Den Haustürschlüssel steckte ich in der Erwartung ins Schloss, von einem Duft nach gebratenem Fleisch, Knoblauch und frischen Kräutern empfangen zu werden. Ella hatte ein mediterranes Ofengericht mit Hühnchen geplant, dazu sollte es Tagliatelle geben. Für eine größere Gruppe war das schnell zuzubereiten, hatte sie gemeint. Doch es roch nach … nichts.
»Ella? Anton? Emil?«, rief ich nach meinen Kindern. Die Jungs fuhren zwar morgens immer mit mir zur Schule, nachmittags traten wir aber unabhängig voneinander den Rückweg an.
Keine Antwort. Ich stellte meine Tasche im Flur ab, schob die Schuhe unter die Garderobe zu denen der Kinder und betrat die Küche, betrachtete die Hähnchenteile auf der Anrichte, zwei Töpfe mit Kräutern, die Pakete mit Nudeln.
Ratlos machte ich kehrt, ging ins Wohnzimmer und entdeckte die Kinder durch die geöffnete Terrassentür im Garten. Ella lag in der Hängematte. Anton und Emil kickten sich den Ball zu. Als Tore hatten sie Gartenstühle aufgestellt.
»Hallihallo zusammen.« Abwartend blieb ich auf der Terrasse stehen.
»Ach Mensch, Papa!« Die Hängematte wackelte. Ellas Bein hing über den Stoff, der Fuß steckte in einem Verband.
»Was hast du denn angestellt?«, fragte ich und begab mich auf den Weg zu ihr.
Mein vierzehnjähriger Sohn Anton und Emil, der vor kurzem elf geworden war, stellten ihr Spiel ein und gesellten sich zu uns. »Sie wollte nur mal kurz ein Tor schießen, aber das ist leider schiefgegangen«, stellte mein älterer Sohn fest.
Ella schob das Kinn vor und deutete vorwurfsvoll auf Emil. »Weil der Herr mir ein Bein gestellt hat!«
»So macht man das beim Fußball, wenn man kein Tor will!«
Die beiden blitzten sich wütend an.
»Ist es geschwollen?«, fragte ich. »Ihr hättet das erst mal kühlen sollen, bevor ihr einen Verband drum wickelt.« Ich schwankte zwischen Mitleid und Ärger. Was bedeutete das jetzt für mich? Eine Fahrt in die Notfallambulanz oder aber zumindest gleich selbst in der Küche zu stehen?
Ich reichte meiner Tochter die Hand und zog sie aus der Hängematte. Während sie einbeinig an meinem Arm die Stufen zur Terrasse empor hopste, kickten Emil und Anton sich wieder den Ball zu.
»Carola hat übrigens angerufen, um dir herzliche Grüße auszurichten«, presste Ella zwischen den Zähnen hervor. »Ich hab eh zu viel Zeug eingekauft, und du wolltest ja sowieso ursprünglich mit mehr Leuten feiern, also hab ich ihr gesagt, du würdest dich bestimmt freuen, wenn sie heute Abend auch vorbeikäme. Jakob bringt sie auch mit.«
Ich blieb stehen und sah meine Tochter entgeistert an. »Wie kannst du das denn einfach so machen? Du weißt doch genau, dass ich Antonia und Conny eingeladen habe. Das gibt doch nur eine komische Stimmung.« Als ich Conny kennenlernte, hatte er seit Jahren kein Wort mit Carola gewechselt, und das, obwohl sie mit seinem Bruder verheiratet war. Nach deren Trennung waren sie sich dann vollends aus dem Weg gegangen. Zwar hatten sie inzwischen ihr Kriegsbeil begraben. Beste Freunde waren sie aber noch immer nicht.
»Hat das mit Jakob zu tun?«, hakte ich nach. »Wenn du dich mit ihm verabreden möchtest, kannst du das doch einfach machen, ohne seine Mutter zu meinem Geburtstag einzuladen.«
Dass die beiden nun auch kamen, passte mir wirklich nicht.
Ella funkelte mich zornig an. »Wieso mit Jakob, wie kommst du auf die Idee? Ich wollte nur nett sein. Chill doch mal! Zwei Leute mehr oder weniger ist doch kein Weltuntergang. Die sollen sich außerdem alle einfach wie fucking erwachsene Menschen verhalten.«
Ich verkniff mir einen Kommentar und half ihr brummend aufs Sofa, bettete ihren Fuß auf einen Stapel Kissen.
