GIPFELglühen

GIPFELGLÜHEN

STINA JENSEN

SÓTANO

INHALT

Über die Autorin

Das Buch

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Epilog

30. Impressum

Alle Bücher von Stina Jensen

ÜBER DIE AUTORIN

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm.

Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

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DAS BUCH

Sebastian Liebermann gibt sich gern als harter Brocken. Dabei wünscht sich der vielbeschäftigte Schulleiter und alleinerziehende Vater nichts sehnlicher als eine neue Liebe. Jetzt, wo er alle Altlasten hinter sich gelassen und im schönen Allgäu ein neues Leben begonnen hat, wäre damit alles perfekt.

Ausgerechnet der plötzliche Tod einer Kollegin führt ihn zu Maja Blum, die Trauerreden verfasst. Bald schlägt sein Herz für die einfühlsame, bildschöne Frau gipfelhoch – aber leider hegt Maja einen Traum, den er ihr unmöglich erfüllen kann. 

Besser, er bleibt allein.

Doch dann muss er sich unversehens seiner unrühmlichen Vergangenheit stellen. Und damit auch der Gegenwart …

PROLOG

Das Video war verwackelt. Dennoch erkannte man eine Braut und einen Bräutigam vor einem Pult, dahinter den Standesbeamten. Mein Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, den Camcorder – eine Handkamera mit Aufnahmekassette, die er damals schon seit Jahren besaß – während der gesamten Zeremonie auf seiner Schulter zu balancieren. Je länger man auf den Fernseher schaute, desto schwindeliger wurde einem.

»Und hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau«, sagte der Beamte auf dem Bildschirm. Er lächelte dem Bräutigam auffordernd zu. »Sie dürfen die Braut jetzt küssen.«

Mein jüngeres Ich im dunkelblauen Anzug beugte sich zu seiner großen Liebe Ines hinüber und senkte seine Lippen auf die der frischgebackenen Ehefrau.

Die Kamera schwenkte ins applaudierende Publikum. Meine Mutter wischte sich Tränen der Rührung aus den Augen.

Ich erinnerte mich daran, wie unendlich erleichtert auch ich in diesem Moment gewesen war. Ines war nicht davon gerannt, niemand hatte »Einspruch!« gerufen. Nein, diese Wahnsinnsfrau hatte »Ich will« gesagt. Zu mir, der ich mich insgeheim für einen Langweiler hielt. Für spannende Abenteuer war ich jedenfalls weder berühmt noch berüchtigt.

Antonia, die mich gebeten hatte, ihr das auf den 2.2.2002 datierte Hochzeitsvideo von mir und Ines zu zeigen, schlug die Hände an die Wangen. »Ich kann nicht fassen, wie jung du da bist, Sebastian. Kein einziges graues Haar, nicht die kleinste Falte. Du siehst aus wie ein Junge!«

Sie stieß ihren Freund Conny in die Seite, der mir zuzwinkerte. »Ihr wart beide ganz schön jung«, bestätigte er.

Das stimmte. Ines und ich waren erst sechsundzwanzig gewesen. Wir hatten nicht heiraten müssen. Ella war noch nicht einmal geplant. Ich hatte gerade das Referendariat beendet und meine Stelle als Lehrer angetreten. Und trotzdem hatten wir es nicht abwarten können, »Ja« zueinander zu sagen.

Ich wackelte mit den Augenbrauen. »Ich hatte eigentlich gehofft, ich hätte mir bis heute etwas von meinem jungenhaften Charme bewahrt.«

Conny warf mir einen anerkennenden Blick zu. »Hast du, aber wie!« Er zeigte zum Fernseher. »Deine Frau war allerdings ein Feger, alle Achtung. Wie ist einer wie du an ein solches Prachtweib gekommen? Ich hab gedacht, nur ich wär hier der Glückspilz, ha?«

Antonia verdrehte die Augen. »Hört mal auf mit eurem Geprahle, ihr Gockel.«

Ich schmunzelte. Dass ich eine Frau wie Ines abbekommen hatte – so zart, so hübsch und liebenswert, dabei von einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein –, hatte mich selbst am allermeisten gewundert. Sie war einen Kopf kleiner als ich, und trotzdem hatte ich zu ihr aufgesehen. Ich war wahrhaftig nicht der Einzige gewesen, der in sie verschossen war. Ich sah nicht übel aus, doch ich hatte eben nie zu den Coolen gehört. Schon damals glänzte ich eher durch meine Hilfsbereitschaft und Zuverlässigkeit. Ines hatte das als vorteilhaft erkannt.

»Ich will einen Mann«, hatte sie zu mir gesagt, »der nicht gleich bei der ersten Schwierigkeit flüchtet.«

Und doch hatte ich viele Jahre später, in den letzten Wochen ihres Lebens, genau das getan.

