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Uwe Rasch
Gerhard Wagner

Aldous Huxley

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Impressum

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Inhalt

Aldous Huxley: Ein Vordenker des Umdenkens

Frühe Verluste: Kindheit, Jugend und zerstörte Pläne (1894–1916)

Haut

Blind

Oxford

Garsington

Skepsis und Satire: Nachkriegspessimismus, junge Liebe und ein Beruf (1916–1925)

Krieg und Liebe

Eton

London

Fragmentarisches Existieren: Reisen, Schreiben und Lob der Lebenslust (1925–1931)

Weltreise

D. H. Lawrence

Lob des Lebens

Oh, schöne neue Welt: Kritik und Krise (1931–1937)

Ein Haus in Sanary

Freiheit und Leere

Krise

Hollywood und die Wüste: Neues Leben in der Neuen Welt (1937–1945)

Die zufällige Emigration

Hollywood

Ein Sanary am Pazifik

In der Wüste

Pragmatisches Träumen: Zwischen Mystik und Meskalin (1945–1958)

Die Nachkriegszeit

Wieder auf Reisen

Pforten der Wahrnehmung

Liebe und Arbeit: Professor auf Reisen und eine Utopie (1958–1963)

Richtung Utopia

Ein »historisches Gebäude« auf Tournee

Mann ohne Vergangenheit

»… ein langsames, aber unerbittliches Diminuendo«

Zeittafel

Editorischer Hinweis

Literaturverzeichnis und Siglen

Personenregister

Werkregister

Sachregister

Aldous Huxley: Ein Vordenker des Umdenkens

Im populären Verständnis gilt Aldous Huxley heute in erster Linie als Romanschriftsteller. Doch von den fünfzig Büchern, die er veröffentlichte, sind nur elf oder zwölf Romane im engeren Sinne. Nur in den Spannungsfeldern zwischen Kunst und Wissenschaft, Literatur und Philosophie, Lebenslust und Lebenskritik lässt sich Huxleys Weg wirklich nachvollziehen. Als junger Mann begann er mit der künstlerisch anspruchsvollsten literarischen Form, der Dichtung, was nicht verwundert: Die Sensibilität des Kindes und Jugendlichen fand zunächst Ausdruck in Malerei und Musik. Das Ästhetische und die besondere Rolle des künstlerischen Umgangs mit der Welt sollten für Huxley immer zentral bleiben. Aus dem Dichter entwickelte sich Anfang der Zwanzigerjahre schnell der Romancier, aus dem Kunstkritiker einer der stilvollsten Essayisten der Geschichte des Genres und aus dem Essayisten schließlich eine sehr moderne Form des Sozialphilosophen: der philosophische Schriftsteller, in dem sich Historiker, Romancier, Dichter, Denker und Essayist zu einem eigentümlichen, faszinierenden Amalgam mischen.

Doch wenn man Huxley mit den herausragenden Literaten und Intellektuellen seiner Zeit vergleicht, scheint er heute fast vollständig von der Bildfläche verschwunden zu sein. Bekannt ist er vor allem noch für seinen Roman Schöne Neue Welt. Die herausragende Position dieser negativen Utopie von 1932 als moderner Klassiker, der weltweit weiterhin regelmäßig auf den Schulcurricula steht, überschattet die vielfältigen anderen Talente dieses englischen Schriftstellers, der darüberhinaus einer der außergewöhnlichsten Denker der Geschichte war.

Die Sicht auf ihn hat sich über die letzten hundert Jahre mehrfach verändert. Der junge Huxley galt seinen Zeitgenossen und der jüngeren Generation in den 1920er-Jahren als Bilderstürmer, sexueller Emanzipator und Befreier vom viktorianischen Muff, ähnlich wie der Rock’n’Roll, die sogenannten Achtundsechziger, die Beatles oder Frank Zappa für ihre Generationen. In den Sechzigerjahren lieferte Huxley den Blumenkindern und Psychedelikern noch einmal utopischen Zündstoff, doch bereits in den Siebzigern, in denen die meisten Studien zu seinem Werk entstanden, überwogen die Abwertung sowie ein zum großen Teil läppischer und rufschädigender Umgang mit seiner Biografie und seinem Werk.

Während seine Existenz in den Feuilletons sich in der neueren Zeit im großen Ganzen auf das Schlagwort von der »schönen neuen Welt« und Bezüge auf den gleichnamigen Roman beschränkt, führt Huxley im Internet ein ganz eigenes Leben. Sucht man seinen Namen, gibt es ähnlich viele Treffer wie bei Thomas Mann, Franz Kafka oder anderen. Im Internet gibt es offensichtlich eine (nicht organisierte) Huxley community, die zum Großteil von dem Huxley fasziniert ist, der in den Zwanzigerjahren als provokativer Vordenker seiner Generation bejubelt wurde und in den Sechzigerjahren Wegbereiter für die Hippiekultur und Ökologiebewegung war.

Die jüngere Generation entdeckt wieder das humanistisch-utopische und kritische Potenzial von Huxleys Denken und Werk, das weit über utilitaristisches pädagogisches Reformdenken, alltagspolitische Kapitalismuskritik und religiös-therapeutische Schnellschüsse hinausgeht. Als einer der intellektuellen Begründer des ökologischen Denkens propagierte Aldous Huxley einen umfassenden, systemischen und ganzheitlichen Umgang mit der Realität. Auf Grundlage einer humanistisch geprägten spirituellen Diszipliniertheit plädierte er für ein vernetztes Denken, das sich der Multidimensionalität aller wesentlichen Probleme bewusst ist.

Keines unserer drängenden ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen oder ethischen Probleme ist in Isolation zu lösen: weder Migranten- und Flüchtlingsströme, Bankenkrisen oder Ressourcenknappheit und Engpässe in der Energieversorgung noch der Klimawandel mit seinen Folgen oder totalitäre Regimes, zunehmende politische Radikalisierung und Korruption. Hundert Jahre nach der Gründung der Weimarer Republik und der Geburtsstunde moderner Demokratien haben die liberalen Gesellschaften weder die demokratieschädigende Eigengesetzlichkeit der sogenannten freien Marktwirtschaft unter Kontrolle bekommen oder der großflächigen Umweltzerstörung Einhalt gebieten noch die Demokratie selbst überlebensfähig machen können. Huxley hat vor diesen Tendenzen, die sich nach seinem Tod ungezügelt weiterentwickelt haben, gewarnt, er hat sie dokumentiert, analysiert und Rezepte zu ihrer Bekämpfung entwickelt.

