Die Stille des Meeres

meine allererste Freundin,

in Liebe.

Er blieb auf dem schmalen Treppenabsatz stehen und schaute durch die angelehnte Tür zu, wie sie es sich unter den Laken bequem machte. Er hörte Gewehrsalven aus dem Osten, hinter der Stadt, nahe der Front, und er fragte sich, ob es Freudenschüsse waren oder Vergeltungsschüsse oder Schüsse zu Ehren eines gefallenen Kämpfers. Er fragte sich, ob seine Tochter ihm die Lüge abkauf‌te – dass es eine große Maschine war, die diese Geräusche von sich gab, um die Vögel von den Äckern zu verscheuchen. Es sei nur zu deren eigenem Besten, hatte er ihr erklärt. Wenn man sie nur ließe, würden sie sich nämlich so lange den Bauch vollschlagen, bis sie platzten. Er hörte sie flüstern, an sich selbst oder ihre Teddys und Puppen gewandt, die aufgereiht am Bettrand saßen, zweifelnd: Kann das wirklich

Martha saß am Esstisch, die Unterarme auf der schweren Holzplatte ausgestreckt bis in die Fingerspitzen, vor sich eine Tasse, das Gesicht mit geschlossenen Augen in den aufsteigenden Dampf geneigt. Er dachte daran zurück, wie sie Wochen zuvor auf genau dem gleichen Platz gesessen und

In diesem Augenblick hatte Farouk seine Frau gehasst und konnte doch nicht genau sagen, weshalb. Vielleicht, weil es ihr so mühelos gelang, sich mit diesem undurchsichtigen Mann zu unterhalten, einem Mann, dessen Wort man nicht für bare Münze nehmen konnte, so viel war klar. Er empfand es als Demütigung, vor seinem eigenen Haus sitzen zu müssen, auf einem Hocker unter einem Olivenbaum, irgendeinem Idioten zuzunicken und faulen Tabak zu inhalieren, nur weil er ihm angeboten worden war und er nicht abweisend oder gleichgültig hatte wirken wollen. Er war kein selbstsicherer Mann. Er konnte nicht einmal geradeaus gehen, ohne sich Gedanken über seinen Gang zu machen, über das Selbstvertrauen in seinem Schritt, ob seine Haltung auch männlich genug, sein Händedruck fest genug war, aber nicht so fest, dass er auf die Fremden wie eine unausgesprochene Herausforderung wirkte. Er hatte darauf geachtet, nach der Begrüßung als Erster wegzuschauen, auf den Boden zwischen ihnen, und

Sie sollte mit gesenktem Blick vor ihm stehen und um Vergebung bitten, weil sie das von ihm angebahnte Geschäft abgeschlossen hatte, weil sie den Umschlag mit dem Geld vom Regal über dem Herd genommen und die Scheine in flachen Stapeln auf den Tisch gezählt hatte, während er mit einem Grimassen ziehenden Jungen, einem saftstrotzenden, vielsagend grinsenden Jugendlichen draußen sitzen und rauchen musste. Sie war zu weit gegangen. Sie hatte nur über das Boot sprechen, den Mann nach Modell und Herkunft, nach Größe und Erfahrung der Crew fragen sollen. Es war ausgemacht gewesen, dass er sie dazu allein ließ, damit sie sich gewisse Freiheiten herausnehmen konnte und er sie nicht hätte zurechtweisen müssen, weil sie den Mann so unumwunden und unverschämt ansprach – es war schließlich nicht abzuschätzen, wie empfindlich diese Leute waren, wie so etwas bei ihnen ankäme. Daher hatte er beim Händeschütteln zu dem Verantwortlichen gesagt: Meine Frau fürchtet sich vor der Überfahrt, vor dem Meer. Sie ist noch nie gesegelt, aber sie hat sich belesen. Vielleicht könnten Sie so freundlich sein und ihr ein paar Einzelheiten zum Boot und zur Route geben, ihr sagen, wie erfahren die Crew

Ihm stockte noch immer der Atem, als er nun auf der mondbeschienenen Treppe daran zurückdachte und dabei ganz langsam und so leise wie möglich nach unten ging. Seine Frau saß in der lauen Brise, die ihre Bluse aufblähte und wieder an die Haut schmiegte, und er spürte Millionen kleiner Nadelstiche auf der Stirn, die sich über Hals, Brust und Rücken und die Arme und Beine hinab in seine Hände und Füße ausbreiteten, und gleichzeitig beschleunigte sein Puls, schlug sein Herz im Takt der sich ballenden Fäuste.

