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Einführungen Germanistik

Herausgegeben von
Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Oliver Müller

Einführung in die Lyrik-Analyse

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Impressum

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
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und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

ISBN 978-3-534-18454-8

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Inhalt

  I. Einleitung

 II. Forschung zur Lyrik

1. Einführungen in die Lyrik-Analyse

2. Geschichtsschreibung der Lyrik

3. Hilfsmittel

4. Anthologien

III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation

1. Wortbedeutungen und übertragene Wortbedeutungen

2. Lyrische Bildformen

3. Textstrukturen

4. Der Sprecher und die Angesprochenen

5. Text und Kontexte

6. Form mit semantischen Effekten: der Vers

7. Klangmuster

IV. Lyriktheorien

1. Ältere Lyriktheorien

2. Gattungstheorie um 1800

3. Verstheorien

4. Das lyrische Gedicht

 V Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik

1. Das 17. Jahrhundert

2. Aufklärung und Empfindsamkeit

3. Sturm und Drang und Göttinger Hain

4. Klassik und Romantik

5. Vom Biedermeier zum Realismus

6. Die klassische Moderne der Lyrik

7. Von 1918 bis 1970

8. Gegenwart

VI. Exemplarische Einzelanalysen

1. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Er sahe sie über feld gehen

2. Johann Wolfgang Goethe: Der Erlkönig

3. Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens

4. Eduard Mörike: Auf eine Lampe

5. Rainer Maria Rilke: Der Leser

6. Jakob van Hoddis: Kinematograph

7. Thomas Kling: Zwanxeinweisun

Auswahlbibliographie

Personenregister

I. Einleitung

DAS SONETT

Sich in erneutem Kunstgebrauch zu üben,

Ist heil‘ge Pflicht, die wir dir auferlegen:

Du kannst dich auch, wie wir, bestimmt bewegen

Nach Tritt und Schritt, wie es dir vorgeschrieben.

Denn eben die Beschränkung läßt sich lieben,

Wenn sich die Geister gar gewaltig regen;

Und wie sie sich denn auch gebärden mögen,

Das Werk zuletzt ist doch vollendet blieben.

So möchte’ ich selbst in künstlichen Sonetten,

In sprachgewandter Maße kühnem Stolze,

Das Beste, was Gefühl mir gäbe, reimen;

Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten,

Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze,

Und müßte nun doch auch mitunter leimen.    (Goethe [1], 245)

Goethes ‚Sonett‘

Form

Inhalt

Der Witz von Goethes abwägender Sonettkritik besteht darin, dass sie selbst die Form eines Sonetts hat, d.h. eines gereimten Gedichts aus 14 Versen mit festem Reimschema. Die Form ist vorgegeben, weshalb sich in sie jeglicher Inhalt gießen lässt, doch, wie das Gedicht zu sagen scheint, keiner in angemessener Weise (,aus ganzem Holz schneiden‘ vs. ‚leimen‘, V.13/14). Sieht man genauer hin, dann lässt sich dieser Befund noch präzisieren. Goethe – oder sagen wir besser: der Sprecher des Gedichts, der sich als sein ‚Macher‘ ausgibt – unterwirft sich der fixen Form, um die Dürftigkeit anzuprangern, die sie seinem Gefühlsausdruck auferlegt; und er schreibt ein perfektes Sonett, das freilich kein Gefühl ausdrückt, sondern einen formkritischen Gedanken formuliert: die formale Perfektion und der karge Gedanke der Sonettkritik sind eben nicht „das Beste“, „was Gefühl“ ihm gibt (V.11). Sich „bequem zu betten“ (V.12), kann nicht gelingen, weil sozusagen das Laken immer zu kurz ist: entweder treten Gefühl und Gedanke auseinander, oder Inhalt und Form. Darüber hinaus ist Goethes Spiel mit Form und Inhalt für uns instruktiv. Es macht uns darauf aufmerksam, dass Gedichte Texte sind, deren Gattungszugehörigkeit allein durch ihre äußere Form bestimmt sein kann. Um beispielsweise Komödien von Trauerspielen unterscheiden zu können, muss man den Inhalt verstehen – man muss wissen, ob die Handlung lustig oder traurig, der Ausgang glücklich oder schrecklich ist. Beim Sonett dagegen zählt man die Verse, überprüft das Reimschema und weiß Bescheid. So schematisch ist dieses Verfahren, dass es sogar dann funktioniert, wenn das Gedicht in einer unbekannten Sprache geschrieben ist. Nun sind zwar nicht alle lyrischen Untergattungen formal definiert; so spielen Inhaltsfragen eine Rolle, wenn man wissen will, ob ein Gedicht eine Ballade oder ein Lied ist. Doch das bloße Vorhandensein reiner Form-Gattungen macht die Entwicklung eines Begriffsapparats erforderlich, der zu ihrer Beschreibung benutzt werden kann. Die Lyrik-Analyse hält dazu die Begriffe des Reims, des Metrums, des Verses und der Strophe bereit. Daher wird eine Teilaufgabe der vorliegenden Einführung darin bestehen, mit diesen Begriffen und ihren anhängenden Unterbegriffen bekannt zu machen. Da Gedichte zugleich, wie alle anderen literarischen Texte, interpretiert werden können, besteht eine zweite Teilaufgabe der Einführung darin, die Methoden der Inhaltsanalyse darzustellen: die Analyse von Aufbaustrukturen, sprachlichen Bildern, Erzählsituationen bzw. Sprecherpositionen etc.