In intellektueller oder philosophischer Hinsicht ist Huxleys Kost für die Gegenwart so ungewohnt wie für seine Zeit. Neben englisch-amerikanischem Pragmatismus verbinden sich darin unter anderem Ideen alternativer Pädagogik und Psychologie mit fernöstlichen Lehren und christlichem Mystizismus. Als Querdenker zwischen »Skepsis und Ekstase« (Richard Reschika, Philosophische Abenteurer, Stuttgart 2001) hat Huxley eine ganz eigene Schneise insbesondere durch die westlichen Denktraditionen geschlagen, die gerade in Deutschland weitgehend in einem steifen Kantianismus und Hegelianismus mit ein wenig verschlepptem Marxismus verharren. Interessanterweise kommen gerade die einflussreichsten westlichen Denker der Neuzeit bei Huxley nicht vor bzw. bestehen den Nützlichkeitstest nicht: Kant, Hegel, Freud und Marx.

Abgesehen davon, dass seine Überlegungen wie ein frischer Wind durch die Gegenwart blasen würden, gibt es reichlich weitere gute Gründe, sich ausführlich mit Huxleys Denken, seiner Literatur, seinen Essays und Vorträgen zu beschäftigen. Zunächst einmal ist die Lektüre seines Werks, egal ob Roman, Erzählung oder Essay, immer vergnüglich und anregend. Huxley gilt zu Recht als herausragender Stilist, der mit Wissen und Beobachtungsgabe besticht. Dazu ist sein Werk eine Fundgrube an treffenden Sentenzen und Aphorismen, zeitlos glücklichen Formulierungen sowie originellen Gedanken und Beobachtungen. Abgesehen davon, dass der umfassend gebildete Huxley über einen herausragenden Intellekt, Witz und Klugheit verfügte, war er auch Kritiker mit einer außergewöhnlichen Sensibilität für klassische Musik, Malerei, Dichtung und andere Künste. Aufgrund seines enzyklopädischen Wissens, seines stets wachen Verstandes und seines leichten Stils, mit dem er elegant Belehrung und Unterhaltung zu verbinden verstand, gilt er bis heute als einer der herausragenden Vertreter des englischsprachigen Essays.

Im Großteil seiner Schriften und Vorträge, die grundsätzlich gesellschaftskritisch und anthropologisch ausgerichtet sind, ist er Sozialphilosoph und Ethiker. Mit Sartre und Camus teilte er die Auffassung, dass der Roman sich besonders gut für philosophische Experimente eigne. Darum war ihm auch daran gelegen, seine Überlegungen zu einer gelingenden Gesellschaft in seinem letzten Werk Eiland in Romanform zu verpacken.

Darüber hinaus verkehrte Huxley in einigen der wichtigsten Kreise und Bewegungen seiner Zeit – von der Bloomsbury Group bis zum Hollywood-Jet-Set, von der psychologischen Avantgarde bis zur Speerspitze von Zen-und-Yoga im Westen. Sein beweglicher Intellekt und sein nie ermüdendes Interesse machten ihn zum anregenden und fruchtbaren Gesprächspartner nicht nur für einige der herausragenden Schriftsteller seiner Zeit, sondern auch für Musiker, Hollywoodstars, Philosophen, Naturforscher, Mediziner und Soziologen. Viele dieser verschiedenen Spezialisten wurden sehr gute Freunde wie etwa der Schriftsteller D. H. Lawrence, der Musiker Igor Strawinsky oder der Astronom Edwin Hubble.

Aldous Huxley war fest verwurzelt in der bürgerlichen, humanistischen Tradition des 19. Jahrhunderts mit ihrem aufklärerischen, liberalen Wertekanon. Zugleich war er ein Kind der frühen Moderne mit ihrem Aufklärungsskeptizismus und ihrer naturwissenschaftlichen Begeisterung. Er hat die beiden Weltkriege miterlebt und die Frühzeit des Kalten Krieges sowie die brutaler werdenden imperialistischen Kämpfe um Ressourcen und Vormachtstellungen in den 1950er-Jahren genau beobachtet. Wie sein jüngster Biograf, der politische Philosoph Kieron O’Hara, konstatiert, wäre es schwierig, ein tiefes kulturhistorisches Verständnis des 20. Jahrhunderts für sich in Anspruch zu nehmen, ohne Huxley gelesen zu haben. Diese Feststellung betrifft auch dessen gesellschaftskritische, satirische Romane wie insbesondere Kontrapunkt des Lebens.

Jenseits des Lesegenusses und der historischen Bildung gibt es wenigstens noch drei weitere gute Gründe, aus denen es lohnenswert ist, Huxley zu lesen. Der erste, so O’Hara, liegt in der bislang unerreichten Beschreibung des Geflechts von Kapitalismus, Demokratie, Konsumismus und Technologie. Dem wäre hinzuzufügen, dass es kaum einen besseren Lehrer für das Denken in Zusammenhängen gibt als Huxley. Der zweite Grund liegt in dem soliden historischen Wissen, auf dem alle neuen radikalen Ideen des Bilderstürmers Huxley fußen. Er näherte sich den Problemen der Gegenwart im Rückgriff auf die gesammelte Weisheit der ihm vertrauten künstlerischen und wissenschaftlichen Traditionen, immer bereit, von den großen Denkern und Künstlern der Vergangenheit zu lernen. Als Drittes schließlich hat Huxley immer wieder die unbequeme Frage nach individueller Verantwortung in einer massenorientierten globalisierten Welt gestellt.

Aus diesen Gründen hat Huxley auch heute wieder das Potenzial des Emanzipierers. Es gibt nach wie vor viel von ihm zu lernen. Huxley bleibt ein Zeitgenosse – mit Internet, sozialen Netzwerken und der gesamten digitalen Welt würde er nicht fremdeln. Im Gegenteil, er war ein vorausschauender Kritiker der Probleme der Technologisierung, der Virtualisierung und der Dauerablenkung. Was er bereits in den Zwanzigerjahren über die good timers, die Vergnügungssüchtigen seiner Zeit, schrieb, wird heutigen Lesern der Fun- und Partygesellschaft einige Aha-Erlebnisse verschaffen.

Huxley ist eine seltsame Hybriderscheinung, zugleich in Hochkultur und Popkultur beheimatet. Kaum jemand hat die Position des Intellektuellen und die Bedeutung von Bildung, Wissen und der Fähigkeit zu komplexem, nuanciertem Denken überzeugender verkörpert und eingefordert als er. Viele seiner Romane und Essays sind deshalb anspruchsvoll, zugleich aber immer unterhaltsam und zugänglich. Auch hatte der fordernde Intellektuelle, der für alles und jeden einfühlsames Interesse bekundete, keine Berührungsängste mit Theater, Radio und Filmindustrie. Der Roman Schöne neue Welt und seine Drogenexperimente haben ihm einen sicheren Platz als Pop-Ikone verschafft.

