen hatte und er – hoffentlich – ein Meister darin war. Sie wollte ihn einfach nur in Sicherheit –
Plötzlich wurde die Tür aufgeschlossen. Als sie aufschwang, leuchtete Rhages blondes Haar im Flurlicht auf.
Mary schoss aus dem Bett und quer durch den Raum und warf sich ihm dann in die Arme.
»Hey, hey, was zum …« Sein Arm umschlang sie, hob sie hoch und drückte sie an sich, während er hereinkam und die Tür schloss. Als er sie wieder losließ, glitt sie an seinem Körper herunter. »Alles okay bei dir?«
Ihre Füße trafen auf den Boden, und sie kehrte in die Realität zurück.
»Mary?«
»Ähm, ja … ja, alles okay.« Sie trat zur Seite. Sah sich um. Wurde dunkelrot im Gesicht. »Ich bin nur … ähm, also, ich gehe dann mal wieder ins Bett.«
»Moment mal, Frau.« Rhage zog seinen Trenchcoat, das Halfter und den Gürtel aus. »Komm wieder her. Ich mag es, wie du mich begrüßt.«
Er breitete die Arme weit aus, und sie drückte sich ganz fest an ihn, spürte seinen Atem. Sein Körper war so warm, und er roch wunderbar. »Ich hatte nicht erwartet, dass du noch auf bist«, murmelte er und streichelte ihr mit der Hand über die Wirbelsäule.
»Konnte nicht schlafen.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass du hier in Sicherheit bist, Mary.« Seine Finger fanden ihren Halsansatz und massierten sanft ihren Nacken. »Hey, du bist ganz schön verspannt. Wirklich alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut. Rhage?«
Seine Finger hielten inne. »Beantwortest du diese Frage jemals wahrheitsgemäß?«
»Habe ich gerade.« So ungefähr.
Er streichelte sie wieder. »Versprichst du mir etwas?«
»Was denn?«
»Gib mir Bescheid, wenn es dir nicht gut geht, ja?« Seine Stimme klang jetzt ganz zärtlich. »Ich meine, ich weiß ja, dass du eine ganz Harte bist, deshalb halte ich bestimmt nicht die ganze Zeit Luft an. Du musst dir keine Sorgen machen, dass ich vor Nervosität umkomme.«
Sie lachte. »Ich verspreche es.«
Er hob ihr Kinn mit dem Finger an, seine Augen blickten ernst. »Sonst werde ich dich daran erinnern.« Dann küsste er sie leicht auf die Wange. »Ich wollte gerade in die Küche gehen und mir was zu essen holen. Willst du mitkommen? Das Haus ist ganz still. Die Brüder sind noch unterwegs.«
»Klar. Ich ziehe mich nur schnell um.«
»Zieh einfach eine Jacke von mir über.« Er ging zur Kommode und zog etwas Schwarzes, Weiches in der Größe eines Zelts heraus. »Mir gefällt die Vorstellung, dass du meine Klamotten trägst.«
Als er ihr in die Jacke half, lag in seinem Lächeln etwas sehr Zufriedenes.
Verdammt, der ganze Mann strahlte vor Besitzerstolz.
Als er und Mary gegessen hatten und wieder zurück im Zimmer waren, konnte Rhage sich kaum noch konzentrieren. Das Summen in seinem Inneren war ohrenbetäubend laut geworden, schlimmer als je zuvor. Und er war total erregt, sein Körper fühlte sich so heiß an, dass er das Gefühl hatte, sein Blut müsste in den Venen vertrocknen. Als Mary sich ins Bett legte, duschte er rasch und überlegte, ob er sich kurz um seine Erektion kümmern sollte, bevor er wieder ins Schlafzimmer ging. Das verdammte Ding war hart, steif und schmerzte, und das Wasser, das an ihm hinunter rann, erinnerte ihn an Marys Hände auf seiner Haut. Er berührte sich und dachte daran, wie sie sich an seinen Lippen gewunden hatte, als er ihre geheimsten Stellen liebkost hatte. Er hielt es weniger als eine Minute aus.
Als es vorbei war, brachte ihn der einsame Orgasmus nur noch mehr in Fahrt. Es war, als wüsste sein Körper, dass das einzig Wahre da draußen auf ihn wartete und nicht die Absicht hatte, sich von ein wenig Handentspannung ablenken zu lassen.
Fluchend stieg er aus der Dusche und rubbelte sich trocken, dann ging er zum Schrank. Innerlich dankte er Fritz für seine Gewissenhaftigkeit und fand nach einigem Wühlen einen Pyjama, den er noch nie zuvor getragen hatte. Er schlüpfte hinein, dann zog er zur Sicherheit auch noch einen Morgenmantel über.
Rhage zog eine Grimasse, er hatte das Gefühl, seinen halben Kleiderschrank am Leib zu tragen. Aber genau darum ging es ja.
»Ist es dir zu warm hier drin?«, fragte er, ließ eine Kerze aufflackern und das Licht ausgehen.
»Genau richtig.«
Er persönlich fand es heißer als in den verfluchten Tropen. Und je näher er dem Bett kam, desto höher stieg die Temperatur.
