Stefanie Wider-Groth

Schlossgartensterben

Emmerichs dritter Fall

 

 

Kriminalroman

Impressum

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte  bibliografische Daten sind im Internet über
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Umschlaggestaltung und Foto: Stefan Schmid Design, Stuttgart

 

© 2011 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Karin Haller, Stuttgart

Satz und Gestaltung: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth

 

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-8062-2422-1

 

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-8062-2489-4

eBook (epub): 978-3-8062-2490-0

 

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Inhaltsübersicht

Vorwort

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Vorwort

Die Handlung des vorliegenden Romans spielt im Mai des Jahres 2010 vor dem Hintergrund der zu dieser Zeit gerade langsam anschwellenden Proteste gegen das „Jahrhundertprojekt“ Stuttgart 21. Während des Schreibens, und auch noch danach, gewannen diese Proteste in unerwarteter Weise an Dynamik. Die geplante Tieferlegung eines eigentlich nicht übermäßig bedeutsamen Bahnhofes sorgte sowohl bundes- als auch weltweit für Schlagzeilen, die sich im Mai kaum einer vorstellen konnte. Ereignisse, die zu diesen Schlagzeilen führten, konnten allerdings aufgrund der erforderlichen Einheit von Zeit und Handlung in diesem Buch nicht mehr berücksichtigt werden.

 

Stefanie Wider-Groth, im Oktober 2010

 

„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht.“

Volksweisheit

1

„Lass mich los“, sagte sie, legte eine Hand auf seine Brust und schob ihn weg. „Da vorne kommt Gerhard, ich will nicht, dass er uns so sieht.“

„Sicher?“ Er biss sie ins Ohrläppchen, mit der, wie er hoffte, richtigen Mischung aus Zärtlichkeit und Brutalität. Langsam zog er seine Hand unter ihrem T-Shirt hervor und spürte ihren Rücken beben. Gerhard war ein Trottel, er würde es ihm sagen, eines Tages, aber zum richtigen Zeitpunkt. Im Park war es dämmrig geworden, im Schatten der uralten Bäume sogar dunkel, es gab keinen Grund, sich Sorgen wegen Gerhard zu machen. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, zog das T-Shirt straff, ging vom dicken Stamm der Platane, an der sie gelehnt hatten, zurück auf den Hauptweg und winkte. Ein paar Halbwüchsige auf Skateboards ratterten vorbei, vereinzelte Radfahrer und späte Spaziergänger strebten stadteinwärts Richtung Klettpassage, ein Mann mit Kappe richtete einen Fotoapparat auf den Bahnhof, eine alte Frau kramte auf einer nahen Bank in ihrer Tasche herum. Gerhard kam näher, sah sie und winkte zurück. Es widerstrebte ihm zutiefst, die nächsten eineinhalb Stunden mit ihm verbringen zu müssen, aber es war Teil des Planes, und er würde sich daran halten, an diesen Plan. Gerhard, mit seinen eisgrauen Locken und seinem sicherlich nicht unerheblichen Alter, war ein kampferprobter Linker, gestählt durch zahlreiche Aktionen von Wackersdorf bis Mutlangen und immer noch drahtig und durchtrainiert. Von gestern natürlich, als die Leute noch dachten, mit Solidarität und Gewaltfreiheit etwas erreichen zu können − aber was hatten sie denn erreicht, diese Alten? Die Atomkraftwerke waren gebaut worden trotz ihres Widerstandes, ebenso wie die Startbahn-West am Frankfurter Flughafen oder die neue Messe auf den Stuttgarter Fildern. Die Pershings waren stationiert worden. Dass sie inzwischen überflüssig geworden waren, verdankte die Republik nicht diesen Idealisten, sondern den Ostdeutschen und der Wiedervereinigung, die sich flugs ein paar westdeutsche Politiker als Verdienst ans Hemd geheftet hatten, während sie die Bevölkerung der neuen Bundesländer schutzlos den Segnungen des Kapitalismus überließen. Jetzt protestierten sie gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofes, die Idealisten, gewaltfrei natürlich, wie es sich gehörte, doch ihr Protest würde vergeblich sein. Wenn er überhaupt etwas für sie übrig hatte, dann war es Verachtung. Nicht sie waren die Anarchisten, es waren die Reichen. Diejenigen, die das Geld und die guten Beziehungen hatten. Sie brauchten sich nicht an die Regeln der restlichen Gesellschaft zu halten, konnten die Bedürfnisse und Interessen ihrer Mitmenschen nach Belieben ignorieren und bestimmten dennoch deren Geschicke. Er hatte genug Zeit verplempert, bis er dies begriffen hatte, und noch einige gebraucht, um sich aus seinem bisherigen Umfeld zu befreien. Für Leute wie ihn gab es nur wenige Wege, die in diese Kreise führten, und einer davon war sie. Sie war die Tür, sein Körper, den sie begehrte, der Schlüssel dazu. Ihre Marotten einschließlich Gerhards galt es zu ertragen, bis der Schlüssel im Schloss sich gedreht hatte.

„Sehen wir uns morgen?“, fragte er, nachdem er Gerhard förmlich die Hand gereicht hatte.

„Wir telefonieren“, entgegnete sie hastig und eilte davon.

***

Der Gehweg der Berchtesgadener Maximilianstraße war nicht besonders breit. Verbreiterte man ihn, sinnierte Reiner Emmerich, Kriminalhauptkommissar im Urlaub, während er höflich einer Gruppe italienischer Touristen in atmungsaktiver Freizeitkleidung Platz machte, müßig, würden allerdings keine Autos mehr durch die Straße passen, die ohnehin nur zwei schmale Fahrspuren vorweisen konnte. Dabei handelte es sich bei der Maximilianstraße um eine der Hauptverkehrsadern des Ortes. Emmerich schlenderte sie gemächlich entlang, froh darüber, keinen anderen Fragen als sinnfreien, stadtplanerischen Überlegungen nachgehen zu müssen. Der Versuchung, das Schaufenster der ortsansässigen Enzianbrennerei einer genaueren Inspektion zu unterziehen, widerstand er heldenhaft und folgte stattdessen seiner Gattin in die Fußgängerzone, gedanklich bereits mit seinem Abendessen beschäftigt. Sie hatten vor, es in einem sehr bayerischen Gasthaus einzunehmen, welches das Wort „Bier“ schon im Namen führte und bereits in Sichtweite war, als er ein energisches Rucken am Ellbogen verspürte.