Nicht nur als Schriftsteller, Intellektueller und Denker scheint Huxley ein außergewöhnlicher Mensch gewesen zu sein. Die meisten, die ihn persönlich kannten, waren nicht nur von seinem enzyklopädischen Wissen und seiner spitzbübischen Freude an Groteskem und Absurdem beeindruckt, sondern insbesondere auch von seiner Sanftmut und Güte. Sein guter Freund Strawinsky, der in Europa aus den Medien von Huxleys Tod erfuhr, stand noch Wochen später unter Schock: »Ich habe Aldous sehr geliebt«, schrieb er an den Bruder Julian Huxley,

»und sein Tod war ein schrecklicher Schlag und Verlust für mich. Ich bin noch immer nicht imstande, darüber nachzudenken, und ich kann nicht über ihn schreiben. […] Seit ich vor einem Vierteljahrhundert nach Kalifornien kam, war mir Aldous ein geistiger Führer. Und ich fühle mich verloren ohne ihn, diesen liebsten Freund.« (Gedächtnis, S. 28)

Im Vorwort zu seiner Sammlung von Huxleys Briefen korrigiert auch Grover Smith das Bild des gefühllosen Intellektuellen, das vor allem durch Huxleys bissige Satire und sein häufig kühles Sezieren der Figuren in seinen Romanen (sich selbst eingeschlossen) entstanden war:

»Er war zu liebevoll, um kaltschnäuzig intellektuell zu sein, und zu freimütig für intellektuelle Arroganz. Man kann nicht umhin, in ihm einen der menschlichsten Menschen und Briefschreiber zu sehen – und das genau deshalb, weil in ihm das Gefühl so hochentwickelt war wie der Intellekt. In Huxley fochten Mitgefühl und Verachtung, Abscheu und Zärtlichkeit immer gleichzeitig um die Oberhand und brachten, gleichsam durch eine Dialektik der Emotionen, die durch den Verstand reguliert wurde, seine facettenreiche Haltung zur Welt hervor. Man kann seine Dichtung nicht lesen, ohne dem wissenschaftlichen Philosophen zu begegnen, seine Essays nicht, ohne auf den Künstler zu stoßen. Er hat sich mehr für das Leben als für die Kunst interessiert und für die Kunst nur als Funktion des Lebens. Sein Zugang zu Vedanta war zum Großteil der des Psychologen. Man darf nicht vergessen, dass Huxley grundsätzlich ein Skeptiker war.« (Letters, S. 1f.)

Als Strawinsky den Briefband gelesen hatte, fand er, dass dieser den Mann, den er gekannt hatte, nur zum Teil zeige. Huxleys Sinn für Humor fehle, und seine akademische Seite werde zu stark akzentuiert. Die puritanische Seite, welche die Briefe betonten, würden das verzerrte Bild weiter verzerren, denn in der Realität habe Huxley dazu geneigt, alle moralischen Kategorien auf »intelligentes« oder »unintelligentes« Verhalten zu reduzieren.

Ein anderer Freund, der Schriftsteller Christopher Isherwood, betonte:

»Furchtlose Neugier war eine von Aldous’ vornehmsten Eigenschaften […]. Kleinbürger haben so viel Angst davor, was die Nachbarn wohl denken, wenn man dem Leben unkonventionelle Fragen stellt. Aldous fragte unablässig, und ihm kam nie der Gedanke, sich um die Nachbarn zu scheren.« (Memorial Volume, S. 157)

Dafür, dass Aldous Huxley heute weniger bekannt ist als andere Autoren seiner Zeit, gibt es zahlreiche Gründe, die einer Verquickung von unglücklichen Umständen geschuldet sind. Eigentlich sollte man meinen, sein Werk müsse heute aktueller sein als in den 1960er- und 1970er-Jahren, gerade weil er der erste ökologische Denker war, weil er schon in den 1920ern und erst recht in den 1950ern auf radikal anderen Erziehungsmethoden, auf ganzheitlicher Bildung und ganzheitlichem Denken beharrte. Tatsächlich sind sein Denken und seine Weltsicht aber heute unbequemer als damals.

Platz für Huxleys Denken gibt es indes auch heute, denn es herrscht ein gewisser laissez faire-Pluralismus. Was sich allerdings vordergründig durchgesetzt hat, ist eine behäbig konservative, selbstgefällige, streitscheue politische und gesellschaftliche Trägheit, in der es generell vorgezogen wird zu beschwichtigen, Kritik zu belächeln oder zu verleumden und bestenfalls an Symptomen zu doktern, anstatt Probleme nachhaltig an den Wurzeln zu behandeln. Die Streitkultur der 1970er Jahre ist im Zuge der Political Correctness gerade in Europa immer mehr aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die beinahe chinesisch anmutende kulturpolitisch gepflegte Harmoniesucht führt neben Trägheit zu steigender Unruhe, Nervosität und Unfähigkeit, den Sorgen und Nöten eine intelligente Stimme zu verleihen. Einerseits sind die Fronten schärfer geworden, andererseits ist die Sensibilität gewachsen. Ein explosives Gemisch.

Huxleys Einstellungen zu Sexualität, Familie, Erziehung oder Religion scheinen in der breiten Öffentlichkeit keine Resonanzräume mehr zu finden, obwohl es lokale Experimente in alternativer Pädagogik gibt, die Funktionalität der traditionellen Familie immer mehr zerfällt und aufgeklärte Praktiken wie Polyamorie im Schatten des Pluralismus Fuß fassen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Huxley selbst begann, seinem Nachruhm ein Grab zu schaufeln. Bereits früh sprach er in seiner typischen selbstkritischen Offenheit davon, dass er eigentlich kein »geborener« Romanschriftsteller sei, sondern diese Haltung nur gekonnt imitiere. Diese Aussagen haben, besonders in seiner letzten Lebensphase, einige weniger aufmerksame Kritiker zu wörtlich genommen; dazu wurde »kein geborener« offenbar mit »kein richtiger« übersetzt und die Legende vom literarisch schwachen Huxley war in die Welt gesetzt. Dieses Gerücht wurde durch eine weitere, parallel entstandene Legende unterfüttert, die besagte, dass der ältere Huxley sich vom beißenden, zynischen Intellektuellen zum weltfremden Heiligen gewandelt habe.

Es ist richtig: Nach 1936 schrieb er weniger Romane und beschäftigte sich verstärkt mit Forschung sowie anthropologischen, ethischen und sozialpolitischen Fragen, was seiner zugewiesenen Rolle als Romanschriftsteller ebenfalls geschadet hat. Offenbar ist es schwierig bis unmöglich, in der öffentlichen Wahrnehmung in mehr als einer Rolle zu überleben.

Dass Huxley im öffentlichen Bewusstsein praktisch nur noch durch die Allgegenwart von Schöne Neue Welt vorhanden ist, hängt darüber hinaus grundsätzlich mit seiner kompromisslosen Experimentierfreude und seiner Abneigung gegen verhärtete Glaubenssysteme und Lehren aller Art zusammen – seien es Kirchen oder Ideologien jedweder Couleur und Ausprägung; eine Abneigung, die er mit seinem guten Freund Krishnamurti teilte. Alles, für das ein Glaube Voraussetzung ist, war ihm zutiefst suspekt. Er interessierte sich vor allem für Trainingsprogramme und Methoden, die helfen, ein intelligenterer, liebevollerer und aufmerksamerer Mensch zu werden. Diese geistige Beweglichkeit und Offenheit hat es schon seinen Zeitgenossen schwierig gemacht, ihn einzuordnen und bequem zu kategorisieren. Wie seine Freundin und Biografin Sybille Bedford feststellte: »Aldous’ eigene Philosophie war dynamisch; […] er stand niemals still« (Bedford II, S. 343). Huxley hat sich nicht verändert: er hat sich weiterbewegt.

