Undercover
Die Kultur der Denunziation in den USA
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Denunziationen unterliegen auch in den USA einem moralischen Tabu. Sie gelten als geradezu unamerikanisch. Trotzdem war und ist die Denunziation allgegenwärtig, sie wurde verübt und bewertet, sie wurde verachtet oder als patriotische Pflicht gewürdigt. Olaf Stieglitz schildert, welche Rolle Überwachung und Spitzeltum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts spielten und wie das jeweilige System der Denunziation organisiert wurde: ob beim Kampf gegen sexuelle Ausschweifungen oder organisierte Kriminalität, gegen politische Bewegungen oder den Terrorismus, ob für das FBI oder für Politiker wie den Senator Joseph McCarthy.
Damit öffnet sich der Blick auf ein tief in der US-amerikanischen Kultur verankertes Charakteristikum: die Angst vor inneren und äußeren Feinden und die Verpflichtung, die Gesellschaft vor diesen Feinden zu schützen. Erst aus dieser Geschichte heraus wird nachvollziehbar, warum heute der »Krieg gegen den Terror« weder vor der Aushöhlung der Verfassung und der Menschenrechte noch vor der Einspannung des Einzelnen in die Sorge um die innere Sicherheit haltmacht.
Über den Autor
Olaf Stieglitz ist Privatdozent am Historischen Institut der Universität zu Köln, im Wintersemester 2012/2013 vertritt er die Professur für Nordamerikanische Geschichte an der FU Berlin. Bei Campus erschien von ihm in der Reihe »Historische Einführungen« der Band »Geschichte der Männlichkeiten« (zusammen mit Jürgen Martschukat), ausgezeichnet 2009 als Historisches Lehrbuch des Jahres bei H-Soz-u-Kult (2. Platz).
Einleitung: Die Kultur der Denunziation in den modernen USA
Das Tabu der Denunziation in den USA
Historische Denunziationsforschung in Europa und den USA
Zum Aufbau des Buches
1. Denunziatorisches Reden und Handeln – Ein Perspektivwechsel in der historischen Denunziationsforschung
Denunziation und ihre Thematisierung in den Cultural Studies
»Das ganze zweifelhafte Gemurmel …« – Das Denunzieren im Denken Michel Foucaults
Denunziatorische Praktiken – Sprechakttheorie, Performanz und Ritual
Denunziatorische Texte – Die Quellen und ihr Vokabular
2. Informants & Undercover Agents – Die Strafverfolgungsinstanzen und ihre vertraulichen Quellen
Judicial Control – Der changierende Entwurf des Informanten im juristischen Diskurs
Our Most Valuable Tool – Polizei, Polizeiwissenschaften und die Figur des Denunzianten
G-Men – Der Sonderfall des FBI
3. Moral Guardians & their Informers – Krisen, Kriege und die Aufforderung zur Verteidigung Amerikas
Surveilling Vice – Moral und Sexualität als Objekte denunziatorischen Handelns
Watchdogs – Patriotische Organisationen, ›der Staat‹ und die Überwachung von Alien Enemies im Ersten Weltkrieg
4. Friendly Witnesses – McCarthyism und das dichte Geflecht der denunziatorischen Rede im frühen Kalten Krieg
Containment at Home – Denunziation und Familie
Confessional Theatre – Denunziation und der Ausschuss
Personal Reflections – Autobiografische Strategien im Umgang mit Denunziation 7
5. Finks & Stool Pigeons – Das Denunzieren in Wahrnehmung und Erinnerung
Agents Provocateurs – Die Figur des Denunzianten in der Erinnerung von Mitgliedern der Black Panther Party
Rats – Das Denunzieren und das Gefängnis
Labor Spies – Die Figur des Denunzianten in der Kultur der US-Arbeiterbewegung
6. Stop Snitchin’ – Vorläufiges zur Figur des Denunzianten in den USA
Telling on the Next Man – Die Popkultur des Snitchin’ zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Whistleblowers – Transparenz in Wirtschaft und Politik
Patriots Acting – Debatten um das Denunzieren in den USA, post-9/11
Anmerkungen
Dank
Quellen und Literatur
Archivmaterialien
Gedruckte Quellen und Sekundärliteratur
Filme
Register
Die Menschen, so soll Julius Caesar gesagt haben, lieben den Verrat, aber sie verachten den Verräter. In dieser Annahme einer Ambivalenz von Neugier, Interesse und emotionaler Zustimmung einerseits sowie Ablehnung, Personifizierung und Abscheu andererseits liegt vielleicht einer der Gründe, warum über das Denunzieren als einer spezifischen, sehr persönlichen, sehr ›nahen‹ Form des Verrats so gern und ausführlich Geschichten erzählt werden. Die Nähe ist es, die das beste, umfassendste, vertraulichste Wissen schafft, das verraten werden könnte. So hat auch die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn bemerkt: »Nur als Freund kann der Verräter zum Feind werden; nur als Freund trifft er den empfindlichsten Punkt und hat er das sorgsam gehütete Wissen.«1 Doch ist dieses offenbarte Wissen selten eindeutig. Gerade weil es dem Verborgenen entrissen werden soll, bedarf es einer Erzählung, die Sinn und Plausibilität stiftet. So entstandene Geschichten, das fällt auf, drehen sich zumeist ganz wesentlich um die Figur des Denunzianten oder der Denunziantin selbst, dieser augenscheinlich ebenso faszinierenden wie abstoßenden Person. Neben dem Wissen stehen mithin häufig Motivation und Rechtfertigung im Zentrum des Interesses, nicht selten geht es auch darum, die Handlungsweisen einer Person zu charakterisieren – als falsch oder richtig, als Denunziation oder aber als etwas anderes, weniger Anstößiges, weniger Niederträchtiges, womöglich gar Ehrenhaftes. Derlei Erzählungen lassen sich für die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika während des 20. Jahrhunderts leicht identifizieren.