„Da“, sagte Gabi und zeigte auf ein Schaufenster. „Das sieht doch gut aus, findest du nicht?“

In Emmerichs Vorstellung platzte ein dicker Semmelknödel wie ein dünner Luftballon.

„Nein“, entgegnete er alarmiert, nach einem flüchtigen Blick auf die Preise der ausgestellten Damenoberbekleidung.

Gabis Augen verengten sich in einer Art, die ihn um die angenehme Urlaubsstimmung fürchten ließ.

„Warum nicht?“, wollte sie herausfordernd wissen.

„Weil es“, meinte Emmerich unbehaglich, „nicht zu dir passt.“

„Ich könnte es auf’s Volksfest anziehen“, widersprach Gabi unbeeindruckt. „Auf dem Cannstatter Wasen sind Dirndl jetzt groß in Mode.“

„Wann waren wir das letzte Mal auf dem Volksfest, Spatz?“

„Man könnte ja mal wieder hingehen.“

„Man vielleicht schon. Aber nicht ich.“

„Weil du ein alter Miesepeter bist.“

„Ich bin im Urlaub.“

„Ich auch“, erklärte Gabi kampflustig und verschwand um die Ecke des Trachtenmodengeschäftes. Emmerich ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er ihr folgte.

„Hör mal, Spatz“, begann er in versöhnlichem Ton. „Das Volksfest ist nicht mehr, was es einmal war. In den Zelten muss man reservieren, das Remmidemmi ist noch schlimmer als an Fasching. In Schale soll man sich werfen, es gibt Prominentenstammtische, womöglich berichtet auch noch das Fernsehen und …“

„Eben“, sagte Gabi trocken. „Deshalb könnte man ja mal wieder hingehen.“

Emmerich seufzte und widmete seine Aufmerksamkeit einer Puppe in Hosen und einem gewalkten Janker.

„Wenn du schon unbedingt etwas kaufen musst“, lenkte er ein und damit vom Thema ab, „dann würde ich so eine Jacke nehmen. Damit kannst du in Stuttgart mehr anfangen als mit einem Dirndl.“

Gabis Reaktion entsprach nicht ganz seinen Erwartungen.

„Jacke?“, wiederholte sie elektrisiert. „Natürlich. Das ist überhaupt die Idee. Komm, lass uns essen gehen.“

Emmerich musterte seine Gattin erstaunt, doch diese strebte bereits dem Gasthaus entgegen und schien das Interesse an Damenoberbekleidung verloren zu haben.

„Wie angenehm, wir können draußen sitzen“, zwitscherte sie wohlgemut, rutschte auf eine hölzerne Bank und zündete sich eine Zigarette an. Als er Schweinsbraten bestellte, erhob sie keine Einwände wegen zu vieler Kalorien, auch nicht, als er hinterher ein zweites Hefeweißbier und einen Enzian zur besseren Verdauung orderte. Nach mehr als zwanzig Jahren Ehe war Emmerich sonnenklar, dass es sich bei dieser Ruhe um eine trügerische handelte, doch hatte er seinerseits nicht vor, sie durch unnötige Fragen zu zerstören. Eine gute Stunde später waren sie in schönster Harmonie zurück in der Vorderbrandstraße, wo ihre Ferienwohnung lag. Gabi machte es sich mit einem grünen Veltliner aus dem nahen Österreich und einem Buch bequem, Emmerich döste bei einem weiteren Hefeweizen vor sich hin und wunderte sich kein bisschen, als seine Gattin plötzlich erklärte:

„Es macht dir sicherlich nichts aus, wenn ich morgen noch ein paar Kleinigkeiten besorge, bevor wir packen.“

„Kein Problem. Lass dir Zeit.“

„Du schläfst ja sowieso.“

„Mmmh.“

„Ich brauche nicht viel. Nur Mitbringsel für Jule und Mama.“

„Kauf dir ruhig auch was Schönes, Spatz.“

„Vielleicht noch etwas Hübsches für Frau Sonderbar.“

Emmerichs Harmonie erfuhr einen leichten Dämpfer. Von Reiseandenken hielt er nicht viel, heutzutage bekam man praktisch alles überall, und wenn nicht, dann konnte man es bestellen. In seinen Augen gab es längst keinen vernünftigen Grund mehr, Dinge persönlich aus dem Urlaub nach Hause zu schleppen. Dass man der Mutter oder der Tochter etwas mitbrachte, mochte gerade noch angehen, eine derartige Fürsorge aber auf seine Sekretärin auszudehnen, ging ihm zu weit.

„Wozu das denn?“, fragte er daher mit mildem Unmut.

„Weil sie“, belehrte ihn Gabi nicht ohne eine gewisse Herablassung, „am Dienstag Geburtstag hat. Wie übrigens jedes Jahr um diese Zeit. Du könntest es dir vielleicht einmal merken.“

„Tut mir leid.“ Emmerich machte ein hinreichend zerknirschtes Gesicht. „Dafür habe ich dich.“

 

***

„Schön, dass du uns das Klettern beibringen wirst“, sagte Gerhard, trotz der späten Stunde immer noch topfit. „Eigentlich freut es mich, dass du dich uns angeschlossen hast. Viele junge Leute sind heute sehr passiv. Die wissen gar nicht mehr, was es heißt, Widerstand zu leisten, und lassen sich alles gefallen.“