Seine oft pionierhafte Experimentierfreude hat dazu geführt, dass er nach Schöne Neue Welt am bekanntesten ist als Prophet oder Guru der psychedelischen Drogenbewegung, besonders durch seinen Meskalin-Erfahrungsbericht Die Pforten der Wahrnehmung. Bereits mit seinem Einsatz für die Pazifismusbewegung im England der 1930er-Jahre und der unmittelbar folgenden Emigration in die USA war sein Ruf als angesehener Intellektueller zunehmend durch Häme und Spott angegriffen worden. Die Karikatur von David Low in Nash’s Pall Mall Magazine von September 1936, die Huxley zeigt, wie er und der Gründer der Peace Pledge Union Hitler und Mussolini zu Tränen und Einsicht rühren, stellte erst den Beginn dar. Die Presse nicht allein in Großbritannien, wo man zunächst ein Hühnchen mit ihm als Deserteur von der Heimatfront ins kalifornischen Exil zu rupfen hatte, sah Huxleys intellektuelle Glaubwürdigkeit durch seine Beschäftigung mit anscheinend Abwegigem, Kuriosem und Nebensächlichkeiten zunehmend erodiert. Auf den unzeitigen Pazifismus in den Zeiten des wachsenden Faschismus folgten über die Jahre die Annahme von unorthodoxen Theorien und Therapien wie der psychosomatischen Typologie von Sheldon, der Sehtherapie von Bates, Hypnose und schließlich das Experimentieren mit psychedelischen Drogen. In die psychoaktiven Substanzen setzte Huxley die Hoffnung, dass ihr kontrollierter Einsatz zu einem spirituellen Verständnis der Wirklichkeit verhelfen könne, was zum Teil pauschal als unausgegorener Westentaschenmystizismus eines zunehmend versponnenen Intellektuellen wahrgenommen wurde. So konstatierte der US-amerikanische Chemiker und Pharmakologe Alexander Shulgin 1977 in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe des psychedelischen Sammelbandes Moksha (S. xix): »In seinem letzten Jahrzehnt war Huxley absichtlich kontrovers«.

Diese Biografie soll in erster Linie den allgemein interessierten Lesern einen Überblick über die Hintergründe und das Denken dieses bedeutsamen und weiterhin aktuellen Schriftstellers bieten und Anreiz geben, sich ausführlicher mit Aldous Huxleys Werk auseinanderzusetzen. Sie will aber auch seinen Autor wieder ins Licht rücken, der in den letzten Jahrzehnten als Literat und Denker in die zweite Reihe gerückt ist, nachdem er fünf Jahrzehnte lang ein literarischer und intellektueller Star war.

Eine Schwierigkeit, vor welcher der Biograf dabei steht, ist es, das folgenreiche Desaster von 1961 auszugleichen. In diesem Jahr brannte das Haus von Laura und Aldous Huxley in den Hollywood Hills ab; das Feuer verschlang fast die gesamte Korrespondenz von Aldous Huxley, insbesondere seine Briefe an seine erste Frau Maria. Es zerstörte Manuskripte und seine persönliche Bibliothek von einigen tausend Bänden mit seinen Anmerkungen. So bleibt die Schwierigkeit, dass von Huxley außer seinem Werk kaum persönliche Zeugnisse überlebt haben und es fast nur Berichte von außen gibt.

Eine weitere außergewöhnliche Tatsache, die dem Biografen Schwierigkeiten bereitet, ist es, dass Huxley mit so vielen bedeutenden Menschen Kontakt hatte, dass sie nicht alle sinnvoll in einer Biografie unterzubringen sind. Für einen Künstler und Intellektuellen ist es nicht ungewöhnlich, im Zentrum eines Netzwerks zu stehen, besonders wenn man so kommunikativ und an Austausch interessiert ist wie es Huxleys reger, nie stillstehender Geist war. Aber sein »Adressbuch« sprengt sehr schnell die Grenzen des Recherchierbaren. Man wundert sich eher, mit wem er keinen Kontakt hatte.

Huxleys vielfältige Kontakte mit Menschen, Kulturen und Sprachen (er sprach fließend Französisch und Italienisch) waren Ausdruck seines umfassenden Weltbürgertums. Er war beinahe überall mit einer gewissen Leichtigkeit schnell zu Hause – ob in Oxford, London, Italien, Frankreich, New York oder Los Angeles. Er war ein Emigrant unter Emigranten (seine erste Frau war Belgierin, seine zweite Italienerin). Herkunft, Tradition und Kultur hatten bestenfalls persönliche, biografische, aber niemals universelle Bedeutung.

Es gibt also einen anregenden Denker, Lehrer, äußerst unterhaltsamen Autor und Ausnahmemenschen wiederzuentdecken, der immerhin mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde, sieben Mal zwischen 1938 und 1963. Huxley selbst hätte darauf so viel Wert gelegt wie Woody Allen auf einen Oscar, aber vielleicht hätte es seinem Nachruhm ein wenig gut getan.

Besonders die jungen Generationen, die in den 1980er- oder 1990er-Jahren (also 100 Jahre nach Huxley) Geborenen, die sich zunehmenden Umweltkatastrophen stellen müssen und vor den wirtschaftlichen, sozialen, geografischen sowie politischen Herausforderungen des Klimawandels stehen, können einen überraschenden Zeitgenossen entdecken. Noch mehr gilt das für die Generation von Schülern, die in der jüngsten Vergangenheit für ökologische Verantwortung und gegen die korrupten Strukturen des Kapitalismus auf die Straßen gehen, also gegen das, was Aldous Huxley einmal »die Feinde der Freiheit« genannt und aus seiner Zeit heraus bereits scharfsinnig analysiert hat: die großunternehmerische Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche, die Zunahme populistischer, antidemokratischer, gewaltbereiter und totalitärer politischer Bewegungen zusammen mit wachsender digitaler Kontrolle, Überwachung und Steuerung. All diese Tendenzen haben zur Folge, dass demokratische Strukturen und damit die individuelle Freiheit untergraben werden.

Wie kaum ein anderer hat Huxley den notwendigen Zusammenhang zwischen Freiheit, Intelligenz und Frieden herausgearbeitet. Und wie kein anderer hat er für Toleranz und Geduld plädiert und versucht, als Brückenbauer zwischen scheinbar unvereinbaren Welten zu vermitteln, zwischen Wissenschaft und Literatur, zwischen Leben und Kunst, zwischen den Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens und den Bedürfnissen des Einzelnen und zwischen den tierischen, psychologischen und geistigen Bedürfnissen des Menschen.