»Mach mal den Verband ab«, wies ich sie an, »ich hol dir ein Kühlpack.«
Zu meinem Verdruss war im Gefrierschrank keines zu finden, vermutlich hatten die Jungs sie nach dem Sport mal benutzt und nicht wieder zurückgelegt. Ewig dasselbe. Ich zog ein Paket Erbsen hervor, das taten sie in amerikanischen Filmen auch immer. Im Wohnzimmer versorgte ich den Knöchel von Ella, die beteuerte, sie werde sich gleich um alles kümmern. Das war utopisch – in anderthalb Stunden kamen die Gäste. Also stellte ich mich selbst in die Küche. Setzte einen Pott Kartoffeln auf und würzte die Hähnchenschenkel, legte sie auf ein Backblech und gab das Gemüse dazu. Zwischendurch warf ich einen Blick auf meine Tochter, die auf ihrem Lager auf dem Sofa eingeschlafen war. Na prima.
Ich rief den Jungs zu, dass sie den Terrassentisch für acht Personen decken sollten, und widmete mich Salat und Dips. Dann sah ich nach dem Tisch, stellte fest, dass meine Söhne ihn zwar gedeckt, aber vorher nicht abgewischt hatten. Anschließend diskutierten wir darüber, ob die Ketchupreste vergangener Mahlzeiten und der mit ihnen eine Verbindung eingegangene Blütenstaub auf der Tischplatte tatsächlich störten oder nur jemanden so Pingeliges wie mich.
An Tagen wie diesen sehnte ich mich nach einer Partnerin. Immerzu der einzige Erwachsene in der Familie zu sein, war wahnsinnig anstrengend. Andererseits: So sehr ich auch manchmal eine Frau an meiner Seite vermisste, nervten mich die weiblichen Exemplare, die dachten, was mir fehle, sei eine Ehefrau.
Als alles fertig vorbereitet war und im Ofen brutzelte, blieben fünf Minuten für eine Dusche. Ella war wieder wach, der Fuß noch immer leicht geschwollen. Sie nahm vorsichtshalber schon mal am gedeckten Tisch Platz und ließ sich von mir ein Wasser bringen.
Unter der Dusche hörte ich die Gäste eintrudeln. Den Stimmen nach alle gleichzeitig, Emil öffnete die Tür. Wer fehlte, war der Hausherr. Ich beeilte mich. Die Rasur sparte ich mir, ebenso den Föhn. Mit feuchtem Haar stieß ich zu den anderen. Ich wurde geherzt und geküsst, Carola strich mir übers nasse Haupt, sagte »Schau, so ein lässiger Typ bist du, das mag ich so an dir, du machst dir keinen Stress.«
Ich brummte nur und nahm ein Glas Sekt von Conny entgegen, der eine Flasche mitgebracht und sie gleich geöffnet hatte. An Carola schien er sich nicht die Spur zu stören, im Gegenteil, er freute sich offenkundig, auch Jakob mal wieder zu sehen. Genauso wie Ella, die mit einem Mal gar nicht mehr so schlimm humpelte. Sie bat den Jungen in den Garten, dort schwatzten sie in der Hängematte, die sie als Schaukel benutzten, steckten die Köpfe zusammen und schauten dabei zu uns hinüber. Einmal flog ein Gesprächsfetzen an mein Ohr, etwas wie »deswegen von der Familie verstoßen.« Ging es um seinen Kummer wegen der bevorstehenden Prüfung? So schlimm würde es ja hoffentlich wirklich nicht werden, selbst wenn er durchfiele.
Antonia bot sich an, nach dem Essen zu sehen, befahl mir, mich zu setzen, und rief die Jungs zu sich, um mit ihr aufzutragen.
Wir stießen noch einmal an, und alle sangen mir ein Ständchen. Anton besorgte eine Lautsprecherbox und spielte Sommerbeats, Ella trug mit Jakobs Hilfe Kerzen herbei.
Ich musste zugeben, dass ich mich vollkommen umsonst aufgeregt hatte. Was wollte man mehr an seinem sechsundvierzigsten Geburtstag als die Familie und liebe Freunde um sich?
Carola saß neben mir, sie legte eine Hand auf meinen Arm. Liebevoll lächelte sie mich an. »Der Jakob war heut bei dir, stimmt’s?«, raunte sie. »Ich find es gut, dass du ihm in den Arsch getreten hast.« Nun lehnte sie sich vertraulich zu mir hinüber. »Aber wenn’s drauf ankommt, dann schaust schon, dass nix schiefgeht, oder? Du hast doch bei der Prüfung den Vorsitz?«
»Das weiß ich noch gar nicht«, antwortete ich ausweichend. Zwar war ich bei fast jeder Mündlichen dabei. Aber bei Kindern, mit denen ich privat in Verbindung stand, sollte ich das besser vermeiden. Es war müßig, Carola zu erläutern, dass ich da rein gar nichts machen konnte. Das sollte ihr eigentlich ihr gesunder Menschenverstand sagen.
»Wenn das alles rum ist und unsere großen Kinder ihr Abi in der Tasche haben, machen wir vier uns mal einen schönen Abend, was meinst?« Ihre Hand ruhte noch immer auf meinem Arm.
