Landleben in Deutschland – gestern und heute
Nach acht Jahren kann dieses Buch über das deutsche Dorf bereits in die 4. Auflage gehen. Die gute Resonanz erfreut natürlich Autor und Verlag. Mehr als 300 Buchbesprechungen sind bisher erschienen, weit überwiegend mit einer positiven und zum Teil begeisterten Bewertung. Einige Rezensionen haben das Prädikat Standardwerk zum deutschen Dorf vergeben. Der Autor hat seit dem Erscheinen im Herbst 2011 mehr als tausend Zuschriften und Anrufe erhalten, mit vielfachen Danksagungen und Vortragseinladungen, aber auch wertvollen Vorschlägen für inhaltliche Ergänzungen sowie Hinweisen auf regionale und lokale Besonderheiten. Hunderte von Lesern beklagen die von ihnen beobachteten Missstände wie die Verluste ihrer Schule, der eigenen Gemeinde und Kirche, des letzten Gasthofs und Ladens. Sie machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Dörfer und Kleinstädte und berichten häufig auch von Respektlosigkeit und fehlender Unterstützung der Entscheider in den urbanen Zentralen von Staat und Gesellschaft gegenüber dem Land. Die vielen Stimmen aus den Dörfern haben meinen Erfahrungsschatz bereichert und nicht zuletzt auch ihren Niederschlag in diesem Buch gefunden.
In die 4. Auflage sind mehrere inhaltliche und formal-gestalterische Erweiterungen und Verbesserungen eingegangen. Inhaltlich wurden neue Textpassagen eingefügt zu Themen wie Agrarpolitik und Dorfwettbewerb, Dorfkultur und Heimatbewusstsein, neue Studien zu Gebietsreformen und wachsenden Demokratieverlusten. Die Auflösung von Dorfpfarreien durch deutsche Bischöfe und die damit ausgelösten Proteste der Gläubigen, die Regionale Baukultur sowie moderne Dorfromane werden ebenso thematisiert wie die zunehmende Liebe der Bevölkerung zum Landleben. Um die Kraft und Vielfalt der dörflichen Aktivitäten aufzuzeigen, wurden zahlreiche konkrete Beispiele neu eingefügt. Am Ende des Buches findet sich eine zusammenfassende Auflistung von Argumenten, die die große Bedeutung von Dorf und Land für Staat und Gesellschaft deutlich machen. Mit neuen aussagekräftigen Fotos und Graphiken wurden die Texte unterstützt und bereichert. Bei der Aktualisierung der Daten hat mich Dr. Astrid Herrmann tatkräftig unterstützt, dafür sage ich ihr herzlichen Dank! Vereinzelt mussten wir wie bei jeder neuen Auflage feststellen, dass aussagekräftige Statistiken sich nicht immer zeitlich fortsetzen lassen, da andere Bewertungskriterien eingeführt oder Spezialforschungen nicht weitergeführt wurden.
Am bewährten formalen Aufbau des Buches mit seinen 60 kurzen Kapiteln, die alle für sich separat lesbar sind, wurde festgehalten. Vor allem wurden auch die vielfach gelobten knappen Zusammenfassungen zu Beginn der Kapitel belassen. Ein Kommentar: Man kann das Buch zunächst auch im Schnelldurchgang mit diesen Summaries lesen. Ein anderer: Die kurzen Einführungen sind wie Kurzkrimis, die sich dann beim ruhigen Weiterlesen langsam auflösen.
Herzlich danken möchte ich auch dem Theiss/WBG-Verlag, der nicht nur die dargestellten Text- und Bilderweiterungen mit einem notwendigen neuen Umbruch ermöglicht hat, sondern auch zum stattlichen Hardcover mit Schutzumschlag der 1. und 2. Auflage zurückgekehrt ist. Auch die beigefügte Deutschland-Karte mit den eingetragenen Orten und Landschaften der zahlreichen Text- und Bildbeispiele wurde erneuert und wie bereits in der 1. und 2. Auflage getrennt in Nord- und Süddeutschland in den Vorsatz des Buches aufgenommen. Der vom Leser sehr geschätzte Inhaltsreichtum hat nun wieder eine optimale Entsprechung in der schönen Buchform gefunden.
Gerhard Henkel
Fürstenberg/Westfalen im März 2020
Das Dorf wird geliebt – von Alt und Jung, von Städtern und Landbewohnern. Was fasziniert die Menschen am Dorf? Ist es die Naturnähe und das Leben mit den Jahreszeiten? Ist es die Schönheit der in Jahrhunderten gewachsenen Kulturlandschaft? Die Überschaubarkeit, die Ruhe und das scheinbar einfache Leben? Ist es die Dichte der sozialen Beziehungen oder das Festhalten an Traditionen und alten Werten?
Offenbar ist das Dorf für viele ein Gegenprogramm zur immer schneller ablaufenden Modernisierung, Virtualisierung und Globalisierung in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Ein Lebensraum, der verstanden wird und der Sicherheit gibt. Ein Traditionsspeicher für Kultur, Religion, Werte und »normales Leben«. Ein Rückzugsraum, der die gewachsenen Strukturen wie Familie, Nachbarschaft, soziales Engagement und Gartenkultur bewahrt und an die nächste Generation weitergibt.