„Sie müssen arbeiten“, antwortete er knapp und fügte in Gedanken hinzu „und haben keine Zeit für diesen Firlefanz. Wer kann die halbe Nacht auf alten Bäume hocken, um sie zu beschützen, wenn er morgens rausmuss?“ Und wozu auch? Es würden neue Bäume wachsen, in fünfzig oder hundert Jahren würde kein Hahn mehr danach krähen, ob der Neubau des Hauptbahnhofes Leuten wie Gerhard Kopfzerbrechen bereitet hatte. Klar, Baustellen waren mit Unannehmlichkeiten verbunden, aber es war ja niemand gezwungen, in der Stadt wohnen zu bleiben, während gebaut wurde. Widerstand, ob nun gewaltfrei oder nicht, gegen derartige Projekte war die pure Zeitverschwendung, so viel glaubte er im Lauf seines bisherigen Lebens gelernt zu haben. Gewinnen in dieser Gesellschaft konnte letztlich nur, wer sich rechtzeitig und ohne Rücksicht auf Verluste die Taschen vollstopfte und zusah, dass er wegkam. Eben das hatte er sich für seine eigene Zukunft vorgenommen, zu diesem Zweck war er hergekommen in eine der reichsten Städte des Landes, und er konnte es schaffen, bevor er sein vierzigstes Lebensjahr erreicht haben würde.

„Für das Training sollten wir aber woanders hingehen“, fuhr Gerhard fort. „Vielleicht in einen Wald, oder so. Damit sie nicht zu früh herauskriegen, was wir vorhaben. Und wir sollten demnächst anfangen. Irgendwann reicht es nicht mehr, wenn wir nur Patrouille laufen. Was meinst du?“

„Mir ist das egal. Ich mache es so, wie ihr es für richtig haltet.“

„Und diese andere Sache … wirst du noch einmal darüber nachdenken?“

„Das andere ist meine Sache. Es hat mit der Kletterei nichts zu tun. Geht dich überhaupt nichts an, Kumpel. Ich hoffe, wir sind uns einig.“

„Wie du meinst.“ Der alte Mann schien von seiner Antwort wenig zu halten, aber das war nicht sein Problem, sondern das von Gerhard. „Ich geb dir Bescheid, sobald ich weiß, wie groß die Gruppe sein wird. Kommst du nächste Woche wieder mit?“

„Wenn mir nichts dazwischenkommt.“

„Danke. Einen guten Heimweg wünsch ich dir.“

„Ebenfalls. Gute Nacht.“

Er sah Gerhard, der in lockerem Trab zur Klettpassage joggte, nach, bis er verschwunden war, wandte sich um und ging in Richtung Landespavillon. Sie würde ebenfalls am Kletterkurs teilnehmen und beeindruckt sein. Ihre Ehe stand kurz vor der Auflösung, es galt lediglich, noch ein wenig nachzuhelfen. Zwei Jahre, vielleicht auch drei, und er hatte es geschafft. Ein paar Leute würden sich womöglich das Maul zerreißen, wenn sie ihn heiratete, und es war anstrengend, ihr ständig etwas vorzumachen. Aber andere Jobs forderten ebenfalls vollen Einsatz und ließen einen am Monatsende mit lediglich etwas über tausend Euro in der Lohntüte zurück, weshalb er sich längst entschieden hatte, keinen davon mehr auszuüben. Sie dagegen versprach einen richtigen Gewinn, sie war ein Sechser im Lotto, den er sich nicht entgehen lassen würde. Rechter Hand raschelte etwas im Gebüsch, eine Ratte oder ein Kaninchen vielleicht, von denen es im Park nicht wenige gab. Er sah auf seine Uhr, beschloss, sich vor der Heimfahrt mit dem Bus noch etwas Erleichterung zu verschaffen, stellte sich hinter eine steinerne Skulptur am Wegesrand, öffnete seine Hose und ließ den Dingen ihren Lauf, als er eine schneidende Stimme in unmittelbarer Nähe vernahm:

„He da! In dieser Stadt pinkelt man nicht an die Denkmäler der Herzöge und Fürsten. Schon gar nicht, wenn man nur ein dahergelaufener Rotzlöffel mit Glatze ist!“

Es war das Letzte, was er in diesem Leben, das kein vierzigstes Jahr mehr beinhalten sollte, zu hören bekam.

2

Emmerich träumte. Zu Hause hatte er selten Gelegenheit, lange genug in den Federn zu verweilen, um in jenen merkwürdigen Zustand zwischen Wachen und Schlafen zu geraten, in dem es ihm gelang, einen Traum bewusst wahrnehmen zu können. Umso interessierter verfolgte er nun das abstruse Geschehen, das sich in seiner Vorstellung abspielte, seit geraumer Zeit folgte er einem Mann in einer hellen Jacke über eine Wiese und stolperte dabei immer wieder über Löcher und kleine Hindernisse. Aus den Löchern quoll etwas, das aussah wie Kaffeesahne. Emmerich hatte das diffuse Gefühl, dass dieses Zeug irgendwie gefährlich war und langsam in den Stoff seiner Hosen eindrang, jedoch war es ihm unmöglich, umzukehren. Der Mann erreichte einen einzelnen, grauen Felsblock, wo er stehen blieb und sich zu entkleiden begann. Nicht ausziehen, rief Emmerich, ohne zu wissen, weshalb, und hörte den Mann antworten:

„Hossa! Hossa! Hossa, Hossa, Hossa!“

Emmerich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Das Traumbild verflüchtigte sich, nicht aber die Stimme, die ihre „Hossa“-Rufe beharrlich wiederholte. Die Stimme, so wurde Emmerich langsam klar, gehörte Rex Gildo, verstorben zwar, aber keineswegs als ein Teil seines Traumes aus dem Jenseits agierend, sondern vielmehr als neuester Klingelton von Gabis Handy, das – zusätzlich vibrierend – auf dem Nachttisch herumbrummte. Emmerich richtete sich schlaftrunken auf, stellte fest, dass seine Gattin das eheliche Lager bereits verlassen hatte und griff nach dem Telefon. Es war dasselbe Modell wie sein eigenes, er hatte es vor einiger Zeit günstig – zwei für eins – im Sonderangebot erstanden und daher keine Schwierigkeiten, die grüne Taste zu finden, die er nun beinahe mechanisch drückte:

„Jepp?“

„Frau Emmerich?“, fragte fordernd eine männliche Stimme. „Könnte ich wohl Ihren Mann sprechen?“

„Sie sprechen bereits mit ihm“, entgegnete Emmerich, dem die Stimme bestens bekannt war, träge. „Morgen, Chef.“

„Morgen?“, kam die entrüstete Antwort. „Es ist kurz vor Mittag.“

„Schon?“

„Sagen Sie bloß nicht, ich hätte Sie geweckt.“

„Aber nein“, log Emmerich höflich, an der Anzeige des Reiseweckers die tatsächlich schon fortgeschrittene Zeit ablesend.