Auf dem Fernsehbildschirm schnitten Ines und ich gerade die Hochzeitstorte an. Meine Frau hatte auf ein dreistöckiges Exemplar bestanden: eine Etagere aus Nusstorte, Himbeersahne und Schokocreme. Obenauf das obligatorische Hochzeitspaar aus Marzipan. Wir hatten der Konditorin vorab Fotos von uns geschickt, und es war ihr tatsächlich gelungen, uns nachzubilden.

»Gab es eigentlich auch Krisen in eurer Ehe?«, fragte Antonia jetzt. Sie und ich hatten uns vor zwei Jahren bei einem Wanderurlaub auf Teneriffa kennengelernt. Dort hatte ich ihr anvertraut, was ich getan hatte, als Ines im Sterben lag. Über die Jahre hatten wir den Kontakt gehalten. Als es ihr im letzten Winter nicht gutging, bot ich ihr mein Gästezimmer für eine Auszeit an. Dabei lernte sie Conny kennen.

»Krisen? Eigentlich nicht. Wir hatten wirklich Glück miteinander.« Ich zuckte die Achseln. »Was würde ich dafür geben, noch mal so eine Frau zu finden.«

Conny klopfte mir auf die Schulter. »Man sollte nie die Hoffnung aufgeben, mein Lieber.« Zärtlich zog er Antonia an sich. »Das Glück kommt genau dann, wenn du’s am wenigsten erwartest.«

1

KAPITEL

Happy birthday, Bruderherz!«

Ich hatte den Anruf meiner Schwester auf Lautsprecher gestellt, meine Hände waren zu klebrig, um das Smartphone in die Hand zu nehmen. An Geburtstagen war es im Kollegium Tradition, etwas zu essen mitzubringen und im Lehrerzimmer bereitzustellen. Ich hatte mich für Krapfen entschieden, wie man Kreppel hier in Bayern nannte, und mir einen in mein Büro mitgenommen. Alles, was man unbeaufsichtigt stehen ließ, war innerhalb eines Wimpernschlags vertilgt.

Ich rieb meine Fingerspitzen an einer Serviette blank und bedankte mich für Natalias Glückwünsche.

»Was hast du denn heute noch so vor?«, fragte sie. »Ich hoffe, die Kids verwöhnen dich nach Strich und Faden!«

Dass neben meinen beiden Jungs nun auch meine Tochter bei mir hier in Füssen wohnte, war noch brandneu. Ella, die bis vor kurzem bei Natalia in Wiesbaden gelebt hatte, war nach dem schriftlichen Abitur endlich ebenfalls zu mir gezogen. Angeblich konnte sie sich in den nächsten drei Wochen genauso gut hier für ihre nächsten Prüfungen vorbereiten. In Hessen waren zwei mündliche üblich, eine davon durfte auch eine Präsentation sein. Bei der Präsentation hatte Ella sich für Geschichte entschieden, bei der mündlichen für Mathe. Mich hatte es verwundert, dass sie so dringend her wollte; ich hatte eigentlich den Eindruck gehabt, sie hätte seit einiger Zeit einen Freund. Zumindest war neben Samira, die Ellas langjährige beste Freundin war, plötzlich auch immer wieder ein Mika in ihren Erzählungen aufgetaucht. Als ich sie jedoch nach dem Jungen fragte, hatte sie abgeblockt. Anscheinend war die Sache schon wieder zu Ende. Die Laune, die sie an den Tag legte, sprach dafür. Auch stylte sich gar nicht wie sonst. Üblicherweise verbrachte meine Tochter Stunden im Bad, föhnte aufwendig ihr Haar und tuschte die Wimpern. Seit sie hier war, nahm sie es mit der Körperpflege nicht allzu genau.

»Heute Morgen haben sie mir zumindest ein Ständchen gebracht«, beantwortete ich Natalias Frage. »Außerdem gab es einen Kinogutschein für zwei.« Ich grunzte heiter. »Jetzt sag mir mal, mit wem ich zu zweit ins Kino gehen sollte? Für die Beschaffung der anderen beiden Karten bin dann wohl ich zuständig.«

»Aber heute Abend, da werden sie dich doch hoffentlich verwöhnen? Du hast Gäste, oder? Ich hatte es Ella ans Herz gelegt, dich zu unterstützen. Du solltest heute an erster Stelle stehen – auch wenn sie Stress hat.«

»Was meinst du denn mit Stress?«, fragte ich lachend. »Spielst du darauf an, dass sie so viel fürs Abi zu tun hat? Bisher ist davon leider noch nicht viel zu sehen. Deine mahnenden Worte wegen meines Geburtstags scheint sie aber zu beherzigen, sie wollte etwas kochen. Mal schauen, was draus wird. Abgesehen davon, Schwesterherz, du weißt, ich bin wunschlos glücklich.«

Natalia klang nachdenklich. »Sie lernt nicht? O je. Frag sie, ob du sie unterstützen kannst, vielleicht braucht sie das. Was dich betrifft: Wunschlos glücklich? Na ja. Du könntest noch ein bisschen mehr vom Leben erwarten, alter Herr. Du weißt, was ich meine. Wie alt bist du geworden?«