Ist das Dorf also ein Garten Eden, das Paradies vor dem Sündenfall? Keineswegs! Das Dorf hatte und hat seine Stärken und seine Schwächen. Manches, was gut war, ist heute nicht mehr da. Manche Nachteile aus früheren Zeiten sind verschwunden. Viele Neuerungen haben Fortschritte gebracht, manche jedoch gleichzeitig auch Nebenwirkungen. Dieses Buch will das Dorf nicht verklären, sondern zeigen, wie vielfältig das Landleben und die ländliche Kulturlandschaft war und ist.
Für viele Menschen – gerade in den großen Städten – ist das Dorf zunehmend ein unbekanntes Wesen. Im öffentlichen Bewusstsein spielt der ländliche Raum generell eine geringere Rolle, als ihm eigentlich zusteht. Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien haben ihre Zentralen in den großen Städten und dominieren die Meinungsbildung von dort aus. Somit ist die Perspektive auf das Dorf in der Regel eine Fernsicht, die politische, wissenschaftliche und mediale Behandlung des Landes oft eine Fremdsteuerung.
Dieses Buch beschreibt und erklärt das heutige Dorf. Um die Gegenwart besser zu verstehen, werden darüber hinaus in knapper Form die gravierenden Veränderungen seit etwa 1800 skizziert. Der Zeitpunkt um 1800 wurde gewählt, weil er in mehrfacher Hinsicht eine Zeitenwende darstellt, die allgemein als Übergang von der klassischen Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft bezeichnet wird. Bei der historischen Betrachtung steht der von mir und vielen Lesern noch erlebte Wandel des Dorfes von 1950 bis heute im Mittelpunkt. Insgesamt soll die Vielfalt des Landlebens dargestellt werden: seine Wirtschaft und Bevölkerung, seine kulturellen, sozialen und ökologischen Werte – und nicht zuletzt geht es um die politische Behandlung des Dorfes durch die große und kleine Politik. Als Einleitung zu verstehen ist die stark geraffte Übersicht über das Dorf vom Frühen Mittelalter bis zur Zeitenwende um 1800, sozusagen der »geschichtliche Vorlauf« des modernen Dorfes.
Wer über das Dorf schreibt, versucht die Quadratur des Kreises. Es gibt über 35.000 deutsche Dörfer: Keines ist dem anderen gleich. Erheblich sind die Unterschiede nach Größe, topographischer und regionaler Lage, historischer Entwicklung, Wirtschaftsschwerpunkten, Urbanisierungsgrad oder aktuellen Dynamiken und Sorgen. Dennoch haben die unterschiedlichen Dorf-Individuen viele Gemeinsamkeiten. Diese typischen Eigenschaften des Dorfes stehen hier im Vordergrund. Damit jedoch nicht nur das typische, sondern auch das individuelle Dorf zur Geltung kommt, sind mehrere Hundert konkrete Dorfbeispiele aus allen Teilen des Landes angeführt und beschrieben. In über hundert Originalzitaten kommen darüber hinaus Bauern, Bürgermeister, Vereinsvorsitzende, Minister, Schriftsteller, Dorfplaner, Wissenschaftler und zahlreiche Dorfbewohner zu Wort. So entsteht ein Gesamtbild aus typischen und individuellen Merkmalen des deutschen Dorfes.
Angesichts seiner inhaltlichen Breite kann dieses Buch nicht alle Themen erschöpfend behandeln, es muss sich stets auf wichtige Merkmale und Prozesse beschränken. So war es während des Schreibens immer wieder schmerzhaft, Sätze wegzulassen, die noch genauer erklären oder andere Facetten aufzeigen. Daher wird es Leser geben, denen die Texte zu wenig ausführlich sind (tatsächlich könnte über jedes der 60 Kapitel ein dickes Buch geschrieben werden). Andere hingegen werden sich über die knappen Ausführungen freuen, die verkürzen und das Wesentliche darzustellen versuchen. Mein großes Anliegen ist es, dem Leser das Dorf auch optisch gut zu präsentieren. Über 300 aussagekräftige Fotos, Grafiken und Karten veranschaulichen den jeweiligen Text. Das Buch kann somit auch über diese Abbildungen »gelesen« werden. Die hier versuchte Annäherung an das Dorf wird in 60 überschaubare »Kurzgeschichten« gefasst.
Mit dem Motiv, ein für jedermann verständliches und doch wissenschaftlich fundiertes Dorfbuch zu schreiben, verbindet sich ein zweites Anliegen dieses Buches. Es möchte die große und unterschätzte Bedeutung der Wirtschafts- und Lebensform Dorf für den Staat und die Gesellschaft herausstellen und um Respekt und Anerkennung dafür werben. Nicht nur die Stadt, auch das Dorf ist ein Erfolgsmodell der europäischen Kulturgeschichte.
Grundlage dieses Buches ist die jahrzehntelange Beschäftigung mit dem ländlichen Raum in Mitteleuropa und einigen Nachbarländern. Forschungs- und Informationsreisen haben mich in alle Regionen Deutschlands und sicherlich mehrere Tausend Dörfer geführt. Eine Hauptquelle meiner Kenntnisse ist jedoch mein eigenes Leben auf dem Land, das mir von Geburt an bis heute täglich neue Erfahrungen bringt. So liegt es auf der Hand, dass sich in diesem Buch die »objektive« Sichtweise der Wissenschaft mit der »subjektiven« des Dorfbewohners mischt. Bei wichtigen Fragen der ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Dorfentwicklung habe ich mich deshalb nicht gescheut, Stellung zu beziehen.