„Ich brauche Sie dringend“, erklärte sein Vorgesetzter ohne weitere Rückfragen. „Wann können Sie hier sein?“

„In Stuttgart?“

„Wo sonst? Auf Sansibar vielleicht?“

„Ich bin noch im Urlaub. In Bayern.“

„Hier gibt’s einen Leichenfund mit mutmaßlichem Fremdverschulden. Das übernehmen Sie. Bis Sie zurück sind, setze ich Frenzel darauf an. Nur, damit Sie Bescheid wissen.“

„Das heißt, wir sprechen uns Montag?“

„Nein, heißt es nicht. Ich fliege morgen in aller Herrgottsfrühe für zwei Wochen nach Portugal. Sie müssen ohne mich klarkommen. Verstärkung nur, wenn’s nicht anders geht. Hier hat keiner mehr Zeit. Bei dem bisschen Personal, das man wegen dieser blöden Krise noch zur Verfügung hat.“

Emmerich gähnte. Ohne den Chef klarzukommen, gehörte sicher nicht zu den Dingen, die ihn überfordern würden, ebenso wie er es gewohnt war, keine Verstärkung zu erhalten. Bei der Polizei wurde gespart, seit Jahren schon und lange bevor die Wirtschaftskrise begonnen hatte.

„Haben wir uns verstanden?“, wollte der Chef in forschem Tonfall wissen.

„Aber sicher“, gähnte Emmerich ein zweites Mal. „Gute Erholung wünsche ich Ihnen.“

„Ebenfalls. Wenn ich zurück bin, will ich Ergebnisse sehen.“

Emmerich war nun endgültig wach und sich darüber im Klaren, dass sein Urlaub frühzeitig zu Ende war. Nachdenklich starrte er das Handy an und überlegte, warum der Chef wohl Gabis Nummer gewählt haben mochte, bis ihm einfiel, dass er sein eigenes − um jedweder Störung vorzubeugen − absichtlich zu Hause vergessen hatte. Eine Maßnahme, die sich nun als nutzlos erwies. Emmerich schlug die blau-weiß gemusterte Bettdecke zurück, tauschte seinen Schlafanzug gegen Jogginghose und T-Shirt und ging ins Wohnzimmer des zweckmäßig eingerichteten Ferienapartments. Auf dem Esstisch entdeckte er eine Thermoskanne nebst Tasse sowie einen Zettel. Bin gegen Mittag zurück stand in Gabis schönster Schreibschrift darauf. Emmerich schenkte sich Kaffee ein und dachte, dass dies ein recht dehnbarer Begriff war. Angenommen, „Mittag“ begänne um zwölf, blieb ihm gerade noch eine halbe Stunde, um sich in einen präsentablen Zustand zu versetzen. Oder, um mit Frenzel zu telefonieren. Wie er seine Frau kannte, war kaum mit einer wohlwollenden Reaktion auf geschäftliche Belästigungen während der knapp bemessenen gemeinsamen Ferienzeit zu rechnen. Es galt also, die Zeit ihrer Abwesenheit zu nutzen. Emmerich nahm das Handy, wählte die Nummer des Stuttgarter Polizeipräsidiums und fügte Frenzels Direktwahl an.

„Bist du das, Mirko?“, fragte er, als nach dem zweiten Klingeln abgenommen wurde.

„Wer sonst?“, fragte der jüngere Kollege kurz angebunden zurück. „Es ist meine Nummer.“

„Der Chef hat mich angerufen. Was ist das für eine Leiche?“

„Männlich, Ende zwanzig bis Mitte dreißig“, schnarrte Frenzel unwirsch. „Ich dachte, du bist noch im Urlaub.“

„Stimmt schon. Trotzdem soll ich den Fall übernehmen.“

„Ist mir bekannt. Im Moment eilt es nicht. Die Spurensicherung arbeitet. Mit der Identifizierung sind wir auch noch nicht so weit. Kein Grund, sich den Urlaub versauen zu lassen, ich komme schon klar.“

„Sehr rücksichtsvoll.“ Emmerich konsultierte die vorrückenden Zeiger seiner Armbanduhr. „Trotzdem … gib mir schnell die wichtigsten Fakten. Gabi ist gerade unterwegs.“

„Ist dir langweilig, oder was?“, stichelte Frenzel und kicherte.

„Komm schon …“

„Wir wissen noch nicht viel. Der Tote wurde im Schlossgarten gefunden. Hinter einem Denkmal. Heute früh, so gegen fünf oder halb sechs. Keine Papiere, kein Handy, nur so ein Plastikdings in der Gesäßtasche. Könnte eine Kundenkarte oder ein Mitgliedsausweis sein. Da steht ein Name drauf, und wir versuchen gerade, herauszufinden, ob es seiner ist.“

„Todesursache?“

„Schussverletzung.“

„Suizid?“

„Glaub ich kaum, so wie der aussah.“ Frenzels Stimme klang eine winzige Spur gereizt. „Sicher kann ich natürlich erst nach der Obduktion sein. Das dauert seine Zeit. Es gibt wirklich nichts, was ich dir im Moment konkret sagen könnte.“

Im Hintergrund vernahm Emmerich das Klingeln eines Telefons.

