Klaus Zeyringer
Fußball
Eine Kulturgeschichte
FISCHER E-Books
Klaus Zeyringer, geboren 1953 in Graz, habilitierte sich dort 1993 und war Universitätsprofessor für Germanistik in Frankreich. Er ist als Literaturkritiker u.a. für den »Standard« tätig sowie Jurymitglied der ORF-Bestenliste, moderiert in Österreich, Deutschland und der Schweiz.
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Adam Pretty/GettyImages
Erschienen bei S. FISCHER
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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ISBN 978-3-10-402898-9
Anstöße zum Ankick
Dimitri Schostakowitsch steht im großen Zimmer. Auf dem Pult des Flügels hat er die Partitur von Opus 22 aufgeschlagen, ein Foto von elf Sportlern liegt daneben. Der blasse Komponist mit seiner dicken Brille sieht sich um. Seine Augen huschen hin und her; die Freunde im Stadion deuten das als Nervosität. Ja, es sind genügend Stühle im Raum, er hat sie aus allen Winkeln der Wohnung hergetragen. Seine Mannschaft kommt zu Besuch. Er setzt sich ans Fenster. Wenn ihm eine Melodie im Kopf herumgeht, blickt er oft hinunter, als könne er sie auf dem Muster der Pflastersteine festhalten. Er nimmt ein Heft zur Hand und blättert. Da stehen keine Musiknoten. Bei der Tabelle der letzten Saison bleibt er hängen. Er hat nicht notiert, wer in Tiflis das Tor nach dem Corner geköpft hat. Er wird sie fragen. Es klingelt.
Der Fußball ist voller Geschichten, Mythen, Legenden. Nach den überlieferten Fakten kann man sich die Szene in Leningrad zur Stalin-Ära so vorstellen.
Dimitri Schostakowitsch war Anhänger von Stalinez, er hatte die Schiedsrichterschule absolviert. Fußball, meinte er, vermöge geistig zu fesseln. Faszinierend sei die Mischung aus diesen wenigen Regeln und der spielerischen Kreativität auf überschaubar abgegrenztem Feld. Was da durch Engagement und Inspiration entstehe, das sei das Gegenteil des totalitären Regimes.
Der Fußball war für Schostakowitsch ein Gefilde, in das er sich zurückziehen konnte, um die Angst vor der Verhaftung zu verdrängen, zumindest für ein paar Stunden. Allerdings saßen auch die Diktatoren auf den Tribünen. Das wusste er, das sah er. Porträts von Stalin hingen riesig über den Stadioneingängen.
1929 erhielt der Komponist, der vier Jahre zuvor mit seiner ersten Sinfonie weltweite Anerkennung gefunden hatte, den Auftrag für die Ballettmusik zu einem Fußballstück. Selbstverständlich mussten dekadente Kapitalisten von der klassenbewussten sozialistischen Mannschaft geschlagen werden. Das Goldene Zeitalter heißt dieses Opus 22. Die vierte Szene des zweiten Akts bringt ein Match auf die Bühne, das offenbar ohne Schiedsrichter und ohne ersichtliche Regeln abläuft, jedoch den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Teams vorführt.
Nachweislich begann sich Dimitri Schostakowitsch Ende 1930 leidenschaftlich mit dem Fußball zu beschäftigen. Er ging ins Stadion, fuhr zu Auswärtsmatches nach Moskau und sogar nach Tiflis; in Briefen an Freunde berichtete er davon. Er las Sportzeitungen, hörte Reportagen im Radio. Über die Spiele führte er Buch, er notierte die Tabellen. Und während die offizielle Presse die Torschützen nicht nennen durfte, weil alles ja ein Sieg des Kollektivs sein musste, listete der Komponist sie peinlich genau auf. Einige Spieler von Stalinez Leningrad kannte er persönlich, und einmal lud er die ganze Mannschaft zu sich nach Hause ein.
Heute heißt der Verein Zenit St. Petersburg, einer seiner Anhänger ist Wladimir Putin.
»Das Stadion«, soll Schostakowitsch in der Stalin-Ära gemeint haben, »ist in diesem Land der einzige Ort, wo man laut die Wahrheit über das sagen kann, was man sieht.«
Seinen Aufstieg erlebte der Fußball mit der Industrialisierung und der Entwicklung der modernen Massengesellschaft.
Bald nachdem sich 1863 in England einige Gentlemen auf das erste Regelwerk geeinigt hatten und dieses Association Game zur (fast) weltweiten Popularität gelangt war, lieferte es seine Bilder für das kollektive Gedächtnis und für die Massenmedien. In Europa und in Südamerika brachten ab den 1920er Jahren einige Filme bekannte Kicker sowie Szenen in Stadien und in ihrem Umkreis auf die Leinwand. Seitdem der Fußball im Fernsehen fast täglich präsent ist und digitale Techniken es ermöglichen, auch historische Spielsituationen realistisch nachzustellen, nimmt sich das Kino verstärkt dieses Feldes an.
Doch der moderne Fußball war zunächst eine elitäre Angelegenheit, er kam aus den englischen Colleges. Einen Vertreter dieser Hohen Schulen, einen Professor für Philosophie, sehen wir im Flugzeug sitzen. Sein Nachbar schläft, ein Erotik-Magazin liegt neben ihm. Der Professor nimmt es und beginnt zu blättern, er interessiert sich für das Populäre. Als ihn ein Kollege von schräg hinten anspricht, steckt er peinlich ertappt das Pornographische ins Philosophische des Tagungsprogramms. Er reist ins kommunistische Prag zum »Colloquium philosophicum« – vorrangig allerdings zu einem anderen Populären, zum Ländermatch, bei dem es um die Qualifikation für die Weltmeisterschaft geht.
Wir sind im Film Professional Foul, den Tom Stoppard 1977 für die BBC geschrieben hat. Über den Wolken lässt er sprachphilosophische Überlegungen anstellen: Sagen wir, was wir meinen; meinen wir, was wir sagen? Im Prager Hotel wird der akademische Fan von einem jungen Tschechen bedrängt, der kurz bei ihm in England studiert hatte und nun in Busstationen putzt. Er will, dass der Professor seine Doktorarbeit über korrektes Verhalten und kollektive Ethik zur Publikation außer Landes schmuggelt. Der junge Mann wird verhaftet, der Professor von der Geheimpolizei festgehalten, so dass er nicht zum Match kann. Er hört es als Radioreportage – auf Tschechisch. Zu deuten vermag er einzig den übertragenen Lärm der Stadionmasse, einen schrillen Pfiff und das Wort »Penalty«. Die CSSR gewinnt durch einen Elfmeter; das »professionelle Foul« des englischen Kickers entspricht dem »professional foul« der Polizei. Und als der Philosoph wieder in seinem Hotel ist, hört er nacheinander zwei britische Journalisten ihre Matchberichte per Telefon durchgeben – als handle es sich um zwei völlig verschiedene Spiele.