Abschließend möchte ich allen danken, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Dem Theiss Verlag und seinen Mitarbeitern für die Annahme meines Konzeptes und die gute Betreuung und Gestaltung. Meiner ganzen Familie für ihr Interesse und die ständige Unterstützung während der dreijährigen Arbeit am Manuskript. Danken möchte ich auch allen Fachleuten und Engagierten des ländlichen Raumes, deren Kenntnisse und Erfahrungen mir durch zahllose Briefe und Gespräche zugutekamen. Nicht zuletzt danke ich den zahllosen Dorfbewohnern aus allen Teilen Deutschlands, die mir begegnet sind, für unzählige Informationen und Antworten auf meine Fragen. Viele dieser Gespräche haben ihren unmittelbaren Niederschlag in diesem Buch gefunden.
Ich hoffe, mit diesem Buch möglichst viele Leser zu erreichen und auch zu erfreuen. Naturgemäß sind in einem thematisch so weit gefassten Buch wie diesem Unzulänglichkeiten kaum zu vermeiden. Wenn dem aufmerksamen Leser Mängel auffallen sollten, bin ich ihm für eine Mitteilung sehr dankbar.
Gerhard Henkel,
Fürstenberg/Westfalen im Sommer 2011
Der Kupferstich von Johann Friedrich Henning präsentiert das Dorf Rixdorf bei Berlin um 1800. Dorf und Landleben erscheinen hier als eine Idylle. Das Bild des schönen alten Dorfes prägt bis heute unsere Vorstellungen.
Siedlungsbefestigungen spielten im Mittelalter eine wichtige Rolle. Vellberg im Hohenloher Land ist heute noch so ummauert, dass es abgeschlossen werden kann wie im 15. Jahrhundert.
Die Entwicklung des deutschen Dorfes vom Frühen Mittelalter bis zum Beginn des Industriezeitalters im frühen 19. Jahrhundert ist äußerst vielschichtig und von starken regionalen und lokalen Unterschieden geprägt. Dennoch lassen sich einige »rote Fäden«, epochale Brüche und langfristige Veränderungen ausmachen. Diese werden hier in knapper Form dargestellt: Wie verlief die Siedlungsgeschichte mit ihren unterschiedlichen Landnahme-, Ausbau- und Wüstungsphasen? Wie die Entwicklung von Landwirtschaft und dörflichem Handwerk? Hierbei wechselten ökonomische Konjunktur- und Krisenphasen einander ab. Generell war das Leben für die Masse der Dorfbewohner von der Sorge um das tägliche Brot geprägt, die soziale Schichtung blieb über Jahrhunderte fest. Von der »guten alten Zeit« kann in weiten Phasen der Dorfgeschichte also nicht die Rede sein. Die Befreiung der Bauern aus der mehrfachen Abhängigkeit von der Grundherrschaft konnte trotz mancher Aufstände und Bauernkriege letztlich erst im 19. Jahrhundert erreicht werden.
Natürlich beginnt die Geschichte des Dorfes nicht erst im Mittelalter – sie reicht bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte vor etwa 500.000 Jahren zurück. Zwar waren in der Älteren und Mittleren Steinzeit die Siedlungsplätze der Jäger, Sammler und Fischer meist nur von kurzer Dauer. Dies änderte sich aber an der Wende zur Jüngeren Steinzeit vor etwa 7000 Jahren: Die Menschen rodeten Wald und bauten Getreide an. Als Ackerbauern und Viehzüchter wurden sie nun sesshaft und legten dauerhafte Siedlungen an. Damit schlug in gewisser Weise eine zweite Geburtsstunde des Dorfes – in der Wissenschaft spricht man von der »Neolithischen (d.h. jungsteinzeitlichen) Revolution«. Vor etwa 2000 Jahren, während der Römischen Kaiserzeit, gab es im heutigen Deutschland bereits mehrere Tausend kleine und mittelgroße Dörfer. Deren Bevölkerung hatte sich vorwiegend in den fruchtbaren Börden- und Tallandschaften angesiedelt und betrieb neben Ackerbau und Viehhaltung auch bereits Handwerk und Handel.
Im Folgenden wird die knappe Darstellung der Dorfentwicklung von 500 bis 1800 n. Chr. in fünf Epochen gegliedert. Diese ergeben sich durch den fast regelmäßigen Wechsel von verschiedenartigen Ausbau- und Rückgangsphasen. Inhaltlich geht es dabei vor allem jeweils um die Entwicklung der Grundherrschaft, der Dorfgemeinde, der Gestalt der Dörfer und nicht zuletzt der ökonomischen und sozialen Verhältnisse.
Das Frühe Mittelalter begann nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches im späten 5. Jahrhundert mit einer politischen, ökonomischen und wohl auch klimatischen Krisenphase. Es war eine Zeit der Völkerwanderungen: Größere Bevölkerungsgruppen wanderten aus Mitteleuro pa ab, zahlreiche ländliche Siedlungen wurden aufgegeben und ehemalige Ackerflächen wieder vom Wald eingenommen.