Form und Inhalt

Strukturanalyse

Damit aber ist es nicht getan. Denn solange die formale und die inhaltliche Analyse nicht verbunden werden, drohen Textuntersuchungen in zwei Teile auseinander zu brechen – eine bloße Formbeschreibung einerseits, eine Inhaltsinterpretation andererseits. Die dritte Teilaufgabe wird also darin bestehen, Konzepte vorzustellen, die Form und Inhalt sinnvoll aufeinander zu beziehen erlauben. Als Mittel dazu eignet sich der Begriff der Struktur. Er soll in einem möglichst alltäglichen Sinne verstanden werden. Strukturen kommen überall in der Welt dadurch zustande, dass Dinge Eigenschaften aufweisen, die auch andere Dinge aufweisen, weshalb zwischen den Dingen eine bestimmbare Relation besteht. Die Gesamtheit von Eigenschaften und Relationen lässt sich dann als Struktur bezeichnen. Dasselbe gilt für Wörter und ihre Bedeutungen. In den ersten acht Versen des ‚Sonetts‘ treten zwei ‚Ideen‘ (d.h. zwei Bedeutungskomplexe) in eine Oppositionsbeziehung: die Gefahr der sich regenden Geister und die Möglichkeit ihrer Bannung durch Formstrenge. Sich jener auszusetzen und diese zu nutzen, wird mit dem Etikett der Heiligkeit versehen, d.h. mit einem Wertprädikat höchster Güte ausgezeichnet. In den letzten sechs Versen ist davon keine Rede mehr. Hier geht es um den Stolz versus die Bequemlichkeit des Vers-Handwerkers. Sobald man diese inhaltlichen Komplexe isoliert hat, erkennt man, dass die Kritik am Schluss auf die Vorschläge des Anfangs gar nicht antwortet. Die Ergebnisse der strukturellen Inhaltsanalyse korrelieren zugleich mit dem formalen Aufbau des Gedichts, der durch das Reimschema vorgegebenen Zweiteilung des Textes nach dem achten Vers. Strukturell gesehen, steht die herausgearbeitete inkomplette Argumentation des Gedichts in einer Oppositionsbeziehung zur Form, die Vollständigkeit suggeriert. Die Form verweist darauf, dass die Vollständigkeit des Arguments nicht in seinen manifesten Sätzen, sondern in einem latenten Sinn liegt, der erst vom Leser zu rekonstruieren ist. Daraus folgt, dass die Interpretationsaufgabe nicht darin besteht, den Sinn der Worte des Gedichts solange zu biegen, bis am Ende ein formal gültiges Argument herauskommt, sondern nach dem Nicht-Ausgesprochenen zu suchen, das einleitend als Paradoxon von Gefühl und Gedanke, Inhalt und Form charakterisiert wurde. – Da jedoch die Lage bei vielen anderen Gedichten nicht so einfach wie hier ist, wird die vorliegende Einführung sich eingehend mit komplexeren Strukturbeschreibungen und Interpretationen befassen. Kapitel III, in dem die Begriffe eingeführt werden, die man bei der Analyse und Interpretation lyrischer Texte in Schule und Universität benötigt, versteht sich daher primär als Propädeutikum für die praktische Lyrikinterpretation.

Lyriktheorie

Geschichte der Lyrik

Exemplarische Analysen

Doch zur Arbeit mit Lyrik gehört noch mehr. Jede Methode knüpft über ihre Begriffe an Theorien an, die sich mit der Beschaffenheit der untersuchten Gegenstände auseinandersetzen. Ein Kernbereich der lyriktheoretischen Diskussionen ist die Frage, wie Metrum, Rhythmus und Vers zu definieren sind; sie wird die ersten Kapitel der Einführung begleiten. In Beziehung dazu stehen die vielfältigen Versuche, Lyrik als Gattung zu definieren; ihre historische Entwicklung wird im vierten Kapitel skizziert. Kleinere Streifzüge durch die allgemeine Literaturtheorie erfolgen in mehreren Kapiteln nach Bedarf; man muss schon etwas Theoriegeschichte kennen, um zu verstehen, weshalb Goethe die Übung in „erneutem Kunstgebrauch“ als „heil‘ge Pflicht“ gilt (V.1/2) – als Menschenpflicht des Genies. Die Erarbeitung des theoretischen Hintergrundwissens ist ein erster Ansatz, auf den Unterschied zwischen einer modernen Literaturauffassung und der des Barock und der Aufklärung hinzuweisen. Diese Auffassungen spiegeln sich nicht einfach in den Gedichten der verschiedenen Epochen; sie müssen vielmehr aktiv in die Interpretation einbezogen werden, um historisch fragwürdige Textdeutungen zu verhindern, die eine isolierte Textanalyse in manchen Fällen vielleicht zulässt. Die Fähigkeit, Gedichte in ihre historischen Kontexte einordnen zu können, ist bei der Entwicklung fundierter wissenschaftlicher Fragestellungen unerlässlich. Der notgedrungen knappe Abriss einer Geschichte der Lyrik in Kapitel V soll eine grobe Orientierung im Dickicht der Stile und Strömungen, der Ideen und ihrer sozialen Umwelt vermitteln. Wie man dann – auch unter Berücksichtigung geschichtlicher Zusammenhänge – einzelne Gedichte interpretiert, werden die abschließenden sieben exemplarischen Untersuchungen in Kapitel VI zu zeigen versuchen.

Einführung und Wissenschaft

Abschließend sei noch auf ein grundsätzliches Problem hingewiesen, das im Verhältnis von Einführungen zu ihren jeweiligen Wissenschaften liegt. Die Aufgabe, zentrale wissenschaftliche Begriffe vorzustellen, bereitet solange kein Kopfzerbrechen, wie es um relativ langweilige, kaum umstrittene und zählebige Kategorien wie den Versfuß oder das Reimschema geht. Doch schon die Frage, welches Prinzip bei der Bestimmung der Versfüße angewendet werden soll, berührt eine kontroverse wissenschaftliche Diskussion, und als echte theoretische Hot Spots erweisen sich die Definitionen der literarischen Bildformen des Symbols oder der Metapher. Hier prallen, einstweilen ohne Aussicht auf einen Konsens, die verschiedensten Auffassungen aufeinander. Um überhaupt zum Verständnis solcher Begriffe anleiten zu können, müssen Einführungen daher die Bewegungen der Diskussionen zur Ruhe bringen und sich damit die Schuld aufladen, einen falschen Eindruck von Wissenschaftlichkeit zu vermitteln. Denn gerade dort, wo die Lage der Dinge am wenigsten geklärt ist, sind Wissenschaften am lebendigsten. Um das Vergehen, ein verzerrtes Wissenschaftsverständnis zu vermitteln, etwas zu mildern, können Einführungen nur zweierlei tun. Sie können erstens auf weiterführende Forschungsliteratur verweisen, also beispielsweise für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Bildformen die von Gerhard Kurz vorgelegte Untersuchung Metapher, Allegorie und Symbol und den von Anselm Haverkamp herausgegebenen Sammelband Theorie der Metapher empfehlen. Zweitens können sie auf den problematischen Sachverhalt selbst hinweisen, was hiermit geschehen ist.