»Mary, in etwa einer, eineinhalb Stunden wirst du die Rollläden hören, die sich automatisch für den Tag schließen. So laut ist es nicht, aber ich möchte nicht, dass du dich erschreckst.«
»Danke.«
Rhage legte sich auf der anderen Seite des Bettes auf die Bettdecke und verschränkte die Beine an den Knöcheln. Ihn nervte einfach alles, das heiße Zimmer, der Pyjama, der Morgenmantel. Jetzt wusste er, wie es sich anfühlte, ein Geschenk vor sich zu haben, das man noch nicht auspacken durfte: Schön in Papier eingewickelt mit einer Schleife darum. Es juckte ihn in den Fingern.
»Trägst du immer so viele Sachen im Bett?«, hörte er sie fragen.
»Auf jeden Fall.«
»Und warum ist dann das Preisschild noch am Morgenmantel? «
»Falls ich noch mal so einen will, kann ich damit herausfinden, wo es ihn gab.«
Er drehte sich auf die Seite, weg von ihr. Wälzte sich wieder auf den Rücken und starrte die Decke an. Dann probierte er es auf dem Bauch.
»Rhage.« Ihre Stimme klang zauberhaft in der stillen Dunkelheit.
»Was denn?«
»Normalerweise schläfst du nackt, oder?«
»Äh, meistens schon.«
»Dann zieh doch die Klamotten aus. Das macht mir nichts aus.«
»Ich möchte aber nicht, dass du dich … unbehaglich fühlst.«
»Ich fühle mich unbehaglich, wenn du dich ständig um deine eigene Achse drehst. Ich komm mir vor wie in einer Salatschleuder.«
Normalerweise hätte er über ihren vernünftigen Tonfall gekichert, hätte ihm nicht das heiße Pochen zwischen seinen Beinen jeglichen Sinn für Humor aus den Knochen gesaugt.
Ach, egal. Er glaubte doch wohl nicht ernsthaft, sein lächerlicher Aufzug würde ihn in Schach halten. Er war so scharf auf sie, dass man ihn schon in Ketten legen müsste; das bisschen Stoff würde sicher keinen Unterschied machen.
Mit dem Rücken zu ihr stand er auf und zog sich aus. Danach gelang es ihm mit einiger Geschicklichkeit, unter die Decke zu schlüpfen, ohne ihr einen aufschlussreichen Blick auf seine Vorderfront zu gewähren. Von der gigantischen Erregung, die zwischen seinen Beinen deutlich sichtbar war, musste sie nicht unbedingt wissen.
Wieder wandte er sich von ihr ab und legte sich auf die Seite.
»Kann ich ihn anfassen?«, fragte sie.
Sein Gerät zuckte heftig, als wollte es sich freiwillig zur Verfügung stellen. »Wen anfassen?«
»Den tätowierten Drachen auf deinem Rücken. Ich würde ihn gern … berühren.«
O Gott, sie war so nah bei ihm und diese Stimme – diese wunderschöne, liebliche Stimme – war einfach nur magisch. Doch die Vibration in seinem Körper fühlte sich an, als hätte er eine Betonmischmaschine im Bauch.
Als er nichts sagte, murmelte sie. »Lass gut sein. Ich wollte nicht –«
»Nein. Es ist nur …« Scheiße. Er hasste diese Distanz in ihrer Stimme. »Mary, es ist schon okay. Tu, was immer du möchtest.«
Er hörte Laken rascheln. Spürte, wie sich die Matratze leicht bewegte. Und dann strichen ihre Finger über seine Schultern. Er unterdrückte das Zucken, so gut er konnte.
»Wo hast du das machen lassen?«, flüsterte sie und fuhr den Umriss mit der Fingerspitze nach. »Es ist ganz außergewöhnlich kunstvoll.«
Sein gesamter Körper spannte sich an, er fühlte genau, welchen Teil der Bestie sie gerade berührte. Jetzt wanderte sie über das linke Vorderbein, das wusste er, weil er das entsprechende Kitzeln in seinem eigenen Bein spürte.
Rhage schloss die Augen, er war gefangen zwischen dem Entzücken, ihre Hand auf sich zu spüren, und der Gewissheit, dass er mit dem Feuer spielte. Das Vibrieren, das Brennen – es steigerte sich immer mehr und rief die dunkelste, zerstörerischste Seite in ihm wach.
Mit zusammengebissenen Zähnen atmete er tief durch, als sie die Flanke der Kreatur streichelte.
»Deine Haut ist so weich.« Sie ließ ihre Handfläche über seine Wirbelsäule gleiten.
Völlig erstarrt, atemlos betete er um Selbstbeherrschung.
»Und … überhaupt.« Sie zog die Hand zurück. »Ich finde es wunderschön.«
Er lag auf ihr, bevor ihm noch bewusst war, dass er sich überhaupt bewegt hatte. Und er benahm sich nicht wie ein Gentleman. Fordernd schob er ihr seinen Oberschenkel zwischen die Beine, drückte ihr die Hände über dem Kopf auf die Matratze und bedeckte ihren Mund mit seinem. Als sie sich ihm entgegen bäumte, griff er nach dem Saum ihres Nachthemds und zog es mit einem Ruck nach oben. Er würde sie nehmen. Jetzt sofort und in seinem Bett, wie er es sich erträumt hatte. Und es würde perfekt sein.