Doch die Phase der Siedlungsleere und Wiederbewaldung dauerte nicht allzu lange. Bereits ab dem 7. Jahrhundert kam es nach und nach zu einer Wiederbesiedlung, die man als »frühmittelalterliche Landnahme« bezeichnet. Der Neuanfang fand sowohl im »römischen« Teil Süd- und Westdeutschlands als auch nördlich der Mittelgebirge statt. Während sich im südlichen und westlichen Deutschland vor allem die Franken und Alemannen niederließen, wurden die norddeutschen Regionen vornehmlich von Sachsen und Friesen in Besitz genommen.1 Die Siedlungsgründungen dieser frühen Zeit lassen sich bis heute vielfach an ihren Ortsnamenendungen ablesen und damit auch datieren. So werden die süddeutschen »-ingen«-Orte der alemannischen Landnahmezeit und die norddeutschen »-hausen«-Orte der sächsischen Landnahmezeit zugeordnet. Bei der Siedlungsgröße des Frühmittelalters um 750 können wir überwiegend von locker bebauten Weilern ausgehen.
In der Karolingerzeit des 8. und 9. Jahrhunderts wurden vor allem die bestehenden Siedlungen ausgebaut: Durch einen Anstieg der Bevölkerung kam es zu einer allmählichen Verdichtung bzw. »Verdorfung« der ursprünglich aufgelockert bebauten Kleinsiedlungen. Die wichtigste Aufgabe der karolingischen Politik lag somit weniger in Siedlungsneugründungen als vielmehr in der »inneren Organisation« und Eingliederung der bestehenden Siedlungslandschaft in das Frankenreich. Das bedeutete vor allem den Bau von Kirchen und die Einrichtung von Pfarreien. Wichtige Pionierarbeit leisteten hierbei die Bischofssitze und Klöster, die nun in allen Regionen errichtet wurden. Die Dorfkirchen bekamen sofort einen hohen Stellenwert: Sie waren meist als einzige Gebäude der frühmittelalterlichen Siedlungen massive Steinbauten, die kleinen Festungen glichen und häufig durch ihre Lage auf einer Anhöhe besonders exponiert waren. In Notzeiten hatten die Kirchen zugleich Wehr- und Schutzaufgaben zu erfüllen. Nach Beendigung des karolingischen Siedlungsausbaus im 11. Jahrhundert dürften bereits drei Viertel aller mittelalterlichen Siedlungen in Deutschland bestanden haben.
Nicht nur Burgen und Kirchen, sondern auch Bauernhöfe und Dörfer waren im Mittelalter befestigt. Man wählte hierzu Steinmauern, Erdwälle, Holzpalisaden oder Wassergräben. Hier die Modellzeichnung eines Dorfes um 1000 n. Chr.
Klöster waren Pioniere bei der Verbreitung der Glaubens-, Buch- und Agrarkultur auf dem Lande seit dem Frühen Mittelalter, hier das Kloster Eberbach im Rheingau.
Mit der Christianisierung im Frühen Mittelalter bekamen die meisten Dörfer eine Kirche. Meist waren es prächtige Bauten aus Stein, wie hier in Einhausen in Thüringen.
Ein Hauptkennzeichen des ökonomischen und sozialen Lebens auf dem Land im Mittelalter war die mehrfache Abhängigkeit der Bewohner von der Grundherrschaft. Basis hierfür war das Eigentumsrecht des Grundherren am Boden, den er in eigenen Gütern selbst bewirtschaftete oder an Bauern zu Lehen gab, d.h. zur Nutzung verlieh. Oberster Grundherr war der König, dem das Obereigentum an allem Land zustand. Vom König gelangte das Land bereits im Frühmittelalter als Lehen in die Hände des Adels und der Kirche. Von der »Hohen Leihe« der Herzöge, Grafen, Bischöfe und Reichsäbte ging das Land nach und nach an die »Untere Leihe« der Ritter, Dienstmannen und Äbte. So bildete sich allmählich eine Lehenskette von oben nach unten heraus2 – für die Bauern blieb in der Regel nur das Nutzungsrecht am Boden. Zur Grundherrschaft über den Boden kam häufig die sog. »Leibherrschaft« hinzu. Die Bauern waren damit auch persönlich unfrei oder »hörig« bis hin zur »Leibeigenschaft«, hier gab es allerdings viele Abstufungen und große regionale Unterschiede. Zur weitesten Form der Leibeigenschaft gehörte es, dass der Bauer die Grundherrschaft nicht ohne die Erlaubnis des Grundherren verlassen durfte. Neben der Boden- und Leibherrschaft gab es in der Regel als Drittes die Gerichtsherrschaft. Der Grundherr hatte den Richter zu bestellen und zu unterhalten, wobei dieser häufig zugleich als Amtmann oder Schreiber der Grundherrschaft tätig war (woraus sich durchaus Interessenkonflikte ergeben konnten). Aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Lehen oder Lehnsgut bezeichnet man diese Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch als Feudalismus (abgeleitet vom lateinischen Wort feudum = Lehnsgut), sie dominierte das Landleben über 1000 Jahre vom Frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Über Deutschland verteilt, entwickelten sich mindestens neun unterschiedliche Typen von Grundherrschaften.3
Die allmähliche Entfaltung des feudalen Agrarsystems im Frühen Mittelalter hatte verschiedene Gründe. Basis war die Einführung des fränkischen Rechts mit der Unterscheidung zwischen Obereigentum und Nutzungsrecht am Boden durch den Aufbau der Lehenskette. Durch die beginnende Intensivierung der Landwirtschaft kam es zu einer allmählichen Trennung der wichtigsten Aufgaben der Landbewohner, die ursprünglich zugleich Bauern und Krieger waren. Auf der einen Seite entstand nun die berittene Berufskriegerschicht, die bald zum Adel aufrückte, und auf der anderen Seite der Ackermann, der sich jetzt ganz seiner Hofstelle widmen konnte. Ein weiterer Grund für die Bildung der unterschiedlichen Stände waren die politischen Wirren des Frühen Mittelalters – die weltlichen und geistlichen Grundherren hatten die wichtigsten militärischen und politischen Aufgaben an sich gezogen, sodass viele Bauern sich ihrer Autorität fügten und freiwillig ihren Schutz suchten.4
Der auf einem Podium am Pult sitzende Grundherr empfängt eine Gruppe von abhängigen Bauern, um seine Ankündigungen mitzuteilen. Die Bauern haben ihr Arbeitsgerät dabei und heben als Zeichen der Ehrenbezeugung die rechte Hand (15. Jh.).