Stoppard liefert ein Bespiel für Zusammenhänge zwischen Fußball, Sprache, Politik und Ethik. Wie in jedem sozialen Feld entwickelte man mit der Reglementierung des Fußballs eine Sprache, in ihr finden sich sowohl Wertigkeiten des Spiels als auch ein paar Werte der Gesellschaft ausgedrückt. Dabei stellt sich die Frage, wie sich über die bewegten Bilder berichten, vom Spiel und seinem Umfeld etwas vermitteln lässt. Und obwohl von der Entstehung des modernen Sports an, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zunächst aus den Eliten stammenden Betreiber seine politische Neutralität betonten, wurden sehr bald politische, somit auch ethische Implikationen ersichtlich. Von Elias Canetti wissen wir, dass die Masse im Stadion ein Fall kollektiver Ethik ist. Bei Stoppard spricht ein Professor darüber, der eigentlich lieber beim Match im Stadion wäre.
Fernab der Colleges und der Philosophie sind wir in einem anderen Film. Der Postmann Eric Bishop in Manchester sackt ab, nichts geht mehr in seinem Leben. Er ist depressiv, hat Panikattacken, bis er sich selbst töten will. Da erscheint ihm Eric Cantona, der französische Angreifer, den die Fans von Manchester United zum Jahrhundertspieler ihres Vereins gewählt haben. Der Exzentriker mit der Nummer 7 bringt für den armen Postboten wieder alles ins Lot, wie ein Lebensphilosoph vom grünen Rasen. Man müsse aktiv sein und Risiken nicht scheuen, sonst brauche man gar nicht erst aufs Feld zu laufen, erklärt er. Auf die Frage, welches der beste Moment seiner Karriere gewesen sei, erzählt er nicht von einem Tor, sondern von einem genialen Pass, der ihm gegen Tottenham gelungen war. Looking for Eric heißt der Streifen von Ken Loach, der 2009 in die Kinos kam.
Die Begeisterung für das Spiel und ein Idol vermag nicht nur Emotionen zu wecken, zu Tode betrübt oder stadienhoch jauchzend, sondern auch geradezu metaphysische Hoffnungen; aus dem Fußball kann eine existentielle Haltung gezogen werden. Bei Loach konzentriert der Star in seiner Person, was der Fußball den Fans zumindest zeitweilig bieten kann: eine Lebenshilfe.
Sieben Jahre zuvor war Bend it like Beckham von Gurinder Chadha auf der großen Leinwand zu sehen gewesen (im deutschen Verleih Kick it like Beckham). Da sind wir abseits der gewöhnlichen Pfade. Die Tochter einer indischen Familie in England ist eine äußerst begabte Spielerin und muss sich gegen das elterliche Traditionsbewusstsein durchsetzen, bis sie am Ende ein Fußball-Stipendium an einer US-Universität bekommt. Diese Eloge des Frauenfußballs und die befreiende Wirkung des Kickens wurde für den Europäischen Filmpreis nominiert, in Locarno, Sydney, Marrakesch ausgezeichnet und fand Eingang in die Simpsons. In der Folge Marge online, die 2007 ausgestrahlt wurde, mit Ronaldo als Gaststar, ist Homer Schiedsrichter, foult einen Referee-Assistenten per Kopfstoß, wie Zinedine Zidane gegen Italiens Materazzi im WM-Finale 2006 – und Lisa entdeckt durch Bend it like Beckham ihr Interesse am Fußball.
Kulturräume tun sich auf; Signale eines kollektiven Gedächtnisses schaffen Bestandteile eines weiten kulturellen Reservoirs, Medienbilder stoßen neuerliche Erzählungen an.
Ganz am Rande der üblichen Spielfelder sind wir im Dokumentarstreifen Kick off, den Hüseyin Tabak 2010 herausgebracht hat. Dafür erhielt er den Wiener Filmpreis und wurde vom Publikum bei den Festivals in Graz und Salzburg prämiert. Er zeigt, wie sich die österreichische Mannschaft für den Homeless World Cup 2008 vorbereitet und im australischen Melbourne spielt. Der ehrenamtliche Teamchef Gilbert Prilasnig, der für Sturm Graz in der Champions League und sechzehnmal in der Nationalelf angetreten war, sucht seit 2004 jedes Jahr von neuem acht Obdachlose aus, die derart mit dem Fußball eine Möglichkeit finden, aus der Misere zu kommen. Sie erfahren, dass sie als Team bestehen können; sie lernen Siege zu genießen und Niederlagen zu verkraften.
Soziale Räume öffnen sich; Gemeinschaft vermag eine Dynamik zu fördern.
Die Filme beruhen auf kulturellen, gesellschaftlichen Zuständen und illustrieren sie. Sie nehmen die Betrachter hinter die Kulissen mit. Ob sie eine fiktionale Geschichte vorführen oder nicht – durch Standpunkt und Bewegung der Kamera beziehen sie eine Position. Die Perspektive des Fußballpublikums ist meist eine von oben, die Wahrnehmung vollzieht sich üblicherweise in der Totale und im Schwenk. Die Fans fühlen sich aber nicht als Betrachter von oben, sondern sehen sich mittendrin. Kinofilme wie Das Wunder von Bern von Sönke Wortmann vermitteln eben den Eindruck, dabei zu sein.
Fußball ist der populärste Sport der Welt. Seit mehr als einem Jahrhundert füttert er kollektive Erinnerungen. Und aus dem kulturellen Gedächtnis kommen solche Bilder wieder verstärkt an die Oberfläche der Öffentlichkeit.
Musik, Film, Literatur, Philosophie – sie zeugen von einer kulturellen Dimension, die weit über die Alltagskultur hinausreicht. Das anfangs elitäre Spiel gelangt vom Populären wiederum in die Hochkultur.
