Konrad Schmid
Eine Einführung
Studienausgabe

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Studienausgabe 2014
2., durchgesehene und bibliographisch erweiterte Auflage
© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Satz: Janß GmbH, Pfungstadt
Einbandgestaltung: schreiber VIS, Bickenbach
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ISBN 978-3-534-25102-5
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73873-1
eBook (epub): 978-3-534-73874-8
Vorwort
A. Aufgabe, Geschichte und Probleme einer alttestamentlichen Literaturgeschichte
I. Weshalb eine alttestamentliche Literaturgeschichte?
1. Aufgabenstellung
2. Forschungsgeschichte
3. Theologische Einordnung
4. Das Alte Testament als Ausschnitt der Literatur des antiken Israel
5. Hebräische Bibeln und Alte Testamente
6. Das Problem eines „Urtextes“ des Alten Testaments
7. Die alttestamentliche Literaturgeschichte innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft
8. Grundlagen, Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der historischen Rekonstruktion
9. Neuere Forschungstendenzen in der alttestamentlichen Wissenschaft und ihre Konsequenzen für eine alttestamentliche Literaturgeschichte
II. Sprache, Schrift, Buchwesen und Literaturproduktion im antiken Israel
1. Sprache und Schrift
2. Materiale Aspekte der Literaturproduktion
3. Literatursoziologische Aspekte der Literaturproduktion und -rezeption
4. Autoren und Redaktoren
5. Das zeitgenössische Publikum der alttestamentlichen Literatur
6. Elemente formgeschichtlicher Entwicklungen
III. Zu Vorgehen und Darstellung
1. Der Kulturdruck der Großmächte und die Periodisierung der alttestamentlichen Literaturgeschichte
2. Historische Kontextualisierungen
3. Theologiegeschichtliche Charakterisierungen
4. Form-, traditions- und sozialgeschichtliche Differenzierungen der Überlieferungsbereiche
5. „Horizontale“ und „vertikale“ Bezugnahmen alttestamentlicher Texte und Schriften
6. Redaktion als innerbiblische Rezeption
7. Tradition und Erinnerung
B. Die Anfänge der altisraelitischen Literatur im Rahmen der syrisch-palästinischen Kleinstaatenwelt bis zum Aufkommen der Assyrer (10.–8. Jh. v. Chr.)
I. Historische Hintergründe
II. Theologiegeschichtliche Charakterisierungen
III. Überlieferungsbereiche
1. Kultische und weisheitliche Überlieferungen
a) Die Literatur an den Nordreichsheiligtümern
b) Die Literatur des Jerusalemer Tempelkults
c) Weisheitliche Überlieferungen
2. Annalistische und erzählende Überlieferungen
a) Nordreichsüberlieferungen
b) Jerusalemer Hofliteratur
C. Die Literatur der Assyrerzeit (8./7. Jh. v. Chr.)
I. Historische Hintergründe
II. Theologiegeschichtliche Charakterisierungen
III. Überlieferungsbereiche
1. Kultische und weisheitliche Überlieferungen
a) Psalmen
b) Ältere Weisheitsliteratur
2. Erzählende Überlieferungen
a) Die Anfänge der deuteronomistischen „Königebücher“
b) Richtererzählungen Ri 3–9
c) Mose-Exodus-Geschichte
d) Abraham-Lot-Zyklus
3. Prophetische Überlieferungen
a) Anfänge prophetischer Überlieferung im Hosea- und Amosbuch
b) Die älteste Jesajaüberlieferung und ihre josianische Rezeption
4. Rechtsüberlieferungen
a) Bundesbuch
b) Deuteronomium
D. Die Literatur der babylonischen Zeit (6. Jh. v. Chr.)
I. Historische Hintergründe
II. Theologiegeschichtliche Charakterisierungen
III. Überlieferungsbereiche
1. Kultische und weisheitliche Überlieferungen
a) Threni als Antipsalmen
b) Volksklagen und Kollektivierung von Individualpsalmen
2. Erzählende Überlieferungen
a) Die Hiskia-Jesaja-Erzählungen
b) Die Fortschreibung von Sam–2Kön 23 durch 2Kön 24f
c) Die Entstehung des Großgeschichtswerks Ex 2–2Kön 25
d) Die Josephsgeschichte
e) Die Vätergeschichte der Genesis
f) Die nichtpriesterschriftliche Sinaiüberlieferung
3. Prophetische Überlieferungen
a) Anfänge der Jeremia-Überlieferung
b) Anfänge der Ezechiel-Überlieferung
c) Deuterojesaja
4. Rechtsüberlieferungen
a) Dekalog
b) Das deuteronomistische Deuteronomium
E. Die Literatur der Perserzeit (5./4. Jh. v. Chr.)
I. Historische Hintergründe
II. Theologiegeschichtliche Charakterisierungen
III. Überlieferungsbereiche
1. Kultische und weisheitliche Überlieferungen
a) Priesterschrift
b) Theokratische Psalmen
c) Hiob
2. Erzählende Überlieferungen
a) Die nichtpriesterliche Urgeschichte
b) Daniel-Legenden (Dan *1–6)