Simon Bening malte um 1540 dieses Monatsbild Juli: Es zeigt Bauern bei der Heuernte vor einem ansehnlichen Gehöft in einer harmonischen Landschaft.
Tatsächlich war das komplexe Dienst-Lehen-Verhältnis zwischen Grundherren und Bauern eine wechselseitige Beziehung des Gebens und Nehmens. Die Bauern leisteten für ihr Nutzungsrecht am Boden Dienste und Abgaben, während der Grundherr seinen hörigen Bauern zu »Schutz und Schirm« verpflichtet war, z.B. in Kriegs- und Notzeiten. So heißt es im Schwabenspiegel, dem wichtigsten süddeutschen Rechtsbuch des 13. Jahrhunderts: »Wir sullen den herrn darumbe dienen, daz sie uns beschirmen. Beschirmen si uns nit, so sind wir inen nicht dienstes schuldig nach rechte.«5 Allerdings sollte man das Verhältnis zwischen Grundherren und Bauern nicht idealisieren – es war ein Machtverhältnis und keine freiwillige Arbeitsteilung. »Die zahlreichen Konflikte, die immer wieder zwischen Grundherren und Bauern über Abgaben und Dienste ausbrechen, und vor allem die blutigen Bauernaufstände des Hoch- und Spätmittelalters sind unleugbare Beweise gegen eine allzu harmonische Bewertung des grundherrlich-bäuerlichen Verhältnisses.«6
Mit Rittern besetzte Burgen entstanden während des gesamten Mittelalters zu Tausenden auf dem Lande. Sie waren strategische Festungen von Adel und Landesherren zur Ausbreitung ihrer Macht. Hier die imposante Burg Eltz an der Mosel.
Doch was bestimmte nun den Alltag der Landbewohner im Frühen Mittelalter? Er war geprägt von der ständigen Sorge um das tägliche Brot. Mangel, Hunger und Elend waren an der Tagesordnung. Harte Arbeit vom Morgengrauen bis nach Sonnenuntergang bestimmte das Leben der Bauern und Bäuerinnen auf dem Feld, in Haus und Hof. Werner Rösener, einer der besten Kenner des mittel alterlichen Landlebens, zieht eine sehr nüchterne Bilanz, die in keiner Weise manchen Vorstellungen von der »guten alten Zeit« entspricht: »Die Angst war eine Grunderfahrung des bäuerlichen Daseins; sie wirkte in die Alltagswelt hinein und prägte sie mit all ihren bedrohlichen Seiten. Das bäuerliche Leben stand im Zeichen von Unsicherheit und Krankheit, von Naturgewalten und Unglücksfällen, von Krieg und herrschaftlichem Zwang. Allgegenwärtiger noch als der Krieg waren den mittelalterlichen Bauern die Naturgewalten, denen sie im Sommer und Winter, in Hitze und Kälte, in Regen- und Trockenperioden ausgesetzt waren«.7
Das Hochmittelalter war eine relativ lange Phase des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs, der das Land in mehrfacher Hinsicht stark verändert hat. Dies gilt für Deutschland und weite Teile Europas. Wesentliche Ursachen der hochmittelalterlichen Blütezeit waren zahlreiche Fortschritte in der Agrarwirtschaft und – wohl auch demzufolge – ein kräftiger Bevölkerungsanstieg.