Frühe Verluste: Kindheit, Jugend und zerstörte Pläne (1894–1916)

Haut

Der vielleicht fünfjährige Aldous war gerade einmal nicht damit beschäftigt, gekonnte Zeichnungen seiner Umwelt anzufertigen, wie er es sonst endlos tat, sondern saß am Fenster und schaute versonnen hinaus. Als seine Patentante vorbeikam, fragte sie ihn: »Na, woran denkst du denn?« Der Knirps drehte sich um, schenkte ihr kurz seine Aufmerksamkeit, ließ ungerührt und einsilbig das Wort »Haut« vernehmen und schaute wieder zum Fenster hinaus.

Diese kleine Episode ist doppelt bezeichnend für die Kindheits- und Jugendphase von Aldous Huxley, der einmal einer der rebellischsten und aufregendsten Schriftsteller, vollendetsten Feingeister, einflussreichsten Denker und meistgeschätzten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und der vielleicht letzte echte Universalgebildete der Neuzeit werden sollte. Einerseits zeigt sie den kleinen Aldous, wie er von seinem Umfeld schon früh wahrgenommen wurde: Er war anders als die anderen. Mit zwölf Jahren erkannte sein sieben Jahre älterer Bruder Julian

»intuitiv, dass Aldous eine angeborene Überlegenheit besaß und sich auf einer anderen Ebene des Seins bewegte als wir anderen Kinder. […] Als Kind verbrachte der seine Zeit zu einem guten Teil damit, einfach still dazusitzen und die Seltsamkeit aller Dinge zu beobachten. […] Von dieser Beschäftigung mit dem Seltsamen und Bizarren, dem Unwahrscheinlichen und Außerordentlichen ließ er sein ganzes Leben nicht ab.« (Gedächtnis, S. 21)

Das Seltsame und Bizarre, das Groteske beschäftigten ihn gewiss; aber auch das Naheliegende, augenscheinlich Unscheinbare, das allzu Selbstverständliche – wie eben »Haut« – war für ihn von Bedeutung. Von Anbeginn war sein Blick zugleich der des Forschers und des Ästheten. Aber nicht nur als Objekt seiner Betrachtung, sondern auch als Organ seiner subjektiven Empfänglichkeit ist »Haut« ein guter Begriff für seine frühe Zeit. Denn Aldous war nicht nur ein äußerst sinnliches und empfängliches Kind; leider waren ihm auch schon in jungen Jahren Ereignisse beschert, die tief unter die Haut gingen.

Der kleine Aldous träumte nicht davon, Schriftsteller zu werden. »Er zeichnete andauernd«, erinnerte sich sein gleichaltriger Cousin Gervas Huxley, »völlig vertieft – für mich war es Magie, ein kleiner Junge meines Alters, der so schön zeichnete« (zit. in Bedford, S. 3). Maler wollte Aldous werden; noch bis weit in die Jugendzeit hegte er diesen Wunschtraum. Gezeichnet und gemalt hat er immer, doch kaum etwas davon ist erhalten geblieben. Allerdings tauchte Ende 2015 in einem Londoner Antiquariat eine kindlich-düstere Vision des Zweiten Burenkriegs auf, die Aldous im Jahr 1900 im Alter von nur sechs Jahren für die Töchter des im Krieg engagierten Generals Lyttelton gezeichnet und in krakeligen Großbuchstaben am oberen Rand signiert hatte. Das prall gefüllte sechzigseitige Marburger Skizzenbuch aus seinem 17. Lebensjahr ist ebenfalls erhalten geblieben. Doch von den zahllosen Gouachen, die er in den 1930er-Jahren im Süden Frankreichs angefertigt hat, sind bislang nur eine Handvoll wieder ans Tageslicht gekommen.

Maler wollte er also werden – oder Mediziner. Sein Lebtag hat sich Aldous Huxley mit Medizinern, Psychologen, Therapeuten, Physiologen aller Art umgeben, mit lebhaftem Interesse die Forschung verfolgt und sich an einigen Experimenten beteiligt. Der Hang zu Biologie und Medizin lag deutlich in der Familie. Später sollte Huxley schreiben, dass er lieber Faraday als Shakespeare geworden wäre. Sein Großvater väterlicherseits war der eminente Biologe (und Humanist und Pädagoge) Thomas Henry Huxley, einer der ersten und der wahrscheinlich wortgewandteste, jedenfalls aber kampflustigste Evolutionstheoretiker der ersten Stunde, was ihm den Beinamen »Darwins Bulldogge« eintrug. Aldous’ älterer Bruder Julian sollte einer der bekanntesten Biologen seiner Zeit werden, Mitbegründer von UNESCO und WWF; der zwanzig Jahre jüngere Halbbruder Andrew erhielt 1963 den Nobelpreis für Medizin.

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Der junge Aldous auf den Schultern seines Vaters, Leonard Huxley

Doch bereits bevor der kleine Aldous sich überhaupt Gedanken über seinen Werdegang machen konnte, war ihm bereits ein quasi dynastisches Erbe mit in die Wiege gelegt worden. In ihm und seinen Geschwistern kamen das Ansehen und die Ansprüche zweier hoch geschätzter Familien der intellektuellen Elite Englands zusammen – ein Segen und eine große Herausforderung zugleich. Beide Familien entstammten der oberen Mittelschicht und hatten sich in der viktorianischen Zeit in besonderem Maße um Aufklärung und Bildung, die Suche nach Wahrheit und Wissen sowie die Idee des kulturellen Fortschritts verdient gemacht. Leonard Huxley, Aldous’ Vater, war ein Sohn des bereits erwähnten berühmten Biologen (und späteren Mitglieds zahlreicher akademischer Institutionen wie auch der Londoner Schulbehörde) Thomas Henry Huxley. Neben seinem Einsatz für die Evolutionslehre von Darwin und Wallace war der glänzende Stilist mitverantwortlich dafür, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts der Wahrheitsbegriff auf immer breiterer Basis mit wissenschaftlicher Erkenntnis gleichgesetzt wurde, die auf empirischer Messung und Überprüfung beruht. Durch die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode und die Durchsetzung wissenschaftlichen Denkens, so der optimistische Tenor, könnte die Welt zunehmend entschlüsselt, erforscht, verstanden und dem Menschen gefügig gemacht werden. In diesem Sinne sorgte Thomas Henry Huxley auch dafür, dass die Naturwissenschaften im Schulcurriculum eine stärkere Verankerung fanden. Für seine religiöse Haltung prägte er den Begriff des Agnostizismus. Zwar betonte er, dass es sich dabei nicht um eine atheistische Auffassung handelte, sondern um eine skeptische Grundhaltung gegenüber metaphysischen Annahmen; dennoch wurde er von dogmatischen Kreisen als ungläubig angefeindet.