II. Forschung zur Lyrik

Sinn des Forschungsüberblicks

Jede umfangreiche wissenschaftliche Arbeit beginnt mit einem Forschungsüberblick, der dem Nachweis dient, dass die nachfolgende Untersuchung eine bestehende Forschungslücke schließt. Da Einführungen jedoch summa summarum nicht die Aufgabe haben, neue Forschungsergebnisse zu liefern, verschiebt sich in ihrem Fall der Zweck des Forschungsberichts. Hier muss es hauptsächlich darum gehen, Leserinnen und Lesern, die an einer vertieften Beschäftigung mit dem Thema interessiert sind, die Orientierung im Wust der Publikationen zu erleichtern. Daher wird der folgende Überblick nicht das gesamte Feld der Lyrikforschung aufarbeiten, sondern vornehmlich die wichtigsten Einführungen in die Lyrik-Analyse und Studien zur Geschichte der Lyrik behandeln. Außerdem widmet er einen ganzen Abschnitt den zahlreichen Anthologien lyrischer Gedichte, die für Leser, die sich einen ersten Einblick verschaffen wollen, aber auch für Lehrerinnen und Lehrer als Archive unterrichtstauglicher Texte von Nutzen sind. Um Redundanzen zu vermeiden, wird auf die Vorstellung von Untersuchungen verzichtet, die an anderer Stelle ausführlich behandelt werden. Da bei der Besprechung einiger Arbeiten die Verwendung von Fachterminologie nicht zu vermeiden war, sei Leserinnen und Lesern, die sich zum ersten Mal mit Lyrik befassen, empfohlen, zunächst das dritte bis fünfte Kapitel zu lesen und dann zum Forschungsbericht zurückzukehren.

1. Einführungen in die Lyrik-Analyse

Dass es wissenschaftliche Einführungen gibt, ist nicht selbstverständlich. Bis in die 1960er Jahre hinein erfüllten vornehmlich theoretische Studien zugleich die Funktion, in den wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Texten einzuführen. Die Entwicklung neuer Methoden und der merkliche Bedarf an deren transparenter Darstellung bewirkten dann eine Ausdifferenzierung der literaturwissenschaftlichen Genres. Schule gemacht haben zunächst drei erzähltheoretische Arbeiten aus den 1950er und 1960er Jahren, Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens, Franz K. Stanzels Typische Erzählsituationen im Roman und Käte Hamburgers Logik der Dichtung. Sie stehen in der Mitte zwischen Theorieentwurf, Methodenhandbuch und genuiner Einführung. Seit den siebziger Jahren entstanden dann zahlreiche Arbeiten, die dezidiert als themenorientierte Einführungen auftraten, darunter nun auch solche zur Lyrik. Ihre nun folgende Besprechung soll die Eigenheiten und Unterschiede der verschiedenen Arbeiten bewusst machen, in denen sich verschiedene mögliche Fragehaltungen gegenüber Gedichten spiegeln.

Gerhard Müller-Schwefe Bernhard Asmuth

Hans-Werner Ludwig

Nachdem der Anglist Gerhard Müller-Schwefe 1969 mit seiner Einführung in die Gedichtinterpretation den Anfang gemacht hatte, legte 1972 Bernhard Asmuth mit Aspekte der Lyrik die erste germanistische, seitdem oft neu aufgelegte Einführung in die Gedichtanalyse vor. Die erste Hälfte des Buches entwickelt eine Verslehre, wobei viel Wert auf die genaue Typisierung der herausgearbeiteten Merkmale gelegt wird. Interpretiert wird hingegen nur wenig. Der zweite Teil des Buchs skizziert zunächst die Geschichte der Lyriktheorie und mündet schließlich in der Formulierung eines eigenen Ansatzes. Asmuths Identifikation der Lyrik mit dem geselligen Lied führt, was er selbst nicht leugnet, zu einer negativen Bewertung der ungeselligen modernen Poesie. Obwohl diese Definition wegen ihres Wertungsaspekts kaum konsensfähig ist, kann sie für Interpretationen insofern aufschlussreich sein, als sie einen Extrempol markiert, an dem sich Lyriker und Lyriktheoretiker, auch der Moderne, abarbeiten. Das von Hans-Werner Ludwig verfasste Arbeitsbuch Lyrikanalyse (1979) teilt den Interpretationsskeptizismus der Einführung Asmuths. Es setzt zwei Schwerpunkte. Zum einen diskutiert Ludwig verständlich und kritisch bedeutende Theorien von Quintilian bis Harald Weinrich und Theodor W. Adorno, zum anderen führt er eine große Zahl analytischer Begriffe unter ihrem traditionellen wie auch modernen Namen ein. Für hohe Anschaulichkeit sorgen viele Textbeispiele aus der deutschen, englischen und französischen Literatur und Originalzitate aus theoretischen Schriften. Recht kurz gerät dagegen die Anleitung zum eigenständigen Umgang mit lyrischen Gedichten. Was zu tun ist, findet man auch im letzten Kapitel, das die Praxis der Interpretation kritisch unter die Lupe nimmt, nicht erläutert. Ein Kapitel zur Geschichte der Lyrik gibt es nicht.