Ihre Schenkel boten ihm keinen Widerstand, sie spreizten sich weit, und Mary zog ihn zu sich, stieß seinen Namen in einem heiseren Stöhnen aus. Das Geräusch löste ein heftiges Zittern in ihm aus, ihm wurde beinahe schwarz vor Augen, Schauer rannen ihm über Arme und Beine. Seine Lust verzehrte ihn, legte seine Instinkte unter der dünnen zivilisierten Schicht frei. Er war roh, wild und …
Er stand kurz vor der sengenden Implosion, die den Vorboten des Fluchs darstellte.
Das pure Entsetzen gab ihm die nötige Kraft, um von ihr herunter zu klettern und quer durch den Raum zu taumeln. Krachend stieß er gegen etwas. Die Wand.
»Rhage!«
Er sank zu Boden, hielt sich die zitternden Hände vors Gesicht, er wusste, seine Augen waren weiß. Sein ganzer Körper schüttelte sich so heftig, dass die Worte in abgehackten Fetzen seinen Mund verließen. »Ich hab den Verstand verloren … Das ist … Verdammt, ich kann nicht … ich muss mich von dir fernhalten.«
»Warum? Ich möchte nicht, dass du aufhörst.«
Er sprach einfach weiter. »Ich sehne mich nach dir, Mary. Ich bin so verdammt … hungrig. Ich will dich, unbedingt, aber ich kann dich nicht haben. Ich werde dich nicht … nehmen.«
»Rhage«, zischte sie, als versuchte sie, zu ihm durchzudringen. »Warum denn nicht?«
»Du willst mich nicht. Glaub mir, so willst du mich wirklich nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
Er würde ihr mit Sicherheit nicht erklären, dass in ihm eine Bestie lauerte. Lieber Abscheu als Furcht, beschloss er. »Ich hatte allein diese Woche schon acht verschiedene Frauen.«
Ein langes Schweigen folgte. »Du liebe … Güte.«
»Ich möchte dich nicht anlügen. Niemals. Also lass mich das ein für alle Mal klarstellen. Ich hatte haufenweise anonymen Sex. Ich war mit wirklich vielen Frauen zusammen, die mir alle vollkommen gleichgültig waren. Und du sollst niemals glauben, dass ich dich auf diese Art und Weise ausnutzen würde.«
Seine Pupillen fühlten sich an, als wären sie jetzt wieder schwarz, also nahm er die Hände vom Gesicht.
»Bitte sag mir, dass du Kondome benutzt«, murmelte sie.
»Wenn die Frauen mich darum bitten, tue ich das.«
Ihre Augen blitzten auf. »Und wenn nicht?«
»Ich kann mir von ihnen genauso wenig eine banale Erkältung holen wie HIV oder Hepatitis C oder irgendwelche sonstigen Krankheiten. Und ich kann auch keine Infektionen übertragen. Menschliche Viren befallen uns nicht.«
Sie wickelte sich die Decke um die Schultern. »Aber du könntest sie doch schwängern? Oder können Menschen und Vampire …«
»Mischlinge sind selten, aber es kommt vor. Ich weiß, ob eine Frau fruchtbar ist, ich kann es riechen. Wenn sie es ist oder bald sein wird, habe ich keinen Sex mit ihr. Nicht mal mit Gummi. Wenn ich einmal Kinder habe, dann sollen sie in Sicherheit und in meiner Welt geboren werden. Und ich werde die Mutter lieben.«
Marys Blick wandte sich ab, wurde starr, gequält. Er folgte ihrem Blick; sie starrte das Bild der Madonna mit dem Kind über der Kommode an.
»Ich bin froh, dass du mir das erzählt hast«, sagte sie schließlich. »Aber warum müssen es immer Fremde sein? Warum kannst du nicht mit jemandem zusammen sein, den du … Ach nein, vergiss die Frage. Das geht mich nichts an.«
»Ich wäre lieber mit dir zusammen, Mary. Nicht in dir sein zu dürfen, ist Folter für mich. Ich begehre dich so sehr, dass ich es kaum aushalten kann.« Geräuschvoll stieß er den Atem aus. »Aber willst du mich wirklich und ehrlich jetzt in diesem Moment? Obwohl … Verdammt, selbst wenn es so wäre, gibt es da noch was anderes. Du machst mich ganz schwindlig. Ich hab es dir schon mal gesagt, ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren. Du hast eine völlig andere Wirkung auf mich als andere Frauen.«
Wieder entstand ein langes Schweigen. Mary brach es schließlich.
»Sag mir noch mal, dass du untröstlich bist, dass wir nicht miteinander schlafen«, sagte sie tonlos.