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Thomas Henry Huxley (1825–1895), Aldous’ Großvater väterlicherseits

Aldous Huxleys Mutter, Julia Frances Arnold, war eine Enkelin des Theologen und Pädagogen Thomas Arnold, dessen Name heute vor allem mit seinem Ideal des »christlichen Gentleman« und der vorbildlichen Leitung einer Schule in Rugby, die als modellhaft für das englische Erziehungswesen gilt, verbunden ist. Julias Vater, Thomas Arnold d. J., war als Schulinspektor und Literaturwissenschaftler tätig und erlangte aufgrund seiner wiederholten Religionswechsel zwischen Anglikanismus und Katholizismus notorische Berühmtheit. Als erheblich einflussreicher erwies sich sein älterer Bruder Matthew Arnold, ein viktorianischer Dichter und Kulturkritiker, der die fortschreitende Humanisierung, Kultivierung und Moralisierung der Gesellschaft, nicht zuletzt der als bedrückend habgierig und philisterhaft empfundenen Mittelschicht, erstrebte. Matthew hielt dem Absolutheitsanspruch der Naturwissenschaften die Wahrheit moralischen Denkens und kultivierten Handelns entgegen und erklärte die hohe Dichtung – für ihn die vollendete »Kritik des Lebens« – zum maßgeblichen Aufklärungsinstrument. Religion bezeichnete er als »Moral durchdrungen von Gefühl« und stellte sich damit ausdrücklich gegen die Kirchendogmen. Gutes Handeln zeichne einen religiösen Charakter aus.

Diese Haltung spiegelt sich auch in dem populären, aber umstrittenen Roman Robert Elsmere (1888) seiner Nichte, Julia Huxleys Schwester Mary Augusta Ward, wider, die ihn unter dem Pseudonym Mrs. Humphry Ward veröffentlichte. Die Figur des Robert Elsmere, eines christlich-orthodoxen Geistlichen, zweifelt im Zuge der Rationalisierung der Welt zunehmend an den überlieferten Doktrinen und Dogmen der anglikanischen Kirche, wird aber in der Folge nicht zum Atheisten, sondern zum praktischen Helfer der Armen, Unterprivilegierten und Ungebildeten.

Enorm war also die intellektuelle Verpflichtung, die Aldous Huxley durch seine Herkunft ganz selbstverständlich übertragen wurde. Vorbilder in Bezug auf den beiden Familienlinien innewohnenden Anspruch, Bildung und Wissen zu verbreiten, fand er zweifellos auch in seinen Eltern. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter, die beide an der renommierten Universität von Oxford studiert hatten, waren als Pädagogen tätig, sein Vater später auch als Autor und Herausgeber. Aldous’ komplexe Familiengeschichte sorgte zudem dafür, dass ihm einander widerstreitende weltanschauliche Ansätze gleichsam als Vermächtnis zur weiteren Auseinandersetzung in die Wiege gelegt wurden: Die Gegensätze von Wissenschaft und Dichtung, von Wissenschaft und Religion, Denken und Fühlen, Materie und Geist, wertfreier Forschung und wertbehaftetem Leben sollten in seinen philosophischen Überlegungen besondere Berücksichtigung finden.

Aldous Leonard Huxley wurde am 26. Juli 1894 auf dem Landsitz Laleham bei Godalming im südenglischen Surrey geboren. Dort lebte die Familie zunächst von dem eher mäßigen Lehrereinkommen des Vaters. Aldous hatte zwei ältere Brüder, Julian (geb. 1887) und Noel Trevenen, kurz Trev (geb. 1889); die jüngere Schwester Margaret wurde 1899 geboren. Aus einer späteren Ehe seines Vaters mit Rosalind Bruce gingen außerdem seine Halbbrüder David Bruce Huxley (geb. 1915) und Andrew Fielding Huxley (geb. 1917) hervor.

Die überlieferten Äußerungen zu Aldous’ früher Kindheit deuten auf ein glückliches und harmonisches Familienleben hin, in dem offenbar viel gespielt, gescherzt und gelacht wurde. Aldous liebte Sprachspiele, seit er sprechen konnte. Dem Vorlesen, Lesen und Rezitieren von Büchern wurde in seiner Erziehung hohe Bedeutung beigemessen. Natürlich spielten schon früh das Einüben klarer Verhaltensregeln, die allmähliche Entwicklung eines ausgeprägten Klassenbewusstseins und die Vermittlung der daraus resultierenden Verantwortung eine maßgebliche Rolle. Hier machte sich insbesondere der Einfluss der fürsorglichen und leidenschaftlich verehrten, aber außerordentlich diszipliniert auftretenden Mutter geltend, während sich der Vater gerne auf eine Ebene mit seinen Kindern begab und dementsprechend weniger respektvoll angesehen wurde. Unterstützt wurde die Erziehung durch die junge Gouvernante Ella Salkowski, die aus Königsberg stammte und auf Aldous einen derart prägenden Eindruck machte, dass er sie Jahre später auch als Erzieherin für seinen eigenen Sohn engagieren würde.

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Aldous’ Familie mütterlicherseits, ca. 1898. In der mittleren Reihe: Kindermädchen Ella Salkowski (1. v. l.), Aldous’ Mutter Julia (2. v. l.), Aldous’ Tante, die bekannte Schriftstellerin Mrs. Humphry Ward (3. v. l.), Aldous’ Großvater Thomas Arnold, Bruder des einflussreichen Dichters und Kulturkritikers Matthew Arnold (re.). Vorne (v. l. n. r.): Aldous, Trevenen und Julian

Mit seinen Brüdern verband ihn eine innige Nähe, obwohl sie ihn wegen seines in den ersten zwei Lebensjahren überdimensional großen Kopfes scherzhaft »Ogie« (»Monsterchen«) nannten. Sie setzten Aldous den Hut des Vaters auf – und er passte, wie Trev bemerkte. Aldous liebte es auch, sich in der herrlichen Natur seiner ländlichen Umgebung aufzuhalten, wo er wilde Blumen pflückte und bestimmte, Schmetterlinge und Käfer sammelte, Vögel beobachtete, spazieren ging und später Fahrrad fuhr.

1899 begann Aldous’ Schulausbildung in St. Bruno’s, einer nahe gelegenen Vorbereitungsschule für kleine Kinder. Zwei Jahre später verließen die Huxleys Laleham und zogen in das drei Kilometer entfernte Landhaus »Prior’s Field«. Dort gründete Julia Huxley Anfang 1902 eine private Mädchenschule, die schnell an Beliebtheit gewann und sich rasch vergrößerte. Im Gründungsjahr nahm auch Aldous am Unterricht teil. Die Vermittlung von Literatur und Kunst stand gemäß Julias Vorlieben und Stärken im Vordergrund. Dabei wurde ihr Sohn sanft, aber nachdrücklich mit dem Familienmotto vertraut gemacht, an das sich schon seine älteren Brüder hatten gewöhnen müssen: »Huxleys schneiden immer mit Auszeichnung ab« (zit. in Bedford, S. 20).