Der Fußball erweist sich in seinen vielfältigen, bisweilen einfachen, bisweilen komplexen Beziehungen zu Politik, Wirtschaft, Medien und insgesamt zu gesellschaftlichen Zuständen als kulturgeschichtliches Phänomen, von der Moderne der einen Jahrhundertwende bis zum Neoliberalismus der anderen.
Im Fernsehen sind Anfang Februar 2013 der französische Staatspräsident und die deutsche Bundeskanzlerin auf der Ehrentribüne zu sehen. Im Pariser Stade de France spielen les bleus und die Nationalelf gegeneinander, zum fünfzigsten Jahrestag des Elysee-Vertrags, in dem De Gaulle und Adenauer die freundschaftlichen Beziehungen der beiden Staaten festgeschrieben haben. François Hollande und Angela Merkel scheinen sich blendend zu unterhalten, beide applaudieren bei gelungenen Aktionen. Zweimal springt die Kanzlerin jubelnd auf, der Präsident an ihrer Seite klatscht verhalten, aber lächelnd – Deutschland hat gescort und siegt schließlich 2:1.
Spätestens seit Sönke Wortmanns Film Deutschland. Ein Sommermärchen ist bekannt, dass Angela Merkel eine Anhängerin der Nationalmannschaft ist: Im Streifen sieht man sie zum Team im Hotel sprechen und hört sie »viel Zusammenhalt« wünschen, man sieht sie nach dem Match gegen Italien die Kabine betreten.
Die Kamera folgt der Mannschaft vor und während der Heim-Weltmeisterschaft 2006. So liefert Wortmann das, was aktuelle Medien gern zeigen: das Innenleben eines medialen Außenlebens. Das gibt den Bildern einen demokratischen Anschein: Jeder habe überall Einblick. Als aber die Kanzlerin die Kabinentür öffnet, schließt sich diese vor den Zuschauern. Vier Jahre später bekommt man auch in diese Intimität Zutritt: In zahlreichen Blättern erscheinen Fotos, wie Merkel nach einem Match im Umkleideraum mit Mesut Özil spricht, der nur ein Handtuch vor seinen nackten Oberkörper hält.
Abb. 1: Angela Merkel in der Kabine der deutschen Nationalelf mit Mesut Özil.
Zwar beginnt Wortmanns Film im leeren Spielerraum nach der Niederlage im Halbfinale gegen Italien, und als die Besiegten dasitzen, herrschen Schweigen, Müdigkeit, Enttäuschung. Jedoch wirkt dadurch die zunehmende Euphorie während des Turniers umso intensiver und umso mehr tritt hervor, dass der Kader und die Betreuer zu einer starken Gemeinschaft geworden sind. »Was wir allein nicht schaffen, das schaffen wir dann zusammen«, heißt es im Song, den das Team vor dem Match hört, und: »Dieser Weg wird kein leichter sein.« Der Coach Jürgen Klinsmann und sein Co-Trainer Jogi Löw sprechen immer wieder »Kopf und Herz« an, sie betonen, »was man mit viel Arbeit im Hintergrund, mit Freude, mit positiver Denkweise erreichen kann«. Dem Gegner im Viertelfinale, den Argentiniern, weisen sie hingegen eine »elitäre Mentalität« zu; die würden meinen, »sie besitzen das Spiel«.
Das eigene Team habe von der Euphorie in ganz Deutschland »einen Schub bekommen«. Die Nationalelf hatte zuvor wenig attraktiv gespielt; der neue Bundestrainer Jürgen Klinsmann nominierte einige junge Spieler – dieser Mannschaft brachten die Fans vor der WM wenig Vertrauen entgegen. Durch den 1:0-Erfolg gegen Polen und den damit fixierten Aufstieg ins Achtelfinale schlug die Stimmung im Lande um. Den »Schub« macht der Film sichtbar, indem er immer mehr Großaufnahmen von deutschen Flaggen zeigt. Und nachdem schließlich Portugal im Spiel um den dritten Platz besiegt wurde, feiert eine enorme Menge, zunächst in Stuttgart, dann beim Brandenburger Tor in Berlin die Mannschaft und sich selbst. Überall wehende Flaggen, deutsche Fähnchen auch in den Händen der Kicker. »Weltmeister der Herzen« steht auf einer Banderole. So endet der Film. Er vermittelt insgesamt eine positive Stimmung, er hebt den Teamgeist auf dem Rasen und im Land hervor.
Enttäuschung hingegen in Brasilien, das im Viertelfinale gegen die Franzosen ausgeschieden war. Wieder einmal hatte die Seleção, der Titelverteidiger, als Favorit gegolten. Und nun meinte man im Lande, dass die bei europäischen Vereinen engagierten Spieler (20 von 23 im Kader) europäisiert seien und wenig nationalen Einsatz gezeigt hätten.
Während auf dem zentralen Platz in der Altstadt von Salvador da Bahia noch im August ein riesiges Plakat hing, das Brasilien schon vor dem Turnier (zum insgesamt sechsten Mal nach der Penta 2002) als Weltmeister gefeiert hatte, sah man im Globo-TV eine lange Reportage über die Seleção vor und bei dem Turnier in Deutschland. Es wirkte genüsslich selbstquälerisch, wie oft das Fernsehen Ronaldo, Ronaldinho und ihre Kollegen untätig vorführte, im Bett oder auf dem Rasen liegend, und wie oft Roberto Carlos in der entscheidenden Szene beim 0:1 gegen Frankreich gezeigt wurde, als er nicht auf den Torschützen Thierry Henry achtete, sondern – sich am Strafraumrand die Stutzen hinaufzog.
Dieses Bild des mit seiner Beinkleidung statt mit dem Match Beschäftigten reproduzierten nicht nur die Medien intensiv, auch in Bühneninszenierungen und populären Kulturäußerungen fand es Verbreitung. Hinuntergerutschte Stutzen als Symbol der Niederlage und des geradezu lächerlich mangelhaften Einsatzes für die Nation.