»Ich bin absolut untröstlich. Ich hab solche Sehnsucht nach dir, dass es wehtut. Hab ununterbrochen einen Ständer. Bin abwesend und genervt.«
»Gut.« Sie lachte kurz. »Junge, Junge, ich bin ganz schön fies, was?«
»Überhaupt nicht.«
Es wurde still im Zimmer. Irgendwann legte er sich auf den Boden und rollte sich auf der Seite zusammen, den Kopf auf den Arm gebettet.
Sie seufzte. »Du musst deswegen nicht auf dem Fußboden schlafen.«
»Es ist besser so.«
»Himmelherrgott, Rhage, steh jetzt gefälligst auf.«
Seine Stimme wurde zu einem tiefen Knurren. »Wenn ich zurück in dieses Bett komme, führt für mich kein Weg an dieser hinreißenden Stelle zwischen deinen Beinen vorbei. Und dieses Mal wären es nicht nur meine Hand und meine Zunge. Ich würde sofort da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben. Mein Körper auf deinem, jeder harte Zentimeter von mir begierig, in dich einzudringen. «
Als er den köstlichen Duft ihrer Erregung aufnahm, knisterte die Luft zwischen ihnen vor sexueller Energie. Und sein Körper verwandelte sich wieder in pure Elektrizität.
»Mary, ich sollte lieber gehen. Ich komme zurück, wenn du eingeschlafen bist.«
Er verschwand, bevor sie noch protestieren konnte. Als sich die Tür hinter ihm schloss, glitt er an der Wand im Flur entlang zu Boden. Nicht mehr im Zimmer zu sein, half schon etwas. So stieg ihm ihr verführerischer Duft nicht so stark in die Nase.
Er hörte ein Lachen und sah auf. Phury schlenderte den Gang hinunter.
»Du siehst ganz schön fertig aus, Hollywood. Und du bist splitterfasernackt.«
Rhage bedeckte sich notdürftig mit den Händen. »Wie du das aushältst, ist mir schleierhaft.«
Der Bruder blieb stehen und ließ den heißen Cidre in seinem Becher kreisen. »Was aushalten?«
»Das Zölibat.«
»Erzähl mir nicht, dass die Frau dich nicht will?«
»Das ist nicht das Problem.«
»Und warum bist du dann hier draußen und stehst stramm?«
»Ich, äh, ich will ihr nicht wehtun.«
Phury wirkte erstaunt. »Du bist ein großer Junge, aber du hast noch nie eine Frau verletzt. Zumindest wüsste ich nichts davon.«
»Nein, es ist nur so … ich begehre sie so sehr, dass … ich steh total unter Strom.«
Phurys gelbe Augen verengten sich. »Du sprichst von deiner Bestie?«
Rhage blickte zur Seite. »Ja.«
Das Pfeifen, das sein Bruder ausstieß, klang bitter. »Wenn das so ist … pass lieber gut auf dich auf. Du willst ihr deine Achtung erweisen, das ist in Ordnung. Aber du musst dich im Griff haben, sonst wirst du ihr noch wirklich schaden, wenn du weißt, was ich meine. Such dir einen Kampf, such dir wenn nötig andere Frauen, aber sorg dafür, dass du ausgeglichen bist. Und wenn du was von meinem roten Rauch brauchst, sag einfach Bescheid. Du kannst jederzeit von meinem Kraut haben.«
Rhage holte tief Luft. »Beim Rauchen passe ich. Aber könnte ich mir eine Jogginghose und ein Paar Turnschuhe von dir leihen? Ich versuche mal zu rennen, bis ich umfalle.«
Phury schlug ihm auf den Rücken. »Komm, mein Bruder. Ich rette dir doch gern den Hintern, wenn ich kann.«
Im schwindenden Licht des Nachmittags rangierte O den kleinen Bagger um den Erdhaufen herum, den er damit aufgetürmt hatte.
»Fertig für die Rohre?«, rief U ihm zu.
»Ja. Lassen Sie mal eins runter. Mal sehen, ob es passt.«
Ein ungefähr einen Meter dickes und zwei Meter langes Abflussrohr aus Wellblech wurde langsam in das Loch herabgelassen, bis es aufrecht darin stand. Es passte perfekt.
»Dann versenken wir die anderen beiden auch«, ordnete O an.
Zwanzig Minuten später standen die drei Rohrabschnitte in Reih und Glied. Mit dem kleinen Bagger schaufelte O die Erde zurück, während die anderen beiden Lesser die Rohre festhielten.