„Hör zu“, sagte Frenzel hastig. „Ich hab jetzt gerade wirklich keine Zeit. Wir sehen uns am Montag. Mach dir keine Sorgen, und grüß Gabi von mir.“

„Sicher nicht“, entgegnete Emmerich ins Leere hinein, trank noch einen Schluck Kaffee und trug das Handy zurück zum Nachttisch. An der Wohnungstür vernahm er Geräusche, ihm blieb gerade noch Zeit, wieder auf die rustikale Eckbank zu schlüpfen und einen entspannten Eindruck zu machen.

„Hi“, lächelte Gabi, mit Tüten beladen, von denen mindestens zwei unübersehbar den Namen des Trachtenmodengeschäftes trugen. „Bist du gerade erst aufgestanden?“

„Gewissermaßen“, gähnte Emmerich und räkelte sich demonstrativ.

„Gewissermaßen?“

„Ich hab schon eine Tasse Kaffee getrunken.“

„Du hättest dich wenigstens rasieren können.“

„Weißt du, Spatz“, sagte Emmerich listig, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, „dass du sehr gut aussiehst, heute? Richtig erholt?“

„Du auch“, gab seine Gattin das Kompliment zurück. „Im Prinzip. Mit einer Rasur würdest du besser aussehen.“

„Findest du?“

„Ein frisches T-Shirt würde auch nicht schaden.“

„Ein frisches T-Shirt? Wegen einem Tag?“

„Du hast dieses hier schon die ganze Woche an. Wenn’s reicht.“

„Aber nur hier drin“, insistierte Emmerich, der keinen Sinn darin entdecken konnte, ein für seine Begriffe äußerlich vollkommen sauberes Hemd durch ein neues zu ersetzen, das dann zusätzlich gewaschen werden musste. „Wenn wir ausgehen …“

„Mein Stichwort“, fiel ihm Gabi unternehmungslustig ins Wort. „Was machen wir heute?“

„Heute? Ich dachte, du wolltest packen.“

Ihrem Gesichtsausdruck konnte er unschwer entnehmen, dass dies die falsche Antwort gewesen war.

„Erstens“, wurde er umgehend informiert, „packe nicht ich, sondern wir. Und zweitens ist das Wetter super. Das sollten wir noch einmal ausnützen.“

Emmerich versuchte, Zeit zu gewinnen, indem er sich eine weitere Tasse Kaffee einschenkte, musste aber feststellen, dass die Thermoskanne leer war. Seine Gedanken weilten bei Mirko Frenzel und einer Leiche hinter einem Stuttgarter Denkmal. Wobei, wenn man es genau bedachte, sich die Leiche in der Zwischenzeit vermutlich nicht mehr dort befand. Und anmerken lassen durfte er sich seine Gedanken ohnehin besser nicht. Dennoch widerstrebte es ihm, sich aus der Reichweite von Gabis Handy zu entfernen, das sie bei gemeinsamen Unternehmungen im Urlaub für gewöhnlich nicht mitnahm.

„Erzähl mir lieber, was du eingekauft hast“, machte er daher einen halbherzigen Versuch, sie von potenziellen Ausflugszielen abzulenken, was ihm erwartungsgemäß misslang.

„Alles Mögliche“, nuschelte Gabi vage. „Wir könnten uns noch diese Almbachklamm ansehen, die soll sehr romantisch sein.“

Emmerich bezweifelte, dass ein Handy in einer schmalen Klamm eingehende Anrufe empfangen würde, und fand nach kurzem Nachdenken eine andere Lösung.

„Auch meinen Schnaps?“, fragte er liebenswürdig. „Hast du den auch bekommen?“

„Was denn für einen Schnaps?“ Gabi krauste die Stirn und sah ihn argwöhnisch an.

„Meinen Enzian. Und eine Flasche von diesem Kräuterlikör. Der meinem Magen so guttut. Wir hatten ausgemacht, dass wir etwas davon mit nach Hause nehmen.“

„Ach?“, sagte Gabi ungläubig. „Das hatten wir ausgemacht?“

„Aber sicher“, flunkerte Emmerich virtuos und erhob sich. „Komm, wir fahren in die Salzburger Straße zur Brennerei. Ich zieh mir nur noch schnell ein frisches T-Shirt über.“

 

***

Anna-Maria Semmler, geborene Kolb, stand auf der Terrasse ihres Hauses im Stuttgarter Osten, hatte sich ein Paar übergroße Gartenhandschuhe angezogen und entfernte mit angeekelter Miene einige Schnecken aus den Blumenkübeln. Der Mai neigte sich seinem Ende zu, abgesehen von kühlen Temperaturen, reichlich Regen und Schnecken hatte er in diesem Jahr wenig gebracht und dennoch ihr Leben verändert. Durch die halb geöffnete Terrassentür hörte sie Horst telefonieren:

„Ja … das können Sie schreiben … unsere Mitarbeiter sind unser wertvollstes Kapital … nein, Unternehmenszahlen kann ich Ihnen nicht nennen, aber wir sind gut aufgestellt für die Zukunft …“