So zum Beispiel die Erzählung über Linda Tripp. Während der 1990er Jahre arbeitete sie als Büroangestellte und Public-Relations-Fachkraft für mehrere Dienststellen der US-Bundesregierung in Washington, D.C.; 1996 für das Pentagon. Dort lernte die zu diesem Zeitpunkt 48-Jährige eine junge Kollegin kennen, die gerade vom Weißen Haus in das Verteidigungsministerium gewechselt war. Die beiden Frauen wurden Freundinnen, und die junge Kollegin erzählte Tripp unter dem Vorbehalt der Verschwiegenheit auch einige private Dinge, so etwa über ihre Liebesbeziehung zu einem hochrangigen Vorgesetzten im Weißen Haus. Irgendwann begann Linda Tripp damit, Notizen dieser Gespräche anzufertigen, und nicht viel später, im Herbst 1997, nahm sie Telefonate mit dieser Freundin auf Band auf. Über ihre Motive wurde später ausgiebig spekuliert, von Geltungssucht war die Rede, ebenso von Geld oder von juristischem Druck, dem sie ausgesetzt gewesen sei. Aber auch Verantwortungsbewusstsein sowie Patriotismus wurden als mögliche Gründe angeführt, denn gegen besagten Vorgesetzten liefen zu dieser Zeit umfangreiche Untersuchungen wegen Korruptionsverdachts. Sicher ist indes, dass Tripp ihre Aufzeichnungen Anfang 1998 den in dieser Sache ermittelnden Behörden und Ausschüssen zur Verfügung stellte und diesen kurz danach sogar die Gelegenheit gab, ein Gespräch der beiden Frauen über das prekäre Thema mitzuhören. Die Untersuchungsinstanzen machten ihre Erkenntnisse rasch publik, und aus einer privaten Affäre war ein politischer Skandal geworden, der die USA (und den Rest der Welt) über Monate beschäftigen sollte – begierig, immer neue, schmutzige Details zu erfahren, doch stets verbunden mit einer Geringschätzung der vorgeblichen Denunziantin und ihre Komplizen. Die junge Kollegin übrigens, deren Vertrauen Linda Tripp täuschte, hieß Monica Lewinsky und ihr Vorgesetzter war Bill Clinton, der Präsident der Vereinigten Staaten.2
Denunziantinnen und Denunzianten hintergehen, so das gängige Urteil, Vertrauensverhältnisse, üben Verrat trotz scheinbar enger Bande von Loyalität, zersetzen Familienverbände, Freundschaften, berufliche Kollegialität und politische Solidarität. Wie stark und mächtig allein der Vorwurf des Verrats wirken kann, das vermag eine andere Begebenheit zu verdeutlichen. William Albertson war Kommunist aus Überzeugung, ein angesehenes Mitglied der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten (CPUSA) und in der Spitze ihrer New Yorker Vertretung. 1953, auf dem Höhepunkt der Welle antikommunistischer Repression, die man McCarthyism nennt, wurde er zu 60 Tagen Gefängnis wegen Missachtung des Gerichts verurteilt, denn er hatte sich geweigert, in einem Gerichtsverfahren die Namen weiterer Parteimitglieder zu nennen. William Albertson war standhaft geblieben, er hatte sich dem seinerzeit so oft geforderten Charaktertest des Verrats verweigert. Dennoch, im Juli 1964 konnte man in der Parteizeitung The Worker über ihn lesen:
»Gefühllos und in boshafter Absicht verletzte er das in ihn gesetzte Vertrauen und spielte die Rolle eines Spitzels und Verräters gegenüber seinen Genossen, seinen Freunden, Frauen und Männern, allesamt überzeugte Verfechter von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit.
Albertson führte ein Doppelleben, das er dem Verrat gewidmet hatte – er gab sich als überzeugter Verteidiger der Interessen der Arbeiter, während er sie in Wahrheit heimtückisch betrog. Die Kommunistische Partei des Staates New York hat ihn aus ihren Reihen ausgeschlossen.«3
Was war geschehen? Einige Zeit vor dem Parteiausschluss Albertsons hatten Genossen ein Dokument entdeckt, offenbar in seiner Handschrift verfasst und mit ›Bill‹ unterzeichnet, bei dem es sich in den Augen der Parteifunktionäre eindeutig um den Bericht eines Informanten an das Federal Bureau of Investigation (FBI) handelte. Der Beschuldigte beteuerte vor den Parteigremien immer wieder seine Unschuld, auch noch nach seinem Ausschluss und bis zu seinem Tod im Jahr 1972. Er selbst und seine Familie verloren jede Unterstützung aus den ›linken Kreisen‹ New Yorks, in denen sie sich immer bewegt hatten.
Doch 1975, also drei Jahre nach Albertsons Tod, tauchte Material des FBI auf, welches ein gänzlich anderes Licht auf die Angelegenheit warf. In einem Bericht aus dem Jahr 1965 war zu lesen, es sei den Methoden und Bemühungen der lokalen FBI-Agenten geschuldet, dass kurz zuvor ein besonders aktives, führendes Mitglied der CPUSA durch ein Parteiverfahren ausgeschlossen worden sei. William Albertson war also gar kein Informant gewesen, sondern Opfer einer Unterwanderungstaktik, eines verdeckt, undercover ermittelnden Agenten, der falsche Beweise produzierte, um eine Person innerhalb der observierten Gruppe als Spitzel zu verleumden.4
Denunziationen sind also nicht allein eine Bedrohung für vertrauensvolle Beziehungen, sondern auch eine gefährliche und vielfältig einsetzbare Waffe. Um sie als solche wirksam werden zu lassen, ist der Vorwurf oder der bloße Verdacht mitunter ebenso bedeutsam wie die Anzeige selbst. Doch bleibt die Denunziation auch eine sehr heikle Handlung, denn sie erfordert eine kluge Einschätzung von ›Angebot und Nachfrage‹ und kann sich nicht selten auch gegen die Person wenden, die sie benutzt. Der denunziatorische Akt richtet sich an eine Autorität, an eine Institution, deren Sanktionsmacht in Anspruch genommen werden soll. Die Kenntnis darüber, welche Interessen diese Autorität zum Zeitpunkt der Klage verfolgt, ist für deren Verlauf und ›Erfolg‹ von einiger Bedeutung. Dies zeigt folgende kurze Geschichte.