»Sieht gut aus«, meinte U und ging im Kreis um die Vorrichtung herum. »Sieht verdammt gut aus. Aber wie kriegen wir die Vampire hier rein und raus?«
»Mit einem Gurtsystem.« O stellte den Motor ab, ging zu den Rohren und linste hinein. »Die kann man im Sportladen kaufen. Sind eigentlich zum Klettern gedacht. Wir sind stark genug, um sie hochzuziehen, egal wie schwer sie sind, und die Gefangenen werden betäubt und erschöpft sein oder Schmerzen haben, also werden sie sich kaum wehren.«
»Das war wirklich eine großartige Idee«, murmelte U. »Aber wie decken wir die Rohre oben ab?«
»Die Deckel werden aus Drahtgeflecht sein, und darauf wird ein Gewicht liegen.«
O blickte in den blauen Himmel hinauf. »Wie lange wird es noch dauern, bis das Dach fertig ist?«
»Im Moment stellen wir die letzte Mauer auf. Dann müssen wir nur noch die Dachsparren einziehen und die Oberlichter einbauen. Das Decken dauert dann nicht mehr lange. Danach bringe ich das Werkzeug hinein, besorge einen Tisch und morgen Nacht können wir loslegen.«
»Haben wir bis dahin die Jalousien für die Oberlichter? «
»Ja. Und sie können per Fernsteuerung bedient werden. «
Mann, die Dinger würden sehr nützlich sein. So ein bisschen Sonnenlicht war die beste Hilfe, die ein Lesser haben konnte. Ein satter Strahl und voilà! Kein Vampirmüll mehr.
O deutete mit dem Kopf auf den Bagger. »Ich bringe das Gerät zurück zur Vermietung. Brauchen Sie etwas aus der Stadt?«
»Nein. Wir haben alles.«
Auf dem Weg nach Caldwell, den kleinen Bagger auf der Ladefläche seines Pick-ups, hätte O eigentlich bester Laune sein müssen. Der Bau ging gut voran. Seine Eskadrone akzeptierte ihn als Führer. Mr X hatte das Thema Betas nicht mehr angeschnitten. Aber stattdessen fühlte er sich … tot. Was wirklich ein schlechter Witz war bei jemandem, der seit drei Jahren ohnehin nicht mehr am Leben war.
So war es ihm schon einmal ergangen.
Damals in Sioux City, bevor er zum Lesser geworden war, hatte er sein Leben gehasst. Irgendwie hatte er sich durch die Schule gemogelt, aber für ein College hatte das Geld nicht gereicht. Also waren seine beruflichen Chancen ziemlich eingeschränkt gewesen. Als Rausschmeißer zu arbeiten, hatte sich in Anbetracht seiner Körpergröße und seiner Aggressivität angeboten, doch das war nur mäßig amüsant: Die Betrunkenen wehrten sich meistens gar nicht und einen Bewusstlosen zu verprügeln machte ungefähr so viel Spaß, wie eine tote Kuh zu schlagen.
Das einzig Gute war Jennifer gewesen. Sie hatte ihn vor der geistlosen Langeweile gerettet und dafür hatte er sie geliebt. Sie brachte Aufregung und Dramatik in die öde Landschaft seines Daseins. Und wenn er mal wieder einen seiner Wutanfälle bekam, dann schlug sie sofort zurück, obwohl sie kleiner war als er und leichter anfing zu bluten. Er hatte nie herausgefunden, ob sie ihre Boxhiebe verteilte, weil sie nicht kapierte, dass er am Ende doch gewinnen würde; oder weil sie so daran gewöhnt war, von ihrem Vater geschlagen zu werden, dass sie es als normal empfand, Prügel zu kassieren. Ob nun Dummheit oder Gewohnheit, er nahm alles, was sie ihm geben konnte, und dann prügelte er sie windelweich. Sie hinterher, wenn die Wut verraucht war, zu pflegen, gehörte zu den zärtlichsten Augenblicken seines Lebens.
Aber wie alle guten Dinge hatte auch dieses ein Ende gefunden. Gott, wie er sie vermisste. Sie war die Einzige gewesen, die verstand, dass Liebe und Hass in seinem Herzen Seite an Seite wohnten, die Einzige, die mit beidem gleichzeitig hatte umgehen können. Wenn er an ihr langes, dunkles Haar und ihren schlanken Körper dachte, vermisste er sie so stark, dass er sie beinahe neben sich spüren konnte.
Als er nach Caldwell hinein fuhr, dachte er an die Prostituierte, die er sich neulich geleistet hatte. Am Ende hatte er von ihr doch bekommen, was er brauchte. Aber sie hatte es das Leben gekostet. Und während er jetzt die Straße entlangfuhr, hielt er Ausschau nach Nachschub. Leider waren in der horizontalen Branche Brünette schwerer zu bekommen als Blonde. Vielleicht sollte er sich eine Perücke zulegen und die Huren zwingen, sie zu tragen.
O dachte an all die Leute, die er auf dem Gewissen hatte. Den ersten Menschen hatte er in Notwehr getötet. Der zweite war ein Versehen gewesen. Den dritten hatte er kaltblütig umgelegt. Als er dann auf der Flucht vor dem Gesetz an der Ostküste angekommen war, wusste er schon das ein oder andere über den Tod.
Damals, kurz nach dem Verlust Jennifers, hatte sich der Schmerz in seiner Brust wie ein lebendiges Wesen angefühlt, wie ein tollwütiger Hund, der ihn von innen auffressen würde. Sich der Gesellschaft der Lesser anzuschließen, war für ihn wie ein Wunder gewesen. Es bewahrte ihn vor der quälenden Einsamkeit, gab ihm eine Daseinsberechtigung und ein Ziel und ein Ventil für den Schmerz.