Mit Das Wunder von Bern, einer rührenden Geschichte rund um den WM-Titelgewinn 1954, hatte Sönke Wortmann ein wichtiges Ereignis für ein neues deutsches Selbstbewusstsein verfilmt: Man hatte im Finale den hohen Favoriten Ungarn 3:2 geschlagen, und alsbald hatte der erste internationale Sieg nach dem Krieg eine mythische Dimension erhalten. Im Kino wurde die Wunder-Erzählung 2003 in Erinnerung gerufen oder im Gedächtnis verstärkt. Dem fügte die Euphorie während der Weltmeisterschaft 2006 in der schwierigen Gefühlslage der Nation ein weiteres Element hinzu. Im September des Vorjahres hatten die vorzeitigen Bundestagswahlen keine klare Mehrheit gebracht. Bis Angela Merkel als erste Frau in der Geschichte des Landes ins Kanzleramt eingezogen war, hatten die zwei Monate dauernden Koalitionsverhandlungen schlechte Stimmung gemacht. Von Deutschland schienen Medien und Menschen die Nase voll zu haben. Als just in jener Zeit Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt zum außergewöhnlichen Bestseller wurde, wollte kaum jemand, kaum eine Rezension das Hauptthema des Romans bemerken. »Das Deutsche« mochte man gerade nicht besprechen, und der Autor wies mehrmals in Interviews darauf hin, dass es in seinem Buch nicht zuletzt darum gehe, »was es heißt, deutsch zu sein«.
Im Juni 2006 war das Thema wieder beliebt. Wortmann stellt die Dimension im Titel seines Films aus: Deutschland. Ein Sommermärchen. Damit spielt er ein kulturelles Vorbild an, die Vorzeichen dreht er um. Heinrich Heine hatte sein Deutschland. Ein Wintermärchen 1844 veröffentlicht, ein satirisches Versepos als scharfe Kritik an den Zuständen, insbesondere an Militarismus und Chauvinismus.
Nach dem Erfolg seines Sommermärchens produzierte Sönke Wortmann 2007 den Dokumentarstreifen Die besten Frauen der Welt. Die Regisseurin Britta Becker hatte die deutsche Frauennationalmannschaft beim WM-Titelgewinn in China mit dem Kamerateam begleitet; in ihrem Film geht sie stärker auf die Persönlichkeit der Spielerinnen ein, da sie eben keine Berühmtheiten sind wie die männlichen Starkicker. Gerade die Interviews, vermerkt der Spiegel, markieren den Unterschied zur Männerwelt. Aber auch hier wird kulturspezifisches Verhalten ersichtlich: Im Schnitt/Gegenschnitt sitzen die Deutschen still, ernst und konzentriert in ihrer Kabine, während die Brasilianerinnen singend und trommelnd eintreffen; bevor sie aufs Feld laufen, reihen sie sich im Gang nebeneinander auf, die einen stehen geradezu grimmig da und die anderen tanzen. »Das hat uns richtig aggressiv gemacht«, erzählt Renate Lingor. »So möchte ich die nach dem Spiel nicht mehr tanzen sehen, hatte ich mir in dem Moment gedacht.« Die Deutschen siegten 2:0.
Fußball – in den Regeln einfach, in den Zusammenhängen komplex – bringt starke Emotionen hervor. Er bespielt auch die Räume des Symbolischen und kann mythische Bedeutungen fördern. Idolatrie lässt sich übertragen: Die Politik umarmt gerne die Helden des Sports.
Der Fußball ist ein Massenspektakel, er gibt dem Kollektiv eine Erfahrung von Sieg und Niederlage. Somit vermag er ein Gruppenbewusstsein zu stärken oder überhaupt erst zu schaffen, somit lässt er sich zur Entwicklung von Identitäten einsetzen, lokal und regional und national.
Männlichkeitsrituale dominieren die Inszenierung des Fußballs. Er gibt die scheinbar unschuldige Möglichkeit zum scheinbar folgenlosen Ausleben von Chauvinismus, Rassismus und Sexismus.
Den Aufschwung des modernen Sports erklären Norbert Elias und Eric Dunning mit zunehmender Zivilisierung. Er gibt eine Möglichkeit, Aggressionen abzubauen; die körperliche Gewalt wird auf spezifische Weise kontrolliert, dazu brauchte es die Verfeinerung von Wettkämpfen. Für Elias ist es beileibe kein Zufall, dass man den Fußball gerade in England reglementierte und von hier aus in die Welt trug, da die Entwicklungen der Industrie und des Parlamentarismus sowie des Sports unmittelbar zusammenhängen.
Heute besteht die internationale Fußballorganisation, die FIFA, aus mehr Landesverbänden, als die UNO Mitglieder hat.
»Fußball ist wie eine Sonde in die Geschichte des 20. Jahrhunderts«, schreibt der Wiener Germanist Wendelin Schmidt-Dengler, er sei eine »unerlässliche Quelle für jede Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts«. Eva Kreisky präzisiert: Fußball ist »nicht ein bloßes Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse, er erweist sich auch als höchst ausdrucksstarkes ›Realitätsmodell‹, ja als Seismograph gesellschaftlicher wie politischer Brüche und Transformationen«.
Bei Weltmeisterschaften treten – verstärkt, seitdem sie im Fernsehen übertragen werden – Entwicklungen deutlich vor Augen. Eine WM ist wie eine Sonde in die Kulturgeschichte des Fußballs. Die Berichterstattung darüber hat spätestens ab den 1970er Jahren zur Verdichtung des globalen medialen Raumes beigetragen.
Es ist ein sichtbares Zeichen der Globalisierung, einer Art Postmoderne sowie des Neoliberalismus, dass ab den neunziger Jahren die Clubs immer heterogener besetzt sind. Dass so viele Vereine immer mehr ausländische Spieler in schnellem Wechsel engagieren und wieder abgeben, zeugt von Migration, Melange und – Marktwert von Menschen. Dadurch hängt die Identifizierung der Fans weniger an Individuen als an Clubfarben.