Im Juni 1915 betrat ein junger Mann die Außenstelle des Bureau of Investigation (so der Name des FBI bis in die 1930er Jahre hinein) in Spokane im Bundesstaat Washington, um seine Partnerin wegen eines Vergehens gegen den White Slave Traffic Act (oder Mann Act) anzuzeigen. Dieses Bundesgesetz aus dem Jahre 1910 stellte es unter Strafe, Frauen und Mädchen zum Zwecke der Prostitution oder anderer unmoralischer Absichten über die Grenzen der Einzelstaaten zu bringen und begegnete so einer weit verbreiteten Angst vor der so genannten white slavery, die als eine elementare Bedrohung der Grundfeste der Vereinigten Staaten angesehen wurde. Die sehr allgemeine und uneindeutige Formulierung des Gesetzes erlaubte es, Sexualität und Moral bei anderen in den Blick zu nehmen, und im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Aufregung konnte es zur Anzeige von abweichendem Verhalten stimulieren. Man musste das Gesetz noch nicht einmal verstehen: Seine Partnerin, so notierte der Polizeiagent in Spokane die Aussage des jungen Mannes, habe ihn betrogen, und zwar mit »einer sexuellen Beziehung zu ihrem Vater«. Hierauf musste der Denunziant freilich erfahren, dass dies sicher unmoralisch sei und auch gegen die Gesetze des Staates Washington verstoße, aber keineswegs unter den Mann Act und somit auch nicht in die Zuständigkeit des Bureaus falle. Die Anzeige ging fehl, zumindest war sie falsch adressiert. Interessant für den Bundespolizisten war ein anderer Umstand, nämlich die Tatsache, dass der junge Mann erst kürzlich mit seiner Freundin aus dem angrenzenden Idaho nach Washington gekommen war – und dies konnte man sehr wohl als einen Akt von white slavery betrachten. Doch blieb dem offenbar betrogenen Liebhaber diese komplette Wendung seiner Denunziation/Anzeige erspart.5
Der Journalist und Publizist Victor Navasky verfasste vor einigen Jahren eine umfangreiche Studie über die Anhörungen des House Committee on Un-American Activities (gemeinhin HUAC abgekürzt) zum Einfluss des Kommunismus in Hollywoods Filmindustrie zu Anfang der 1950er Jahre. Darin stellte er fest: »Playing the informer runs against the American grain«.6 Wie scheinbar überall und zu jeder Zeit, zumindest in der jüdisch-christlichen Kultur des ›Westens‹, unterliegt die als Denunziation begriffene Form des Verrats auch in den USA einem hoch aufgeladenen, moralischen Tabu. Während dem Spion noch so etwas wie eine dem Krieg geschuldete Berechtigung zugesprochen und diese Figur ja auch immer wieder verklärt und glorifiziert wird, ist die Denunziation negativ besetzt. Die Anzeige gegen einen Freund oder ein Familienmitglied, gegen einen Menschen, zu dem man ein enges Band von Loyalität unterhält, ›gehört sich nicht‹ und ist selbst dann noch anrüchig, wenn sie berechtigt oder notwendig scheint. »Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant« – Hoffmann von Fallerslebens Ausspruch aus dem Vormärz verweist auf die negativen Assoziationen, die seinerzeit und noch heute Kulturen übergreifend mit Spitzeln und Denunzianten verbunden werden. Und der Satz des Schriftstellers E. M. Forster: »If I had to choose between betraying my country and betraying my friend, I hope I should have the guts to betray my country«, unterstreicht diese Einschätzung nicht nur, sondern führt darüber hinaus unterschiedliche Ebenen von Loyalität ein, die miteinander in Konflikt treten können.7 Diese pejorative Bedeutungsdimension bezieht sich auf eine weit zurückreichende und tiefwirkende kulturelle Tradition, in der um die Unterscheidung zwischen einer legitimen Anzeige als staatsbürgerlicher Pflicht und einer verwerflichen, womöglich aus einer bestimmten Gesinnung heraus motivierten Denunziation gestritten wurde und wird. Dabei spielt der Verweis auf die Gestalt des Judas Ischariot und dessen ›Ur-Verrat‹ an Jesus von Nazareth eine beständig wiederkehrende Rolle.8
Ihm wird im Kontext der Vereinigten Staaten eine weitere Figur und ein weiterer ›Ur-Moment‹ zur Seite gestellt: Benedict Arnold, ein Offizier der Kontinentalarmee während der Amerikanischen Revolution, der sein Wissen 1780 an den britischen Feind verraten wollte und seitdem wie selbstverständlich als Referenz für die scheinbar unleugbare Niedertracht des Verrats benutzt wird. In seiner Person und seiner Geschichte verbindet sich ein beinahe anthropologisiertes Tabu mit der Herleitung einer besonderen angelsächsischen Tradition des politischen Widerstands in den USA. Seit Arnold gilt der Verrat nicht nur als miltärischer Schaden, sondern als undemokratisch und im Nachklang der revolutionären Loslösung von der britischen Krone als geradezu unamerikanisch. Die Vorstellung, es gäbe ein nationales Band der Loyalität, machte aus diesem Landesverrat eine Denunziation am Kollektiv. Der Rückbezug auf eine tief verwurzelte antidenunziatorische Tradition in den USA prägt viele Kommentare, und zwar im gesamten politischen Spektrum. So erscheinen etwa die Alien and Sedition Acts unter Präsident John Adams Ende des 18. Jahrhunderts vielen Autorinnen und Autoren als ein erster manipulativer Versuch, diesen Konsens aufzuweichen und die politisch motivierte oder unmoralische Anzeige zu rechtfertigen und zu etablieren. Ihnen seien im weiteren Verlauf der Nationalgeschichte zahlreiche Gesetze und Maßnahmen gefolgt, in denen sich die Autoritäten an der antidenunziatorischen Tradition versündigten: die Institution der Sklaverei insgesamt und mit ihr die Überwachung einer ganzen Bevölkerungsgruppe, oder Abraham Lincolns Aussetzung der Habeas Corpus-Regelung während des Bürgerkriegs, oder auch das einer demokratischen Kontrolle oftmals entzogene FBI und dessen scheinbar allgegenwärtiges Netz von Informanten – die Liste ließe sich um ein Vielfaches ergänzen, und auf ihr rücken der Undercover-Agent und der Denunziant ganz eng zusammen.9
Der Verweis auf eine antidenunziatorische und folglich wesentlich demokratische Tradition findet sich aber in gleicher Weise in den zahlreichen Stellungnahmen etwa von Seiten sehr konservativer, sehr patriotischer Gruppen. Ihnen ist daran gelegen, den Akt der Denunziation zum Merkmal des politischen Gegners oder des kulturellen Anderen zu erklären; die Figur des Denunzianten wird zur Personifizierung des Feindes. Auch diese Version der gleichen Erzählung beginnt mit Benedict Arnold, seinem Überlaufen zur despotischen, inzwischen ›fremden‹ britischen Krone und dem Geld, das er für seine (erfolglosen) Dienste erhalten haben soll. Denunziation und Verrat werden zu einem bestimmenden Merkmal der Feindschaft, der Fremdheit, und das Denunzieren wird immer wieder zum Charakteristikum des notwendigen Anderen. Dabei werden die Strukturen und Pathologien der eigenen Gesellschaft auf diesen Anderen projiziert. Die Denunziation wird so als unamerikanisch charakterisiert.10
Es darf sie nicht geben, und dennoch: Die Denunziation ist in aller Munde, sie wird ausgesprochen und verübt, über sie wird geredet, sie wird eingeschätzt und bewertet, sie wird verachtet oder auch als patriotische Pflicht gewürdigt – dies zeigen unter anderem die beinahe 500 Seiten in Navaskys Buch über das HUAC, dies unterstreichen die Vorwürfe, die zahlreiche Autorinnen und Autoren an das FBI, ›die Regierung‹, ihre Agenten und andere Instanzen richten, dies verdeutlichen die drei kurzen und eher zufällig ausgewählten Geschichten, die dieser Einleitung voranstehen. Denunziationen sind unamerikanisch, doch sie finden sich in Justiz- und Strafverfolgungsakten, sie werden in Lehrbüchern und Zeitschriften der Rechtswissenschaften wie der Kriminologie diskutiert, man thematisiert sie in Leitfäden zum richtigen Staatsbürgertum und in Schulbüchern, sie sind vielfältig repräsentiert in fiktionalen Texten und Filmen. Sie gehören in den Kern des modernen US-amerikanischen Gemeinwesens. Dieser scheinbare Widerspruch ist es auch, der das Anfangsinteresse meiner Studie ausmacht und begründet: Wenn aber die Denunziation ein Tabu ist, warum ist sie so präsent in der Kultur der Vereinigten Staaten?