Jetzt aber waren all diese Vorteile plötzlich verschwunden, und er fühlte sich leer. Genau wie vor fünf Jahren in Sioux City, direkt bevor er Jennifer getroffen hatte.
Na ja, also fast, dachte er, als er auf den Parkplatz der Gerätevermietung einbog.
Damals war er noch am Leben gewesen.
»Bist du noch in der Wanne?«
Mary lachte und hielt sich das Telefon ans andere Ohr. Sie vergrub sich noch tiefer in die Kissen. Es war schon nach vier Uhr.
»Nein, Rhage.«
Sie konnte sich nicht erinnern, je einen luxuriöseren Tag verbracht zu haben. Ausschlafen. Essen aufs Zimmer geliefert bekommen, inklusive Büchern und Zeitschriften. Der Whirlpool.
Es war wie ein Aufenthalt in einem Wellness-Hotel, allerdings in einem, in dem ständig das Telefon klingelte. Sie wusste schon nicht mehr, wie oft er angerufen hatte.
»Hat Fritz dir gebracht, was ich ihm aufgetragen habe?«
»Woher hatte er mitten im Oktober die frischen Erdbeeren? «
»Er findet Mittel und Wege.«
»Und die Blumen sind wunderschön.« Sie beäugte den riesigen Strauß aus Rosen, Fingerhut, Rittersporn und Tulpen. Frühling und Sommer in einer Vase vereint. »Vielen Dank.«
»Schön, dass sie dir gefallen. Ich wünschte, ich hätte sie selbst besorgen können. Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, nur die allervollkommensten für dich auszusuchen. Sie sollten bunt sein und gut riechen.«
»Tagesziel erreicht.«
Männliche Stimmen ertönten im Hintergrund. Rhages Stimme senkte sich. »Hey, Bulle, kann ich mal in dein Zimmer gehen? Ich brauche ein bisschen Privatsphäre.«
Die Antwort war unverständlich, dann hörte sie eine Tür ins Schloss fallen.
»Hi«, hörte sie Rhages jetzt rauchige Stimme. »Liegst du im Bett?«
Ihr Körper regte sich und wurde warm. »Ja.«
»Ich vermisse dich.«
Sie öffnete den Mund. Es kam nichts heraus.
»Bist du noch dran, Mary?« Als sie seufzte, sagte er: »Das klingt nicht gut.«
Ich hatte allein diese Woche schon acht verschiedene Frauen.
O Gott. Sie wollte sich nicht in ihn verlieben. Das durfte einfach nicht passieren.
»Mary?«
»Sag … nicht solche Sachen zu mir.«
»Aber so empfinde ich.«
Sie antwortete nicht. Was sollte sie schon sagen? Dass es ihr ebenso ging? Dass sie ihn vermisste, obwohl sie bislang einmal pro Stunde mit ihm telefoniert hatte? So war es, aber sie war selbst nicht gerade begeistert davon. Er war einfach viel zu schön … und als Liebhaber stellte er alles da Gewesene in den Schatten. Selbst wenn sie also gesund gewesen wäre, hätte die Sache garantiert in einer Katastrophe geendet. Aber mit ihren Aussichten?
Sich in ihn zu verlieben, sich an ihn zu binden, war schlicht und ergreifend absurd.
Als sich das Schweigen zwischen ihnen in die Länge zog, fluchte er. »Wir müssen heute Nacht eine Menge erledigen. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme, aber du weißt ja, wo du mich findest, wenn du mich brauchst.«
Als sie aufgelegt hatten, fühlte Mary sich schrecklich. Und sie wusste, dass ihre guten Vorsätze, was das Abstandhalten betraf, nicht besonders aussichtsreich waren.
Rhage bohrte seine Stiefelspitze in den Boden und sah sich im Wald um. Nichts. Kein Laut, keine Witterung der Lesser. Kein Anzeichen dafür, dass in den letzten Jahren irgendjemand durch dieses stille Waldstück gelaufen war. Genau wie bei den anderen Plätzen, die sie schon aufgesucht hatten.
»Was zum Teufel machen wir hier?«, murmelte er.
Er kannte die Antwort. Tohr war vergangene Nacht auf einem einsamen Stück der Route 22 einem Lesser begegnet. Der Vampirjäger war zwar auf einem Mountainbike in den Wald entkommen, aber er hatte dabei einen nützlichen kleinen Zettel verloren: Eine Liste größerer Flächen an den Rändern Caldwells, die gerade zum Verkauf standen.
Heute hatten Butch und V eine Suche nach allen Grundstücken gestartet, die in den vergangenen zwölf Monaten in der Stadt und angrenzenden Gemeinden verkauft worden waren. Etwa fünfzig ländliche Baugründe waren dabei herausgekommen, fünf davon hatten Rhage und V bisher überprüft. Die Zwillinge waren in gleicher Mission unterwegs. Butch hielt währenddessen in der Höhle die Stellung, sammelte die Feldberichte, erstellte eine Karte und suchte nach einem Muster. Es würde ein paar Nächte dauern, alle Grundstücke abzuklappern, denn gleichzeitig mussten auch noch Patrouillen durchgeführt werden. Und außerdem musste Marys Haus überwacht werden.