Anna-Maria sog scharf die Luft ein und stieß sie mit einem Schnauben wieder aus. Die Kolb & Semmler GmbH beschäftigte seit geraumer Zeit und von Jahr zu Jahr weniger eigene Mitarbeiter, aber Horst würde sich hüten, etwas Derartiges einem Pressefritzen auf die Nase zu binden. Früher war das anders gewesen, da hatte man sich die Arbeiter und Handwerker noch nicht für billiges Geld aus Osteuropa besorgen und nach getaner Arbeit wieder nach Hause schicken können. Anna-Marias Gedanken wanderten zurück in ihre Kindheit, als sie in Gummistiefeln an der Hand ihres Vaters durch endlose Baustellen gestapft war. Damals hatte es Platz gegeben in der Stadt, der Krieg hatte Brachflächen hinterlassen, die eine ganze Generation mit Arbeit versorgten. An eine erinnerte sie sich besonders gut, ein Geviert aus behelfsmäßigen Baracken, von den Einheimischen „Vereinigte Hüttenwerke“ genannt. Freundliche, sehr üppige Damen in kurzen Röcken und tief ausgeschnittenen Oberteilen hatten sie dort regelmäßig mit Bonbons und Lutschern beschenkt, bis ihr Vater dies mittels energischer Zurechtweisungen unterbunden hatte. Seit den 80er-Jahren ragten am selben Ort die Klötze des Schwabenzentrums in die Höhe, Kolb senior hatte daran sicherlich ebenso gut verdient wie beim Bau der S-Bahn oder seinen weiteren Unternehmungen. Heute dagegen war der Stuttgarter Kessel voll, er platzte sozusagen aus allen Nähten, die Topografie ließ eine weitere Ausdehnung der Innenstadt nicht zu. Was im Prinzip nichts Schlechtes war, wie Anna-Maria dachte, doch für die Kolb & Semmler GmbH war dies natürlich keine befriedigende Situation. Horst leitete sie seit knapp zehn Jahren alleine, Anna-Maria allerdings brachte den Geschicken der Firma derzeit nur mäßiges Interesse entgegen. Im Moment sogar genau genommen gar keines, wäre da nicht Horst gewesen, der durch die Terrassentür trat und fragte:

„Hat ein Herr Glöckner angerufen, während ich heute Vormittag im Büro war?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Anna-Maria streifte die Handschuhe ab und legte sie samt der noch daran haftenden Schnecken auf ein Tischchen. „Wer ist das?“

„Ein wichtiger Geschäftspartner. Sagst du mir jetzt, wo du gestern Abend warst?“

„Seit wann interessiert es dich, was ich mache?“

„Anni, bitte …“

„Ich mag es nicht, wenn du mich Anni nennst.“

„Es hat dich zwanzig Jahre lang nicht gestört.“

„Doch.“

Horst kniff die Augen zusammen und blähte die Backen auf.

„Verzeihung, ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dir zu streiten …“

„Du hast nie Zeit.“

„… aber heute Abend … heute Abend will ich wissen …“

„Ich war mit Sally zusammen.“

„Du warst wieder bei diesen Leuten?“

„Selina ist meine Freundin. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich kann machen, was ich will.“

„Kannst du nicht. Selina steht auf der falschen Seite. Du bist der Firma etwas schuldig.“

„Sag bloß …“

Horsts Handy klingelte, er zog es aus der Innentasche seines Jacketts.

„Glöckner“, erklärte er knapp. „Ich muss los. Wir sprechen später darüber. Heute Abend …“

***

3

Mit Gabis Handy in der Hosentasche saß Emmerich hinter dem Steuer der alten A-Klasse und empfand ein leichtes Gefühl des Triumphes: Es war ihm gelungen, das Telefon an sich zu bringen, ohne dass sie etwas bemerkt hatte. Da es sich bei ihrem Ausflug um eine wichtige Mission handelte, fuhr er selbst, sie benötigten eine knappe Viertelstunde für die Strecke zur Enzianbrennerei, wo er den Wagen mit rasantem Schwung auf den Parkplatz steuerte.

„Guck mal“, sagte Gabi beim Betreten des gelb gestrichenen Gebäudes. „Die haben hier auch eine Ausstellung.“

„Guck du“, versetzte Emmerich nach einem kurzen Blick auf das entsprechende Hinweisschild. „Ich gehe schnell in den Laden und komme gleich nach.“

Er wandte sich nach links, wo einige Stufen zum Verkaufsraum führten. Dessen Inhalt war geeignet, sein Herz höher schlagen zu lassen. Schnäpse, Brände, Kümmel, Liköre und die dazu passenden Süßigkeiten harrten in enormen Mengen ihrer Käufer, von denen es in Anbetracht des Angebotes nach Emmerichs Einschätzung zahlreiche geben musste. Der Laden selbst wurde zu einem guten Teil von fidelen Senioren bevölkert, die zwar in norddeutschen Idiomen scherzten, sich jedoch durch das Tragen von Landhausmode als Einheimische zu tarnen versuchten. Die Ursache der gelösten Stimmung hatte er schnell ausgemacht, rechter Hand lag ein Probierstand, an dem es allerlei klare und cremige Flüssigkeiten zu verkosten gab. Emmerich zögerte nur kurz, bevor er den Probierstand links liegen ließ, erstand eine Flasche Enzian sowie den Kräuterlikör für seinen Magen und verließ den Laden auf der gegenüberliegenden Seite. Dort geriet er unversehens in die Fänge mehrerer Damen mit edelweißbedruckten Halstüchern und Lodenhütchen.

„Sie“, sagte eine von ihnen und hickste. „Würden Sie bitte ein Foto von uns machen? Mit der Hütte da drüben im Hintergrund?“

„Tut mir leid.“ Emmerich unterdrückte einen Anflug von Panik angesichts so viel beschwipster Weiblichkeit. „Ich muss ganz dringend telefonieren.“

„Macht doch nichts“, tröstete ihn eine Zweite munter. „Wir warten, bis Sie fertig sind.“

Emmerich drehte den Damen demonstrativ den Rücken zu und drückte die Wahlwiederholung.

„Dezernat Tötungsdelikte, Frenzel am Apparat“, leierte Mirkos gelangweilte Stimme. Der Damen wegen senkte Emmerich die seine zu einem Flüstern.