Dieses Buch widmet sich den vielfältigen und widersprüchlichen Formen und Wirkungsweisen von Denunziationen in der Geschichte der USA im 20. Jahrhundert. Denunziationen wurden in den letzten Jahren sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch als Erscheinungsform des sozialen Lebens verstärkt diskutiert. Zu diesem gesteigerten Interesse führten vor allem zwei Ereignisse: erstens der Zusammenbruch des real existierenden Staatssozialismus in Osteuropa und mit ihm die Möglichkeit, wesentlich auf Bespitzelung bauende Gesellschaften auch historisch zu untersuchen, sowie zweitens die Anschläge auf die Vereinigten Staaten vom 11. September 2001 und deren Folgen, welche die Auseinandersetzungen darüber, in welches Verhältnis Sicherheit und Bürgerrechte zueinander zu setzen sind, weltweit intensiviert haben. An diese Debatten schließe ich an und frage nach der historischen Stellung des Denunzierens und der Figur des Denunzianten innerhalb der Kultur der Vereinigten Staaten.
Warum beschränke ich meine Studie auf die Zeit von etwa 1880 bis in die jüngere Vergangenheit hinein? Verrat und Denunziation erscheinen auf den ersten Blick als überzeitlich wirksam und relevant, gleichsam als anthropologische Konstante. Und wie die bereits erwähnten Beispiele – Arnolds Überlaufen, die Aufregung um die Alien and Sedition Acts, das Kontrollsystem der Sklaverei mit seinen patrols und wanted-ads in Zeitungen – verdeutlichen, ließe sich das Thema Denunziation ohne weiteres auch für die frühere US-amerikanische Geschichte in den Blick nehmen. Doch scheint dem Verrat und der Denunziation als seiner ›nahen‹ Gestalt in der Moderne eine besondere Tragweite und Bedeutung zuzukommen. Mehr als einmal wurde der Verrat zur Signatur des 20. Jahrhunderts erklärt, welches – umgekehrt formuliert – »als Epoche unklarer und unhaltbarer Loyalitätsbindungen, als Zeitalter des geradezu unausweichlichen Seitenwechsels« charakterisiert wurde.11 Dies war zumeist in einem engeren Sinne auf Politik und Staat gemünzt, doch die ›Flüchtigkeit‹ der Moderne (Zygmunt Bauman) unterläuft gesellschaftliche wie kulturelle Stabilitäten insgesamt und erschwert selbst eine vage Vorstellung von Eindeutigkeit.12 Die Expertendiskurse der neuen Wissenschaften produzierten neue Wahrheiten und mit ihnen neue ›Typen‹ und ›Gestalten‹, die es einzuschätzen und zu ›bereden‹ galt – die Geschichte der Sexualität und darin das outing der ›Perversen‹ bietet eine Fülle von Beispielen für diesen durchaus als denunziatorisch zu bezeichnenden Zusammenhang. Die mehr und mehr die Grenzen des Privaten aufbrechenden Formen von Sozialfürsorge und die dabei produzierten Gutachten und Kontrollmechanismen sind ein weiteres Beispiel. In zunehmend heterogeneren und mobileren Gesellschaften wurden Bande von Gemeinschaft und Loyalität prekärer, solche des Bürgers zum Staat ebenso wie solche privater Natur. In der Konstellation der Moderne – in ihrer Unüberschaubarkeit, Abstraktion und Intransparenz13 und in ihrer beschleunigten Dynamik – liegt einer der Gründe für die gesteigerte Wichtigkeit einer binären Logik des Entweder-oder. Zu dieser schließlich gehört das Phantasma des Verrats ebenso wie Abscheu oder Faszination gegenüber der Figur des Denunzianten.
Zu dieser kulturellen Figuration kommen weitere Aspekte hinzu, die eine Geschichte des Denunzierens im 20. Jahrhundert besonders relevant erscheinen lassen. Hier ist das Entstehen polizeiwissenschaftlicher und kriminologischer Diskurse zu nennen, die für die Ausbildung eines machtvollen Wissens über ›den Denunzianten‹ sehr wichtig waren und sind.14 Begleitend entstehen moderne, bürokratische Polizeiapparate, in denen nicht nur theoretisches Wissen umgesetzt, sondern auch praktisches Wissen produziert und zur kulturellen Bedeutungsstiftung bereitgestellt wird. Dazu gehören auch diejenigen, deren Aufgabe es ist, Staatsfeinde, Sicherheitsrisiken (oder das, was man dafür hält) im Inneren des Gemeinwesens zu entdecken, zu überwachen und zu bekämpfen. Auch das 18. und das 19. Jahrhundert kannten Polizeispitzel, doch sowohl quantitativ wie qualitativ erwuchs der Polizeitaktik der Unterwanderung und der Rolle des Undercover-Agenten seit dem frühen 20. Jahrhundert und insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg ein neuer Stellenwert. Beide Bereiche, die wissenschaftlichen Diskurse wie die Arbeit der verschiedenen Polizeibehörden, sind Teil einer sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert voll entfaltenden gouvernementalen Regierungstechnik. Dabei spielten die verschiedenen Ausgestaltungen der Denunziation eine besondere Rolle, indem sie das Offenlegen (geheimen) Wissens und den Nachweis von Loyalität produktiv aneinander banden. Diese neue Wertigkeit denunziatorischen Handelns im Rahmen liberalen Regierens begründet also auch die hier vorgenommene zeitliche Fokussierung.