Horst Joachim Frank

Binder/Richartz

Christoph Bode

Hans-Dieter Gelfert

Stefan Elit

Bernhard Sorg

Einen anderen Weg als Asmuth und Ludwig schlägt Horst Joachim Frank in Wie interpretiere ich ein Gedicht? ein. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der interpretationswillige Gedichtleser, nicht der Text. In elf Kapiteln werden zahlreiche Leitfragen formuliert, deren Beantwortung ein Gedicht erschließen soll. Dass die Fragen zwar nützlich, aber kaum memorierbar sind, begrenzt die Effizienz der Frankschen Methode. Um zu vermeiden, dass die Einzelbeobachtungen ohne Zusammenhang bleiben, stellt Frank abschließend Synthesegrundsätze auf, die allerdings recht abstrakt bleiben und für Leser einer Einführung an wenigstens einer Musterinterpretation hätten veranschaulicht werden müssen. Alwin Binder und Heinrich Richartz setzen sich in Lyrikanalyse (1984) ein ähnliches Ziel wie Frank. Um zu zeigen, wie man eine Gedichtinterpretation anfertigt, stellen die Autoren nicht nur die dafür erforderlichen Begriffe bereit, sondern erläutern auch die erforderlichen Arbeitsschritte. Der erste Teil des Buches hat Einleitungscharakter; in drei weiteren Teilen werden je ein Gedicht von Benjamin Schmolck, Frank Wedekind und Günter Eich nach dem Schema der Anleitung ausführlich untersucht. Der Geschichte der Lyrik ist kein eigenes Kapitel reserviert, dafür aber wird historisches Kontextwissen in die Untersuchungen einbezogen. Das kleinschrittige und transparente Vorgehen dieser Einführung vermittelt Anfängern einen hohen Grad an Orientierung. Zu weit geht allerdings die Suggestion der Verfasser, nur ihre Art und Weise des Umgangs mit Gedichten könne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Die ‚Standpunktgebundenheit‘ des Ansatzes und damit auch der Interpretationen wird dagegen in Christoph Bodes Einführung in die Lyrikanalyse (2001) betont. Bode wählt als Anglist seine Beispiele aus der englischsprachigen Literatur, was aber Germanisten nicht davon abhalten sollte, sein locker geschriebenes und anregendes Buch zur Hand zu nehmen. Wie Bode, so geht auch Hans-Dieter Gelfert vom Problem der besonderen Sperrigkeit lyrischer Texte aus. Er stellt fast die gleiche Titelfrage wie Frank, Wie interpretiert man ein Gedicht? (1990), wählt dann aber ein deutlich anderes Verfahren. Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach dem Sinn von Interpretationen, die er weniger skeptisch beantwortet als Ludwig. Der Verlust der unbefangenen Freude, die man bei der ersten Begegnung mit einem Gedicht erlebe, werde, so Gelfert, mehr als wettgemacht durch das Vergnügen, das ein differenzierter Umgang mit dem Text bereite. In einem allgemeinen Teil werden die Kategorien der Lyrik-Analyse vorgestellt, in einem praktischen Teil Textinterpretationen entwickelt, die von wissenschaftlich anschlussfähigen Fragestellungen ausgehen. Gelfert berücksichtigt neben deutscher auch fremdsprachige Literatur, was, wie schon bei Ludwig, den Vorteil hat, dass Lyrik als ein übernationales Kulturphänomen wahrnehmbar wird. Stefan Elits Band Lyrik. Formen – Analysetechniken – Gattungsgeschichte (2008) diskutiert in drei einleitenden Kapiteln die Grundlagen der Gattung, der Metrik und der Analyse, und stellt dann in weiteren sechs Kapiteln die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik dar. Viele Analysebegriffe werden en passent eingeführt. Zusammenhänge zwischen Interpretation und Formanalyse werden selten aufgezeigt; Letztere stellt die Grundlage für die Stilgeschichte dar, die das Buch nachzeichnet. Alle Epochenkapitel schließen mit einer sorgfältigen Gedichtanalyse, Literaturangaben und einem Übungsteil. Ähnlich wie Elits Einführung ist auch Bernhard Sorgs Lyrik interpretieren (1999) aufgebaut; einer knappen Einführung in die Grundbegriffe folgt eine umfangreiche Lyrikgeschichte. Anders als bei Elit wird diese Geschichte jedoch nicht erzählt, sondern anhand von Einzelinterpretationen entwickelt, denen in jedem Kapitel eine kurze Epochencharakteristik vorangestellt ist. Übungsaufgaben gibt es nicht, doch die Interpretationen sind lehrreich, solange man nicht vergisst, dass formale Aspekte auch stärker hätten einbezogen werden können.

Dieter Burdorf

Felsner/Helbig/Manz

Dieter Burdorfs Einführung in die Gedichtanalyse ist als Kompendium und „Werkzeugkoffer“ angelegt (Burdorf 1997, IX). Während Bodes einleitende Beschäftigung mit der Theorie der Lyrik eher flapsig-knapp ausfällt, widmet ihr Burdorf eingehendere Überlegungen. Anschließend behandelt er das Gedicht hinsichtlich seines Ortes in der Sprache, seiner Form, seiner Textstrukturen, seines Wirklichkeitsbezugs und seiner Perspektive sowie seiner Beziehungen zur Geschichte. Von größtem Nutzen sind Burdorfs knapp kommentierte Zusammenstellungen der wichtigsten Titel zum jeweiligen Themenfeld. Sein Ansatz ist bewusst offen für diverse Techniken, Methoden und Theorien, die differenziert und nachvollziehbar dargestellt werden. Gedicht und Lyrik werden minimalistisch definiert, der Vers und seine semantischen Effekte eingehend beschrieben. Zugunsten der umfangreichen Darstellung nahezu sämtlicher Vers- und Strophenformen fällt leider die Erörterung der lyrischen Bildsprache etwas knapp aus. Die Geschichte der Lyrik wird in den einzelnen Kapiteln mitgeliefert; umfangreiche exemplarische Einzelinterpretationen finden sich nicht. – Von Kristin Felsner, Holger Helbig und Therese Manz stammt das Arbeitsbuch Lyrik, das wie Burdorfs Einführung Kompendienqualitäten besitzt, aber noch umfassender analytische, rhetorische und gattungstypologische Begriffe definiert. Das Arbeitsbuch lässt sich wie ein Nachschlagewerk nutzen; seine Definitionen sind verständlich formuliert und durch Textbeispiele konkretisiert. Auf die Verbindung von Analyse und Interpretation wurde allenthalben geachtet; zudem schließt jedes Kapitel mit einer exemplarischen Untersuchung, die ein Gedicht unter dem jeweils erörterten Aspekt interpretiert. Eine gesonderte Geschichte der Lyrik ist nicht enthalten, dafür aber eine Fülle historischer Hintergrundinformationen, wo sie am Platze sind.