„Ich bin’s. Gibt es schon was Neues?“

„Reiner? Kannst du nicht lauter reden? Ich verstehe dich kaum.“

„Ist gerade schlecht.“

„Wegen Gabi?“

„Nicht wegen Gabi. Nun sag schon …“

„Sieht so aus, als hätten wir ihn identifiziert. Tröge, Thomas, dreiunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Stuttgart-Ost. Wir versuchen, die Angehörigen ausfindig zu machen.“

„Mehr habt ihr nicht?“

„Todeszeitpunkt vermutlich gegen elf Uhr in der Nacht.“

„Was? Da wird mitten in einem öffentlichen Park einer erschossen, und dann findet man den erst am nächsten Morgen?“

„Du weißt selbst, wie ausgestorben die Stadt unter der Woche manchmal ist. Um diese Zeit. Es war dunkel. Das Denkmal steht nicht mitten im Park, sondern eher am Rand.“

„Trotzdem. Elf Uhr. Da müssten doch noch Leute unterwegs gewesen sein. Woher wollt ihr überhaupt so genau wissen, wann …?“

„Zwei Zeugen haben sich gemeldet. Wollen Schüsse gehört haben, aber nichts gesehen. Sie waren nicht nahe genug dran.“

„Nachsehen gegangen sind sie nicht?“

Frenzel gab ein Geräusch von sich, das wie „Pfffff“ klang.

„Würdest du nachsehen gehen? Und dich womöglich in eine Schießerei verwickeln lassen?“

„Ich …“

„Na, also.“

„Sonst noch was?“

„Der Hosenstall stand offen.“

„Von wem?“

„Vom Toten.“

„Wirklich? Was schließen wir daraus?“

„Noch gar nichts.“ Mirko räusperte sich in einer Art, die als Anzeichen für ein strapaziertes Nervenkostüm interpretiert werden konnte. „Wir warten den Bericht der Spurensicherung ab. Hat alles Zeit, bis du zurück bist.“

Emmerich sah sich verstohlen um und musste zur Kenntnis nehmen, dass die Damen noch da waren. Sie schienen tatsächlich auf ihn zu warten, winkten und machten Zeichen, die das Abdrücken eines Fotoapparates andeuteten.

„Ich weiß nicht, ob ich heute noch einmal anrufen kann“, sagte er in gedämpftem Ton, während er den Damen ein gequältes Nicken zuteil werden ließ. „Aber du könntest mir einen Gefallen tun. Kopier das Wichtigste und wirf es in meinen Briefkasten. Dann kann ich morgen Abend schon mal einen Blick darauf werfen.“

„Wenn du meinst“, entgegnete Mirko wenig begeistert. „Ist aber nicht nötig. Ich komme prima zurecht.“

Emmerich sah einen, ob der ihm übertragenen Verantwortung zu Hochform auflaufenden Frenzel vor seinem inneren Auge und wusste, dass etwas Lobendes von ihm erwartet wurde.

„Sehr schön“, grummelte er daher, das Gefühl des eigenen Abseitsstehens ignorierend.

„Schon gut, ich mach’s.“ Mirko kannte seinen Vorgesetzten offenbar gut genug, um die richtigen Schlüsse aus dessen Grummeln zu ziehen. „Bis bald mal.“

„Dito“, gab Emmerich zurück und drückte die rote Taste.

„Na?“, kicherte eine der Damen und hielt ihm eine kleine, silberne Kamera hin. „Machen Sie nun das Foto? Unser Bus fährt nämlich gleich weiter.“

***

Nachdem sie die Reste ihrer leichten Mittagsmahlzeit beseitigt und das benutzte Geschirr gereinigt hatte, ging Anna-Maria Semmler zur Garderobe und nahm ihr eigenes Handy aus der Handtasche. Es war nicht das, welches sie üblicherweise benutzte, sondern ein kleines, rotes Prepaid-Gerät, in dessen Speicher sich nur eine einzige Nummer befand. Anna-Maria schaltete es ein, drückte die Zahlen ihrer PIN und wartete. Keine SMS. Kein eingegangener Anruf in Abwesenheit. Mit einer Mischung aus liebevoller Nachsicht und gelinder Verärgerung rief sie die einzige Nummer auf, wählte und ließ es klingeln. Niemand meldete sich. Anna-Maria runzelte die Stirn, ließ das Handy in die Tasche ihres rohseidenen Hausanzuges gleiten, ging ins Wohnzimmer und griff zum Festnetzapparat.

„Hallo, Sally“, sagte sie, als abgenommen wurde. „Ich bin’s.“

„Anna, Schätzchen, ich hätte dich auch noch angerufen.“

„Hast du heute Nachmittag schon etwas vor?“

„Arbeit, meine Liebe. Warum fragst du?“

„Ich … ich dachte, du hättest vielleicht Lust, mit mir ein wenig laufen zu gehen. Einen guten Platz für unser Klettertraining finden.“

„Schön wär’s.“ Selina seufzte. „Aber die Umstände sprechen dagegen.“

„Schade.“ Anna-Maria räusperte sich und schwieg.

„Du hast doch irgendetwas auf dem Herzen“, folgerte ihre Freundin messerscharf. „Was ist los?“

„Es ist nur … falls Horst dich anrufen sollte … falls er wissen möchte, wo ich gestern Abend war …“

„Dann sag ich ihm, du warst bei mir“, lachte Selina. „Aber mach dir keine Sorgen, er wird nicht anrufen. Horst hasst mich.“

„Ach, nein, das glaube ich nicht. Er mag dich vielleicht nicht besonders, aber …“

„Macht nichts. Ich kann ihn auch nicht leiden.“

„Selina, bitte. Er ist mein Mann.“

„Schon gut, Schätzchen. Ich ruf dich wieder an.“

„Ja“, entgegnete Anna-Maria einsilbig, beendete das Gespräch und nahm erneut das Handy heraus. Wieder ließ sie es klingeln. Und wieder nahm keiner ab. Sie tippte eine kurze SMS des Inhalts, dass sie in einer Stunde am bekannten Treffpunkt sein würde, vertauschte den Hausanzug gegen ihren Laufdress und machte sich auf den Weg zum Frauenkopf.

***

Emmerich hatte den freundlichen Bitten nachgegeben und mit mehreren Digitalkameras das immer gleiche Motiv der Damen vor der historischen Brennhütte festgehalten. Fröhlich kichernd wurde er schließlich entlassen, brachte seine Tüte zum Auto und ging zurück in das gelb gestrichene Gebäude. Gabi stand in einem kleinen Schauraum und studierte die auf diversen Wandtafeln erklärte Geschichte der Enzianbrennerei.