Sie wusste es ganz genau. Sechsundvierzig. Damit ging ich gerade noch als Mittvierziger durch. »Warum sollte ich mehr erwarten?«, widersprach ich. »Meinetwegen können die nächsten Jahre so weitergehen wie jetzt. Was will ich mehr als drei gesunde Kinder, ein hübsches Reihenhäuschen vor bezaubernder Bergkulisse, einen Job als Schulleiter eines Gymnasiums und neue Bekannte, mit denen ich mich regelmäßig treffe? Außerdem treibe ich Sport, bin noch –«

»Es soll so bleiben wie es ist? Fällt dir nicht selbst auf, was bei deiner Aufzählung fehlt?«

So lieb Natalia war und so sehr sie mich nach Ines‘ Tod auch unterstützt hatte, so gern provozierte sie mich. Am liebsten ritt sie auf meinem Liebesleben herum. Ja, ich sehnte mich nach großen Gefühlen. Nach einer Frau, die mich von den Füßen reißen würde. In den letzten Jahren hatte ich sogar eine Weile aktiv versucht, eine neue Liebe kennenzulernen, nachdem die Trauer um Ines endlich in ein erträgliches Maß übergegangen war. Ella hatte mich obendrein mal auf Tinder angemeldet. Ab und zu hatte ich sogar für die ein oder andere Frau geschwärmt. Doch entweder die Auserwählte interessierte sich nicht für mich, oder sie entpuppte sich als allzu bedürftig und anhänglich, was mir bald zu anstrengend wurde.

Außerdem – und von dieser Einschränkung ahnte Natalia nichts – gab es noch einen weiteren Grund für meine Zurückhaltung in Liebesdingen. Angenommen, ich verliebte mich so richtig. Dann wäre es doch wichtig, zu dieser neuen Liebe ehrlich zu sein. Ihr davon zu erzählen, was ich getan hatte, als Ines im Sterben lag. Doch was würde es für meine Familie bedeuten, wenn das rauskam? Vielleicht hätte ich zwar eine neue Liebe. Aber die meiner Kinder würde ich verlieren.

Insofern blieb es bei der Sehnsucht.

»Nein, ich widerspreche«, schloss ich das Thema ab. »Mir fehlt überhaupt nichts. Und jetzt muss ich Schluss machen, ich hab noch ein bisschen zu tun.«

Zum einen hatten mir die jungen Redakteure der Schülerzeitung für die letzte Ausgabe dieses Schuljahres einen Fragebogen zukommen lassen, in dem ich ein paar persönliche Dinge von mir preisgeben sollte. Wahrscheinlich wollten sie mich aus der Reserve locken, nachdem sie mich in der ersten Ausgabe nach meinem Dienstantritt hier als »Der Rektor mit dem Stock im Arsch« bezeichnet hatten. Da hatte ich natürlich geschluckt. Andererseits hielt ich mich nun mal sehr gerade. Das war auch wichtig, wenn man bei meiner Körpergröße keinen Buckel bekommen wollte. Und ja, ich war manchmal etwas steif und förmlich. Bisher hatte ich noch nicht viele Facetten von mir zeigen können. Deswegen übersahen mich die Schüler auch geflissentlich auf dem Flur. Ich würde ihnen aber bei ihrem Fragebogen beweisen, dass ich auch ein paar lockere Sprüche auf Lager hatte. Außerdem erwartete ich noch einen Schüler, Jakob Hübner, der um ein Gespräch gebeten hatte. Danach war endlich Wochenende. Heute Abend kamen Conny und Antonia zu Besuch. Hoffentlich bekam Ella das mit dem Essen hin. Schön wäre es schon, ein bisschen verwöhnt zu werden.

Ich straffte mich und zog den Fragebogen meiner Schüler zu mir heran.

Die ersten Zeilen verlangten die üblichen Koordinaten wie Name, Geburtstag, Anzahl der Kinder. Die Frage nach meiner Lieblingsfarbe beantwortete ich mit »Alle, die mir stehen, also Blau ;-)«. Die nach meinem Lieblingsessen mit »Fleisch ist mein Gemüse«. Danach wurde es knackig.

Lügen Sie manchmal, Herr Liebermann?

Ich blies die Wangen auf. War es eine Lüge, wenn man etwas für sich behielt?

Ein Klopfen an der Tür unterbrach meine Gedanken. »Chef?« Meine Sekretärin steckte den Kopf zur Tür herein. Gerlinde Schmitz war nicht nur meine Assistentin, sondern auch Ansprechpartnerin für die Schüler. Allerdings plante sie lieber meine Termine, als Pflaster auf Kinderknien anzubringen. Ihr Spitzname war »der Drachen«, und in gewisser Weise schien sie das zu genießen. Durchs viele Rauchen hatte sie eine sonore Stimme, die besonders zur Geltung kam, wenn sie leise sprach. So wie jetzt.