Günter Waldmann

Während einige Einführungen gar keine Übungsaufgaben enthalten, andere sie zur Überprüfung des ‚Lernerfolgs‘ mitlaufen lassen, erhebt Günter Waldmanns Produktiver Umgang mit Lyrik die Übung zum zentralen Anliegen. Ihm geht es um die Entwicklung kreativ-verstehender Ansätze zur Lyrikvermittlung vornehmlich in der Schule, weshalb sein Buch für Lehrer eine unersetzliche Ergänzung jeder wissenschaftlich ausgerichteten Lyrikeinführung ist. Die von Waldmann vertretene handlungs- und produktions-orientierte Lyrikdidaktik will die Kluft zwischen analytischer Beobachtung und Textverständnis schließen, indem sie Schülerinnen und Schüler selbst Texte produzieren und dabei Erfahrungen mit lyrischen Strukturen machen lässt. Deren Effekte sollen nicht auswendig gelernt, sondern zunächst ‚erlebt‘, dann analytisch nachvollzogen und das so erworbene Wissen besser als durch ‚sture‘ Analyse gesichert werden. Waldmann liefert viele anregende Vorschläge für Arbeitsaufträge, die zu Unterrichtsentwürfen ausgebaut werden können. Das dargebotene Fachwissen entspricht akademischen Ansprüchen; störend wirkt die zuweilen mäandernde Gedankenführung.

Fazit

Der Abriss vorliegender Lyrikeinführungen lässt keinen Zweifel an deren Vielfalt bzw. Heterogenität zu. Offenbar gibt es den einen richtigen Weg, aus Lernern ‚Könner‘ zu machen, so wenig wie die eine richtige Interpretation eines Gedichts. Doch bei aller methodischen Konzilianz sollten wir uns über Eines nicht täuschen: Obwohl alle Einführungen die wissenschaftliche Lesekompetenz zum Ziel haben, ist doch das, was sich als Kompetenz abzeichnet, nicht immer dasselbe. Das Wissen, das vermittelt wird, stellt Gedichte und Autoren, deren Werk und seine Kontexte in jeweils andere Verhältnisse zur Aufgabe, daraus Fragestellungen für die eigene Arbeit zu entwickeln. Auch die Rolle des Analytikers und Interpreten wird unterschiedlich aufgefasst. Während z.B. Binder und Richartz eifrig bemüht sind, die Subjektivität des Lesers so weit wie möglich zu eliminieren, geht Gelfert gerade vom subjektiven Lesevergnügen aus, das er erhalten möchte – ohne aber deshalb ein ‚anything goes‘ zu proklamieren. Daher empfiehlt es sich, mehr als eine Einführung zu konsultieren und zu prüfen, welche Ansätze überzeugen können und welche nicht. Die vergleichende Lektüre präzisiert zugleich die Vorstellungen, die man sich vom Methoden- und Theorienpluralismus macht, den Literaturwissenschaftler sonst oft eher vage beschwören.

2. Geschichtsschreibung der Lyrik

Gesamtdarstellungen

Eine aktuelle, umfassende Geschichte der deutschen Lyrik von einem einzelnen Verfasser liegt nicht vor. Eine kurze Gesamtdarstellung hat Dirk von Petersdorff unter dem Titel Geschichte der deutschen Lyrik vorgelegt. Sie nennt die wichtigsten Autoren und Epochen und liefert zahlreiche Stichworte, die einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema als Anhaltspunkte dienen können. Veraltet in mancher Hinsicht ist Johannes Kleins voluminösese Geschichte der deutschen Lyrik aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Viele ihrer Einzelergebnisse müssen inzwischen als überholt gelten; ihr ‚einfühlender‘ Ansatz, der erkennbar von der werkimmanenten Interpretation geprägt ist, genügt den aktuellen wissenschaftlichen Standards nicht mehr. Eine Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart bietet ein von Walter Hinderer herausgegebener Sammelband, dessen 20 Aufsätze in chronologischer Reihenfolge Epochenüberblicke leisten. Deutlich verschieden setzen die Verfasser ihre Schwerpunkte, was dem Band, je nach Blickwinkel des Betrachters, Abwechslungsreichtum, Methodenvielfalt oder Uneinheitlichkeit beschert. Konsultieren wird man Hinderers Aufsatzsammlung vor allem, um sich einen ersten Eindruck von einer der vorgestellten Epochen zu machen. Empfehlenswert ist die Geschichte der deutschen Lyrik eines Autorenteams, das aus den Literaturwissenschaftlern Franz-Josef Holznagel, Hans-Georg Kemper, Hermann Korte, Mathias Mayer, Ralf Schnell, Bernhard Sorg besteht. Ihre einbändige Geschichte der deutschsprachigen Lyrik vom Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart (so der Untertitel) setzt mit dem Sachverstand der ausgewiesenen Experten plausible Schwerpunkte und bietet anschauliche Analysen. Doch wie Hinderers Band leistet sie keine konzeptuell geschlossene Darstellung der Lyrik und ihrer Entwicklung.

Zwei Gruppen von Lyrikgeschichten

Hans-Georg Kemper

Gerhard Kaiser

Alle anderen Untersuchungen können in zwei Gruppen eingeteilt werden: erstens Studien zur Lyrik einzelner Epochen und Strömungen, zweitens Untersuchungen zur historischen Entwicklung bestimmter Aspekte der Lyrik (wie Vers, Metrum, Rhythmus) und einzelner Gattungen. Unter den Epochen- und Strömungsdarstellungen sticht Hans-Georg Kempers Buchreihe zur Deutschen Lyrik der frühen Neuzeit hervor. In zehn Bänden, erschienen zwischen 1987 und 2006, legen sie die Geschichte der Lyrik von der Reformationszeit bis zum Sturm und Drang dar. Kemper folgt keiner übergeordneten Geschichtstheorie, sondern gliedert sein Material teils nach Epochenbegriffen wie Barock, Aufklärung und Empfindsamkeit, teils nach problemgeschichtlichen Kriterien. Kempers Großprojekt kann gewissermaßen als Ergänzung zu Gerhard Kaisers Geschichte der deutschen Lyrik betrachtet werden, die in zwei Teilen die Zeit von Goethe bis Heine und von Heine bis zur Gegenwart behandelt. Sie setzt damit genau an der historischen Schnittstelle ein, an der Kemper seine Untersuchungsreihe beendet. Kaiser gliedert seinen Aufriss nach verschiedenen Komplexen (Sprechweisen, Gattungen, Themen, ‚Selbstreflexion‘ des Gedichts etc.), die das Kernthema: das Ich, seine Subjektivität und Individuation, umkreisen, dessen Entwicklung in vielen genauen Einzel- und Vergleichsinterpretationen verfolgt wird. Der Anspruch einer geschlossenen Geschichtsschreibung treibt zur thematischen Konzentration, und zugleich verhindert der werkästhetische Ansatz eine Fokussierung einzelner Autoren und ihrer Programme, die sonst oft dafür verantwortlich ist, dass Literaturgeschichten zu Collagen notdürftig zusammengeleimter Kleinstaufsätze geraten.