Ein weiteres Argument für eine eingehende und konzentrierte Analyse des Denunzierens im 20. Jahrhundert ist die enorm ausgeweitete Relevanz des Visuellen für die Moderne. Parallel zur kulturellen Vieldeutigkeit und Unsicherheit der Epoche entstanden erst mit der Fotografie und dann vor allem mit dem Film Techniken, die Authentizität, Eindeutigkeit und letztlich auch Sicherheit versprachen und suggerierten. Und weil das, was nicht erkennbar ist, gerade eines besonderen Aufwands an Bildgebung bedarf,15 sind das Geheimnis und der Verrat, der Verräter und der Denunziant so oft und so vielfältig in der immensen Bilderproduktion des 20. Jahrhunderts repräsentiert worden. Dies hatte keineswegs allein illustrativen Wert, es war und ist vielmehr wesentlicher Baustein sozio-kultureller Vorstellungen von Sicherheit, vom Selbst wie vom Anderen. Im Anschluss an Michel Foucaults Verknüpfung von Machtkonstellationen mit Vorstellungen über Sichtbarkeit und Sichtbarmachung argumentiere ich, dass dem Sehen, dem Erkennen eine zentrale Bedeutung für den Akt der Denunziation zukommt, dass der Verbildlichung des Anderen bereits ein denunziatorischer Charakter zuzusprechen ist.16
Für die europäische Geschichte liegen umfangreiche Studien zu Denunziationen vor. Mein erstes Ziel ist es, darin entwickelte Fragen auf die Vereinigten Staaten anzuwenden und ihre Hypothesen zu überprüfen. Ich möchte mithin »die Denunziationsforschung interkulturell und intrakulturell […] forcieren«, wie dies Gerhard Paul gefordert hat.17 Eine solche Verschiebung des Untersuchungsraums erscheint umso ertragreicher, als die Geschichte der Vereinigten Staaten einerseits tief und auf vielfache Weise mit europäischen kulturellen Traditionen verbunden ist. Andererseits verhinderte das stabile und akzeptierte politische System der USA mit seiner dezentralen Struktur, namentlich auch in der Strafverfolgung, die Ausbildung einer regelrechten ›Denunziationskultur‹, die für die europäische Geschichte häufig ausgemacht wurde. An die von Navasky getroffene Aussage, Denunziationen gingen den US-Amerikanern ›gegen den Strich‹, schließt sich die interessante Frage an, wieso und in welcher Weise Denunziationen trotz weit verbreiteter und größerer Skepsis gegenüber staatlichen Autoritäten immer wieder wirkungsmächtig wurden. Welche Rolle spielen gesellschaftlich-kulturelle Verschiebungen und Wandel beim verstärkten Auftauchen solcher Phänomene, wie und wann wird eine Denunziation zur zivilgesellschaftlich wünschenswerten Anzeige umgedeutet und von wem, und welche Bedrohungsszenarien werden dabei wirkungsmächtig? Wie wird gesellschaftlich über Denunziationen geredet? Welche Rolle spielt das Etikett des Denunzierens, die Zuschreibung, bei der Charakterisierung des Anderen? Diese und andere in der europäischen historischen Denunziationsforschung angesprochene Fragen sollen hier mit Blick auf die US-Geschichte erkenntnisleitend sein.
Doch soll es nicht bei diesem etablierten, sozialhistorisch grundierten Rahmen bleiben. Ziel ist darüber hinaus und vor allem eine ausdrückliche kulturhistorische Erweiterung bzw. Verschiebung der Perspektive. Das Denunzieren verstehe ich als einen Akt, der umfassend in den von Michel Foucault angebotenen Begriffen und Konzepten zu verorten ist. Diskurs, Macht, Wissen, das Regieren und das Subjekt – diese zentralen Achsen Foucaultschen Denkens finden einerseits beim Denunzieren eine Verdichtung und ermöglichen es andererseits, denunziatorisches Verhalten in all seinen sehr unterschiedlichen Ausprägungen zu erfassen und zu verstehen. Meine Arbeit ist daher einem diskursanalytischen Vorgehen verpflichtet und setzt den schlichten Befund des Denunzierens sowie ihre Repräsentationsformen an den Anfang der Betrachtung.
Ich begreife das Denunzieren als ein wesentlich uneindeutiges, definitorisch nicht zu reduzierendes Phänomen. Das, was als Denunziation wahrgenommen und verstanden wird, bleibt auf einen weit gesteckten semantischen Rahmen verwiesen, der auch Begriffe von Verrat, Loyalität, Vertrauen, Sicherheit, Kontrolle, Staatsbürgerschaft und weitere mehr umfasst. Als Denunziationen gekennzeichnete Handlungen und Sprechakte sind notwendig in einem weiten Netz von Diskursen und Praktiken verankert, in dem sie Sinn erhalten und in dem Loyalitätsbeziehungen, Stabilität und Ordnung innerhalb eines Gemeinwesens und zwischen seinen verschiedenen Gliedern verhandelt werden. Denunziationen sind also keineswegs nur ›negativ‹, im Sinne von zerstörend und zersetzend. Diese Einschätzung ist ohne Zweifel bedeutsam und unter politischen wie moralischen Gesichtspunkten auch aufrechtzuerhalten. Doch analytisch ist es wichtig, den produktiven Charakter des Denunzierens zu unterstreichen. Welche Bedeutungen, so wäre zu fragen, kommen Denunziationen bei der Konstitution von Normalität und Differenz zu? Welche Rolle spielen sie im Geschlechtersystem, bei der Konstruktion von Männlichkeiten und Weiblichkeiten sowie bei der Wahrnehmung geschlechtlich codierten Handelns? Wie funktionieren Vorstellungen des Denunzierens bzw. des Denunzianten im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Strukturkategorien wie etwa race und class? Wie greift das Denunziatorische ein in Auseinandersetzungen um Ressourcen und Hegemonie? Wie strukturiert die Figur des Denunzianten, die tatsächliche oder imaginierte Anwesenheit eines undercover tätigen Menschens, die Erinnerung der Betroffenen? Wie, um es zusammenfassend mit Michel Foucault zu formulieren, wirken Denunziationen und ihre Repräsentationen als Wissens-, Macht- und Subjektivierungsstrategien?
Ein weiterer Fragenkomplex kreist um die Rolle des Denunzierens bei der Regierung des US-amerikanischen Gemeinwesens – wie wird durch das Denunzieren und mit ihm regiert? Begreift man Regierung in einem umfassenden Sinne, wie wird der denunziatorische Akt, das Tabu, zu einer gewollten oder gar wahrscheinlichen Handlung? Wann und auf welche Weise wird die Denunziation zur Regierungstechnik, wann und auf welche Art wird sie als Technologie des Selbst verinnerlicht? Wie entsteht die Figur des Denunzianten als Subjektposition, wie diejenigen des Verweigeres, des Opfers, des Staatsbürgers? Wann, unter welchen Voraussetzungen und auf welche Weise gelingt es, Denunziationen als staatsbürgerlich korrektes Handeln und Reden wahrscheinlich werden zu lassen? Und dies alles im Rahmen einer liberalen Demokratie, in der Fragen nach Aneignung und Machtausübung anders als in diktatorischen Systemen zu stellen sind.