»Jakob wäre da – sind Sie soweit?«

Ich nickte und legte den Stift ab. Jakob Hübner war nicht nur mein Schüler, ich kannte ihn auch privat. Er war der Sohn von Carola, Connys Ex-Schwägerin, die seit meinem Umzug hierher ein Auge auf mich geworfen hatte und bisher noch immer nicht begriffen zu haben schien, dass zwischen uns nie etwas laufen würde. Nicht nur wegen Jakob – mit der Mutter eines Schülers eine Beziehung anzufangen, wäre merkwürdig gewesen –, sondern weil sie keinerlei Emotionen in mir weckte. Jedenfalls keine positiven. Sie war in jeder Hinsicht das Gegenteil von Ines. Nicht, dass ich eine Doppelgängerin gesucht hätte. Aber eine, die ihr zumindest von Wesen her ähnelte. Carola war pushy und gleichzeitig unterwürfig – eine Mischung, mit der sie mich permanent überforderte – und sie besaß null Antennen für ihre Umwelt. Daher hatte sie ihre Bemühungen um mich noch immer nicht eingestellt. Obwohl ich schon unzählige Einladungen von ihr ausgeschlagen hatte.

Jedenfalls waren Jakob und ich ihretwegen per du. Da ich ihn aber nicht unterrichtete, war das kein Problem.

Entschlossen schob ich den Stuhl zurück und schlüpfte in mein dunkelblaues Jackett.

Jakob klopfte, und ich bat ihn herein. Der Achtzehnjährige glänzte normalerweise durch seine athletische Haltung, die von der Mitarbeit in der Landwirtschaft rührte. Heute ließ er jedoch die Schultern hängen.

Ihm war natürlich bewusst, dass sein Abitur auf der Kippe stand, nachdem die schriftlichen Ergebnisse nicht überragend gewesen waren. In der Englisch-Nachprüfung musste er sechs Punkte erreichen. Carola hatte mich deswegen auch schon kontaktiert. Ich hatte sie allerdings gebeten, das zu unterlassen.

»Mensch Jakob, was bringt dich zu mir?«, gab ich mich ahnungslos, wollte erst einmal ihn reden lassen.

Im privaten Umfeld sprach Jakob breiten Allgäuer Dialekt. An der Schule gab er sich zum Glück Mühe. »Der Vater killt mich, wenn ich durchfall«, sagte er und sank auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. »Du musst mir helfen.«

Hubert Hübner, Carolas Ex-Mann, war ein bäriger Typ. Soweit ich wusste, war er allerdings nie handgreiflich geworden. Laut wohl schon öfter.

Jakob lehnte sich vertraulich nach vorn. »Wenn du mir einen Tipp gibst, was drankommt, dann geb ich mein Bestes. Aber auf alle möglichen Stücke von dieser Pappnase kann ich mich echt nicht vorbereiten.«

Die »Pappnase« war William Shakespeare.

»Wenn’s Hamlet ist, geht’s ja noch«, sprach Jakob weiter, »oder das andere, wie heißt es noch«, er sah in die Ferne. »Viel Krach um nichts?«

Ich breitete die Hände aus. »Gib einfach Gas, Jakob. Lass die Arbeit auf dem Hof ruhen und steck den Kopf in die Bücher. Dann wird das schon.« Ich hätte ihm sagen können, dass von einem verhauenen Abi die Welt nicht unterging – die Gefahr war in seinem Fall tatsächlich groß –, aber das hätte ihm jetzt nicht geholfen.

Ellas Noten dieses Schuljahres waren auch nicht berühmt ausgefallen. Aber zu den Abiklausuren hatte sie sich wieder gefangen. Vor einer Woche hatte sie die Ergebnisse aus der schriftlichen Prüfung erhalten. Drei Mal neun Punkte. Das war nicht berauschend, aber sie war weit davon entfernt, nicht zu bestehen. Jetzt mussten nur noch die zwei letzten Noten einigermaßen ausfallen, und ihrem Lehramtsstudium in Augsburg stand nichts im Wege. Dass sie beruflich in die Fußstapfen des Liebermann-Clans treten wollte, erfüllte mich mit Stolz. Meine Eltern waren beide Gymnasiallehrer, meine Schwester unterrichtete an einer Berufsschule.

»Wie soll ich sechs Punkte rausreißen, no way!« Jakob faltete die Hände. »Ich muss das packen, verstehst?«

»Ich kann das Prüfungsergebnis auch nicht beeinflussen, es tut mir wirklich leid, Jakob. Es kommt allein auf deine Leistung an.«

Wohlwollend schob ich ihm das Glas mit den Naschereien zu, die ich hier für die Schüler bereithielt. Die Lakritzschnecken waren immer am schnellsten weg. Auch Jakob nahm sich eine.

»Vielleicht könnst aber der Brode einfach stecken, wie viele Punkte ich brauch.« Knisternd packte er die Süßigkeit aus und rollte ein Stück Lakritz ab, steckte es sich in den Mund.