c) Die Entstehung des Großgeschichtswerks Gen–2Kön
d) Esra–Nehemia
3. Prophetische Überlieferungen
a) Haggai/Sacharja
b) Fortschreibungen in Deuterojesaja und Tritojesaja
c) Fortschreibungen in Jeremia und Ezechiel
d) Die „deuteronomistische“ Umkehrtheologie
e) Die biblische Konstruktion der klassischen Prophetie
4. Rechtsüberlieferungen
a) Das Heiligkeitsgesetz
b) Das Numeribuch
c) Die Formierung der Tora
F. Die Literatur der Ptolemäerzeit (3. Jh. v. Chr.)
I. Historische Hintergründe
II. Theologiegeschichtliche Charakterisierungen
III. Überlieferungsbereiche
1. Weisheitliche Überlieferungen
a) Prov 1–9
b) Hi 28 und Hi 32–37
c) Qohelet
d) Der „messianische Psalter“
Exkurs: Das Aufkommen der Apokalyptik
2. Erzählende Überlieferungen
a) Die Chronik
b) Ausgestaltungen in der Bileam-Perikope
c) Hellenistische Elemente in der David-Überlieferung
d) Ester
e) Die Übertragung der Tora ins Griechische
3. Prophetische Überlieferungen
a) Weltgerichtstexte im Corpus propheticum
b) Die Formierung eines Großjesajabuches Jes 1–62
c) Fromme und Frevler in Tritojesaja
d) Diasporaheimkehr und Restauration des Königtums in Jeremia
e) Deutero- und Tritosacharja
f) Die redaktionelle Abgleichung von Jesaja- und Zwölfprophetenbuch
g) Die Weltreiche in Dan 2 und 7
G. Die Literatur der Seleukidenzeit (2. Jh. v. Chr.)
I. Historische Hintergründe
II. Theologiegeschichtliche Charakterisierungen
III. Überlieferungsbereiche
1. Kultische und weisheitliche Überlieferungen
a) Theokratisierung und Reeschatologisierung im Psalter
b) Sirach und Weisheit Salomos
2. Prophetische Überlieferungen
a) Die Formierung von Neviim
b) Das makkabäische Danielbuch
c) Baruch
3. Erzählende Überlieferungen
a) Die Weltzeitordnung in den erzählenden Büchern
b) Makkabäerbücher, Tobit, Judit, Jubiläen
H. Schriftwerdung und Kanonbildung
I. Zur Unterscheidung von „Schrift“ und „Kanon“
1. Josephus und 4Esr 14
2. Der Sirachprolog und das „Gesetz und die Propheten“
II. Die Schriftwerdung der alttestamentlichen Literatur im Rahmen ihrer Geschichte
1. Die biblische Präsentation
2. Religiöse Texte – Normative Texte – Heilige Schrift – Kanon
3. Literatur- und Kanonsgeschichte des Alten Testaments
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Autorenregister
Sicut enim a perfecta scientia procul sumus,
levioris culpae arbitramur saltem parum,
quam omnino nihil dicere.
Hieronymus (PL 25, 380B)
Die nachfolgende Darstellung zu Voraussetzungen, Hintergründen, Gang und Vernetzungen der alttestamentlichen Literaturgeschichte (zum Verhältnis von „Altem Testament“ und „Hebräischer Bibel“ s.u. 28–32) – gemeint ist damit eine auf vor allem auf Entwicklungslinien und Bezugnahmen achtende Geschichte der im Alten Testament enthaltenen Literatur – will entsprechend ihrem Titel nicht mehr sein als eine Einführung. Sie verfolgt nicht den Zweck, ihren Gegenstand erschöpfend zu behandeln. Das ist in der gegenwärtig weitverzweigten Forschungslage kaum zu leisten, schon gar nicht von einem Einzelnen und innerhalb eines beschränkten Darstellungsrahmens. Gleichwohl versteht sich das Nachfolgende weder als pures Wagnis noch als bloßes Fragment. Die Diffusität der Forschungslage wird heute zwar gerne heraufbeschworen, aber in bestimmter Hinsicht oft auch überschätzt: Natürlich kennt die alttestamentliche Wissenschaft eine Vielzahl von untereinander oft schwer vermittelbaren Vorschlägen zur Genese und historischen Einordnung der Bücher und Texte des Alten Testaments, auf die eine Literaturgeschichte grundsätzlich in einem gewissen Mindestmaß abstellen können muss, doch scheinen in der jüngsten Forschungsdiskussion Konturen neuer Teilkonsense sichtbar zu werden, die sich doch auf einige wichtige Grundentscheidungen erstrecken und so das Projekt einer Literaturgeschichte des Alten Testaments keineswegs von vornherein unmöglich machen, vielmehr insofern fordern, als es für das Verstehen des Einzelnen ebenso des Ganzen bedarf, wie dessen Verständnis auf dem des Einzelnen beruht. In diesem Punkt sollte die Bibelwissenschaft, zu deren Tugenden die kritische Selbstreflexion nicht immer in ausreichendem Maß gehört, nicht hinter Schleiermacher zurückfallen.
Übergreifende Perspektiven sind also auch für die Diskussion von einzelexegetischen Problemen von Bedeutung und gerade das Einbringen literaturgeschichtlicher Überlegungen kann bestimmte Entscheidungen in diesem Bereich entscheidend stützen oder auch unwahrscheinlich machen. In der gegenwärtigen Forschungssituation kann die literaturgeschichtliche Fragestellung nicht einfach das Zusammentragen bereits vorliegender einleitungswissenschaftlicher Erkenntnisse bedeuten, sondern sie ist gewissermaßen auch Teil, Fortführung und Absicherung dieser selbst. Nur eine ganz positivistische Zugangsweise zur historischen Bibelwissenschaft könnte fordern, dass das Projekt einer alttestamentlichen Literaturgeschichte erst dann angegangen werden könne, wenn die einzelexegetischen Ergebnisse auf dem Tisch liegen. Denn diese Ergebnisse sind in Tat und Wahrheit zunächst einmal Hypothesen, deren Plausibilität eben nicht nur von ihnen selbst, sondern auch von den zugehörigen Referenzrahmen abhängt. Wenn man für diese nicht einfach die forschungsgeschichtliche Gewöhnung einsetzen will, dann dispensiert nichts davon, auch übergreifenden Fragestellungen wie literaturgeschichtlichen Synthesemöglichkeiten Aufmerksamkeit zu schenken. Diese wären freilich ebenso positivistisch missverstanden, wenn sie nun als Determinanten der sie nur noch illustrierenden Einzelexegese ausgegeben würden. Beide Zugangsweisen müssen grundsätzlich revisionsoffen sein und die Frage der Verbindbarkeit ihrer vorläufigen Resultate bleibt eine fortwährende Aufgabe der Bibelwissenschaft.
So versteht sich dieser Beitrag weder als ein End-, noch als ein Anfangspunkt der literaturgeschichtlichen Forschung am Alten Testament, sondern als ein erster Zwischenhalt, der die literaturgeschichtliche Fragestellung als solche und einige vorläufige Perspektiven inhaltlicher Art dazu präsentieren will. Er ist weder willens noch in der Lage, den entstehungsgeschichtlichen Forschungsstand zum Alten Testament angemessen oder gar abschließend zu würdigen und zu synthetisieren. Es geht ihm vielmehr darum, die historisch-kritische Rekonstruktion des Gesprächs zwischen den wichtigsten seiner Texte bzw. Textcorpora als historische und theologische Aufgabe der wissenschaftlichen Erforschung des Alten Testaments zurückzugeben.