Rhage schritt den Wald ab und hoffte, einige der Schatten würden sich als Lesser erweisen. Allmählich entwickelte er einen Hass auf Äste und Zweige. Die verdammten Bäume machten ihm immer falsche Hoffnungen, wenn sie sich im Wind bewegten.
»Wo sind diese Drecksäcke?«
»Ganz ruhig, Hollywood.« V strich sich über sein Ziegenbärtchen und zupfte an seiner Baseballkappe. »Mann, deine Nerven liegen heute Nacht echt blank.«
Das traf es nicht ganz. Er rastete fast aus. Er hatte gehofft, sich tagsüber von Mary fernzuhalten würde ihm helfen, sich zusammenzureißen. Und er hatte darauf gebaut, heute Abend einen Kampf aufzutreiben. Außerdem hatte er gehofft, die Erschöpfung durch Schlafentzug würde ihn ein bisschen runterbringen.
Leider war auf der ganzen Linie Fehlanzeige zu vermelden. Er sehnte sich inzwischen mit einer solchen Verzweiflung nach Mary, dass körperliche Nähe kein Kriterium mehr war. Und die beinahe 48 Stunden, die er verbracht hatte, ohne einmal die Augen zu schließen, machten ihn nur noch aggressiver.
Was noch schlimmer war, es war schon drei Uhr morgens. Ihm lief die Zeit davon, es wurde immer unwahrscheinlicher, dass er sich heute noch bei einem Zusammenprall mit ihren Feinden abreagieren könnte. Verflucht noch –
»Rhage.« V wedelte mit seiner behandschuhten Hand vor seinem Gesicht herum. »Jemand zu Hause?«
»Entschuldige, was?« Er rieb sich die Augen. Das Gesicht. Den Bizeps. Seine Haut juckte so stark, als würde er in einem Ameisenhaufen sitzen.
»Du stehst ja total neben dir.«
»Nein, alles bestens –«
»Und warum knetest du dann deine Arme wie ein Irrer? «
Rhage ließ die Hände sinken. Nur, um kurz darauf seine Oberschenkel zu bearbeiten.
»Wir müssen dich ins One Eye schaffen«, sagte V sanft. »Du drehst durch. Du brauchst Sex.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Phury hat mir erzählt, wie er dich im Flur getroffen hat.«
»Ihr Typen seid vielleicht Waschweiber, ich fass es nicht.«
»Wenn du es nicht mit deiner Frau tun willst und dich nicht beim Kämpfen austoben kannst, was bleibt dir übrig? «
»So sollte es nicht sein.« Er schüttelte den Kopf, versuchte, Schultern und Nacken zu lockern. »So funktioniert das nicht. Ich hab mich verändert. Es dürfte nicht mehr so weit kommen –«
»Dürfte, könnte, hätte. Du bist in einem desolaten Zustand, mein Bruder. Und du weißt, was du zu tun hast, um dich daraus zu befreien, hab ich Recht?«
Als Mary die Tür hörte, wurde sie wach. Sie fühlte sich schlapp und desorientiert. Verdammt, sie hatte wieder Fieber.
»Rhage?«, murmelte sie.
»Ja, ich bin es.«
Seine Stimme klang grauenhaft, fand sie. Und er hatte die Tür offen gelassen, das hieß wohl, er würde nicht lange bleiben. Vielleicht war er noch böse wegen des letzten Telefonats.
Vom Schrank her hörte sie ein metallisches Schaben und dann das Rascheln von Stoff, als zöge er ein frisches Hemd an. Als er wieder herauskam, ging er direkt zurück in den Flur. Die Schöße seines Trenchcoats wehten hinter ihm her. Die Vorstellung, dass er einfach gehen würde, ohne sich zu verabschieden, war irgendwie erschütternd.
Mit der Hand am Türgriff blieb er stehen. Das Licht von draußen fiel auf sein blondes Haar und die breiten Schultern. Sein Profil zeichnete sich dunkel vor dem hellen Hintergrund ab.
»Wo gehst du hin?«, fragte sie und setzte sich auf.
Ein langes Schweigen folgte. »Weg.«
Warum wirkte er so kleinlaut?, fragte sie sich. Sie brauchte keinen Babysitter. Wenn er etwas zu erledigen hatte …
Ach … klar. Frauen. Er ging auf Frauenfang.
Ihre Brust verwandelte sich in ein kaltes, dunkles Loch. Besonders, als ihr Blick auf die Blumen fiel, die er ihr geschenkt hatte. Gott, allein bei dem Gedanken, dass er eine andere so berührte wie sie, musste sie fast würgen.