„Was machst du denn so lange?“, fragte sie, nicht ohne einen leisen Vorwurf in der Stimme.

„Da war ein Bus voller Rentner“, erläuterte Emmerich, plötzlich froh darüber, einen plausiblen Grund für die verlängerte Dauer seiner Abwesenheit zu haben. „Die wollten alle ein Gruppenfoto. Ich konnte praktisch nicht Nein sagen.“

„So, so“, meinte Gabi und wandte sich der Betrachtung einer altertümlichen Gerätschaft zu. „Sieh dir das bloß an. Was die Leute für Mühen auf sich genommen haben. Wie einsam es gewesen sein muss, da oben in den Bergen nach diesen Wurzeln zu suchen. Und alles nur wegen Schnaps.“

„Das ist halt ein uraltes Kulturgut“, versuchte Emmerich eine Erklärung, widmete sich pflichtschuldig den Tafeln und las ein paar Zeilen. Der Herstellungsprozess hochprozentiger Getränke interessierte ihn eindeutig weniger als das Ergebnis. „Es gibt sogar Theorien, dass die Menschheit nur deswegen sesshaft wurde.“

„Wegen Schnaps?“

„Ich glaube, eher wegen Bier. Oder Wein. Schnaps kam erst später dazu.“

Er spürte ein leises Vibrieren in der Hosentasche und hatte das Gefühl, rote Ohren zu bekommen, obwohl er wusste, dass ihm dies nie passierte. Sekunden später ertönte der dazugehörige Ton, und Gabi zog überrascht die Brauen hoch.

„Komisch“, sagte sie und sah ihn an. „Das klingt, als wäre es meines. Dabei hab ich’s auf dem Nachttisch liegen gelassen.“

„Ich kann das erklären, Spatz“, erwiderte Emmerich hastig und zog das Handy heraus. „Aber vorher muss ich ran.“

Er drückte die grüne Taste und hielt das Telefon ans Ohr.

„Hier ist Gitti“, rief eine Stimme von sehr weit weg. „Gitti Kerner. Der Chef hat mich angerufen. Wegen einer Leiche im Schlossgarten.“

„Mich ebenfalls“, entgegnete Emmerich knapp. Neben ihm verfinsterte sich Gabis Miene zusehends.

„Wir sollen den Fall übernehmen“, tönte aus der Ferne die Kollegin. „Ich bin aber noch im Urlaub. Im Elsass. Vor Sonntagabend schaffe ich es nicht.“

„Kein Problem. Frenzel ist dran.“ Emmerich grinste schief und fügte nach einem kurzen Seitenblick vorsichtshalber hinzu: „Ich bin auch noch im Urlaub.“

„Das heißt, wir sehen uns gleich am Montag?“

„Genau.“

„Und wir kommen nicht zu spät?“

„Wird schon nicht so dramatisch sein.“

„Dann bin ich beruhigt. Eine gute Heimfahrt wünsche ich Ihnen.“

„Gleichfalls. Bis dann.“

„Warum hast du mein Handy dabei?“, fragte Gabi, kaum dass das Gerät wieder in Emmerichs Tasche verschwunden war.

„Das … also, weißt du … das war nur so ein Impuls. Ein spontaner Impuls.“

„Quatsch“, sagte Gabi rüde.

„Also schön, ich dachte, ich nehme es mit und rufe mal im Büro an. Nur so, um zu hören, ob alles in Ordnung ist.“

„Es warst aber nicht du, der angerufen hat.“

„Nein. Das war … äh … Frau Kerner. Hauptkommissarin Brigitte Kerner.“

„Was wollte sie?“

„Mir sagen, dass sie im Urlaub ist.“

„Unsinn.“ Gabi sah ausgesprochen unerfreut drein. „Warum sollte sie das tun? Da steckt etwas anderes dahinter. Wir sind uns doch einig, was den Unterschied zwischen deiner Arbeit und unserem Urlaub betrifft?“

„Spatz, bitte. Der Urlaub ist schon fast vorbei.“

„Aber nur fast. Ich will jetzt nicht an einen deiner Fälle denken müssen.“

„Musst du nicht.“

„Ich will heute Abend in Ruhe essen gehen.“

„Können wir doch.“

„Und morgen gemütlich nach Hause fahren.“

„Werden wir machen.“

„Okay“, sagte Gabi und wirkte wieder etwas gelassener. „Dann gehen wir jetzt zurück und packen.“

Ohne Hast schlenderten sie zum Auto, wo Emmerich den Beifahrersitz einnahm. Er war längst kein passionierter Fahrer mehr, genoss auf dem Rückweg den Blick über die Landschaft und ließ sich bei heruntergelassenem Fenster die frische Luft, von der er im Stuttgarter Kessel nur träumen konnte, um die Nase wehen.

„Schon grandios, das Watzmann-Massiv, wenn das Wetter mal schön ist“, bemerkte Gabi, als sie das Salzbergwerk passiert hatten und vor dem Kreisverkehr am Berchtesgadener Bahnhof an einer roten Ampel hielten.

„Ja, Spatz“, entgegnete Emmerich schläfrig, das vertraute Vibrieren in der Hosentasche spürend. „Ich muss noch mal, tut mir leid.“

„Wir haben die Eltern gefunden“, sagte Mirko Frenzel zufrieden. „Roswitha und Dieter Tröge aus Donaueschingen. Sie kommen am Montagvormittag ins Präsidium, ich hole sie vom Bahnhof ab. Ist dir das recht?“

„Aber ja.“

„Die Kopien habe ich fertig.“

„Prima.“

„Kannst du wieder nicht reden?“

„Du sagst es.“

„Dann rufe ich dich morgen Abend an.“

„Gute Idee.“

„Das ist die Höhe“, erklärte Gabi bissig, während sie den Kreisverkehr umrundete und rechts Richtung Königssee abbog. „Nicht einmal in Bayern hat man seine Ruhe.“

***