Phasen der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung in Deutschland von 400 v. Chr. bis heute
Die Fortschritte in der Agrarwirtschaft zeigen sich in der Agrartechnik und Agrarverfassung sowie bei den Bodennutzungs- und Betriebsformen. Eine grundlegende Verbesserung der Bodenbearbeitung brachte u.a. der schollenwendende Beetpflug, mit dem man nun tiefer pflügen konnte und der den Hakenpflug ersetzte. Das Mahlen von Getreide wurde zunehmend durch die Errichtung von Wassermühlen erleichtert. Hinsichtlich der Bodennutzung wurden die älteren extensiven Bewirtschaftungsformen wie Zweifelderwirtschaft oder Feldgraswirtschaft im 12. und 13. Jahrhundert durch die Dreifelderwirtschaft abgelöst: Mit der Abfolge Wintergetreide – Sommergetreide – Brache konnte nun der Bracheanteil auf ein Drittel der Ackerfläche zurückgedrängt werden. Ein weiterer betriebswirtschaftlicher Fortschritt bestand darin, dass die vielfach noch im Eigenbetrieb bewirtschafteten sog. »Fronhöfe« (Herrenhöfe) der Grundherren im Hochmittelalter weitgehend aufgelöst und zu Bauernstellen umgebildet wurden. Die vielschichtigen Fortschritte in der Agrarwirtschaft führten zu einer Intensivierung der Produktion und damit zu einer Steigerung der Erträge.8 Gegenüber dem Frühmittelalter werden für diese Zeit um 50–100 % höhere Ernteerträge angenommen. Man konnte es sich nun erlauben, statt überwiegend Getreide auch Obst, Gemüse und Wein anzubauen. Damit verbesserte die Landwirtschaft ihre allmählich entstehende Marktorientierung, außerdem wurde die Ernährung der Bevölkerung vielfältiger und gesünder.
Der kräftige Bevölkerungsaufschwung des Hochmittelalters lässt sich an Zahlen festmachen. Im ersten Jahrtausend war die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland zwischen 3,0 und 3,5 Mio. Einwohnern nahezu stagniert. In den folgenden 300 Jahren bis 1300 stieg die Einwohnerzahl dann rapide von 3,5 auf 9,0 Mio. an (s. Abb. oben).9 Dieser Bevölkerungsanstieg führte zu mehreren kräftigen Impulsen in der Wirtschafts- und Siedlungsentwicklung: Verdichtung der Dörfer und Entwicklung der Dorfgemeinschaft, Städtegründungen, Aufschwung von Handel und Verkehr, Binnenkolonisation, Deutsche Ostsiedlung. Diese sollen im Folgenden näher erläutert werden.
Im deutschen Altsiedelland westlich der Elbe führte der Wirtschafts- und Bevölkerungsaufschwung des Hochmittelalters zunächst zu einer Verdichtung der bestehenden Siedlungen. Aus locker bebauten Weilern wurden zunehmend Haufendörfer; in der Wissenschaft spricht man auch von »Verdorfung«. Daneben kam es im Altsiedelland zu einer nahezu flächendeckenden Binnenkolonisation durch umfangreiche Waldrodungen und Neugründungen von Siedlungen. Für die Landwirtschaft erschlossen wurden nun sogar die Hochlagen der Mittelgebirge und darüber hinaus viele Sumpf- und Moorlandschaften des Tieflandes. Die Entwässerung und Besiedlung von Mooren begann im 12. Jahrhundert in Nordwestdeutschland durch Holländer. Die neuen Siedlungen wurden planmäßig angelegt und hatten meist linienhafte Grundrisse. Entlang einer Straße, eines Kanals oder Deiches waren die Höfe einseitig oder beidseitig in regelmäßigen Abständen aufgereiht – mit jeweils anschließenden Hofparzellen. Je nach Geländesituation entstanden so Straßen-, Anger-, Wald-, Marsch- und Moorhufendörfer, die vielfach bis heute erhalten sind.
Parallel zur hochmittelalterlichen Binnenkolonisation im deutschen Altsiedelland kam es auch östlich der Elbe vom 12. bis zum 14. Jahrhundert zu umfangreichen Siedlungstätigkeiten. Man fasst sie heute unter dem Begriff der deutschen Ostsiedlung zusammen. Deutsche Territorialherren und slawische Fürsten sowie einheimischer Adel und Klerus riefen deutsche, holländische und flämische Bauern ins Land, um Gewin ne aus ihren Ländereien zu ziehen und ihre Herrschaft auszubauen. Nach Schätzungen folgten diesem Ruf im Hochmittelalter zwischen 200.000 und 600.000 Kolonisten und wanderten von West nach Ost. Die angeworbenen Bauern erhielten als Anreiz für ihre harte Siedlungsarbeit ökonomische und soziale Privilegi en: Sie waren rechtlich freier als im Altsiedelland und hatten weniger Feudalabga ben und Dienste für den Grundherren zu leisten.10
Am Ende der hochmittelalter li chen Rodungsperiode hatte das kultivierte Land in Deutschland und in vielen Ländern Europas einen Umfang angenommen, der später nicht wieder erreicht wur de. Aus manchen gerodeten Flächen der Mittelgebirge und der Alpen zog sich die Landwirtschaft später wieder zurück, weil die Erträge wechsel haft und niedrig blieben. Experten sprechen hierbei von »Grenzertragsböden«, die seitdem überwiegend wieder der Waldwirtschaft überlassen werden.