Einzelne Epochen

Geschichte einzelner Gattungen

Geschichten der Prosodie, des Metrums und des Verses

Interpretationssammlungen

Zu einigen Epochen der Lyrik liegen ebenfalls Monographien vor, die nicht selten Einführungscharakter besitzen. Hierzu gehören Urs Herzogs Deutsche Barocklyrik, Thomas Gräffs Lyrik von der Romantik bis zur Jahrhundertwende, Hermann Kortes Lyrik des 20. Jahrhunderts (1900–1945) und Lyrik nach 1945 und Dieter Hoffmanns Arbeitsbücher zur Deutschsprachigen Lyrik. Daneben enthalten die meisten Epochendarstellungen, die alle Gattungen übergreifen, Kapitel zur Lyrik. Auch zu einzelnen Gattungen liegen monographische Studien vor. Zu nennen sind etwa die Arbeiten zum Epigramm von Peter Hess (1989), Das Gelegenheitsgedicht von Wulf Segebrecht (1977), Das europäische Sonett von Friedhelm Kemp (2002), Das Lehrgedicht der Aufklärung von Christoph Siegrist (1974) und Beatus Ille von Anke Lohmeier (1981). Dass die Gattungsgeschichten vornehmlich die früh-neuzeitliche Lyrik behandeln, ist kein Zufall, denn die Bedeutung der Gattungsdifferenzierung hat nach 1800 merklich nachgelassen. Viele Einführungen in die Lyrik-Analyse versuchen in einzelnen Abschnitten, die Form- an die Inhaltsanalyse zu koppeln. Kaum jemand unternimmt hingegen den Versuch, auf dieser Kopplung eine monographische Studie aufzubauen. Stattdessen scheint sich wie von selbst die Analyse der Formen an die Geschichtsschreibung der Lyrik zu binden, erstens wohl, weil sie hier ihr Belegmaterial sammelt, und zweitens, weil sie mit der Ordnung der geschichtlichen Verhältnisse eine Aufgabe erhält, die reichhaltigere Resultate hervorbringt als jede andere Anwendung. Die Arbeiten dieser Sparte sollen hier nicht besprochen werden, weil auf ihre theoriegeschichtlichen und systematischen Überlegungen im vierten Kapitel ohnehin eingegangen wird. Wenigstens erwähnt werden müssen an dieser Stelle jedoch Sammlungen von Gedichtinterpretationen, die zwar im engeren Sinn nicht als Literaturgeschichtsschreibung gelten können, aber für erste Annäherungen an eine Epoche nützlich sind, wie z.B. die mehrbändige Reclamreihe Gedichte und Interpretationen.

3. Hilfsmittel

Handbuch der deutschen Strophenformen

Weitere Hilfsmittel

Ein unschätzbares Hilfsmittel für den Umgang mit Gedichten ist Horst Joachim Franks Handbuch der deutschen Strophenformen. Frank unterscheidet Strophen nach (a) der Anzahl ihrer Verse, (b) der Zahl der Hebungen pro Vers, (c) den verwendeten Versfüßen und (d) dem Reimschema. Der immense Wert seiner Arbeit liegt darin, dass er mehr als 34.000 Gedichte nach Strophenformen geordnet und dann die Häufigkeit ihres Vorkommens in sechs literaturhistorischen Perioden ermittelt hat. Jeder Form ist ein eigener Abschnitt gewidmet, der mit der Notation des metrischen Schemas beginnt, dann ein Beispiel bringt und daran anschließend in einem kurzen Text Fragen der Herkunft und der Ursachen für die variierende Popularität einer Strophenform bespricht. Oft zeichnen sich regelrechte ‚Strophenmoden‘ ab, die heutigen Lyriklesern befremdlich erscheinen – so sehr sind wir gewohnt, gerade die Höhenkammlyrik gar nicht mehr von ihrer äußeren Form her zu betrachten. Schlagender als eine Handvoll Einzelanalysen legen Franks Verteilungsmuster dar, was literarischer Geschmack ist bzw. war. Neben Franks Handbuch benötigt man zur Analyse und Interpretation weitere Hilfsmittel. Von Nutzen ist ein Symbollexikon wie das Wörterbuch der Symbolik von Manfred Lurker. Unter Symbolen sind hier Zeichen zu verstehen, denen in verschiedenen Kulturen feste Bedeutungen beigelegt wurden. Man kann ein barockes Gedicht, in dem von einem Granatapfel die Rede ist, nicht historisch richtig auffassen, wenn man die Frucht nur strukturell analysiert; man muss wissen, dass sie ein konventionelles Zeichen der Auferstehung oder des überirdischen Segens ist. Um bei einem älteren Text nicht falschen Freunden‘ auf den Leim zu gehen oder um ausgestorbene und daher unverständlich gewordene Wörter zu klären, sollte man gelegentlich ein historisches Wörterbuch konsultieren. Zu empfehlen ist hier das Deutsche Wörterbuch (auch als ‚Grimmsches Wörterbuch‛ bekannt), das online frei zur Verfügung steht. Fragen zur antiken Geschichte und Mythologie kann man im Kleinen Pauly. Lexikon der Antike nachschlagen; falls man es mit Lyrik der ‚Goethezeit‘ zu tun hat, eignet sich aber das 1770 von Benjamin Hederich veröffentlichte Gründliche mythologische Lexikon besser, das auch von den Autoren des späten 18. Jahrhunderts verwendet wurde und in einem reprographischen Nachdruck vorliegt.