Nicht unproblematisch mag manchen Leserinnen und Lesern der durch die Gliederung des Buches erkennbare literaturgeschichtliche Raster erscheinen, der in verschiedener Weise Klassifizierungen vornimmt: Auf der allgemeinsten Ebene werden literaturgeschichtliche Epochen voneinander unterschieden (vorassyrische, assyrische, babylonische, persische, ptolemäische und seleukidische Zeit), eine zweite Ebene differenziert jeweils innerhalb dieser Epochen nach unterschiedlichen Literaturbereichen (kultische und weisheitliche, erzählende, prophetische und rechtliche Überlieferungen), während schließlich auf einer dritten Ebene die konkreten literarischen Werke und Positionen besprochen werden. Am kontroversesten werden die auf dieser dritten Ebene vorgenommenen Zuordnungen sein, während über Fug und Recht der Klassifizierung der Literaturgeschichte des Alten Testaments nach den jeweils vorherrschenden Hegemonialmächten in Syrien-Palästina mit dem von ihnen geprägten Kulturdruck in der gegenwärtigen Diskussionslage vermutlich nicht mehr grundsätzlich gestritten werden muss. Ebenso dürften auch die Zuteilungen zu verschiedenen Literaturbereichen wenig Widerspruch hervorrufen, zumal sie von untergeordneter inhaltlicher Bedeutung sind und eher der Übersichtlichkeit der Darstellung dienen. Was nun die konkreten literaturgeschichtlichen Einordnungen der alttestamentlichen Texte und Schriften betrifft, so bleibt – bei allen sofort zuzugestehenden Unsicherheiten in der Forschungsdiskussion – zweierlei grundsätzlich zu bedenken. Zum einen lassen sich hinter und neben allen Konfusionen und Strittigkeiten einige jedenfalls in einem solchen Maß anerkannte historische Einordnungen von Teilen der alttestamentlichen Literatur feststellen, so dass eine Rekonstruktion der Grundlinien einer Literaturgeschichte des Alten Testaments eben möglich – und nicht vielmehr unmöglich – erscheint. Dazu gehört im Bereich des Pentateuch die Ausgrenzung und Einordnung der Priesterschrift, mit Einschränkungen auch des literaturgeschichtlichen Kerns des Deuteronomiums, im Bereich der Vorderen Propheten die Identifizierung, neu aber auch der redaktionsgeschichtlichen Differenzierung der „deuteronomistischen“ Deuteperspektiven, im Bereich der Propheten die Unterscheidung von Erstem und Zweitem Jesaja sowie die Erkenntnis der langfristigen Redaktionsgeschichte der Prophetenbücher, auch im Bereich der Psalmen sowie der Weisheitsliteratur erscheint es als nicht von vornherein aussichtslos, etwa königszeitliche von nachkönigszeitlichen Positionen zu unterscheiden. Natürlich bleibt so auf das Ganze gesehen mehr umstritten als unumstritten, doch liegt dies in der Natur des Projekts einer Literaturgeschichte und kann nicht im Ernst gegen den Versuch des Unterfangens als solchen angeführt werden. Im Übrigen unterscheidet sich eine Literaturgeschichte des Alten Testaments diesbezüglich nicht grundsätzlich von der alttestamentlichen Einleitungswissenschaft, deren Legitimität ja auch nicht von den vorliegenden kontroversen Ergebnissen her bestritten wird.
Zum anderen ist hervorzuheben, dass eine bestimmte Zuordnung einer Position zu einer bestimmten Zeit in der Regel nur eine relative ist: Viele alttestamentliche Texte und Schriften verfügen ebenso über eine mündliche oder auch schriftliche Vorgeschichte, wie auch über eine Nachgeschichte bereits innerhalb des Alten Testaments, so dass ihre Besprechung im Kontext dieser und nicht jener literaturgeschichtlichen Epoche nicht heißen soll: Die hier verwendeten und verarbeiteten Stoffe und Texte sind in dieser oder jenen Schrift zum ersten Mal und von Grund auf neu konzipiert worden und danach nicht mehr verändert worden. Vielmehr ist das Alte Testament grundsätzlich als Traditionsliteratur (vgl. Schmid 2011a) zu charakterisieren, so dass etwa die Behandlung der Mose-Exodus-Geschichte im Kontext der neuassyrischen Zeit nicht aus-, sondern einschließt, dass diese Erzählung ebenso über ältere Vorstufen verfügt, wie sie später noch ausgiebig literarisch erweitert worden ist. Die neuassyrische Zeit ist aber mutmaßlicherweise die ihrer ersten literarischen Formierung. Deshalb erscheint sie an dieser und nicht an anderer Stelle.
Die der im engeren Sinn literaturgeschichtlichen Darstellung jeweils beigegebenen Notizen zu geschichtlichen und einleitungswissenschaftlichen Sachfragen sind nur soweit ausgeführt, als sie für die literaturgeschichtliche Fragestellung von Belang sind. Für weiterführende Informationen Diskussionen sind die neueren Darstellungen zur Einleitung in das Alte Testament und zur Geschichte Israels zu konsultieren. Die im Text angegebenen Literaturverweise mögen als nicht spärlich erscheinen, sind aber angesichts der Breite der Fachdiskussion gleichwohl nicht mehr als exemplarischer Natur.
Einige Passagen dieses Buches verarbeiten – in unterschiedlich modifizierter Form – bereits an anderer Stelle publizierte Beiträge: Der Abschnitt zur Forschungsgeschichte (I. 3.) basiert auf einer stark gekürzten Version von Schmid 2007c. In den Überlegungen zu den literatursoziologischen Aspekten der Literaturproduktion und -rezeption (II. 3.) ist die Darstellung Schmid 2004a aufgenommen und stark erweitert worden. Das Unterkapitel über die Anfänge der deuteronomistischen Königebücher (III. 2. a) lehnt sich teilweise an Schmid 2004b an und einige der Abschnitte zur prophetischen Literatur greifen in z.T. verkürzender und z.T. erweiternder Form und, wo immer möglich, in literaturgeschichtlich vernetzender Weise auf meine einleitungswissenschaftliche Darstellung zu den „Hinteren Propheten“ in Gertz 2010, 313–412 zurück.
Ich danke der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG) in Darmstadt, meiner Mitarbeiterin Luise Oehrli und meinen Mitarbeitern Martin Leuenberger und Jürg Hutzli in Zürich, der alttestamentlichen Sozietät in Zürich, meinen Gesprächspartnern im Fach, namentlich Uwe Becker (Jena), Jan Christian Gertz (Heidelberg) und Markus Witte (Frankfurt am Main) und vor allem Ernst Axel Knauf (Bern), der mich in vielen Fragen beraten und vor einer Reihe von Irrtümern bewahrt hat, die aber vermutlich mit der Menge der möglichen Irrtümer noch lange nicht deckungsgleich ist. Zu danken habe ich auch dem Center of Theological Inquiry in Princeton, nicht nur für die Möglichkeit eines einjährigen Forschungsaufenthalts, sondern vor allem auch für die intensive Begegnung mit einer von der deutschsprachigen Diskussion in mehreren Aspekten doch deutlich unterschiedenen amerikanischen Bibelwissenschaft.
Zürich, im Februar 2008 |
Konrad Schmid |
Für die nun nötig gewordene Auflage sind verschiedene Fehler und Versehen korrigiert worden, aber auch wichtige Literatur aus den Jahren 2008–2013 nachgetragen worden. Für Hilfe bei der Durchsicht des Skripts bin ich vor allem Dr. Jörg Hutzli (Lausanne) und Lida Panov (Zürich) zu Dank verpflichtet.