Ich sah ihn bedauernd an. »Solche Ansagen machen wir nicht, Jakob. Aber du kannst dir sicher sein, dass es nicht an einem Punkt scheitern wird.« Ich zwinkerte. »Im Zweifel für den Angeklagten.«

Der Junge schob das Kinn vor. »Deine Buben sind hier auf der Schule, wie wär das für dich, wenn die durchfallen würden? Da würdst doch auch mit den Lehrern reden.«

Energisch schüttelte ich den Kopf. »Eher würde ich mir die Zunge abbeißen.« Ich schob den Stuhl zurück und hielt ihm die Hand hin. »Du hast noch vier Wochen Zeit, dich vorzubereiten. Mach das Beste draus.«

Nachdem er gegangen war, fischte ich ein Karamellbonbon aus dem Glas und steckte es in den Mund. Dann zog ich wieder den Fragebogen der Schülerzeitung zu mir heran.

Lügen Sie manchmal, Herr Liebermann?, las ich die Frage erneut. Klackernd lutschte ich am Bonbon.

Zum Beispiel bei diesem Fragebogen. Und ganz besonders bei der Antwort zu dieser Frage. ;)

2

KAPITEL

Als ich später das Lehrerzimmer betrat, lagen noch zwei Krapfen auf dem Tablett. Ich hoffte, dass inzwischen alle einen abbekommen hatten, besonders Luisa Falk, meine Lieblingskollegin. Die Sechsunddreißigjährige unterrichtete wie ich Sport und Biologie und rieb sich zwischen Familie und Job auf, aber sie klagte nie. Im Gegenteil, sie verbreitete immer gute Laune. Den Schülern zeigte sie gutmütig deren Stärken auf und schaffte es, sie anzuspornen. Sie hatte eine jugendliche Ausstrahlung. Meist trug sie Sportklamotten und das lockige Haar zu einem wuscheligen Knoten gebunden. Luisas Mann Daniel leitete einen Supermarkt, die beiden hatten fünfjährige Zwillingsmädchen, deren Namen mir zu merken ich längst aufgegeben hatte. Manchmal trafen wir uns zum gemeinsamen Wandern. Sie war die einzige Kollegin, mit der ich privat Kontakt hielt. Für abends hatte ich sie und ihre Familie ebenfalls eingeladen, doch leider stieg heute auch ein Sommerfest beim Supermarkt, da waren sie bereits verpflichtet.

Eben betrat sie das Lehrerzimmer und war in drei Schritten am Tablett, schnappte sich das vorletzte Zuckerteil. »Hey, alles Gute fürs neue Lebensjahr!«, wünschte sie und stieß mich in die Seite. Sie biss ein Stück ab und leckte sich über die Mundwinkel. »Da hab ich ja gerade noch Glück gehabt«, sagte sie kauend. »Ich dachte schon, die Frau Doktor war schneller.« Ihr Blick ging zu Renate Brode, die auf Herrn Fernández einredete. Der junge Kollege checkte gleichzeitig Nachrichten auf seinem Handy. Luisa und ich zwinkerten uns wissend zu. Frau Doktor erzählte gern von ihren Enkelkindern. Die Zusammenhänge zwischen ihren Krankmeldungen und den Geburtstagen der Kleinen, zu denen ihre Tochter Unterstützung benötigte, waren unverkennbar. Mir waren da allerdings die Hände gebunden. Selbst dann, wenn Kollegen noch so offensichtlich kein Gespür für die Bedürfnisse Heranwachsender oder spannend gestalteten Unterricht besaßen. Im Schulbetrieb ging es anders zu als in der freien Wirtschaft. Meine Möglichkeiten beschränkten sich auf diplomatisch vorgebrachte »Ratschläge«.

Ich war jetzt seit fast einem Schuljahr Direktor und hatte mir ein stabiles Standing erarbeitet. Besonders die älteren Kollegen waren mir anfangs zurückhaltend begegnet. Zum einen kam ich aus Hessen, außerdem war ich in ihren Augen auch noch reichlich jung für so einen Job. Und durch meine reservierte, manchmal etwas distanzierte Art wirkte ich mitunter arrogant. Ich wusste darum, aber es war nicht leicht, das abzulegen.

»Lass uns mal wieder wandern gehen«, unterbrach Luisa Falk meine Gedanken. »Dann kehren wir auf einer Hütte ein und stoßen dort noch mal auf deinen Geburtstag an, was meinst du? Ich möchte auch endlich mal deine Ella kennenlernen.«

Die Idee gefiel mir. Luisa würde es bestimmt gelingen, die gerade wieder etwas ruppige Schale meiner Tochter zu knacken. Ich versprach meiner Kollegin, bald in den Kalender zu schauen und ihr ein paar Termine zu nennen.

An den Fahrradständern verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung. Luisa entriegelte das Kettenschloss zu ihrem Fahrrad. Sie fuhr bei Wind und Wetter mit dem Drahtesel, genau wie ich.

Mir zulächelnd setzte sie ihren Helm auf den Kopf. »Bis bald, mein Lieber, hab noch einen tollen Tag.«

»Du auch, grüß die Familie!«

Wir winkten uns zu und fuhren in getrennte Richtungen davon.