Zum Glück hob Conny sein Glas und prostete mir zu, lobte mich für das leckere Essen. Ich wand mich aus Carolas Griff und stieß mit ihm an. Eine Antwort auf ihren Vorschlag blieb ich ihr schuldig. Ich würde ihr wohl demnächst mal mit der Holzhammermethode b müssen, dass aus uns nichts werden würde. Aber nicht heute. Dazu flackerten die Kerzen zu heimelig in der Abenddämmerung, schmeckte das Essen zu lecker und der Wein zu süffig.
Wenig später tauschte ich den Platz mit Conny, weil Antonia sich mit mir unterhalten wollte. Wir schwelgten in Anekdoten, lachten. Als es kühler wurde, entzündeten die Kinder ein paar Holzscheite in einer gusseisernen Schale, und wir rückten alle im Garten zusammen.
Der Abend hätte mir als Highlight in Erinnerung bleiben können. Im Nachhinein kam mir die ganze Feier jedoch vor wie ein unwirklicher Film. Wie ein Prolog, der einem vorgaukelte, dass alles in schönster Ordnung wäre.
Denn dann kam der Anruf von Frau Schmitz.
Wenn das Diensthandy klingelt, muss ich rangehen, egal ob Wochenende, Geburtstag oder sonst etwas. Das Gerät lag im Wohnzimmer auf der Anrichte, dort legte ich es immer ab. Ich entschuldigte mich kurz bei meinen Gästen und ging hinein.
»Herr Liebermann.« Die Stimme meiner Sekretärin klang noch rauer als sonst. »Ich muss … ich habe leider …«, stotterte sie. Dann schwieg sie. Lediglich ihr stoßender Atem war zu hören.
»Frau Schmitz?«, fragte ich besorgt. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Es ist etwas passiert, Herr Liebermann. Etwas Schreckliches.«
»Was denn?«, flüsterte ich. Ich dachte an einen Amoklauf. Dabei war es Freitagabend. Alle waren zu Hause.
»Die Frau Falk, Herr Liebermann. Die Frau Falk. Sie ist …« Ihre Stimme war nur mehr ein Piepsen. »Tot.«
»Welche Frau Falk?«, fragte ich verständnislos. Ich kannte nur eine, und das war Luisa. Die konnte nicht gemeint sein. Ich hatte sie vorhin noch gesprochen, bevor wir mit den Rädern in verschiedene Richtungen davongefahren waren.
»Na – unsere Frau Falk.« Die Stimme meiner Sekretärin brach.
Fassungslos starrte ich zu den Gästen im Garten. Anton hatte die Musik lauter gedreht. Etwas Fröhliches, Rhythmisches drang an mein Ohr. Wie aus einer Parallelwelt.
»Tot?«, raunte ich.
Meine Hände zitterten. Mein Herz raste. Das konnte unmöglich stimmen. »Aber wie soll das denn –? Und wann –?«
Später erinnerte ich mich nicht daran, wie ich das Gespräch mit Gerlinde Schmitz beendet hatte. Wusste nicht mehr, wie ich vom Wohnzimmer zurück in den Garten gelangt war. Die entsetzliche Neuigkeit überlagerte alles. Ich saß auf einem Stuhl bei den anderen und stierte vor mich hin.
Anton stellte die Musik aus.
Carola taxierte mich mit einem besorgten Blick. »Hey«, sagte sie und stupste mich an. Als ich nicht reagierte, trat sie hinter mich und knetete meine Schultern. Ich ließ es geschehen.
»Was ist denn passiert?«, brach Conny das Schweigen.
»Ein anaphylaktischer Schock«, murmelte ich tonlos. »Meine Kollegin ist von einer Wespe gestochen worden. Wahrscheinlich saß das Vieh schon im Fahrradhelm, als sie ihn aufgesetzt hat. Bis man herausgefunden hat, was überhaupt los ist, war sie schon tot.«
Mein Verstand weigerte sich, meinen eigenen Worten zu glauben.
Carola ließ von mir ab und sank auf ihren Stuhl zurück. Ihre Hand ging zu ihrem Mund.
»Wer denn, Papa?«, flüsterte Anton.
»Frau Falk«, presste ich hervor.
Emil und er sahen mich mit aufgerissenen Mündern an. Sie war ihre Sportlehrerin gewesen. Auch die von Jakob.
Carolas Sohn und Ella hatten sich inzwischen wieder in die Hängematte zurückgezogen und alberten dort herum. Nicht wissend, welche Bombe gerade eingeschlagen war.
»Wie entsetzlich«, hauchte Carola. Sie presste sich beide Hände auf die Brust.
Ich nickte mechanisch und trank einen Schluck aus dem Wasserglas, das Antonia mir hinhielt. Es konnte mir die Enge in meiner Kehle nicht nehmen.
»Können wir dir irgendwie helfen?«, fragte Conny.