Zürich, im November 2013 |
Konrad Schmid |
Eine Literaturgeschichte bezeichnet den Versuch, literarische Werke nicht bloß je für sich, sondern sie in ihren inneren Zusammenhängen, Vernetzungen und historischen Entwicklungen darzustellen und zu interpretieren (Köpf 2002). Diese Aufgabenstellung bezeichnet in all ihrer Knappheit bereits Problematik und Chance der Literaturgeschichtsschreibung zugleich. Durchaus zu Recht wurde in der literaturwissenschaftlichen Diskussion darauf hingewiesen, dass das synthetische Vorgehen einer Literaturgeschichte nachgerade zwingend zu einer Vernachlässigung der Einzelwerke führen muss: „Man muß zugeben, daß die meisten Literaturgeschichten entweder Sozialgeschichten, Geschichten des in der Literatur zum Ausdruck kommenden Denkens oder mehr oder minder chronologisch angeordnete Eindrücke und Urteile über einzelne Werke sind“ (Wellek/Warren 1949/1971, 276, Hervorhebung K. S.). Man kann Wellek und Warren zufolge nicht beides zugleich haben: eine systematisierende, literaturgeschichtliche Zusammenschau verschiedener Werke aus verschiedenen Zeiten, die gleichzeitig auch jedem Einzelwerk angemessen Rechnung trägt. Entsprechend wollte Wellek am Ende seines Wirkens das Projekt einer Literaturgeschichte ganz aufgeben (Wellek 1979). Auch David Perkins neigt in seinem literaturtheoretischen Buch „Is Literary History Possible?“ dazu, die Titelfrage zu verneinen (Perkins 1992, 17). Gleichwohl liegt es auf der Hand, dass historische Einordnungen bestimmter Werke innerhalb ihrer literaturgeschichtlichen Kontexte ihrem Verständnis durchaus förderlich sein können. Außerdem ist auch eine literaturgeschichtliche Zusammenschau als solche – abgesehen von der Frage nach den Einzelwerken – eine in sich legitime und weiterführende Aufgabe, auch wenn sie um den Preis einer verkürzenden Darstellung ihrer Konstituentien erfolgt.
Diese Diskussionen mögen für die nichtbiblischen Literaturen hier auf sich beruhen bleiben. Für das Alte Testament liegt es jedoch auf der Hand, dass die vielfältige Interaktion unter seinen Texten es in besonderer Weise dafür qualifiziert, literaturgeschichtlich befragt zu werden. Ja, das Alte Testament selbst entwirft sich – in seinen verschiedenen kanonischen Anordnungen in unterschiedlicher Weise (s.u. 28–32) – als Literaturgeschichte (vgl. Utzschneider 2002).
Wie aber ist das Projekt einer Literaturgeschichte des Alten Testaments als kritische, wissenschaftliche Disziplin anzugehen?
Es kann als ein Versuch verstanden werden, herkömmliche Teildisziplinen der alttestamentlichen Wissenschaft neu zusammenzubringen – nicht als Ersatz einer bestehenden Teildisziplin, sondern als Ergänzung dazu. Die von ihrer Fragestellung her engsten Beziehungen bestehen naturgemäß zur Einleitungswissenschaft, diese aber wird zum einen integral mit Elementen einer Geschichte Israels und einer Theologie des Alten Testaments (nämlich der Eruierung der theologischen Konzeptionen in den alttestamentlichen Schriften in ihrer jeweiligen historischen Verankerung) zusammengesehen und folgt zum anderen – anders als die Einleitungswissenschaft – nicht der Abfolge des Kanons, sondern der Geschichte Israels.
Dabei werden die Texte der Bibel in erster Linie historisch verstanden: Sie entstammen bestimmten Zeiten und sprechen in bestimmte Zeiten hinein, die zunächst ihre eigenen sind. Gerade im Fall der Bibel aber sind die Texte auch in sich verändernden Zeiten neu gelesen und fortgeschrieben worden (vgl. Jeremias 1996, 20–33; Steck 1996; 2001). Das ist ein theologisch höchst bedeutsamer Vorgang, dem es zudem zu verdanken ist, dass wir das Alte Testament überhaupt kennen: Ohne den Prozess fortwährender Ab- und Fortschreibung der Texte wären die Erstausgaben alsbald verrottet. Länger als etwa 200 Jahre halten sich antike Schriftrollen unter normalen Umständen nicht.
Diesem Umstand entsprechend hat eine Literaturgeschichte des Alten Testaments nicht nur die mutmaßlichen Primärgestalten der alttestamentlichen Texte in ihren historischen Entstehungskontexten zu behandeln, sondern auch ihre Rezeptionsgestalten während der Gesamtzeit der Entstehung des Alten Testaments zu berücksichtigen. Das Buch Jesaja etwa ist für beinahe alle Epochen der alttestamentlichen Literaturgeschichte relevant – und zwar nicht nur deswegen, weil es vom 8. bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. auf seine jetzige Gestalt hin angewachsen ist und deshalb Textanteile aus verschiedenen geschichtlichen Situationen in sich vereinigt, sondern weil auch seine älteren Bestandteile immer wieder neu gelesen und verstanden worden sind (Steck 1992b; 1996; Blenkinsopp 2002). Der historische Blick auf die alttestamentliche Literatur darf sich also nicht auf punktuelle Untersuchungen und Einordnungen von Einzelperikopen beschränken, sondern muss darüber hinaus – gewissermaßen in resultativer Hinsicht – fragen: Wie sind traditionelle und redaktionelle Partien eines Textes gemeinsam in den unterschiedlichen Phasen seines literarischen Wachstums und seiner Überlieferung verstanden worden?
Die alttestamentliche Literaturgeschichte folgt mit ihrer historischen Frageausrichtung zunächst dem Einspruch der Romantik gegen die Aufklärung und hält die Bibel nicht für ein „Bilderbuch ewiger Wahrheiten“, geht aber ihrerseits auch über implizite Grundüberzeugungen der Romantik hinaus, in dem sie deren Ursprungsmanie und Dekadenzmodelle nicht übernimmt, sondern versucht, ihren biblischen Gegenstand in historisch angemessener Weise zu verstehen.
Historisch zu fragen beinhaltet auch eine Wahrnehmung und literaturgeschichtliche Auswertung von Faktoren jenseits der bloßen Ereignisgeschichte, unter Einschluss von wirtschafts- und sozialgeschichtlichen bis hin zu geographischen Determinanten geschichtlicher Abläufe, wie sie etwa von der Ecole des annales vorgeschlagen worden ist (Mohr 1988).