Fußball gehört zu jenen wenigen Feldern, deren Codes (fast) weltweit verstanden werden. Er ist mit dem Wetter das einzige Thema, über das sich (fast) alle unterhalten können. In Brasilien ist ein Gespräch über Fußball eine wesentliche Kommunikationstechnik, eine soziale Eintrittskarte. Dabei ist ein Fixpunkt immer die Besonderheit des eigenen Spiels, des Jogo bonito. Der Literaturwissenschaftler Anatol Rosenfeld, der auf seiner Flucht aus Deutschland 1937 ins brasilianische Exil gekommen war und später für den Estado de São Paulo schrieb, erklärte Mitte der fünfziger Jahre, der Fußball gehöre »einer modernen Entwicklung völlig profanen Charakters an«. Dennoch spüre man in Brasilien »seine geheime Neigung, sich zu ritualisieren, sein Streben nach Sinnbereichen, die ihm nicht zuzukommen scheinen«. Wo »so tiefe Leidenschaften eingesetzt werden«, sei dies kein Wunder. Für eine »ungeheure« Anhängerschaft bedeute der Sieg einen kollektiven Triumph, »einen Zuwachs an Ehre und Macht und gleichzeitig eine Offenbarung des glücklichen Laufs der Dinge«.
Seit der Fußball in den zwanziger Jahren ein derart verbreiteter Sport und ein Medienereignis wurde, reden immer wieder viele Menschen über Spiele und Kicker und ihr Umfeld. So entstehen kollektive Erzählungen, Mythen, Märchen, Legenden. Wenn die Dribbelkünste des Arthur Friedenreich, der in Brasilien das erste Idol war, dadurch erklärt werden, dass er beim Balljonglieren in den Gassen von São Paulo so oft den Automobilen ausweichen musste, dann spielt es für die populäre Geschichte keine Rolle, wie viele Autos es 1902 tatsächlich in der Stadt gab.
Vielleicht ist Fußball heute das einzige Volksmärchen.
Mario Vargas Llosa, der Nobelpreisträger für Literatur, sieht 2012 in seinem Buch La civilización del espectáculo den Fußball als herausragenden Bestandteil der heutigen frivolen Banalisierung, »alles Boulevard«, welche die alte elitäre Hochkultur zerstört habe. Unterhaltung und Spaß seien nunmehr das höchste Gut; in der Vermassung werde dem Sport eine Bedeutung zugeschrieben, wie er sie sonst nur im alten Griechenland, dort jedoch gemeinsam mit der Pflege des Geistes, erlangt habe. Kultur, das sei mit T.S. Eliot ein Way of Life, »eine Geisteshaltung, eine Sensibilität und eine Pflege der Form, welche den Erkenntnissen einen Sinn und eine Orientierung gibt«.
Ein Fußballmatch könne »für die Liebhaber« – und er sei selbst einer, schreibt Vargas Llosa – ein tolles Schauspiel sein, »ein Fest des mannschaftlichen und individuellen Könnens«. Aber wie der Zirkus im alten Rom »dienen die großen Spiele heutzutage vor allem als Vorwand und Möglichkeit für den Einzelnen, das Irrationale auszuleben, zu regredieren und Teil des Stamms zu werden, der wilden Meute, worin er, geschützt in der kuscheligen Anonymität der Ränge, seinen aggressiven Trieben freien Lauf lassen und den Anderen ablehnen, den Gegner niederringen und symbolisch (manchmal auch real) vernichten« könne. Es sei ein »Ritual, das im Einzelnen an Instinkte und Triebe rührt, die ihn dazu drängen, seinen zivilisierten Stand aufzugeben und sich eine Spielzeit lang als Teil der primitiven Horde zu verhalten«.
Eine vereinfachte Sicht aus dem Blick von den Höhen einer alten Elite, die – fälschlich – behauptet, heute sei alles Boulevard. Tatsächlich treten auf den Tribünen und um die Stadien die Horden der Hooligans auf; mindestens ebenso oft bestimmt jedoch eine festliche Masse das Geschehen. In englischen Stadien herrscht eine fast kirchliche Atmosphäre, wenn die alten, sehr melodiösen Gesänge intoniert werden.
Der Fußball ist ein gewichtiger Ausdruck der Massengesellschaft, mit der er sich gewandelt und zu deren Wandel er beigetragen hat. Mit der Nachmoderne hat er sich weiterentwickelt; mit dem Neoliberalismus hat er eine umfassende Kommerzialisierung durchgemacht und ist zum durchgehend verkäuflichen Spektakel geworden.
Und dennoch ist er mehr als das. Er bringt Lust am Spiel und Gefühlssturzflüge im Zuschauerraum. Er ist Markt und Theater, Zirkus und Sport, Legende und Mythos, Kampfstätte und Raufplatz, Fanal und Ritual.
Ein weiter Pass erreicht den Spieler mit der Nummer 10 im gelb-blauen Dress. Der läuft allein auf den Strafraum zu, der Torwart stürzt ihm entgegen, der Zehner lässt den Ball weiterrollen, links am Torwart vorbei, während er ihn – zu dessen sichtbaren Verwunderung – rechts umkurvt, um den Ball dahinter wieder aufzunehmen. Ein anderes Match: Eine Flanke, der Athlet im gelben Trikot steigt mächtig hoch, köpft ins untere Eck, ein unglaublicher Reflex des Torwarts lenkt den Ball ins Aus. Das Finale: Ein hoher Ball fliegt von links in den Strafraum, der dunkelhäutige Spieler im gelb-blauen Dress Nummer 10 springt höher als der Verteidiger und setzt einen starken, präzisen Kopfball in die Maschen, darauf läuft er zu seinem Kameraden mit der Nummer 7, der ihn hochhebt, und er jubelt, die rechte Hand hin und her schwenkend. Pelé bei der WM 1970.
Abb. 2: Pelés Torjubel im WM-Finale 1970, von Jairzinho (Nr. 7) hochgehoben.
Starke Bilder im kollektiven Gedächtnis, wie 1986 Maradonas Dribbling über das halbe Feld, bevor er gegen England einschoss, wie fast fünfundzwanzig Jahre später ein ähnliches Goal von Lionel Messi, wie das Wembley-Tor 1966, wie ein Elfmeter von Panenka, wie eine Parade von Lew Jaschin, wie Schumachers Foul an Battiston, wie ein Pass von Cantona, wie ein Freistoß von Platini, wie das Wunderteam, wie das Weiße Ballett, wie …
Mit der Bewegung der Medien bewegen sich die Bilder. Die Spielverläufe der frühen Jahrzehnte, als es bestenfalls Zeitungs- und dann Radioreportagen gab, lassen sich schwerer nachvollziehen.
Eine Kulturgeschichte des Fußballs lässt sich erzählen.