Von 1903 bis 1908 besuchte Aldous schließlich als Internatsschüler die Hillside-Schule bei Godalming. Bald verband ihn eine enge Freundschaft mit seinem ebenfalls dort neu eingeschulten Cousin Gervas Huxley. In seinen Erinnerungen beschreibt Gervas Hillside als eine eher wenig einladende Schule mit zwar guten Lehrern, aber schlechtem Essen und viel Schikane seitens der Mitschüler. Sein Cousin Aldous, ein hochgewachsener, aber zarter und krankheitsanfälliger Junge, der häufig nicht am Unterricht teilnehmen konnte, ließ sich von all den negativen Umständen wenig beeindrucken und verschaffte sich auf die ihm eigentümliche Weise Respekt und Bewunderung. Gervas merkte, dass

»Aldous den Schlüssel zu einer unangreifbaren inneren Festung besaß, in die er sich aus den Nöten und Leiden eines Schuljungendaseins zurückziehen konnte. Er vermochte alle diese in die richtige Perspektive zu rücken. Ich kann mich nicht erinnern, dass er wie die meisten von uns je die Selbstbeherrschung verlor oder heftigen Gemütsbewegungen nachgab. Es war unmöglich, mit ihm zu streiten.« (Gedächtnis, S. 31)

Jegliche Anfeindungen lösten sich in Luft auf, wenn sie auf Aldous’ Integrität und Uneigennützigkeit trafen. Wann immer Gervas oder der gemeinsame Freund Lewis Gielgud (der ältere Bruder des späteren Theater- und Filmstars John Gielgud) seines Beistandes bedurften, war er an ihrer Seite. Gervas schildert ihn als ausgesprochen umgänglichen Gefährten, der zu jedem Unsinn bereit war, allerdings immer in ganz besonders intelligenter Manier.

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Die vier Kinder von Leonard und Julia Huxley, ca. 1903. V. v. n. h.: Margaret, Aldous, Trevenen und Julian

Als Schüler zeigte sich Aldous engagiert und strebsam, konnte aber die in ihn gesetzten hohen Erwartungen nicht vollständig erfüllen, was bei seinen Eltern durchaus für Unmut sorgte. Allerdings glänzte er 1907 in einer Schulaufführung von Shakespeares Kaufmann von Venedig, in der er als Antonio das Publikum zu Tränen rührte. Im selben Jahr produzierte er auf Veranlassung seines Englischlehrers zusammen mit Gervas und Lewis zwei Ausgaben einer kleinen Literaturzeitschrift, in der er erste eigene Texte veröffentlichte, darunter ein Gedicht mit dem Titel »Sea Horses«.

Im Juni 1908 beendete Aldous seine Schulzeit in Hillside, um im Herbst zusammen mit Lewis Gielgud an das Eliteinternat Eton College in Berkshire zu wechseln, das schon seine Brüder erfolgreich absolviert hatten. Die Sommerferien verbrachten die Huxleys zum wiederholten Male in den Alpen, allerdings in diesem Jahr ohne die Mutter, die sich seit Juli nicht gut fühlte. Am 12. August schrieb Aldous einen Brief an Gervas, in dem er sich enthusiastisch über das Feriendomizil äußerte, aber auch zum Ausdruck brachte, wie sehr er seine Mutter vermisste: »Es ist jammerschade, dass Mutter noch nicht zu uns stoßen kann, aber ich erwarte, dass sie in etwa 10 Tagen kommt« (zit. in Bedford, S. 17). Julia sollte jedoch ausbleiben.

Im September bezog Aldous sein neues Quartier in Eton, und er freute sich auf die Umgebung und das akademische Leben dort. Er war noch dabei, sich einzugewöhnen, als er Ende November dringend nach Hause gerufen wurde, weil es seiner Mutter erheblich schlechter ging. Da Aldous genauso wie seine jüngere Schwester Margaret im Vorfeld nicht eingeweiht worden war, traf ihn die Nachricht wie ein Schlag: Nur wenige Monate zuvor hatte Julia erfahren, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt war. Seitdem hatte sich ihr Zustand in kurzer Zeit dramatisch verschlechtert. Am 29. November, dem Tag ihres Todes im Alter von nur 46 Jahren, sah Aldous seine Mutter zum letzten Mal. Zum ersten Mal brach für ihn eine Welt zusammen. Später verarbeitete er dieses traumatische Erlebnis in seinem zweiten Roman Narrenreigen mit der Figur Theodore Gumbrils:

»Er hatte nicht gewusst, dass sie dem Tode so nahe war, aber als er in ihr Zimmer trat und sie so schwach in ihrem Bett liegen sah, da hatte er plötzlich unbeherrscht zu weinen begonnen. Alle seelische Kraft, selbst die zu lachen, war auf ihrer Seite gewesen. Und sie hatte mit ihm gesprochen. Es waren nur ein paar Worte, aber in ihnen war alle Weisheit enthalten, die er zum Leben brauchte. Sie hatte ihm klargemacht, was er war und was er versuchen sollte zu werden und wie es zu sein. Und noch immer unter Tränen hatte er ihr versprochen, das zu versuchen.« (S. 9)

Der Stellenwert dieses Versprechens kann angesichts der Liebe, die er für seine Mutter empfand, und der Verpflichtungen, welche die Sterbende ihm auferlegte, kaum hoch genug veranschlagt werden.

Julias Tod bedeutete für ihren Sohn den ersten Schritt hin zu einer frühen pessimistischen Einstellung, die er Jahre später in Die graue Eminenz, der Lebensgeschichte des einflussreichen französischen Kapuzinermönchs Père Joseph, auf den Punkt brachte. Der Held des Romans hatte bereits als Zehnjähriger seinen Vater verloren:

»Sein Kummer bei dieser Gelegenheit ging tief; und als der erste Anfall vorbei war, verblieb ihm ein zu gewöhnlichen Zeiten latentes, aber stets an die Oberfläche zu kommen bereites und ihn verfolgendes Gefühl der Eitelkeit, Vergänglichkeit und hoffnungslosen Unsicherheit alles bloß menschlichen Glücks.« (S. 29)

Aldous’ Bruder Julian Huxley äußerte später sogar die Überzeugung, dass der frühe Verlust hauptverantwortlich für den zynischen Ansatz seines Bruders in den frühen Romanen gewesen sei. Fest steht in jedem Fall, dass das Motiv des Muttertods in Huxleys Schaffen zu einem immer wiederkehrenden wurde, so auch in seinen Zukunftsvisionen Schöne neue Welt und Eiland.