Schließlich ist auch gegen einen verbreiteten Trend bei Versuchen der historischen Kontextualisierung alttestamentlicher Literatur, deren Texte vor allem als literarische Reflexe historischer Konstellationen zu verstehen, philosophiegeschichtlich gewissermaßen Max Weber gegenüber Karl Marx ins Recht zu setzen (vgl. Schluchter 2006) und dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Texte nicht nur geschichtliche Erfahrungen verarbeiten, sondern umgekehrt auch Texte geschichtstreibende Kräfte entfalten können: Die Bewältigung des Untergangs Judas in der babylonischen Zeit und die Entstehung des antiken Judentums als eines religiös bestimmten Ethnos’ (vgl. Blum 1995) sind etwa ein Beispiel eines solchen Prozesses, der ohne entsprechende Überlieferungsgrundlage nicht plausibel geklärt werden kann. Umgekehrt ist die neuerdings vorgeschlagene Deutung der Gerichtsprophetie als vaticinia ex eventu (Kratz 1997b; 2003b. c) gerade auch aus historischer Perspektive, etwa angesichts der Bileaminschrift aus Tell Deir Alla (TUAT II, 138–148; vgl.van der Toorn 2007, 176; Blum 2008a; 2008b), kein fraglos überzeugender Gedanke: E nihilo nihil fit. Ohne Verankerung der Gerichtsprophetie in Aussagen oder Texten vor ihrer geschichtlichen Bewahrheitung wird ihre Entstehung historisch nicht vollumfänglich erklärt. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass in der Tat vielerorten mit Prophetentexten zu rechnen ist, deren Zukunftsperpektive literarisch ex post konstruiert ist. So erweckt zum Beispiel ein großer Teil der prophetischen Völkersprüche gegen die transjordanischen Nachbarstaaten Israels und Judas in der Tat den Eindruck, dass sie deren Untergang nachträglich geschichtsprophetisch rationalisieren wollen.
Eine Literaturgeschichte des Alten Testaments ist nicht bloß eine anders, nämlich historisch statt kanonisch angeordnete Einleitung in das Alte Testament, vielmehr muss sie deren entstehungsgeschichtliche Frage in verschiedener Hinsicht erweitern. Über die Entstehung alttestamentlicher Bücher und Texte hinaus hat sie insbesonders zu fragen, wie diese sich einerseits in geschichtliche Traditionsstränge einordnen und wie sie sich andererseits zu mutmaßlich gleichzeitigen literarischen Gesprächspartnern aus dem Alten Testament verhalten. Sie hat also die diachronen wie auch die synchronen Vernetzungen und Bezugnahmen eines Textes zu verdeutlichen. Damit versucht sie, zum einen das Profil bestimmter theologischer Positionen im Alten Testament durch den Vergleich mit konkurrierenden Positionen zu schärfen, zum anderen theologiegeschichtliche Entwicklungen zu rekonstruieren und plausibilisieren. Es ist hier schon anzumerken, dass die in den nachfolgenden Teilen B.–G. gegebenen Skizzen zu Verlauf und Entwicklung der alttestamentlichen Literaturgeschichte diesen Anspruch nicht immer material einzulösen vermögen – dazu ist die literaturgeschichtliche Forschung am Alten Testament zwar nicht zu jung, wie aus dem nächsten Abschnitt gleich ersichtlich werden wird, aber bislang zu wenig intensiv bearbeitet worden. Gleichwohl werden sich hier und dort deutlichere oder weniger deutliche Perspektiven ergeben, die die literaturgeschichtlichen Vernetzungen der alttestamentlichen Texte und Schriften in ihren historischen Kontexten darzustellen vermögen.
Die literaturgeschichtliche Fragestellung am Alten Testament ist nicht neu. Wie ist ihre Geschichte verlaufen und welche Möglichkeiten und Probleme haben sich dabei gezeigt (vgl. Schmid 2007c)?
Literaturgeschichtlich zu fragen, setzt den Beginn der historischkritischen Forschung am Alten Testament und damit das Bewusstsein der Divergenz zwischen biblischer Selbstdarstellung und historischer Rekonstruktion voraus. So sprach sich bereits 1670 Baruch de Spinoza in seinem Tractatus theologicopoliticus für die Notwendigkeit einer literaturgeschichtlichen Behandlung des Alten Testaments aus, da dieses die nationale und natürliche Entwicklung des hebräischen Volksgeistes darstelle. Ansätze literaturgeschichtlichen Fragens finden sich auch bei Richard Simon (1685), Richard Lowth (1753), Johann Gottfried Herder (1782/83) und anderen. In der Zeit vor den vor allem mit dem Namen Julius Wellhausen verbundenen Umbrüchen verblieb die Rekonstruktion der alttestamentlichen Literaturgeschichte allerdings eng bei den biblischen Vorgaben, und es bildete sich – trotz des vehementen Votums von Hermann Hupfeld aus dem Jahr 1844 („Der eigentliche und allein richtige Name der Wissenschaft in ihrem heutigen Sinn ist demnach Geschichte der heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments, oder der biblischen Literatur, wie sie schon R. Simon nannte“, Hupfeld 1844, 12f; vgl. Kaiser 2005) – keine eigene literaturgeschichtliche Subdisziplin der alttestamentlichen Wissenschaft heraus.
Eine eigentliche, terminologisch so angezeigte und methodisch reflektierte Literaturgeschichte des Alten Testaments legte erstmals Ernst H. Meier mit seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Hebräer im Jahr 1856 vor, die allerdings ein völliges Außenseiterwerk blieb und kaum Beachtung fand (Meier 1856). Dieses Geschick und der Umstand, dass es sich bei dieser Literaturgeschichte um das Werk eines Nichtalttestamentlers, eines Orientalisten, handelt, kann nachgerade als ein prophetischer Vorverweis auf die nahezu durchgängige Marginalität der literaturgeschichtlichen Fragestellung in der späteren alttestamentlichen Wissenschaft gedeutet werden. Entsprechend seiner Zeit ging Meier die alttestamentliche Literaturgeschichte dezidiert von der Frage nach der hebräischen „National“-Literatur her an (VI). Für ihn zerfiel die hebräische Literatur, die er bibelnah beschrieb, in drei Epochen, eine „Vorbereitungsepoche, von Mose bis zum Beginn des Königtums“, sie „bezeichnet das Werden des hebräischen Staates“, eine zweite Epoche erstreckt sich von „der Stiftung des Königthums bis zum Ende des Exils“, hier „erreicht der Volksgeist seine eigentliche Blüte“, während die dritte Epoche vom „Anfang des persischen bis ins makkabäische Zeitalter“ reicht, sie ist zugleich die Periode der „Vollendung und des Verfalls“ (24).
