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Clemens Brentano

Das Märchen
vom Murmeltier

Mit Illustrationen von Fritzi Löw

Herausgegeben und eingeleitet von
Wolfgang Bunzel

 

 

 

 

 

Wolfgang Bunzel

Die erotische Verführerin Loreley als hilfreiche Fee

Clemens Brentanos Märchen vom Murmeltier

Märchen, in denen böse Stiefmütter und neidische Stiefschwestern vorkommen, gibt es viele. Die wohl bekanntesten sind die Geschichten von Aschenbrödel und Frau Holle. Auch in Clemens Brentanos (1778–1842) Märchen vom Murmeltier wird die als „faule Haut“ beschimpfte und deshalb abschätzig „Murmeltier“ genannte Hauptfigur – eine Prinzessin von Burgund, die als Neugeborenes ihrer Mutter geraubt worden ist – von ihren vermeintlichen Angehörigen immer wieder aufs Neue drangsaliert und gequält: Sie muss „waschen, Feuer machen, Stube und Stall kehren, […] die [Schaf-] Herde führen […] und alle Abend den abgesponnenen Rocken und einen ganzen Korb voll Erdbeeren nach Hause bringen“. Hat sie ihre Aufgaben nicht zu voller Zufriedenheit erfüllt, lässt man sie hungern und auf dem bloßen Fußboden schlafen. Dabei ist „Murmeltier“ von ihrem Wesen her grundgütig, altruistisch und obendrein fähig, anderen zu verzeihen. Weil sie einem feenhaften Wesen bei der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit hilft, wird sie reich beschenkt. Dies wiederum erregt den Neid der Verwandten, die sich sofort der fremden Gaben bemächtigen und, von Gier getrieben, sich weitere aneignen wollen, was aber nicht gelingt. Während „Murmeltier“ Zauberutensilien erhält und mit Hilfe von freundlichen Helfern in Gestalt von guten Elementargeistern und hilfsbereiten Tieren alle Aufgaben, die ihr gestellt werden, lösen kann, gelingt das der bösen Schwester nicht, wodurch sie nur noch hasserfüllter und rachsüchtiger wird. Als ein reicher Prinz „Murmeltier“ mit auf sein Schloss nimmt, denken sich Stiefmutter und Stiefschwester eine weitere Intrige aus, bei der das Opfer jedoch durch glücklichen Zufall verschont bleibt und statt dessen die beiden Widersacherinnen den Tod finden.

Das Handlungsgerüst seiner Geschichte entnahm Brentano einer handschriftlichen Sammlung von Texten, welche die Brüder Grimm in seinem Auftrag angelegt hatten. Die Idee, volkstümlich tradierte, märchenhafte Geschichten zusammen zu tragen, war nämlich ursprünglich von ihm und seinem Freund Achim von Arnim ausgegangen, die ihrer unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn (1805 /08) veröffentlichten Anthologie „alter deutscher Lieder“ einen Band mit „alten mündlich überlieferten Sagen und Mährchen“ (FBA 8, S. 348) folgen lassen wollten. Die Studenten Jacob und Wilhelm Grimm erboten sich, bei diesem Vorhaben behilflich zu sein, und begannen ab 1806 damit, Märchen aufzuzeichnen – einige davon in ausführlicher Form, andere nur als kurze Inhaltsexzerpte. Einer dieser Texte war die Geschichte vom Murmeltier, die freilich nicht zum deutschen Volksgut gerechnet werden kann, sondern vielmehr auf einer klar benennbaren literarischen Quelle basiert: der Erzählung Die Wasser-Nymphen oder Wasser-Nixen (Les Nayades) aus dem 1740/41 erstmals erschienenen Feenroman Die junge Amerikanerinn, oder Verkürzung müssiger Stunden auf dem Meere (La jeune Ameriquaine et les contes marins) von Gabrielle-Suzanne Barbot de Villeneuve. Brentano kannte diese Zusammenhänge und bediente sich sowohl der verkürzten Version, die Jacob Grimm sich notiert hatte, als auch der Romanvorlage selbst, die er wahrscheinlich in deutscher Übersetzung benutzte.

Zu einem neuen und eigenständigen Werk wird seine Erzählung aber erst dadurch, dass der Autor darin eine von ihm selbst geschaffene Kunstfigur auftreten lässt: die Loreley. Diese Gestalt begegnet erstmals in dem Roman Godwi (1801), und zwar in einer Ballade, die folgendermaßen beginnt:

Zu Bacharach am Rheine
Wohnt eine Zauberin,
Sie war so schön und feine
Und riß viel Herzen hin.