Es war der erste richtig milde Tag dieses Sommers. Die Luft erinnerte an die meiner Kindheit, wenn ich zum ersten Mal kurze Hosen getragen hatte und der laue Wind um meine Beine streifte. Mit der Hand wehrte ich eine Hummel ab, deren Flugbahn meinen Weg kreuzte. Gut gelaunt pfiff ich vor mich hin.

3

KAPITEL

Den Haustürschlüssel steckte ich in der Erwartung ins Schloss, von einem Duft nach gebratenem Fleisch, Knoblauch und frischen Kräutern empfangen zu werden. Ella hatte ein mediterranes Ofengericht mit Hühnchen geplant, dazu sollte es Tagliatelle geben. Für eine größere Gruppe war das schnell zuzubereiten, hatte sie gemeint. Doch es roch nach … nichts.

»Ella? Anton? Emil?«, rief ich nach meinen Kindern. Die Jungs fuhren zwar morgens immer mit mir zur Schule, nachmittags traten wir aber unabhängig voneinander den Rückweg an.

Keine Antwort. Ich stellte meine Tasche im Flur ab, schob die Schuhe unter die Garderobe zu denen der Kinder und betrat die Küche, betrachtete die Hähnchenteile auf der Anrichte, zwei Töpfe mit Kräutern, die Pakete mit Nudeln.

Ratlos machte ich kehrt, ging ins Wohnzimmer und entdeckte die Kinder durch die geöffnete Terrassentür im Garten. Ella lag in der Hängematte. Anton und Emil kickten sich den Ball zu. Als Tore hatten sie Gartenstühle aufgestellt.

»Hallihallo zusammen.« Abwartend blieb ich auf der Terrasse stehen.

»Ach Mensch, Papa!« Die Hängematte wackelte. Ellas Bein hing über den Stoff, der Fuß steckte in einem Verband.

»Was hast du denn angestellt?«, fragte ich und begab mich auf den Weg zu ihr.

Mein vierzehnjähriger Sohn Anton und Emil, der vor kurzem elf geworden war, stellten ihr Spiel ein und gesellten sich zu uns. »Sie wollte nur mal kurz ein Tor schießen, aber das ist leider schiefgegangen«, stellte mein älterer Sohn fest.

Ella schob das Kinn vor und deutete vorwurfsvoll auf Emil. »Weil der Herr mir ein Bein gestellt hat!«

»So macht man das beim Fußball, wenn man kein Tor will!«

Die beiden blitzten sich wütend an.

»Ist es geschwollen?«, fragte ich. »Ihr hättet das erst mal kühlen sollen, bevor ihr einen Verband drum wickelt.« Ich schwankte zwischen Mitleid und Ärger. Was bedeutete das jetzt für mich? Eine Fahrt in die Notfallambulanz oder aber zumindest gleich selbst in der Küche zu stehen?

Ich reichte meiner Tochter die Hand und zog sie aus der Hängematte. Während sie einbeinig an meinem Arm die Stufen zur Terrasse empor hopste, kickten Emil und Anton sich wieder den Ball zu.

»Carola hat übrigens angerufen, um dir herzliche Grüße auszurichten«, presste Ella zwischen den Zähnen hervor. »Ich hab eh zu viel Zeug eingekauft, und du wolltest ja sowieso ursprünglich mit mehr Leuten feiern, also hab ich ihr gesagt, du würdest dich bestimmt freuen, wenn sie heute Abend auch vorbeikäme. Jakob bringt sie auch mit.«

Ich blieb stehen und sah meine Tochter entgeistert an. »Wie kannst du das denn einfach so machen? Du weißt doch genau, dass ich Antonia und Conny eingeladen habe. Das gibt doch nur eine komische Stimmung.« Als ich Conny kennenlernte, hatte er seit Jahren kein Wort mit Carola gewechselt, und das, obwohl sie mit seinem Bruder verheiratet war. Nach deren Trennung waren sie sich dann vollends aus dem Weg gegangen. Zwar hatten sie inzwischen ihr Kriegsbeil begraben. Beste Freunde waren sie aber noch immer nicht.

»Hat das mit Jakob zu tun?«, hakte ich nach. »Wenn du dich mit ihm verabreden möchtest, kannst du das doch einfach machen, ohne seine Mutter zu meinem Geburtstag einzuladen.«

Dass die beiden nun auch kamen, passte mir wirklich nicht.

Ella funkelte mich zornig an. »Wieso mit Jakob, wie kommst du auf die Idee? Ich wollte nur nett sein. Chill doch mal! Zwei Leute mehr oder weniger ist doch kein Weltuntergang. Die sollen sich außerdem alle einfach wie fucking erwachsene Menschen verhalten.«

Ich verkniff mir einen Kommentar und half ihr brummend aufs Sofa, bettete ihren Fuß auf einen Stapel Kissen.