Noch näher am biblischen Bild der Literaturgeschichte des Alten Testaments blieb das zweibändige Werk von Julius Fürst (1867/70), das ursprünglich auch die neutestamentliche Literatur miteinschließen sollte, dann aber nur bis zur Behandlung der frühpersischen Zeit fertiggestellt wurde. Fürst folgte in der Pentateuchforschung der älteren Urkundenhypothese, die Psalmen sind für ihn davidischen und die Sprüche salomonischen Ursprungs. Die Propheten sind literaturgeschichtlich im Wesentlichen für ihre Bücher insgesamt verantwortlich. In all diesen alttestamentlichen Schriften ist aber auch älteres Quellenmaterial verarbeitet. Deshalb liest sich Fürsts Literaturgeschichte auf weite Strecken hin wie eine Darstellung der in die biblischen Bücher eingegangenen, älteren Vorgaben.
Das zweibändige Werk von David Cassel (1872/73) systematisiert sehr viel stärker nach formalen Gesichtspunkten. Der Aufriss ist nicht in erster Linie chronologisch geordnet, sondern strebt eine gattungsmäßige Sortierung an. Cassel unterschied poetische, prophetische, gesetzliche und historische Literatur. Durchgeführt ist die literaturgeschichtliche Darstellung aber nur für die beiden erstgenannten Bereiche, wobei – der Natur der Sache entsprechend – nur die prophetische Literatur in sich wirklich geschichtlich differenziert wird. Auch Cassel notierte die Kontextverflochtenheit der hebräischen Bibel, hielt aber in der Regel die Bibel für den gebenden Teil.
Julius Wellhausen, der die historische Bibelkritik mit der Spätdatierung der Priesterschrift neu fundierte, hat keines seiner Bücher mit dem Titel „Literaturgeschichte“ überschrieben, doch tragen sowohl seine „Prolegomena“ (1883/61927) wie auch einzelne Paragraphen der „Israelitischen und jüdischen Geschichte“ (1904) Züge literaturgeschichtlicher Zugangsweisen. Man kann vermuten, dass es nicht zuletzt die historischsynthetische Präsentation der bibelkritischen Resultate von Wellhausens Forschung war, die ihr ihren Erfolg in der alttestamentlichen Wissenschaft sicherte.
Die bekannte Synthese von Eduard Reuss (1881; vgl. dazu Vincent 1990) aus dem Jahr 1881 verstand sich programmatisch als Weiterführung der bisher erreichten Bibelkritik v.a. nach Karl Heinrich Graf, Julius Wellhausen und Abraham Kuenen. „Denn das beste was bis jetzt gethan ist, sie nennen’s die historischkritische Einleitung ins Alte Testament, ist nicht das Haus selber, sondern erst der statistische Bericht über die Vorarbeiten in der Bauhütte und Werkstatt“ (21). Reuss’ eigene Darstellung ist chronologisch geordnet und klassifiziert die Literaturgeschichte etwas schematisierend in vier Epochen, die „Zeit der Helden“, die „Zeit der Propheten“, die „Zeit der Priester“ und die „Zeit der Schriftgelehrten“ (XIII–XV). Immerhin aber zeichnete Reuss vor, was die in den nächsten Jahrzehnten vorgelegten Darstellungen der alttestamentlichen Literaturgeschichte dann entsprechend prägte. Er fand in den Hymnen wie etwa dem Deborahlied die vorstaatlichen Anfänge der alttestamentlichen Literatur, die sich dann über die großen Schriftsteller der Königszeit wie den Jahwisten oder Jesaja fortsetzte, um dann vor allem mit der priesterlichen und gesetzlichen Literatur der nachexilischen Epoche zu enden. Dieser Dreischritt – alte poetische Einzeltexte als Anfänge der Literaturgeschichte, die klassischen Propheten und die frühen pentateuchischen Quellenautoren als deren Kulminationspunkt und die Gesetze als deren Ausklang – spiegelt gewissermaßen den literaturgeschichtlichen common sense des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jh.
1893 erschien Gerrit Wildeboers Literaturgeschichte in holländischer Sprache, zwei Jahre später in deutscher Übersetzung. Es handelt sich bei ihr um eine weitere synthetische Zusammenschau der Entstehung der alttestamentlichen Literatur nach den durch Reuss, Kuenen und Wellhausen verursachten Umwälzungen in der Pentateuchforschung, die auch für das Gesamtbild der altisraelitischen Literatur und ihrer Geschichte von weitreichender Bedeutung sind. So hielt Wildeboer einleitend fest: „Will man den Wert und die Bedeutung der israelitischen Litteraturgeschichte recht verstehen, so muss man vor allem von der Wahrheit durchdrungen sein, nicht nur dass es das nachexilische Judentum gewesen ist, das uns diese Litteratur übermittelt hat, sondern auch dass für einen großen Teil derselben die Verfasser in dieser Periode zu suchen sind und endlich, dass die Überlieferung älterer Schriften nicht ohne oft eingreifende Veränderungen statt hatte“ (1, vgl. 105). Das klingt zwar progammatisch, in der Durchführung blieb Wildeboers Buch allerdings weitgehend den Datierungsansätzen der zeitgenössischen Forschung verhaftet. Wenig Gewinn zog Wildeboer zudem aus der literaturgeschichtlichen Fragestellung als solcher – seine Darstellung wirkt auf weite Strecken hin wie eine chronologisch umgeordnete Einleitung in das Alte Testament.
Eine knappe Darstellung der Literaturgeschichte des Alten Testaments findet sich dann bei Emil Kautzsch, zunächst als Beilage zu seiner Übersetzung des Alten Testaments, dann „nicht ohne anfängliche Bedenken“ als Separatdruck erschienen (1897, III). Sie periodisierte die Literaturgeschichte nach den innenpolitischen Zäsuren in der Geschichte Israels („Die vorkönigliche Zeit“, „Die Zeit des ungeteilten Königtums“, „Die Zeit des geteilten Reichs bis zur Zerstörung Samarias“, „Von der Zerstörung Samarias bis zum Exil“, „Die Zeit des Exils“, „Die nachexilische Zeit“) (Vf). Trotz ihrer Knappheit fixierte sie den materialen Stand der literaturgeschichtlichen Diskussion auch in einer gewissen Detailliertheit für die nächsten Jahre. Gleichwohl bleibt für das Schattendasein der literaturgeschichtlichen Fragestellung in der deutschsprachigen Wissenschaft bezeichnend, dass Kautzsch’ Darstellung als kleiner Appendix konzipiert war, während die späteren literaturgeschichtlichen Entwürfe von Hermann Gunkel, Karl Budde und Johannes Hempel als Teile übergreifender Darstellungen oder Reihen (Hermann Gunkel: „Die orientalischen Literaturen“ in „Die Kultur der Gegenwart“, I/7; Karl Budde: „Die Litteraturen des Ostens in Einzeldarstellungen“, Band 7; Johannes Hempel: „Handbuch der Literaturwissenschaft“) erschienen – also gewissermaßen durch fachfremde Initiativen generiert wurden.