4. Anthologien

Gedichtsammlungen können sehr unterschiedlichen Prinzipien folgen, die nicht selten den Titeln abzulesen sind. Allgemeine thematische Schwerpunkte setzen z.B. Deutschland als Gedicht. Über berühmte und berüchtigte Deutschland-Gedichte aus fünf Jahrhunderten in fünfzehn Lektionen (hg. v.Jürgen Schroeder), Kindheit im Gedicht (hg. u. komm. v. Dieter Richter), oder Die liebenden Deutschen. 645 entflammte Gedichte aus 400 Jahren (hg. v. Steffen Jacobs). So viele Themen in Gedichten behandelt werden, so viele Anthologien lassen sich denken. Gesammelt werden kann nach Gattungsbegriffen wie im Fall der Gebete der Dichter (ausgew. von Alois Weimer) oder der Deutschen Lyrik-Parodien aus drei Jahrhunderten (hg. v. Theodor Verweyen); den Ausschlag geben können aber auch die Verfasser der Gedichte, etwa hinsichtlich ihres Geschlechts wie in Stechäpfel. Gedichte von Frauen aus drei Jahrtausenden (hg. v. Ulla Hahn). Unter den von Literaturwissenschaftlern verantworteten Anthologien dominieren solche zu bestimmten Epochen wie die Gedichte des Expressionismus (hg. v. Dietrich Bode), die Edition Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts (hg. v. Wilhelm Kühlmann) und der Band Zu den Sternen fliegen. Gedichte der Romantik (hg. v. Rüdiger Görner), wobei sich der Epochenschwerpunkt auch mit bestimmten Thematiken vermischen kann: Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918 (hg. v. Thomas Anz u. Joseph Vogl) oder Der deutsche Faschismus in seiner Lyrik. Mit Materialien (hg. v. Harro Zimmermann).

Gütekriterien

Nicht wenige Anthologien sind eher für den Liebhaber als für den schulischen oder akademischen Gebrauch bestimmt. Statt sie einzeln zu kommentieren, ist es sinnvoller, die wichtigsten Kriterien anzugeben, die bei ihrer Einschätzung heranzuziehen sind. Eine brauchbare Anthologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie in einem Vor- oder Nachwort über die Prinzipien der Textauswahl informiert und die Grundsätze der Textanordnung – nach Gattungen, Entstehungsjahr oder Erscheinungsjahr – erläutert und begründet. Gleichfalls unerlässlich ist ein Quellennachweis, der nicht nur den bibliographischen Ort angibt, dem der Text entnommen wurde, sondern auch Jahr und Ort der Erstpublikation. Ein Abdruck, der es nicht ermöglicht, den Text gegebenenfalls bis zu seinem Ursprung (dem Manuskript des Autors oder dem Erstdruck) zurückzuverfolgen, entzieht sich unzulässig der Überprüfung seiner Korrektheit. Zwar bietet auch ein sorgfältig erscheinendes Quellenverzeichnis keine Garantie für Richtigkeit (denn Papier ist geduldig); aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ein Herausgeber, der seine Textfassungen ausweist, sich tunlichst hüten wird, Fehler zu machen. Eine Anpassung der Orthographie an die heute gültigen Regeln ist problematisch, eine Anpassung der Zeichensetzung inakzeptabel, denn hier kann jede Abweichung den Sinn des Textes verändern. – Verlage, die zahlreiche gute Anthologien im Programm haben, sind z.B. Reclam, Insel, Suhrkamp und der Deutsche Taschenbuch Verlag.

Gute Anthologien für den Hausgebrauch

Digitale Bibliothek

Die bekannteste ältere Anthologie, Deutsche Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Auswahl für Schulen, wurde von Theodor Echtermeyer im 19. Jahrhundert begründet und von Benno von Wiese fortgeführt. 1990 erschien die 18. Auflage des ‚Echtermeyer-von-Wiese‘, für die Elisabeth Paefgen die Abteilung zum 20. Jahrhundert durchgesehen und ergänzt hat. Gute Anthologien sind Walther Killys zehnbändige Sammlung Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart, die am Umfang gemessen preiswert und für Deutschlehrer und -lehrerinnen von großem Nutzen ist, die von Gerhard Hay und Sibylle von Steinsdorff zusammengestellte Kurzfassung des ‚Killy‘, Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart, und Das Buch der Gedichte. Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine Sammlung für die Schule, herausgegeben von Karl Otto Conrady. Weiterhin empfehlenswert sind Reclams großes Buch der deutschen Gedichte und Der ewige Brunnen, von Heinrich Detering und Ludwig Reiners herausgegeben, sowie Marcel Reich-Ranickis achtbändiger ‚Lyrik-Kanon‘. Begleitet von warnenden Worten ist auch eine Empfehlung der Anthologie Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke vertretbar, die in der Digitalen Bibliothek der Directmedia GmbH herausgegeben wird. Im Umfang übertrifft sie jede andere Anthologie um ein Mehrfaches; sie enthält laut Vorwort rund 53.000 Gedichte von 207 Autoren. Hier hineinzulesen, lohnt sich; der Eindruck, den man sich von der Geschichte der Lyrik macht, ändert sich nachhaltig. Ein zweiter Vorzug der digitalisierten Texte ist deren Erschließbarkeit mit der Volltextsuche. Um alle Gedichtstellen zu finden, an denen ein bestimmtes Wort vorkommt, hätte ein Literaturwissenschaftler früher wochenlang recherchieren müssen; mit der digitalen Bibliothek erreicht man das gleiche Ziel in wenigen Stunden. Drittens besteht für die Lehre in Schule und Universität eine Erleichterung darin, dass die Gedichte in Dokumentdateien kopiert, bearbeitet und ausgedruckt werden können. Doch hier lauern zugleich die Probleme. Erstens nämlich sind die Texte alles andere als fehlerfrei, weshalb es sich verbietet, sie ohne Abgleich mit einer zuverlässigen Ausgabe zu benutzen. Es unterlaufen der Digitalen Bibliothek nicht nur Zeichensetzungs- und Orthographiefehler, es finden sich auch bisweilen Wörter, an deren Stelle im Original andere Wörter stehen. Zweitens spart das Kopieren zwar Zeit, schaltet aber auch das Abschreiben als Schritt der Texterschließung aus. Wer sich die Mühe macht, ein Gedicht abzuschreiben, wird feststellen, dass der allmähliche Neuaufbau des Textes oft Aspekte in den Blick rückt, die eine erste Interpretationshypothese ermöglichen.