Das starke Bevölkerungswachstum des Hochmittelalters führte nicht nur zur Binnenkolonisation und deutschen Ostsiedlung, sondern auch zu einer Blütezeit von Stadtgründungen. Die wachsende Produktivität der Landwirtschaft machte es möglich, dass eine zunehmende Zahl von Menschen nicht mehr in der agrarischen Produktion tätig sein musste. »Auch wenn ca. 65 % des Bevölkerungszuwachses auf dem Land blieben, so waren die aufstrebenden Städte die Gewinner dieser Zeit. Sie nahmen gut ein Viertel des Bevölkerungswachstums auf, sodass der Anteil der Stadtbevölkerung von etwa 1050 bis 1400 von unter 2 % auf 12 % stieg.«11 Mit der Entfaltung der Städte entwickelte sich allmählich eine Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land heraus, wobei das Land die Stadt mit Nahrungsmitteln versorgte und im Gegenzug gewerbliche Waren erhielt.
In Deutschland gab es um 1150 insgesamt 40 Städte, um 1400 war die Zahl bereits auf 3000 Städte angewachsen! Nie gab es nachher eine solche Boomphase von Städtegründungen in Deutschland und Europa. Die meist gut befestigten Städte boten Sicherheit und neue Bürgerrechte nach dem Motto »Stadtluft macht frei«. Gemeint war damit vor allem die Freiheit von den Abhängigkeiten gegenüber der Grundherrschaft, dazu kam die Chance auf nicht agrare Verdienstmöglichkeiten. Allerdings waren die meisten Stadtgrün dungen dieser Zeit nicht mit allen »städtischen« Funktionen wie Verwaltung, Kultur, Gewerbe und Handel ausgestattet, sondern hatten ihre wirtschaftliche Basis eindeutig in der Landwirtschaft. Die Mehrzahl gerade der hoch- und spätmittelalterlichen Stadt- und Burggründungen war von größeren und kleineren Fürsten aus politischstrategischen Motiven zur Abgrenzung von Herrschafts- und Territorialinteressen errichtet worden. Obwohl in der Regel mit Mauern und Toren oder Wassergräben und Wällen befestigt, blieben die meisten dieser spät gegründeten Kleinstädte bis in die Gegenwart von ihrer wirtschaftlichen Ausrichtung her ländliche Siedlungen. Selbst mittelgroße Städte wie Warburg oder Ochsenfurt bezeichnete man bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als »Landstädte« oder »Ackerbürgerstädte«. Die große Masse der kleineren Städte, deren Einwohnerzahlen bis heute oftmals unter 2000 geblieben sind, werden in der Wissenschaft häufig als »Titular-« oder »Zwergstädte« bezeichnet. Im Sprachgebrauch der Bewohner ist für sie meist die schlichte Selbstbezeichnung »Dorf« geblieben.
Und wie stellte sich genau die wirtschaftliche und politische Lage der Landbewohner dar? Manche Historiker sprechen für das Hochmittelalter von einer »Blütezeit des deutschen Bauerntums«. Andere wiederum stellen dies jedoch infrage.12 Tatsächlich dürfte es durch die stark verbesserte Agrarwirtschaft zu einem relativ höheren Wohlstand gekommen sein. Von großer Bedeutung für das Dorf war es, dass sich im Hochmittelalter nach und nach eine selbstverwaltende Dorfgemeinschaft mit eigenem Dorfrat und einem Bürgermeister entfalten konnte. Diese trat zunehmend selbstbewusst der adligen oder klösterlichen Grundherrenschicht gegenüber. Troßbach und Zimmermann bezeichnen diese Selbstorganisation der Dörfer als Gemeinden als »epochalen« Fortschritt.13 Geregelt wurden u.a. Allmendeangelegenheiten (Allmende = gemeinschaftliches Eigentum innerhalb einer Gemarkung), der Ablauf der Ackerbestellung, Termine der Aussaat und der Ernte, die Aufsicht in der Feldflur und die Dorfbefestigung durch Zäune (Etter) und Tore.
Das Hohe und Späte Mittelalter waren Blütezeiten von Städtegründungen. Wichtig waren die Stadtmauern und die Stadtrechte. Der Ruf »Stadtluft macht frei« lockte viele Landbewohner in die neuen Städte. Hier das Beispiel der Kleinstadt Büdingen in der Wetterau mit seinen mittelalterlichen Befestigungsanlagen.
Die soziale Schichtung auf dem Land war vom Frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert von einer Dreiteilung geprägt. Zur zahlenmäßig geringen Ober- bzw. Herrenschicht gehörten Adel und Klerus. Die breite Mittelschicht wurde durch die landnutzenden Bauern ausgefüllt, wobei je nach Betriebsgröße zwischen oberen, mittleren und unteren bäuerlichen Schichten unterschieden wird. Relativ stark ausgebildet war bereits seit dem Frühen Mittelalter die meist landlose Unterschicht, die in der Regel als Landarbeiter auf den Höfen tätig war. Der soziale Status, der auf Herkunft und Besitz basierte, blieb über Jahrhunderte festgelegt. Eine soziale Mobilität zwischen den Schichten war kaum möglich.
Die hochmittelalterliche Blütezeit des Landlebens nahm in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein jähes Ende. Mehrere negative Ereignisse führten auf dem Land in Deutschland und europaweit zu einer Depressionsphase, die allgemein als »Agrarkrise« bezeichnet wird. Die wesentliche Konsequenz dieser Krise war die massenhafte Aufgabe von Dörfern und landwirtschaftlicher Nutzfläche.