Denunziationen sind etwa seit Ende der 1980er Jahre als Gegenstand der Geschichtswissenschaft systematisch thematisiert worden. Dabei haben sich mit Blick auf die europäische Geschichte drei Forschungsschwerpunkte herausgebildet. Studien zu vormodernen Gesellschaften thematisieren denunziatorisches Handeln unter anderem im Zusammenhang kirchenrechtlicher Fragen von Ketzerei und Häresie.18 Methoden der Historischen Anthropologie werden von Historikerinnen und Historikern nutzbar gemacht, um etwa Aspekte der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen neu zu konzeptionalisieren; dabei wird analysiert, wie nah Denunziationen, Gerüchte oder scheinbar absichtloses Gerede beieinander liegen und wie die Verfolgungen in lokale Alltagspraktiken eingebunden sind.19
Als ein weiterer Schwerpunkt dieser neuen Denunziationsforschung können Arbeiten gelten, die zeitlich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert angesiedelt sind. Um Funktionsweisen von Herrschaft freizulegen, wird untersucht, »wie sich im Zuge von Bespitzelung, Denunziation, Gerede und Gerüchtestreuung neue Vorstellungen von obrigkeitlich erwünschtem Verhalten herausbildeten und wie die Erfahrungen von Spitzeln, Denunzianten und Denunzierten auf politische Handlungen der freiwillig oder unfreiwillig an diesem Szenario beteiligten Menschen zurückwirkten«.20 Es werden mithin Probleme von Loyalität und ihrer Durchsetzung in der Folge von Nationenwerdungsprozessen und dem Aufbau von Polizeiapparaten thematisiert.21 Der Wortgebrauch verliert in dieser Zeit seine vergleichsweise ›neutralen‹ kirchenrechtlichen Implikationen und nimmt nun zunehmend die negative, pejorative und an ungerechtfertigte Verfolgung geknüpfte Aufladung an, mit der er heute im Allgemeinen verbunden wird.22
Schließlich werden Denunziationen, und das ist der dritte Schwerpunkt der neueren Forschung zur europäischen Geschichte, auch und vor allem mit Blick auf diktatorische Systeme des 20. Jahrhunderts betrachtet. Hier hat die gegenwärtige historische Denunziationsforschung auch ihren Anfang genommen, und nicht wenige der konzeptionellen Muster, die auch in Arbeiten zu Themenbereichen vor dem 20. Jahrhundert ihre Verwendung finden, wurden im Kontext der Diktaturenforschung entwickelt. Dabei stand die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland im Mittelpunkt, doch auch Untersuchungen zur stalinistischen Sowjetunion, zu den realsozialistischen Staaten Osteuropas einschließlich der DDR, zur spanischen Franco-Diktatur sowie zu Vichy-Frankreich sind durchgeführt worden.23
Die Forschung zu Denunziationen im Nationalsozialismus ist für meine Studie besonders wichtig, sie sei daher hier zumindest in aller Kürze skizziert. Bedingt durch den sozial- und alltagshistorischen Paradigmenwechsel in der Historiografie zur NS-Geschichte wurden Fragen von Dissens, Akzeptanz sowie Zwang, und damit das Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft, neu buchstabiert. Hiermit wurden nicht zuletzt Denunziationen und ihr Stellenwert für das Funktionieren des Nationalsozialismus interessant.24 In den frühen 1990er Jahren häuften sich dann Beiträge, die in Denunziationen einen wesentlichen Transmissionsriemen zum Funktionieren des NS-Staats erkannten.25 Diesen grundlegenden Arbeiten folgten zahlreiche weitere Studien, welche Denunziationen und diverse mit ihnen verbundene Aspekte von der Peripherie des Interesses in das Zentrum der NS-Forschung rückten. So wurde etwa dem Klischee der Denunziation als ›typisch weibliches Verhalten‹ eine ernsthafte geschlechterhistorische Perspektive entgegengestellt.26 Andere Studien widmeten sich eher bestimmten Maßnahmen und Gesetzen des nationalsozialistischen Staats und beleuchteten deren denunziatorische Auswirkungen, fragten nach den Konsequenzen für einzelne Bevölkerungsgruppen oder stellten rechtshistorische Grundsatzüberlegungen an.27
Insgesamt erwies sich diese forcierte Betrachtung denunziatorischen Verhaltens im nationalsozialistischen Deutschland als fruchtbare Bereicherung der alltags- und sozialhistorischen Forschungslandschaft.28 Einen qualitativen Sprung nahm sie durch Vergleiche, etwa zwischen dem Nationalsozialismus und seinen deutschen Nachfolgestaaten. Dies brachte mehrere vorteilhafte Blickwechsel mit sich. So konnte erstens eine Form des Diktaturenvergleichs vermieden werden, die das Denunzieren und das Bespitzeln zu rasch zu einem allgemeinen Merkmal totalitärer Regime erklärt und somit einer eigentlichen Historisierung und Kontextualisierung entzogen hätte.29 Zweitens wurde die lange zurückgedrängte Frage nach den Kontinuitäten der deutschen Geschichte und damit nach dem Vorkommen von Denunziationen und Überwachung in Demokratien westlichen Musters gestellt.30 Drittens schließlich fand man so Anschluss an die nach der politischen Wende von 1989 ebenso breit wie emotional geführte öffentliche Diskussion in der wiedervereinigten Bundesrepublik über die informellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Auch die gesellschaftlichen wie politischen Konstellationen in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. in der frühen DDR wurden nachgezeichnet.31
In methodischer und theoretischer Hinsicht orientiert sich die europäische sozialhistorische Denunziationsforschung an einem Modell kommunikativer Interaktion zwischen Herrschaft und Gesellschaft, wie es in Anlehnung an Michel Foucaults Entwurf der ›Mikrophysik der Macht‹ insbesondere von Alf Lüdtke für die Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus neu formuliert worden war.32 Denunziationen lassen sich im Anschluss daran sowohl auf ihren Nutzen bei der Befriedigung herrschaftlichen Informationsinteresses als auch als Formen ›kreativer‹ Teilhabe der Beherrschten lesen. Vor diesem Hintergrund entwickelten Robert Gellately und Sheila Fitzpatrick eine Definition des Begriffs Denunziation, der zum Ausgangspunkt zahlreicher weiterer Studien wurde. Sie sahen in solchem Handeln »spontane Kommunikationen individueller Bürger mit dem Staat (oder einer anderen Autorität, wie der Kirche), die Informationen über ein Fehlverhalten anderer Bürger oder Funktionäre enthalten und direkt oder indirekt Sanktionen fordern«.33 Wirksam wurde ein solches Handeln in einer Struktur von Angeboten und Anreizen seitens der Autoritäten, die zur Anzeige aufforderten.34