Andere Anthologien

Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Verbreitung von Lyrik spielen Anthologien eines anderen Typs, nämlich Sammlungen von Gedichten der Gegenwart, die dazu dienen, neue Tendenzen einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Einige von ihnen erlangten auch literaturgeschichtlich höchste Bedeutung, indem sie durch die Präsentation neuer Schreibweisen der Produktion von Gedichten neue Impulse gaben. Solche Anthologien sind die bis heute wohl berühmteste Gedichtsammlung des 20. Jahrhunderts, die von Kurt Pinthus 1919 herausgegebene Menschheitsdämmerung, oder Transit, das 1956 von Walter Höllerer zusammengestellte Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, dessen Gedichte bereits drei Jahre später in Wolfgang Kaysers Vorlesungen zur Geschichte des deutschen Verses als Exempel für ein neuartiges Versverständnis fungieren. Für die Lyrik der Gegenwart sind vor allem Jahrbücher, aber auch Sammlungen relevant, die im Rahmen von regelmäßig stattfindenden Wettbewerben die besten der eingereichten Texte zusammenstellen.

III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation

In diesem Kapitel werden die wichtigsten Begriffe der Gedichtanalyse vorgestellt. Es geht darum, ein Instrumentarium der Analyse zu entwickeln, mit dem man Gedichte genau beschreiben und deuten kann. Die Abschnitte 1. bis 5. befassen sich mit Kategorien, die auch zur Analyse nicht-lyrischer Texte herangezogen werden, zugleich aber für die Lyrik-Analyse unerlässlich sind. Lyrikanalytische Begriffe im engeren Sinne werden dann in den Abschnitten 6. und 7. erläutert. Weitgehend vernachlässigt wird hier historisches Wissen; da es zur Interpretation unerlässlich ist, wird es in den beiden folgenden Kapiteln ausführlich behandelt.

1. Wortbedeutungen und übertragene Wortbedeutungen

Poesie vs. Normalsprache

Im Alltag verwenden wir Sprache in einer bestimmten Weise. Wenn jemand den Ausdruck „Haus“ benutzt, dann beziehen wir ihn auf Häuser, sagt jemand „Liebe“, dann beziehen wir das Wort auf eine besonders intensive emotionale Relation zwischen mindestens zwei Menschen. Den Bezug ermöglichen uns Konzepte, die wir uns von ‚Häuser‘ und ‚Liebe‘ gebildet haben. Falls die Konzepte des Sprechers und seines Adressaten nicht übereinstimmen, kann es zu Missverständnissen kommen, die man durch Begriffsklärungen auszuräumen bestrebt ist. Meist aber funktioniert der Bezug so gut, dass darauf unsere Möglichkeit beruht, miteinander sprachlich zu kommunizieren. In der Sprache der Dichtung dagegen herrschen andere Regeln als in der normalen Sprache. Machen wir uns das zunächst an einem einfachen Fall klar. Er liegt vor, wenn den poetischen Ausdrücken bestimmte Bedeutungen stereotyp zugeordnet sind, die vom normalsprachlichen Sinn abweichen. Literaturwissenschaftlich lassen sich diese sprachlichen Sonderformen als topische Allegorien charakterisieren (auf die Terminologie wird weiter unten eingegangen). Sie erfreuten sich im Barock großer Beliebtheit, und einige sind bis heute in Gebrauch. „Die Rose“ bedeutet noch immer ‚die Liebe‘ oder ‚die Geliebte‘, „der Schwan“ bedeutet ‚der Dichter‘ und „die Frau mit verbundenen Augen, die Schwert und Waage in den Händen hält“ bedeutet ‚die Gerechtigkeit‘. Die topische Allegorie kann sprachlich, bildlich oder durch den normalsprachlich gemeinten Gegenstand selbst realisiert sein; ihre Zuordnung zu ihrer Bedeutung ist (beinahe) so konventionell wie die normale Bedeutungszuordnung. So kann eine Frau, die von einem Mann ein üppiges Rosenbukett geschenkt bekommt, mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er in sie verliebt ist. Trotz ihrer Konventionalität haben topische Allegorien die Menschen schon immer dazu gereizt, das Zustandekommen ihrer Bedeutungsrelationen zu erklären. In manchen Fällen bereitete dies wenig Mühe, so bei der Frau, die vorn lange Haare, aber einen kahlen Hinterkopf hat, in der man vor 350 Jahren als gebildeter Europäer konventionell die Gelegenheit erkennen und das Bild auch erklären konnte: Wenn die Gelegenheit vorübergeht, kann man sie nicht mehr ergreifen – wie man eine Frau, die vorbeigegangen ist, nicht mehr beim Schopf packen kann, wenn ihr Hinterkopf enthaart ist. Weniger klar ist hingegen, was Schwäne mit Dichtern oder Rosen mit der Liebe zu tun haben. Für die Rose ließe sich folgende Erklärung finden: Ihre zahllosen Blütenblätter, eins so schön wie die anderen, bedeuten die verschiedenen, allesamt lebenswerten Facetten der Liebe, und alle zusammen stellen die ganze Liebe dar.

Markiertheit

Die Bilder unterscheiden sich allerdings in einer Hinsicht, die für alle weiteren Überlegungen relevant ist. Während nämlich das Bild der Rose wenigstens in den meisten Verwendungskontexten völlig unauffällig ist und daher nur vom topisch versierten Rezipienten entschlüsselt wird, fordert das Bild der Frau mit der bizarren Frisur bereits für sich genommen zur Interpretation heraus, weil es in kaum einem Kontext als Wiedergabe eines natürlichen Objekts fungieren kann. Als Abweichung vom Erwartbaren ist es als Bild markiert. Das allerdings heißt nicht, dass die Interpretation im verhaltensbiologischen Sinne vom ungewöhnlichen Bild ‚getriggert‘ würde; sie kommt vielmehr erst dann in Gang, wenn ein Erklärungsbedarf auf Seiten des Rezipienten entsteht. Diesen Bedarf empfindet nicht jeder, weshalb manche Rezipienten unauffälligere Bilder gar nicht bemerken und auffälligere Bilder als Unsinn abtun. Letztlich also kann kein Bild den Rezipienten zwingen, die übertragene Bedeutung zu suchen; ein gewisses Maß an ‚Einlassung‘ ist erforderlich. Man muss im Hinterkopf behalten, dass Markiertheit für den einen Rezipienten nicht dasselbe ist wie für einen anderen.

2. Lyrische Bildformen

Komponentenanalyse

Bildspender und Bildempfänger

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