»Mary … es tut mir leid.«
Sie räusperte sich. »Nicht nötig. Zwischen uns läuft ja nichts, es besteht also kein Grund für dich, deine Gewohnheiten zu ändern.«
»Das ist keine Gewohnheit.«
»Ach, stimmt ja. Sorry. Deine Sucht.«
Wieder langes Schweigen. »Mary, ich … wenn es einen anderen Weg gäbe –«
»Was zu tun?« Sie wischte mit der Hand durch die Luft. »Vergiss es, du brauchst mir keine Antwort zu geben.«
»Mary –«
»Lass es gut sein, Rhage. Es geht mich nichts an. Geh einfach.«
»Mein Handy ist die ganze Zeit an, falls du –«
»Klar. Als ob ich anrufen würde.«
Er blickte sie einen Moment an. Und dann verschwand sein schwarzer Schatten durch die Tür.
John Matthew ging vom Moe’s nach Hause. Es war halb vier Uhr morgens, und er folgte der Polizeistreife. Ihm graute vor den Stunden bis zum Morgengrauen. Tatenlos in seiner Wohnung zu sitzen, würde sich anfühlen wie in einen Käfig gesperrt zu sein, doch es war bereits viel zu spät, um noch auf der Straße unterwegs zu sein. Dennoch … er war so ruhelos und aufgewühlt. Und dass er mit niemandem darüber sprechen konnte, machte es noch schlimmer.
Er brauchte dringend einen guten Rat. Seit Tohrment gegangen war, herrschte ein totales Durcheinander in seinem Kopf, er überlegte hin und her, ob er das Richtige getan hatte. Immer wieder redete er sich ein, dass es so war, doch er konnte nicht aufhören zu grübeln.
Er wünschte, er könnte Mary finden. Vergangene Nacht war er zu ihrem Haus gegangen, doch es war dunkel und verlassen gewesen. Und zur Hotline war sie auch nicht gekommen. Sie war wie vom Erdboden verschluckt, und die Sorge um sie machte ihn noch nervöser.
Als er sich seinem Haus näherte, sah er einen Pick-up davor parken. Die Ladefläche war voller Kisten, als ob jemand vorhatte einzuziehen.
Seltsame Uhrzeit für einen Umzug, dachte er und betrachtete den Wagen.
Niemand stand beim Wagen und bewachte die Ladefläche. Hoffentlich kam der Besitzer bald zurück. Sonst würden seine Sachen Beine bekommen.
John ging ins Haus und die Treppe hoch, ohne den Zigarettenkippen, leeren Bierdosen und zerknautschten Chipstüten Beachtung zu schenken. Als er im zweiten Stock ankam, blinzelte er. Da lag eine Lache im Korridor. Tiefrot …
Blut.
Rückwärts schlich er zurück zur Treppe, den Blick starr auf seine Wohnungstür gerichtet. Da war ein roter Fleck in der Mitte, als hätte jemand einen Kopf … Doch dann sah er die zerbrochene grüne Flasche. Rotwein. Es war nur Rotwein. Das Säuferpärchen von nebenan hatte sich mal wieder im Flur geprügelt.
Seine Schultern sackten herab.
»Tschuldigung«, hörte er jemanden über sich murmeln.
Er machte einen Schritt zur Seite und sah auf.
John erstarrte.
Der große Mann hinter ihm trug eine schwarze Armeehose und eine Lederjacke. Sein Haar und die Haut waren leuchtend weiß, und seine blassen Augen hatten einen unheimlichen Glanz.
Böse. Untot. Feind.
Das hier war sein Feind, das spürte er instinktiv.
»Ganz schöne Sauerei hier auf dem Boden«, sagte der Kerl. Dann verengte er die Augen und blickte John durchdringend an. »Ist was?«
Heftig schüttelte John den Kopf und ließ den Blick sinken. Sein erster Impuls war, in seine Wohnung zu rennen, doch er wollte nicht, dass der Mann wusste, wo er wohnte.
Ein tiefes Kichern ertönte. »Du wirkst ein bisschen blass, Kleiner.«
John raste los, stürmte die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. An der Ecke bog er links ein und lief weiter. Er rannte und rannte, bis er nicht mehr konnte. Dann quetschte er sich in den Spalt zwischen einem Ziegelbau und einem Müllcontainer und rang nach Atem.
In seinen Träumen kämpfte er gegen weiße Männer. Weiße Männer in schwarzer Kleidung, deren Augen seelenlos waren.
Meine Feinde.
Er zitterte so sehr, dass er kaum die Hand in die Tasche stecken konnte. Er fand eine Münze und umklammerte sie so fest, dass sie sich in seine Handfläche eingrub. Als er wieder Luft bekam, steckte er den Kopf heraus und blickte die Straße auf und ab. Niemand zu sehen, kein Geräusch schwerer Schritte auf dem Asphalt.
Sein Feind hatte ihn nicht erkannt.
John verließ sein Versteck und ging mit raschen Schritten zur Ecke.
Die verbeulte Telefonzelle war mit Graffiti besprüht, aber er wusste, dass sie funktionierte. Von hier aus hatte er oft Mary angerufen. Er steckte die Münze in den Schlitz und tippte die Nummer ein, die Tohrment ihm gegeben hatte.
Schon nach dem ersten Klingeln ging der Anrufbeantworter an und wiederholte mit blecherner Stimme die gewählte Nummer.
John wartete auf den Signalton. Und pfiff.