Bald nach Julias Beerdigung im nahe gelegenen Compton löste sich das traute Heim in »Prior’s Field« auf. Julian setzte sein Zoologiestudium in Oxford fort, Trev und Margaret lebten einige Zeit bei der Familie Humphry Ward, und der Vater Leonard zog nach London um. Aldous selbst ging zurück nach Eton. Nur die von der Mutter gegründete Mädchenschule blieb unter neuer Führung erhalten.

In der folgenden Zeit fand Aldous Ablenkung von seiner Trauer, indem er sich in Eton in das vorgesehene Lernprogramm stürzte. Er war von der Schule und den Lehrern begeistert. Seine Mitschüler respektierten ihn. Im Sport entwickelte der lange, schlacksige Junge eine Vorliebe für den Hochsprung. Er erhielt Malunterricht. Das Lernen machte ihm Spaß und fiel ihm leicht; den Lektüreberg meisterte er mühelos. Im Rückblick stellt Huxley fest, als geborener Intellektueller, der eine Vorliebe für Ideen und eine Abneigung gegen praktische Aktivitäten besitze, für die akademische Ausbildung wie geschaffen gewesen zu sein.

Auf dem Lehrplan standen Geisteswissenschaften, allen voran klassische Fächer wie Griechisch, Latein und Verskunde, aber auch neuere Fächer wie zum Beispiel moderne Geschichte und Französisch. Englische Literatur gehörte noch nicht dazu, doch Aldous galt als »Ästhet«, der sich gerne mit Autoren wie Walter Pater oder Oscar Wilde beschäftigte. In Eton wurde aber auch großer Wert auf eine solide naturwissenschaftliche Bildung gelegt. Huxley hatte keine Schwierigkeiten, sich zwischen den Disziplinen zu bewegen. Er verspürte immer eine Leidenschaft für das Wissen an sich, ganz gleich, auf welches Gebiet es sich bezog. Jedoch zeichnete sich schon bald eine Spezialisierung auf das geliebte Fach Biologie ab. Aldous träumte davon, eine Karriere in der medizinischen Forschung einzuschlagen und so seinen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft nachzukommen.

Blind

Um die Jahreswende 1910/1911 bekam Aldous plötzlich Probleme mit seinen Augen. Sie waren geschwollen und rot. Zunächst ging man von einer vorübergehenden Bindehautentzündung aus, aber es wurde und wurde nicht besser, ganz im Gegenteil: Das Sehvermögen ließ nach. Als Aldous’ Onkel und Gervas’ Vater, der Mediziner Henry Huxley, ihm eines Sonntags einen überraschenden Besuch abstattete, war er schockiert über den Gesundheitszustand seines Neffen und nahm ihn ohne zu zögern mit nach London. Kurz darauf begann die quälende Erfahrung von 18 Monaten fast vollständiger Blindheit, die Huxley später im Vorwort zu seinem Buch Die Kunst des Sehens beschrieb. Nach genauerer ärztlicher Untersuchung stand die Diagnose fest: Keratitis punctata, eine Hornhautentzündung, die beide Augen befallen hatte und deren besonders aggressives und viel zu spät erkanntes Auftreten keine positive Prognose zuließ. Die zu der Entzündung führenden Umstände wurden nie eindeutig geklärt; Gervas sprach von infiziertem Staub, der ungünstig mit körperlicher Schwäche durch eine Grippe oder durch Überarbeitung zusammenwirkte.

Die Augenerkrankung bedeutete für Aldous den zweiten herben Schlag innerhalb von drei Jahren. Er, der mit solcher Neugier die Welt um sich herum beobachtet und erkundet hatte, war jetzt gerade noch in der Lage, hell von dunkel zu unterscheiden. Allein konnte er sich kaum umherbewegen. Von der ihm so immens wichtigen Welt der Bücher war er abgeschnitten. Eine Rückkehr nach Eton stand nicht zur Diskussion, und sein Traum von einer Karriere als Arzt hatte ein schnelles, jähes Ende gefunden. Das Ereignis festigte und intensivierte laut Huxleys eigenen Angaben seinen ohnehin ausgeprägten Hang zur Abgeschiedenheit und Innenschau.

Aldous’ Vater Leonard war zu dieser Zeit beruflich stark eingebunden. Nachdem er 1900 eine außerordentlich erfolgreiche Biografie über seinen Vater Thomas Henry veröffentlicht hatte, war ihm ein Jahr später auf Veranlassung von Mary Augusta Ward eine wichtige Position in einem Londoner Verlagshaus angeboten worden. Diese umfasste auch die Mitherausgeberschaft des renommierten Literaturmagazins The Cornhill. Seit seinem Umzug in die Hauptstadt hatte sich Leonard ganz seinen vielfältigen Aufgaben verschrieben. Dementsprechend hielt sich der Witwer vorwiegend in Büros auf und war wenig zu Hause. Aldous wurde daher vor allem von anderen Verwandten umsorgt und gepflegt. Er wohnte abwechselnd bei Gervas’ Eltern, seiner Tante Ethel Collier, den Humphry Wards und anderen. Sein Bruder Trev besuchte ihn, wann immer es sein Studium in Oxford zuließ. Die medizinische Betreuung übernahm zunächst Gervas’ Vater in Absprache mit verschiedenen Augenärzten.

In Anbetracht der neuen Situation und der düsteren Zukunftsperspektive wäre ein Verharren in Angst und Wut nur allzu verständlich gewesen. Doch es gelang Aldous erstaunlich schnell, Abstand von seinen Leiden zu gewinnen und sich anderen Herausforderungen und Aufgaben zu stellen. Gervas hielt fest: »Was mich am meisten in Erstaunen setzte an Aldous’ Erblindung war die Tapferkeit, mit der er diesem völligen Riss in seinem Leben heiter und gelassen und ohne die geringste Spur von Selbstbedauern standhielt« (Gedächtnis, S. 33). Aldous entwickelte eine stoische Grundhaltung, die es ihm ermöglichte, die Dinge zu akzeptieren und mit Bedacht auf sie zu reagieren. Ein weiterer mildernder Faktor mag darin bestanden haben, dass der starke Druck, überragend sein zu müssen, nun von ihm abgefallen war. Er nutzte die viele Zeit, die er allein verbringen musste, höchst diszipliniert dazu, die Blindenschrift zu erlernen. Auf diese Weise erschloss er sich nicht nur die Welt der Literatur auf neuem Wege. Mithilfe der Braille-Musikschrift brachte er sich auch selbst das Klavierspielen bei: Musik erhielt für den verstärkt akustische Reize verarbeitenden Huxley eine überragend neue Qualität. Da sein Freund Lewis Gielgud bereit war, ebenfalls die Blindenschrift zu lernen, konnten die beiden sogar eine Korrespondenz aufbauen. Und als Gervas seinen Cousin eines kalten Morgens zusammengekauert und mit den Händen unter der Decke im Bett liegen sah, bemerkte jener bloß lapidar: »Brailleschrift hat einen großen Vorteil: Man kann im Bett lesen, ohne dass einem die Hände kalt werden« (zit. in Gedächtnis, S. 33).