Wenn auch das Projekt einer Literaturgeschichte des Alten Testaments nie in das Zentrum des Faches rücken konnte, so bleibt es forschungsgeschichtlich mit dem Namen Hermann Gunkels verbunden (1906a. b; vgl. Klatt 1969, 166–192; Liwak 2004, IX–XXXI; Witte 2010; Schmid 2011c), der die breitesten, originellsten und – relativ gesehen – auch folgeträchtigsten Anstrengungen zu dessen Weiterentwicklung unternahm, auch wenn er zeitlebens nur eine knappe Skizze mit 50 Seiten Umfang als material entwickelte Darstellung publizieren konnte. Eine besondere Rolle kam dabei der von ihm maßgeblich mitentwickelten (aber nicht so genannten [Blum 2006, 85]) Fragestellung der Formgeschichte zu: Die Literaturgeschichte des Alten Testaments ist bei Gunkel als Geschichte seiner Gattungen gefasst (Gunkel 1913, 31). Dahinter stand die Vorstellung, dass die alttestamentlichen Texte weithin auf mündliche Vorstufen zurückgehen und dass sich die geistige Geschichte des antiken Israel vor allem über den geschichtlichen Wandel der im mündlichen Redeleben beheimateten und später auch für die Niederschrift verwendeten Gattungen beschreiben lasse. Im Grunde genommen war diese Literaturgeschichte nicht an den Texten selbst, sondern an den hinter ihnen stehenden Prägeelementen interessiert. Literaturgeschichte als Gattungsgeschichte betrieben fragte nach dem jeweiligen „Sitz im Leben“ einer Gattung und öffnete so, das war jedenfalls die Meinung Gunkels, den Blick in das religiöse Geistesleben Israels. Zu diesem methodischen Programm trat bei Gunkel eine Gliederung der altisraelitischen Literaturgeschichte, die eine charakteristische Gewichtung erkennen lässt: Gunkel unterschied drei Epochen, zunächst beschrieb er „[d]ie volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750)“ ([1906b] 1963, 5) dann folgten „[d]ie großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750–540)“ (26) und schließlich „[d]ie Epigonen“ (43). Gunkel reproduzierte mit dieser Gliederung die besonders im 19. Jh. geläufige Trennung zwischen dem vorexilischen, prophetischen „Hebraismus“ und dem nachexilischen, gesetzlichen „Judaismus“. Die religiösen Genies, auf die die großen geistigen Entwürfe des Alten Testaments zurückgehen, gehörten in die Zeit zwischen Jesaja und Deuterojesaja, danach folgten nur noch „Epigonen“. Gunkels Entwurf war zu seiner Zeit keine erfolgreiche Aufnahme beschert (Bertholet 1907), was mit zum weiteren Schattendasein der von ihm verfolgten literaturgeschichtlichen Fragestellung beigetragen haben dürfte. Offenbar war es vor allem das für seine Rezipienten unklare Verhältnis der beiden Fragen nach den Gattungen und nach den Schriftstellerpersönlichkeiten, die sich für Gunkel ergänzten, für seine Leser aber trat, den Besprechungen nach zu schließen, der von Gunkel eingebrachte Gattungsfokus zu stark in den Vordergrund.
Karl Buddes Darstellung der Literaturgeschichte war für ein weiteres Publikum konzipiert (1906). Doch Budde gelangte nicht über eine Zusammenfassung einleitungswissenschaftlicher Ergebnisse heraus, das Buch ist ein Abschluss seiner eigenen entstehungsgeschichtlich ausgerichteter Arbeiten, markiert aber keinen wissenschaftsgeschichtlichen Neuanfang.
Im englischsprachigen Raum legte Harlan Creelman 1917 eine chronologisch geordnete Einleitung in das Alte Testament vor. Ihr Anspruch auf Innovation war allerdings vergleichsweise bescheiden: Sie richtete sich an ein breiteres Publikum und verzichtete weitestgehend auf eigene historische Urteilsbildung. Sie verstand sich vielmehr als eine Synthese bisheriger Forschung am Alten Testament. Das Gesamtbild von Creelmans Darstellung blieb stark den biblischen Vorgaben verhaftet.
Die 1919 von Johannes Meinhold verfasste und in der Folgezeit mehrfach aufgelegte Einleitung verstand sich zwar nicht als Literaturgeschichte, war aber de facto doch mehr als eine herkömmliche Einleitung, da sie zum einen die Literatur des Alten Testaments nach Epochen – und nicht nach der kanonischen Abfolge – besprach und zum anderen auch jeweils eigene Abschnitte zur Darstellung der historischen Epochen selbst bot.
Recht einflußreich war die literaturgeschichtliche Darstellung von Julius A. Bewer (1922), eines in Deutschland geborenen Alttestamentlers am Union Theological Seminary in New York, der der amerikanischen Forschung wichtige Erkenntnisse der deutschsprachigen historischen Bibelkritik und der Gattungsforschung vermittelte.
Die im deutschen Sprachraum des 20. Jahrhunderts vielleicht bekannteste und ausgearbeitetste Darstellung einer Literaturgeschichte stammt von Johannes Hempel aus dem Jahr 1930. Sie gliedert sich in ein einleitendes Kapitel „Voraussetzungen“ (1–23), das die Forschungsgeschichte der Einleitungswissenschaft mit besonderer Emphase auf Wellhausen sowie die kulturgeographischen Determinanten behandelt, und zwei Hauptteile: „Formen“ (24–101) und „Der Gang der Geschichte“ (102–194), die deutlich den Einfluss Gunkels zeigen: Der Untersuchungsgegenstand wird zunächst formgeschichtlich, und erst in einem zweiten Schritt literaturgeschichtlich angegangen. Zunächst behandelte Hempel die Gattungen der alttestamentlichen Literatur und ihre Geschichte, dann die konkreten Texte in ihrer historischen Abfolge. Bemerkenswert ist bei Hempel die Überzeugung der kulturgeschichtlichen Vernetzung des Alten Testaments: „Die israelitische Literatur ist weithin nur als Glied der ‚altorientalischen Weltliteratur‘ verständlich“ (11). Doch bei aller Energie und Innovativität, die diesem Entwurf innewohnt, ist er doch nicht genrebildend geworden: Die alttestamentliche Literaturgeschichte blieb nach wie vor ein Randprojekt.
Aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ist weiter die Literaturgeschichte von Alfred Lods zu nennen (1950). Lods stellte einleitend in seiner Darstellung fest, dass die literaturgeschichtliche Fragestellung in der alttestamentlichen Wissenschaft bislang ein Schattendasein fristete (11). Er identifizierte im Wesentlichen drei Gründe dafür. Zunächst stelle der „caractère composite des livres actuels“ (11) ein elementares Problem dar, das weiter dadurch verschärft werde, dass die Forschung den Werdegang dieser Bücher oft nur auf unsichere Weise rekonstruieren könne (13). Schließlich sei darauf hinzuweisen, „que nous ne possédons de cette littérature que des fragments minimes“ (14). Doch dürfen diese Aspekte nach Lods nicht dazu verleiten, die literaturgeschichtliche Fragestellung aufzugeben, denn es reiche nicht zu, den „caractère composite des livres actuels“ lediglich literarkritisch zu analysieren, sondern der literarische Werdegang der alttestamentlichen Bücher müsse auch syntethisch rekonstruiert werden. Was die Unsicherheiten in der literarhistorischen Rekonstruktion betrifft, so betonte Lods auch hier, dass bei allen Schwierigkeiten im Einzelnen die grundsätzlichen Befunde durchaus erhebbar seien, und auch die Fragmentarität der althebräischen Literatur unterscheide sie nicht grundsätzlich von der griechischen oder lateinischen. Literarkritisch war Lods von Wellhausen beeinflusst, religionsgeschichtlich von Greßmann, entsprechend folgte er der Neueren Urkundenhypothese im Zuschnitt Wellhausens und betont die religionsgeschichtliche Kontextualisierung der althebräischen Literatur. An Lods Darstellung sind drei wesentliche Eigenarten hervorzuheben: Zum einen fällt der späte Einsatzpunkt auf: Zwar mit Blick zurück auf frühe poetische Stücke und mündliche Traditionen, begann Lods erst mit der Assyrerzeit. Damit ist er eigentümlich modern, rechnet doch die neuere Forschung erst von dieser Zeit an mit einer soweit entwickelten Schriftkultur im antiken Israel, die auch größere Texte hervorbringen kann. Dann wird bei Lods, zumindest in einigen Bereichen, deutlich das Bemühen greifbar, intertextuelle Einflüsse zu thematisieren. So behandelte er etwa eigens die prophetischen Einflüsse auf Zusätze in J oder in E (305–323). Schließlich finden sich bei ihm breite Erörterungen zu Parallelerscheinungen aus der altorientalischen Literatur. Lods’ Buch war also durchaus zukunftsweisend, doch als französischsprachiger Protestant blieb Lods sowohl im eigenen Land wie auch außerhalb wenig gehört.
Vom Beginn der fünfziger Jahre bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts wurde es noch stiller um das Projekt einer alttestamentlichen Literaturgeschichte. Klaus Koch konnte 1964 feststellen, dass „das Unternehmen einer Literaturgeschichte mit Gunkels Tod sang- und klanglos unterging und gegenwärtig völlig vergessen ist“(Koch 1964, 114). Der Begriff Literaturgeschichte tauchte kaum auf, es entstanden auch keine neue Synthesen, und dies in einer Zeit, die jedenfalls in der deutschsprachigen protestantischen Theologie als eine Blütezeit der alttestamentlichen Wissenschaft gilt (Ebeling 1972, 26f). Vermutlich sind verschiedene Faktoren für diesen doch auffälligen Befund verantwortlich: Zum einen stand die literaturgeschichtliche Fragestellung auch in den Literaturwissenschaften damals am Rande des Interesses. So hielt etwa Jauss in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung 1967 fest:
„Literaturgeschichte ist in unserer Zeit mehr und mehr, aber keineswegs unverdient in Verruf gekommen. Die Geschichte dieser ehrwürdigen Disziplin beschreibt in den letzten 150 Jahren unverkennbar den Weg eines stetigen Niedergangs. Ihre Gipfelleistungen gehören allesamt in das 19. Jahrhundert. Die Geschichte einer Nationalliteratur zu schreiben, galt zu den Zeiten von Gervinus und Scherer, De Sanctis und Lanson als das krönende Lebenswerk des Philologen. … Dieser Höhenweg ist heute schon eine ferne Erinnerung. Die überkommene Form der Literaturgeschichte fristet im geistigen Leben unserer Gegenwart nur mehr ein kümmerliches Dasein.“ (Jauss 21970, 144)
En vogue war vielmehr die „werkimmanente Interpretation“ etwa im Sinne Emil Staigers (1955). Weiter stand die deutschsprachige protestantische Theologie mitsamt den Bibelwissenschaften deutlich unter dem Einfluss der Kerygmatheologie, für die die literaturgeschichtliche Fragestellung von untergeordnetem Interesse war. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Krieg eine Vielzahl von Einleitungen in das Alte Testament entstand, deren innerer, offenbar historisch inspirierter Aufbau namentlich im Bereich der Prophetenbücher leicht vom kanonischen Aufbau des Alten Testaments abwich, so dass sie gleichzeitig als Funktionsäquivalente für literaturgeschichtliche Darstellungen dienen konnten (vgl. Anderson 1957; Soggin 1968/69; Schmidt 1979). Selbst die epochemachende Theologie von Rads (1957/1960), in einer frühen Rezension sogar als Einleitung höherer Ordnung charakterisiert (Keller 1958; vgl. von Rad 1957, 7 selbst), lässt sich mit Vorbehalten hier einordnen. Ein Bedarf an einer eigenen Literaturgeschichte kam so kaum auf. Möglich und denkbar war dieses Verfahren in der Darstellung einer alttestamentlichen Einleitung allerdings nur so lange, als man von einer weitgehenden Konkordanz der biblischen Darstellung und des historischen Verlaufs der Geschichte Israels ausgehen konnte. Namentlich die Geschichtsbücher Gen–2Kön galten, vor allem was die Epochenfolge Erväter, Exodus, Landnahme, Richterzeit, Königtum betrifft, als grundsätzlich vertrauenswürdig, so dass Einleitung und Literaturgeschichte in diesem Bereich parallel gehen konnten. Die Propheten mussten geringfügig umgruppiert werden, das betraf vor allem die Einordnung der drei „großen“ Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel in ihre historischen Zeiten, während die Schriften generell als Ausdruck nachexilischer Frömmigkeit und Theologie interpretiert werden konnten. Diese harmonistische Verständnis von Bibel und Literaturgeschichte, das sich auch in der Verhältnisbestimmung von Bibel und Geschichte Israels wiederfinden lässt, kann mit Weippert als „subdeuteronomistisch“ bezeichnet werden (1993, 73). Vermutlich ist gerade dieses heute problematisch gewordene Konkordanzmodell für die Blüte alttestamentlicher Wissenschaft zwischen 1950 und 1980 mitverantwortlich gewesen.
Eine gewisse Ausnahme unter den literaturgeschichtlich modifizierten Einleitungen bildete Norman K. Gottwalds