»Mach mal den Verband ab«, wies ich sie an, »ich hol dir ein Kühlpack.«

Zu meinem Verdruss war im Gefrierschrank keines zu finden, vermutlich hatten die Jungs sie nach dem Sport mal benutzt und nicht wieder zurückgelegt. Ewig dasselbe. Ich zog ein Paket Erbsen hervor, das taten sie in amerikanischen Filmen auch immer. Im Wohnzimmer versorgte ich den Knöchel von Ella, die beteuerte, sie werde sich gleich um alles kümmern. Das war utopisch – in anderthalb Stunden kamen die Gäste. Also stellte ich mich selbst in die Küche. Setzte einen Pott Kartoffeln auf und würzte die Hähnchenschenkel, legte sie auf ein Backblech und gab das Gemüse dazu. Zwischendurch warf ich einen Blick auf meine Tochter, die auf ihrem Lager auf dem Sofa eingeschlafen war. Na prima.

Ich rief den Jungs zu, dass sie den Terrassentisch für acht Personen decken sollten, und widmete mich Salat und Dips. Dann sah ich nach dem Tisch, stellte fest, dass meine Söhne ihn zwar gedeckt, aber vorher nicht abgewischt hatten. Anschließend diskutierten wir darüber, ob die Ketchupreste vergangener Mahlzeiten und der mit ihnen eine Verbindung eingegangene Blütenstaub auf der Tischplatte tatsächlich störten oder nur jemanden so Pingeliges wie mich.

An Tagen wie diesen sehnte ich mich nach einer Partnerin. Immerzu der einzige Erwachsene in der Familie zu sein, war wahnsinnig anstrengend. Andererseits: So sehr ich auch manchmal eine Frau an meiner Seite vermisste, nervten mich die weiblichen Exemplare, die dachten, was mir fehle, sei eine Ehefrau.

Als alles fertig vorbereitet war und im Ofen brutzelte, blieben fünf Minuten für eine Dusche. Ella war wieder wach, der Fuß noch immer leicht geschwollen. Sie nahm vorsichtshalber schon mal am gedeckten Tisch Platz und ließ sich von mir ein Wasser bringen.

Unter der Dusche hörte ich die Gäste eintrudeln. Den Stimmen nach alle gleichzeitig, Emil öffnete die Tür. Wer fehlte, war der Hausherr. Ich beeilte mich. Die Rasur sparte ich mir, ebenso den Föhn. Mit feuchtem Haar stieß ich zu den anderen. Ich wurde geherzt und geküsst, Carola strich mir übers nasse Haupt, sagte »Schau, so ein lässiger Typ bist du, das mag ich so an dir, du machst dir keinen Stress.«

Ich brummte nur und nahm ein Glas Sekt von Conny entgegen, der eine Flasche mitgebracht und sie gleich geöffnet hatte. An Carola schien er sich nicht die Spur zu stören, im Gegenteil, er freute sich offenkundig, auch Jakob mal wieder zu sehen. Genauso wie Ella, die mit einem Mal gar nicht mehr so schlimm humpelte. Sie bat den Jungen in den Garten, dort schwatzten sie in der Hängematte, die sie als Schaukel benutzten, steckten die Köpfe zusammen und schauten dabei zu uns hinüber. Einmal flog ein Gesprächsfetzen an mein Ohr, etwas wie »deswegen von der Familie verstoßen.« Ging es um seinen Kummer wegen der bevorstehenden Prüfung? So schlimm würde es ja hoffentlich wirklich nicht werden, selbst wenn er durchfiele.

Antonia bot sich an, nach dem Essen zu sehen, befahl mir, mich zu setzen, und rief die Jungs zu sich, um mit ihr aufzutragen.

Wir stießen noch einmal an, und alle sangen mir ein Ständchen. Anton besorgte eine Lautsprecherbox und spielte Sommerbeats, Ella trug mit Jakobs Hilfe Kerzen herbei.

Ich musste zugeben, dass ich mich vollkommen umsonst aufgeregt hatte. Was wollte man mehr an seinem sechsundvierzigsten Geburtstag als die Familie und liebe Freunde um sich?

Carola saß neben mir, sie legte eine Hand auf meinen Arm. Liebevoll lächelte sie mich an. »Der Jakob war heut bei dir, stimmt’s?«, raunte sie. »Ich find es gut, dass du ihm in den Arsch getreten hast.« Nun lehnte sie sich vertraulich zu mir hinüber. »Aber wenn’s drauf ankommt, dann schaust schon, dass nix schiefgeht, oder? Du hast doch bei der Prüfung den Vorsitz?«

»Das weiß ich noch gar nicht«, antwortete ich ausweichend. Zwar war ich bei fast jeder Mündlichen dabei. Aber bei Kindern, mit denen ich privat in Verbindung stand, sollte ich das besser vermeiden. Es war müßig, Carola zu erläutern, dass ich da rein gar nichts machen konnte. Das sollte ihr eigentlich ihr gesunder Menschenverstand sagen.

»Wenn das alles rum ist und unsere großen Kinder ihr Abi in der Tasche haben, machen wir vier uns mal einen schönen Abend, was meinst?« Ihre Hand ruhte noch immer auf meinem Arm.