Diese Geschichtsschreibung zu Denunziationsphänomenen steht bislang in keinem engen Austauschverhältnis zur US-Forschung. Zwar hat sich in den Studien zum 20. Jahrhundert der Verweis auf die antikommunistische Repressionswelle in den USA seit den späten 1940er Jahren fest etabliert, um die Durchsetzung bestimmter Ordnungsvorstellungen mittels zweifelhaften Anzeigeverhaltens auch in Demokratien aufzuzeigen.35 McCarthyism oder auch das HUAC fungieren dabei indes nur als dankbare und akzeptierte Metaphern für eine plausible Erweiterung der Perspektive auf denunziatorisches Verhalten außerhalb von Diktaturen.36
In der Forschung zu Überwachung und Denunziationsphänomenen in den Vereinigten Staaten lassen sich drei miteinander verwobene Felder identifizieren: Erstens existieren Darstellungen zu Entstehung, Ausbildung und Funktionieren eines Systems von polizeilicher und geheimdienstlicher domestic intelligence insgesamt. Sie betonen die Ausformung eines immer umfassenderen Überwachungsstaats und dessen zunehmende Technisierung. Damit hängt zweitens die Geschichte des FBI und der von dieser Institution praktizierten Überwachungs- und Bespitzelungsformen eng zusammen. Viele der Studien in diesem Sektor formulieren einen Standpunkt, der das Bureau zur zentralen Agentur des US-Überwachungsstaats und zu dessen gefährlichstem Vertreter erklärt. Drittens schließlich liegt der zeitliche Schwerpunkt der geschichtswissenschaftlichen Literatur zum Denunzieren in den USA auf den Jahren des McCarthyism sowie dessen Ausläufern in den 1960er und frühen 1970er Jahren.
Die kritische Geschichte der Ausbildung polizeilicher Überwachung und politischer Kontrolle in den Vereinigten Staaten verbindet sich im Wesentlichen mit den Namen einiger einflussreicher Autoren, die dieses Feld mit ihren Arbeiten deutlich geprägt haben und deren Einfluss nach wie vor beträchtlich ist. Dies gilt zunächst für Robert J. Goldstein, dessen Überblicksdarstellung aus dem Jahre 1978 nicht die erste ihrer Art war, heute jedoch als Ausgangsreferenz für weiterführende Studien angesehen werden kann.37 Darin beschrieb Goldstein politische Repression in den USA als einen kontinuierlichen Prozess im Gegensatz zu Annahmen, die sie als – mehr oder weniger häufige, mehr oder weniger regelmäßige – periodische Abweichung von einem grundsätzlich funktionierenden, liberalen politischen System ansahen.38 Den Einsatz von informers, infiltrators oder agents provocateurs betrachtete der Autor dabei als zentrales Instrument, dem er immer wieder seine Aufmerksamkeit widmete.
Frank Donners Buch The Age of Surveillance bot gleichfalls eine breite Gesamtschau über staatliche Kontrolle als wesentliche Regierungsform;39 seine Schilderungen dokumentierte er sehr umfassend mit Quellen. Darüber hinaus verortete Donner das System der Überwachung politischer Dissidenz in den USA historisch eng in der politischen Kultur des Landes und bot somit eine Erklärung, die an spätere kulturhistorische Überlegungen anschlussfähig war. Im Hinblick auf Denunziationen widmete sich auch Donner nicht so sehr dem casual informant oder dem tipster, sondern orientierte sich eher am Modell des Undercover-Agenten. Insgesamt wies er dem Phänomen eine zentrale Rolle in seiner Vorstellung von politischer Überwachung zu, gerade im Zusammenhang mit dem FBI.40 1990 legte Donner eine weitere wichtige Studie vor, die den Fokus seiner Betrachtungen sowohl regional als auch institutionell zuspitzte. Protectors of Privilege widmete sich den Aktivitäten von so genannten Red Squads in den Polizeibehörden einiger ausgewählter Großstädte.41 Donner konnte zeigen, wie Undercover-Polizeiarbeit gegen ›Subversive‹ in den einzelnen Dienststellen organisiert und praktiziert wurde.
Ebenfalls seit den 1970er Jahren beschäftigt sich der Soziologe Gary Marx mit verdeckter Polizeiarbeit.42 Marx benutzte Akten von Polizeibehörden ebenso wie Parlamentsberichte und Interviews, um in erster Linie Fragen nach ethischer Zulässigkeit und demokratischer Kontrolle zu beantworten. Seitdem sind seine Thesen immer wieder intensiv debattiert und in eine international vergleichende Perspektive integriert worden.43 Interessant an den Arbeiten von Marx sowie an Donners Betonung lokaler Polizeidienststellen ist nicht zuletzt, dass sie einen wichtigen Kontrapunkt zur großen Fülle an Literatur bieten, die sich dem FBI als bedeutendstem Akteur auf dem Feld der domestic intelligence widmen. Diese Wertung hat aber ohne Frage ihre Berechtigung, und es sind namentlich die zahlreichen Arbeiten von Athan Theoharis, welche Ausmaß und Umsetzung der Überwachungstätigkeiten des Bureaus immer wieder deutlich machten. Seine Bücher gehörten zu den ersten, die in größerem Umfang Dokumente des FBI verwenden konnten, die durch Gesetzesänderungen im Kongress zur Verwendung frei gegeben wurden.44 Seitdem hat der Autor sich allen wichtigen Aspekten der FBI-Geschichte zugewandt, so auch dem Einsatz von freiwilligen wie verpflichteten Denunziantinnen und Denunzianten.45 Die kürzlich veröffentlichte, populäre Gesamtdarstellung des Bureaus durch den New York Times-Journalisten Tim Weiner verdeutlicht die Dichte des inzwischen zur Verfügung stehenden Quellenmaterials, das er darüber hinaus um Interviews erweitert, die insbesondere für die 1970er Jahre sehr aufschlussreich sind.46