Als er auf der untersten Stufe angelangte, regte sich seine Frau, drehte den Kopf und ließ das Kinn auf der Schulter ruhen, das Gesicht ihm zugewandt, aber ihr Blick schweif‌te irgendwo in die Ferne, und unwillkürlich suchte er nach Spuren von Tränen, bereits geweinten oder noch zu weinenden. Es hätte endlich eine Erosion ihrer übermenschlichen Kraft, des scheinbar unerschütterlichen Glaubens an die Richtigkeit ihres gemeinsamen Handelns bedeutet.

Die Frau hatte etwa ein Drittel ihres Bluts

Und so teilte das Krankenhaus Patienten und

Er fühlte sich dumm, wenn er jetzt daran zurückdachte, wie er das Gesicht und die Augen des Unbekannten abgesucht hatte, wie er herauszuhören versucht hatte, was dessen wahre Motivation

Du kannst einem Mann nicht ins Herz schauen, hatte sein Vater einmal gesagt. Da saßen sie in einer winzigen Steinkirche an einem Hang oberhalb des Heimatdorfs seiner Großmutter, das erste und einzige Mal, dass Farouk eine christliche Kirche betrat. Ein Priester in schwarzem Gewand leitete die Andacht, bei der die Männer und Frauen an den Stationen des Kreuzwegs innehielten. Er hob die Hand zum Gruß, als sie eintraten, und der leise Singsang der Gemeinde, der süßlich duftende Weihrauch und die geschnitzten Szenen der Passion Christi verschmolzen miteinander und ließen alles wie einen Wachtraum wirken. Die Angst, Gott mit ihrer Anwesenheit zu beleidigen, fiel von Farouk ab; entspannt saß er auf der hölzernen

Farouk, sagte seine Frau jetzt. Und dann nichts weiter. Das tat sie oft, als wollte sie sich seiner Anwesenheit, seiner Echtheit vergewissern. Früher hatte er dann Ja? oder Was denn? gesagt. Aber mit den Jahren hatte er gelernt zu schweigen, wenn er eine gewisse Stimmung, eine bestimmte bleierne Stille an ihr bemerkte. Sie hatten keine Angst mehr, hatten sie abgelegt, weggeworfen wie verschlissene Kleidung: Der Plan war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, jeder Abschnitt der Reise, alle

Die Familie seiner Frau versammelte sich am Vorabend bei ihnen zu Hause, und Marthas Schwestern, ein Jahr älter und ein Jahr jünger, klammerten sich an sie, bedeckten ihr Gesicht mit Küssen

Farouk, wiederholte seine Frau, und plötzlich spürte er den unbändigen Drang in sich aufsteigen, ihr ins Gesicht zu schlagen, zu schreien, dass sie

Er erinnerte sich an den verhangenen Himmel und die geschäf‌tigen Straßen Londons, an den Geruch des Regens am Morgen, erdig-süß, wo er auf Parks und Grünflächen fiel, stechend und metallisch auf Beton und Asphalt. Er liebte den plötzlich aufziehenden Nebel, der vom Fluss heranrollte und zwischen den Gebäuden hing, die Umrisse der Stadt ein wenig verwischte, sie weicher, gespenstischer machte. Er war die anderthalb Kilometer von seinem Studentenzimmer bis zur Universitätsklinik immer zu Fuß gegangen, lächelte jeden an, der ihm entgegenkam, und manchmal lächelten Leute zurück und wünschten ihm einen guten Morgen. Er hatte immer einen Regenschirm dabei, weil ihm das hier geboten schien, obwohl er ihn selten aufspannte, und manchmal ging er in den Pub und beobachtete die kleinen Komödien, die sich zwischen einander unbekannten Männern und Frauen abspielten, einige seiner Mitstudenten verbrachten jede freie Minute mit diesem Katz-und-Maus-Spiel, und hin und wieder beteiligte auch er sich, aber er strengte sich nie allzu sehr an. Jetzt fragte er sich, wie er es wohl fände, wenn solche