Und brachte viel zu schanden
Der Männer rings umher,
Aus ihren Liebesbanden
War keine Rettung mehr. (FBA 16, S. 535)

Hier ist die „Lore Lay“ eine verführerische junge Frau, die mit ihrer außerordentlichen Schönheit den Männern – ohne es zu wollen – die Köpfe verdreht, selbst aber, da sie von ihrem Liebsten betrogen worden ist, aus Verzweiflung den Tod sucht. Basierend auf Brentanos Gedicht hat Heinrich Heine dann eine eigene Ballade geschaffen („Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …“), die spätestens nach ihrer sentimentalen Vertonung durch Friedrich Silcher (1837) weltbekannt geworden ist und die Loreley zur Ikone der Rheinromantik werden ließ.

Brentano freilich verändert das Bild der Figur in eine ganz andere Richtung: Stürzt die „Lore Lay“ in der Godwi-Ballade am Ende in den Rhein und hinterlässt nur noch ein Echo:

Und immer hats geklungen
Von dem drei Ritterstein:

Lore Lay
Lore Lay
Lore Lay

Als wären es meiner drei. (FBA 16, S. 539)

begegnet „Frau Lureley“ im Märchen vom Murmeltier als Wasserfräulein, das gemeinsam mit „Frau Echo“ in einem tief im Rhein verborgenen unterirdischen Schloss am Fuß des Lureleyfelsens bei St. Goar wohnt. Anders als die „Lore Lay“ ist sie nicht nur schön, sondern auch „gut“ und „lieb“. Brentano korrigiert also im Märchen nachträglich den Charakter seiner wohl berühmtesten Dichtungsgestalt und nimmt dem Handlungsverlauf seine Tragik.

Einzelheiten über den Werdegang der „Frau Lureley“ erfährt man freilich nur aus der Rahmenerzählung der Märchen vom Rhein, innerhalb der das Märchen vom Murmeltier eine Binnengeschichte ist. Clemens Brentano unterscheidet sich von anderen Verfassern von Kunstmärchen vor allem dadurch, dass er seine wunderbaren Erzählungen stets in zyklischer Form angelegt hat. So beschloss er zunächst, die insgesamt 50, von einem Rahmenmärchen zusammengefassten Texte der ältesten europäischen Märchensammlung, Giambattista Basiles Pentamerone, ins Deutsche zu übertragen und dabei „für […] Kinder zu bearbeiten“ (an Achim von Arnim, 23. Dezember 1805). Als die ersten fertig waren, entwickelte er einen noch viel ehrgeizigeren Plan und projektierte einen eigenen Märchenzyklus, der am Rhein als dem deutschen Nationalstrom spielt und der um einen Handlungsfaden gewoben ist, der die Zeit von der Entstehung der Welt bis zum späten Mittelalter umspannt. Wie der Autor sich das Verhältnis von Rahmenerzählung und Binnenmärchen gedacht hat, geht aus einem Brief an den Verleger Georg Andreas Reimer vom 26. Februar 1816 hervor: „Durch ein mährchenhaftes Geschick gerathen alle Kinder der Stadt Mainz und auch die Kronprinzessin Ameleya in die Gewalt […] des alten Flußgottes Rhein und wohnen bei ihm in einem gläsernen Haus. Ein Müller von feenhafter Abkunft wird der Bräutigam der Prinzessin und König von Mainz, nun sitzt er auf seinem Thron vor den Bürgern immer Morgens am Fluß, und da werden Mährchen erzählt, denn der alte Flußgott hat sich erboten, jedes einzelne Kind gegen ein an seinem Ufer erzähltes Mährchen herauszugeben. […] Die erste Erzählung womit der König seine Braut selbst von dem Rheine auslöst, eröffnet die Mährchenreihe […], nun erzählt ein armer Fischer ein Mährchen, Murmelthierchen, um sein geliebtes Kind […] auszulösen“.

Das Märchen vom Murmeltier ist also die zweite Binnengeschichte des beliebig und tendenziell unendlich fortsetzbaren Erzählzyklus, von dem außer dem Rahmen nur drei weitere Texte fertig geworden sind, der aber schon in dieser Form die Länge eines Romans aufweist. Dargeboten wird es im Gegensatz zu Brentanos Ankündigung indes nicht vom Fischer selbst, sondern von seiner Frau Marzipille – und die wiederum erweist sich als die Hauptfigur der ganzen Geschichte, war sie doch in ihrem früheren Leben das „Murmeltier“ bzw. die Prinzessin von Burgund. Brentano weicht in diesem Punkt erkennbar von der Märchentradition ab. Das Geschehen