In der Redaktion von Bell’s Life in London herrscht Hochbetrieb. Was eben 1863 in den getäfelten Räumen der Zeitschrift, in denen es in der Art der Gentlemen meist gemäßigt zugeht, als hektische Stunde gilt, bevor die neue Ausgabe in die Druckerei kommt. Auf der ersten Seite des wöchentlichen Sportblattes passt die Schlagzeile nicht. Der Lehrling bringt die Ergebnisse der Pferderennen vom Tag. Das Bild im letzten Teil gehört um zwei Finger runtergerückt, das Ruderboot schneidet in den Text über Tennis, schimpft der Redakteur. Nichts Neues vom heutigen Cricket?, ruft einer. Und was soll man denn nun mit dem Brief dieses John Cartwright anfangen? Wohin damit, fragt der Chef, immerhin betreffen diese Worte die renommiertesten Bildungsstätten des Empire.
John Cartwright hatte an Bell’s Life geschrieben, es sei wahrlich an der Zeit, dass sich Vertreter der großen Public Schools treffen mögen, um ihren Ballsportarten ein paar einheitliche Regeln zu geben – wie wolle man sich denn sonst miteinander im Wettkampf messen? Dies sei doch für die erweiterte Ausbildung von Sportsgeist und Ertüchtigung des Körpers nötig. In Städten wie London und Nottingham hätten ja junge Gentlemen schon das Kicken mit dem Fuß betrieben und vor sechs Jahren sei in Sheffield gar ein Football Club ins Leben gerufen worden. In vielen Colleges dürfe man die Hand einsetzen, in anderen heftige Tritte austeilen.
Ihre Ballspielregeln hatten zahlreiche akademische Institutionen schon gedruckt, für Outsider waren sie jedoch kaum verständlich. Tatsächlich kickten viele Kinder auf verschiedene Arten in den Grundschulen, waren seit drei Jahrzehnten eine Reihe von Teams entstanden. Eine einigermaßen einheitliche oder gar umfassende Organisation gab es aber nicht; meist waren nicht einmal Raum und Zeit oder die Anzahl der Spieler begrenzt.
Cartwrights Aufruf hatte eine kleine Konferenz in Cambridge zur Folge. Von sechs Hohen Schulen waren sportbeflissene Männer gekommen. Nur der Gentleman aus Rugby wollte die Vereinbarung nicht akzeptieren, in seiner Institution werde man den Ball künftig und immer mit den Händen weiterbefördern, schließlich habe das Leder die für den Zugriff praktische ovale Form. Die anderen Herren untersagten das Handspiel und das Hacking. Es möge dem Gegner kein Bein gestellt und kein grober Tritt verpasst werden.
Der Kick mit dem Ball hat eine lange Vorgeschichte. Seit dem 12. Jahrhundert gibt es europäische Berichte davon; auch aus anderen Kulturkreisen sind derartige Szenen von wenig geregelten Spielen, die sogar bis zum Tode führen konnten, überliefert. Von den Mayas, aus China; aus Florenz ein Calcio, das die Medici-Fürsten in der Renaissance sogar als ihr Markenzeichen eingesetzt hatten.
In England tollte eine Menge, die irgendwo in ihrem kompakt scheinenden Inneren ein rundes Leder trug, durch Gassen und mitunter von Dorf zu Dorf. Im 16. und 17. Jahrhundert war in Schulen der reicheren Schichten ein solches Balltreiben zu sehen; im Zeitalter der Aufklärung ging diese Sitte zurück. Da sprachen die enorm in Mode gekommenen Moralischen Wochenschriften der Zweckdienlichkeit, der Vernunft und dem guten Benehmen das Wort.
An den Universitäten betrieb man das Spiel auch in Zeiten zunehmender Disziplinierung weiter, da sie es weder als Gefahr noch als Bedrohung der Ordnung verstanden. Vielmehr hatte es seinen Platz im System der Herrschaft der älteren Schüler über die jüngeren – aus Eton stammt aus dieser Zeit die Vorschrift, jeder »lower boy in this house«, der nicht einmal im Tag und zweimal an einem »half holiday« Football spiele, müsse zur Strafe »half a crown« bezahlen sowie Tritte über sich ergehen lassen. Mitunter kickten die jungen Herren einfach, um die Lehrer zu provozieren. Da der Adel im Laufe des 18. Jahrhunderts die renommierten Institutionen unter seine Herrschaft gebracht hatte, waren die Dozenten schlechter gestellt und behielten nicht mehr eindeutig die Oberhand über die Freizeit. Davon zeugen die zweiundzwanzig Rebellionen, die man zwischen 1728 und 1832 an Public Schools zählte.
Den unteren Schichten der Bevölkerung war das Ballspiel in eher regelloser Form bekannt. Als aber im 19. Jahrhundert immer größere Fabriken und Industriezentren entstanden, die immer mehr Menschen zur Arbeit anzogen, so dass die Behörden ihre Aufsicht immer strenger ausübten, war für wildes Kicken in diesem Milieu kein Platz. Bei den schlimmen Arbeitsbedingungen hätte ohnehin kaum jemand Zeit und Kraft dafür gefunden.
Die Industrialisierung brachte einen sozialen Wandel, die enormen Veränderungen wirkten auf das Bildungssystem ein. Sowohl die Wirtschaft als auch die Verwaltung des Empire forderten eine Disziplinierung. Die Lehrer und die älteren Schüler gewannen wieder ihre unangefochten starke Autorität; in dieser Zeit vermochte Thomas Arnold als Direktor von Rugby die Selbstverwaltung der Schüler zu brechen. Ihm kam dabei zugute, dass an seiner Anstalt weniger Adelige studierten und die Söhne des Bürgertums eher auf Bildung angewiesen waren. Damals, 1845, wurden in Rugby erstmals ein paar Regeln des Ballspiels schriftlich festgehalten. Daraufhin setzt die Konkurrenz ihre eigenen ein: Studenten der Universität verfassten die Cambridge Rules, Eton untersagte das Spiel mit der Hand.
Fünf Jahre nach der ersten Reglementierung des Football brachte 1868 der Public Schools Act eine Reform, die unter anderen Harrow, Eton sowie Rugby betraf und die Hohen Schulen weitgehend in die Unabhängigkeit entließ.
Die Public Schools nahmen das Spiel in ihre Lehrpläne auf, da es zur Ausbildung im Sinne der britischen Herrschaft beitrug: »Eine Rasse von robusten Männern mit Initiative, regem Kreislauf, männlichem Edelmut und einem vitalen Geist« sollte das Empire verwalten; die Formel entsprach in Ausdruck und Inhalt dem damals aufkommenden Darwinismus.