Die antikommunistische Periode des McCarthyism ist der bedeutendste Zeitraum der US-Geschichte, für den die Denunziation historisch beleuchtet wurde. Dabei konzentrieren sich die Studien vor allem auf öffentliche Aussagen von ›freundlichen Zeugen‹ vor den unterschiedlichen Ausschüssen und Gerichten, also auf hochgradig institutionalisierte und formalisierte Verfahren. Hierzu liegen seit langem zahlreiche, zumeist aus einer Opferperspektive heraus argumentierende Texte vor, die sich vor allem darum bemühen, möglichst viele und möglichst prominente Täterinnen und Täter bekannt zu machen. Die ausführlichste Darstellung zu diesem Komplex stellt das bereits angesprochene Buch von Victor Navasky dar, das eine umfassende Diskussion der HUAC-Untersuchungen zum kommunistischen Einfluss in der Filmindustrie bietet. Mit seiner Formulierung vom informer principle drückt Navasky aus, dass die gesamte Epoche auf Denunziation gestützt war.47 Große Aufmerksamkeit ist jenen Personen zuteil geworden, die als so genannte ›professionelle Zeugen‹ in Gerichtsverfahren und Ausschussanhörungen immer wieder auftraten und damit zeitweise ihren Lebensunterhalt verdienten.48 Ein vergleichbares Interesse ist auch dem Spionage-Fall um den Regierungsbeamten Alger Hiss zuteil geworden, wobei der ›Denunziant‹ Whittaker Chambers – Time-Chefredakteur und selbst ehemaliger Kommunist – aufgrund seiner Rechtfertigungsschrift Witness eine besonders schillernde Rolle spielt. Diese und weitere Arbeiten zum McCarthyism identifizieren ein ausgeprägtes System organisierter Denunziation. Es war durch ein Netzwerk unterschiedlicher Protagonisten und Institutionen entstanden und schränkte Ausmaß wie Umfang möglicher politischer Partizipation ein. Außerdem sanktionierte es (zumeist zeitlich zurückliegendes) Fehlverhalten juristisch, ökonomisch oder sozial.49
Das Ausmaß freiwilliger und spontaner Denunziationen der McCarthy-Ära ist bislang noch nicht systematisch untersucht worden, zumal wenn man als mögliche Adressaten nicht allein die Bundespolizei bzw. die Untersuchungsausschüsse, sondern auch andere behördliche und private Instanzen mit berücksichtigt. Die scheinbare Allmacht des FBI sowie eine verkürzte Sicht auf spektakuläre Fälle und prominente Namen haben eine Geschichte denunziatorischer Praktiken, die insgesamt in den McCarthy-Jahren zu finden waren, bislang behindert.50
Im Folgenden wird es weniger um konkrete Fälle von Denunziation oder darum gehen, aufregende neue Indizien zu finden, mit denen weitere Täter oder Opfer zu benennen wären. Mein Anliegen zielt weder auf Enthüllung noch auf Apologie. Im Sinne der Neuen Kulturgeschichte frage ich weniger nach ›den Dingen an sich‹, sondern nach den Bedeutungen, die diese Dinge erhalten, sie tragen und reproduzieren und somit erst wahrnehmbar machen. Es geht hier also nicht um die Geschichte eines moralischen ›Werteverfalls‹, der sich in einem zunehmend undemokratischeren Überwachungsstaat manifestiert, und ebenso wenig um die ›Erfolgsgeschichte‹ beständigen Widerstands gegen Bespitzelung und Repression. Ich will zeigen, wie der Begriff und die Vorstellung vom Denunzieren und die Figur des Denunzianten kreiert, mit Sinn besetzt, verhandelt, umkämpft und repräsentiert worden sind; es geht also darum, historisch-kulturelle Wirkungsweisen zu analysieren.
Daher wird zunächst ein kulturwissenschaftlicher Theorie- und Methodenrahmen aufgezeigt, der die sozialhistorische Denunziationsforschung erweitert und einen Perspektivenwechsel vorschlägt. Dieses Kapitel ist etwas komplexer angelegt – Leserinnen und Leser, die weniger Wert auf die theoretischen Fragen legen, können direkt beim zweiten Kapitel in die Lektüre einsteigen.
Das zweite Kapitel markiert dann den Einstieg in die inhaltliche Auseinandersetzung. In den Fokus kommen an erster Stelle die Strafverfolgungsinstanzen und ihre ›vertraulichen Quellen‹, also die Arbeit von Justiz und Polizeibehörden. Ein erster Teil des Kapitels widmet sich den widersprüchlichen und changierenden Diskursen aus Rechtswissenschaft und Kriminologie, in denen ›theoretisch‹ über das Denunzieren und die Figur des Denunzianten geredet wird. Diese Vorstellungen und Entwürfe dessen, was als Denunziation (und was als legitime Anzeige) wahrgenommen und bestimmt wird, werden in einem weiteren Schritt mit polizeiwissenschaftlichen Überlegungen ›konkretisiert‹; es wird also das tatsächliche polizeiliche Eingreifen und Handeln geschildert. Dabei geht es um die Relevanz von Insider-Informationen für Fahndungserfolge, aber auch um Probleme, Pannen und vielfache Konflikte. Schließlich gerät mit der Polizeiarbeit selbst auch der Sonderfall des FBI in das Blickfeld, dem sich der letzte Teil dieses Kapitels zuwenden wird.
Im nächsten Kapitel werden einzelne Kriegs- und Krisenmomente der US-Geschichte im beginnenden 20. Jahrhundert thematisiert und dargelegt, inwieweit sie markante Momente zur Aktualisierung und Dynamisierung denunziatorischer Rede und denunziatorischen Handelns darstellten. Dabei widmet sich ein erster Abschnitt der moral panic rund um die so genannte white slavery zu Beginn des Jahrhunderts; Moral und Sexualität als Objekte denunziatorischen Handelns werden hier bedeutsam. Auch Politik und Propaganda vor allem des Ersten Weltkriegs werden thematisiert und dabei die Heimatfrontpropaganda sowie das Auftreten konservativer, patriotischer Organisationen in den Blick genommen.
Ein weiteres Kapitel kreist um den McCarthyism. Dabei wird das Denunzieren auf drei markante Elemente des politischen Gemeinwesens der USA bezogen: Das erste ist der private Raum und dessen kulturelle Repräsentation, die amerikanische Familie, die zu dieser Zeit als von Denunziationen freier Rückzugsort bedroht wird. Das zweite sind die zivilreligiösen Komponenten der amerikanischen politischen Kultur, die durch die rituelle ›Beichte‹ und das ›Glaubensbekenntnis‹ in HUAC-Anhörungen aktualisiert und auch modifiziert wurden. Darüber hinaus wird drittens das außergewöhnliche Auftreten von Rechtfertigungstexten während dieser Zeit angesprochen und damit das Verhältnis von Individuum und Gemeinwesen.
Black Panther Partycompany spies