Zum Glück hob Conny sein Glas und prostete mir zu, lobte mich für das leckere Essen. Ich wand mich aus Carolas Griff und stieß mit ihm an. Eine Antwort auf ihren Vorschlag blieb ich ihr schuldig. Ich würde ihr wohl demnächst mal mit der Holzhammermethode b müssen, dass aus uns nichts werden würde. Aber nicht heute. Dazu flackerten die Kerzen zu heimelig in der Abenddämmerung, schmeckte das Essen zu lecker und der Wein zu süffig.

Wenig später tauschte ich den Platz mit Conny, weil Antonia sich mit mir unterhalten wollte. Wir schwelgten in Anekdoten, lachten. Als es kühler wurde, entzündeten die Kinder ein paar Holzscheite in einer gusseisernen Schale, und wir rückten alle im Garten zusammen.

Der Abend hätte mir als Highlight in Erinnerung bleiben können. Im Nachhinein kam mir die ganze Feier jedoch vor wie ein unwirklicher Film. Wie ein Prolog, der einem vorgaukelte, dass alles in schönster Ordnung wäre.

Denn dann kam der Anruf von Frau Schmitz.

Wenn das Diensthandy klingelt, muss ich rangehen, egal ob Wochenende, Geburtstag oder sonst etwas. Das Gerät lag im Wohnzimmer auf der Anrichte, dort legte ich es immer ab. Ich entschuldigte mich kurz bei meinen Gästen und ging hinein.

»Herr Liebermann.« Die Stimme meiner Sekretärin klang noch rauer als sonst. »Ich muss … ich habe leider …«, stotterte sie. Dann schwieg sie. Lediglich ihr stoßender Atem war zu hören.

»Frau Schmitz?«, fragte ich besorgt. »Geht es Ihnen nicht gut?«

»Es ist etwas passiert, Herr Liebermann. Etwas Schreckliches.«

»Was denn?«, flüsterte ich. Ich dachte an einen Amoklauf. Dabei war es Freitagabend. Alle waren zu Hause.

»Die Frau Falk, Herr Liebermann. Die Frau Falk. Sie ist …« Ihre Stimme war nur mehr ein Piepsen. »Tot.«

»Welche Frau Falk?«, fragte ich verständnislos. Ich kannte nur eine, und das war Luisa. Die konnte nicht gemeint sein. Ich hatte sie vorhin noch gesprochen, bevor wir mit den Rädern in verschiedene Richtungen davongefahren waren.

»Na – unsere Frau Falk.« Die Stimme meiner Sekretärin brach.

Fassungslos starrte ich zu den Gästen im Garten. Anton hatte die Musik lauter gedreht. Etwas Fröhliches, Rhythmisches drang an mein Ohr. Wie aus einer Parallelwelt.

»Tot?«, raunte ich.

Meine Hände zitterten. Mein Herz raste. Das konnte unmöglich stimmen. »Aber wie soll das denn –? Und wann –?«

Später erinnerte ich mich nicht daran, wie ich das Gespräch mit Gerlinde Schmitz beendet hatte. Wusste nicht mehr, wie ich vom Wohnzimmer zurück in den Garten gelangt war. Die entsetzliche Neuigkeit überlagerte alles. Ich saß auf einem Stuhl bei den anderen und stierte vor mich hin.

Anton stellte die Musik aus.

Carola taxierte mich mit einem besorgten Blick. »Hey«, sagte sie und stupste mich an. Als ich nicht reagierte, trat sie hinter mich und knetete meine Schultern. Ich ließ es geschehen.

»Was ist denn passiert?«, brach Conny das Schweigen.

»Ein anaphylaktischer Schock«, murmelte ich tonlos. »Meine Kollegin ist von einer Wespe gestochen worden. Wahrscheinlich saß das Vieh schon im Fahrradhelm, als sie ihn aufgesetzt hat. Bis man herausgefunden hat, was überhaupt los ist, war sie schon tot.«

Mein Verstand weigerte sich, meinen eigenen Worten zu glauben.

Carola ließ von mir ab und sank auf ihren Stuhl zurück. Ihre Hand ging zu ihrem Mund.

»Wer denn, Papa?«, flüsterte Anton.

»Frau Falk«, presste ich hervor.

Emil und er sahen mich mit aufgerissenen Mündern an. Sie war ihre Sportlehrerin gewesen. Auch die von Jakob.

Carolas Sohn und Ella hatten sich inzwischen wieder in die Hängematte zurückgezogen und alberten dort herum. Nicht wissend, welche Bombe gerade eingeschlagen war.

»Wie entsetzlich«, hauchte Carola. Sie presste sich beide Hände auf die Brust.

Ich nickte mechanisch und trank einen Schluck aus dem Wasserglas, das Antonia mir hinhielt. Es konnte mir die Enge in meiner Kehle nicht nehmen.

»Können wir dir irgendwie helfen?«, fragte Conny.