Der 26. Oktober 1863 ist in London ein trüber Tag. Der Wind bläst kalt vom Flussufer her. Es dunkelt schon vor der Teestunde. In der Great Queen Street schütteln sich einige distinguiert gekleidete Herren vor einem beleuchteten Eingang die Hände und treten durch die Tür in das Lokal, das nach den Freimaurern benannt ist.
Die behagliche Freemason’s Tavern ist zu jener Zeit bekannt für ihr gehobenes bürgerliches Ambiente. Am Kamin lässt sich gut Grog trinken, an den Wänden hängt die schöne heimische Landschaft, um gediegene Holztische sitzt man in Fauteuils und bespricht die Welt des Empire. Der Chef selbst weist die Herren, die soeben eingetreten sind, in ein Extrazimmer. Als sie den Raum wieder verlassen, haben die Vertreter von elf Schulen und Clubs die Football Association, abgekürzt FA, ins Leben gerufen und Arthur Pember zu ihrem ersten Präsidenten gewählt – acht Jahre später erfolgt dann die Gründung der Rugby-Union, in der das ovale Leder mit der Hand getragen werden darf.
Bei Tee, Whisky und Zigarren gaben die Gentlemen ihrem Association-Spiel, kurz Soccer, einen Rahmen. An den Tischen der Freemason’s Tavern debattierten sie heftig über die Regeln, bis ihnen klarwurde, dass es von grundsätzlicher Bedeutung sei, wie hart und viril das Spiel sein dürfe. Würde man es erlauben, die Hände einzusetzen, wäre gewiss mehr Gewalt auf dem Feld zu erwarten. Zudem sei es wesentlich, ob man das übliche Hacking, den Tritt gegen die Beine, genehmigen wolle; to hack or not to hack, das war die Frage.
Mister Campbell, den die Absolventen von Rugby entsandt hatten, stellte sein Whiskyglas ab und rief, das Hacking dürfe man keineswegs aufgeben, wenn man nicht dazu beitragen wolle, die Erziehung zur Männlichkeit zu untergraben, und was werde denn aus dem Empire, wenn seine Eliten keine harten Männer mehr stellen sollten. Er, Campbell, wolle sich das gar nicht ausdenken.
Hack or die, lachte der Kollege von Eton, so weitreichende Folgen vermöge er nicht zu befürchten, das Empire sei schließlich das Empire. Er meine eher, man dürfe Verletzungen nicht herausfordern. Wenn der Football zu gefährlich sei, würde er nicht gerade anziehend wirken. Selbstverständlich denke er nur an seinesgleichen, die Gentlemen. Im Extrazimmer der Freemason’s Tavern wurde Zustimmung laut.
Nur wer kein Gentleman sei, rief nun Campbell, leugne die Gentlemen-Werte, wie man sie an den Hohen Schulen zu Recht pflege: Mut, Zivilcourage, Selbstbeherrschung. Der Mann von Eton musste sich beherrschen.
Da sagte Arthur Pember, der nie eine Public School besucht hatte, er könne definitiv bestätigen, auch in den besten akademischen Institutionen seien viele Spieler – und nicht die schlechtesten – gegen das Hacking.
Holt doch gleich ein paar Franzosen über den Kanal, wenn ihr das Überfeinerte sucht, rief Campbell.
Im Raum sah man sich an. Kein Wunder, dass Rugby nicht das ausgezeichnete Renommee genoss wie die besten Hohen Schulen, eben Eton oder Harrow, wo man ein modernes Bild vom Gentleman geprägt und sich gegen Gewalt im Sport ausgesprochen hatte. Somit war die Debatte um Football oder Rugby im Grunde eine Auseinandersetzung zwischen konservativen und fortschrittlichen Vorstellungen, zwischen verschiedenen Konzepten des Elitismus.
Der Kollege aus Rugby verabschiedete sich und rief noch in den Raum, derart würden sie hier – er zeigte der Reihe nach auf die anderen – ihre Virilität aufgeben.
So lässt sich die Gründungslegende erzählen.
Immerhin steht einiges davon wörtlich in den Sitzungsprotokollen, die Bell’s Life in London veröffentlichte. Tatsächlich aber war kein Vertreter der Institution von Rugby selbst in der Freemason’s Tavern zugegen, und doch wurde diese Art des Spiels in der Regeldebatte bedacht. Laut Mitschrift protestierte beim fünften Meeting der FA am 1. Dezember ein Mr. Campbell – für den späteren Rugby-Club Blackheath – dagegen, die Rugby-Elemente zu untersagen.
Die Association ließ ihre Regeln in Bell’s Life abdrucken. Sie betonte das Fair Play. Man dürfe den Gegner nicht treten, ihm kein Bein stellen, ihn nicht am Trikot halten und vor allem: Das Spiel mit der Hand wurde untersagt. Und als die FA Ende November Verhandlungen zum Beitritt des Cambridge University FC führte, erklärte sie das Verbot des Tretens als nicht verhandelbar: »that hacking was a non-negotiable item«.
Das knappe Regelwerk war rudimentär, erlaubte jedoch nunmehr, dass Teams aus verschiedenen Orten gegeneinander antreten konnten. Viele Aspekte waren allerdings noch dem Gutdünken überlassen. Zwar verstand man eine Mannschaft meist als Elf, Eleven, es war aber die Entscheidung der Kapitäne, mit wie vielen Kickern sie antreten wollten. Und so hatte im ersten Match, das nach den Association-Regeln ausgetragen wurde, Harrow elf Spieler auf dem Platz, Cambridge hingegen vierzehn. Dennoch siegte Harrow mit 3:1.
Man hatte zunächst auch keine zeitliche Begrenzung festgelegt, manchmal konnte ein Match zwei oder gar drei Stunden dauern. Die Position des Tormanns führte die FA 1871 ein, er durfte damals seine Hände in der gesamten eigenen Hälfte einsetzen. Im folgenden Jahr ließ sie nicht mehr die Spieler selbst als Regel-Kollektiv urteilen, sondern schrieb einen Referee vor; bis 1891 leitete der Schiedsrichter das Spiel von außen. Da hatte man gerade beschlossen, das Feld mit Kreide zu markieren und an den Toren, die acht Fuß hoch sein mussten, Netze anzubringen, um besser sehen zu können, ob gescort wurde oder nicht.
Im Laufe der ersten zwei Jahrzehnte der Association präzisierte sie langsam ihr Regelwerk. 1870 beschränkte sie endgültig die Anzahl der Spieler auf elf. 1864 hatte sie Freistoß und Corner (Eckball) eingeführt, 1866 das Abseits, das offenbar in dem recht einfachen Spiel bis heute den Ruf hat, weniger leicht verständlich zu sein. Die FA hielt fest: Zwischen dem vordersten Angreifer und dem Tor müssen sich mindestens drei (heute: zwei) Gegner befinden. Diese Regel war ein Grund, warum die Teams schnell nach vorne kommen wollten. Kick and Rush nannte man diese Taktik, die lange Zeit den britischen Fußball bestimmen sollte. Üblich war ein (heute kaum nachvollziehbares) 1–2–7-System: ein Verteidiger, zwei Mittelfeldspieler, sieben Stürmer; später ein 2–3–5.
1871 legte die FA zwanzig Pfund aus und erstand einen Silberpokal, um den fünfzehn Teams spielten – zwölf Jahre später waren es über hundert Mannschaften. Vor zweitausend Zuschauern fand am 16. März 1872 das erste Finale statt, die Wanderers gewannen 1:0 gegen die Royal Engineers. Bei den Siegern waren die großen Hohen Schulen vertreten: vier Absolventen von Harrow, drei alte Etonians und je ein Absolvent von Westminster, Oxford, Cambridge und Charterhouse.
Im selben Jahr erlebte die britische Insel das erste offizielle Ländermatch – wohl hatte im März 1870 eine englische gegen eine schottische Auswahl gespielt, jene bestand jedoch nur aus Schotten, die in London lebten. Am 30. November 1872 trennten sich England und Schottland in Glasgow 0:0. Man hatte sich auf diesen Samstag geeinigt, da die meisten Kicker im heimischen Team Arbeiter waren, während die adeligen Engländer den Montag vorgeschlagen hatten, um sich zuvor von der Reise erholen zu können.
Abb. 3: Plakat für das erste Länderspiel: Schottland gegen England, 30. November 1872.
England, Wales, Schottland, Irland, die Länder des Vereinigten Königreichs, waren sich ihrer Unterschiede und ihrer kulturellen Eigenständigkeit derart bewusst, dass sie selbstverständlich auch eigene Fußballverbände gegründet hatten. 1882 bildeten die vier Football Associations ein International Board. Im folgenden Jahr spielten sie erstmals die Britische Meisterschaft aus, bei der sie seither jeweils die Sinnbilder ihres Landes und ihrer Kultur besonders herausstreichen.
Der organisierte Fußball konnte im England der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen, da hier die Modernisierung am frühesten und intensiv auf die aristokratischen Ideale traf, die bis dahin die sozialen Werte und die Bildung bestimmt hatten. Eton, das 1849 als erste Hohe Schule das Spiel mit der Hand untersagt hatte, war berühmt dafür, dass es die jungen Männer der Ersten Gesellschaft heranzog. Jeder Fünfte war hier adelig; in Rugby war es jeder Fünfzehnte. Und in Eton hieß es, man wollte nicht das Handling Game spielen, das an Handwerk und Fleiß erinnere.
Die Herren in der Freemason’s Tavern hatten den Anstoß gegeben, der schließlich bewirkte, dass sich diese Spielkultur der Elite zum organisierten Sport entwickelte.
Das Regelwerk ermöglichte die Verbreitung des Fußballs, der bald alle Schichten der britischen Bevölkerung ansprach. Ein gutes Jahrzehnt nach der Gründung der Football Association kamen die meisten Kicker nicht mehr aus der Aristokratie und dem betuchten Bürgertum, sondern aus der Mittel- und der Arbeiterklasse. Junge Männer in Betrieben oder an ihren Stammtischen in Pubs, ja sogar in Kirchenzirkeln schufen ihre Vereine, die kaum über die Mittel verfügten wie die Gentlemen aus den Hohen Schulen. Unter den zahlreichen Clubs, die in den ersten beiden Jahrzehnten des organisierten Fußballs entstanden, finden sich bekannte Namen: Aston Villa 1874, Everton und Manchester United 1878.
Als ein Arbeiterteam aus Darwen 1879 in London dreimal gegen die Old Etonians antrat, hatte der Club in den heimischen Fabriken gesammelt, um die Reisekosten aufzubringen.
Vier Jahre später finanzierte eine Firma das einwöchige Trainingslager jener Mannschaft, die dann gegen die Old Etonians im Pokalfinale gewann: Die Elf von Blackburn Olympic bestand aus Arbeitern. Sie waren die ersten Engländer, die von den schottischen Teams Queen’s Park und Vale of Leven das Passing Game übernahmen. Man versuchte nicht nur hoch nach vorne zu schießen und hinterherzulaufen, sondern mit gezieltem Zuspiel zum gegnerischen Tor zu kommen.
Derart gestaltete man das Association-Spiel, den Soccer, offener und flüssiger. Da es nun mehr Abwechslung bot, zogen es viele dem Rugby-Spiel vor. Dieser Fußball soll den Arbeitern eher entsprochen haben, heißt es, denn sie hätten einen stärkeren Willen gezeigt, »den Sieg zu organisieren«, als die Oberschichten.
Der Football begann Massen zu bewegen. Den Verantwortlichen der FA und der Vereine war bald einsichtig geworden, dass die Fähigkeiten und das Spielniveau verbessert würden, wenn man die Möglichkeiten zum entsprechenden Training schaffe. Die besten Voraussetzungen wären gegeben, könnte man den Sport als Beruf ausüben.
Im September 1888 begannen zwölf Profiteams die erste Saison in The League. Ohne eine einzige Niederlage gewann Preston North End die Meisterschaft und im selben Jahr ohne Gegentor den Pokal. Tatsächlich erwies es sich für die sportliche Qualität als enormer Vorteil, dass sich die Mannschaften auf den Fußball konzentrieren konnten; ein großer ökonomischer Anreiz war es allerdings zunächst für die frühen Berufsspieler nicht: Sie verdienten kaum mehr als ein qualifizierter Arbeiter.