Die spätmittelalterliche Agrarkrise hatte verschiedene Ursachen – eine der wichtigsten war ein starker Bevölkerungsrückgang. Nach dem kräftigen Anstieg im Hochmittelalter ging die Bevölkerung nun um mindestens ein Drittel zurück. Hierfür verantwortlich waren Hungersnöte und Pestepidemien, die Deutschland wie Europa in mehreren Wellen heimsuchten. Auf dem Land lagen die Bevölkerungsverluste über dem Durchschnitt, da viele Dorfbewohner in die neu gegründeten Städte abwanderten.
Der Bevölkerungsrückgang führte zu einer geringeren Nachfrage nach Getreide und anderen Agrarprodukten und damit zu einem Rückgang der Agrarpreise und -einkommen. Der ökonomische Niedergang entfaltete sich ebenfalls zu einer Krise des Adels und des Feudalsystems: Durch die Vermehrung gehobener Dienststellen (z.B. an den Fürstenhöfen) kam es zu einem starken Anwachsen der Adelsschicht und damit auch zu einer Aufsplitterung und Schwächung der Grundherrschaften.14 Die Folge war, dass viele Grundherren verarmten und ihre wirtschaftliche Basis verloren. Ein Teil des (niederen) Adels versuchte, sein Einkommen durch Raubzüge und Fehden zu verbessern: Es war die Zeit der Raubritter, die in allen Regionen Deutschlands hordenweise die weitgehend ungeschützten Landsiedlungen und Klöster überfielen, mordeten, plünderten und in Brand setzten. Des Weiteren erhöhten die adligen Grundherren den Druck auf die Bauern, indem sie erhöhte Abgaben und vermehrte Dienstleistungen verlangten. Manche Bauern schlossen sich den Verlockungen der Raubritterzüge an (wie es im »Meier Helmbrecht« von Wernher dem Gärtner aus den späten 13. Jahrhundert eindrucksvoll beschrieben wird), viele andere entzogen sich dem steigenden Lehnsdruck durch Abwanderung in die Städte. Die ökonomische und soziale Lage der Bauern verschlechterte sich dramatisch – vor allem in dieser Zeitphase waren sie »das verachtetste Glied der Gesellschaft«.15
Ein Dorf wird durch Raubritter geplündert und verwüstet. Die Federzeichnung um 1475–1490 vermittelt uns einen »Normalvorgang« des Spätmittelalters.
Äußerer und bleibender Ausdruck der spätmittelalterlichen Agrarkrise war schließlich das Massenphänomen der Wüstungen. Dieser Begriff für verlassene und aufgegebene Siedlungen findet sich bereits in den zeitgenössischen Quellen. Dort ist ebenfalls Genaues über den Zustand der damaligen Kulturlandschaft zu erfahren. Es wird berichtet von wüsten Gehöften, leer stehenden Siedlungen oder Siedlungsteilen, zerstörten und verlassenen Burgen, Kirchen und Klöstern. Auf ehemaligen Äckern wuchsen Gebüsch, Strauchwerk und schließlich Waldbäume; Gleiches galt für die aufgegebenen Ortsstellen. In der Beschreibung einer schon jahrzehntelang aufgegebenen Ortswüstung aus dem Jahr 1451 heißt es: »Locus iste K. jam desolatus est plenus arbustum habitaculum ursorum« – Nun ist auch jener Ort K. verödet, voll von Gebüsch und eine Lagerstätte für Bären.16 Die Wüstungsvorgänge trafen nicht nur die ungeschützten Agrarsiedlungen, sondern auch manche (oft gerade erst neu gegründete) Städte. Wissenschaftler schätzen die Gesamtzahl der spätmittelalterlichen Wüstungen in Deutschland auf 40.000. Damit wäre knapp ein Viertel der insgesamt 170.000 Siedlungen des Hochmittelalters aufgegeben worden. In manchen Regionen wie im Bereich der Schwäbischen Alb oder der Paderborner Hochfläche betrugen die Siedlungsverluste sogar 75 %! Nur in wenigen Regionen Deutschlands sind bisher keine Wüstungen bekannt. Die meisten der aufgegebenen Orte haben sich im Flurnamengut niedergeschlagen, z.B. lebt das untergegangene Dorf Aspe im Flurnamen »Aspergrund« weiter.17 Von verlassenen Kirchdörfern sind vielfach Ruinen oder Grundmauerreste bis heute erhalten geblieben.
Dieses Dreiständebild von 1492 zeigt die drei Stände des Mittelalters mit ihren vorrangigen Aufgaben: die Geistlichkeit (links: Gebet), Fürsten und Ritter (rechts: Schutzgewährung), Bauern (vorn: Arbeit).
Die spätmittelalterliche Wüstungsperiode hat die deutsche Kulturlandschaft in gravierender Weise verändert. Die Aufgabe eines Viertels aller Siedlungen führte zu einem Konzentrationsprozess: Sie war die Basis für die Bildung von großen Dörfern mit großen Gemarkungen auf den verbliebenen und in der Frühen Neuzeit wiederbesiedelten Siedlungsplätzen. So startete das Dorf Fürstenberg auf der Paderborner Hochfläche im Jahr 1449 auf der Basis von sechs Wüstungsgemarkungen mit einer Gesamtfläche von 59 km2 und wurde schon bald zu einem Großdorf mit weit über 1000 Einwohnern. Generell ist die nach der Wüstungsperiode bis etwa 1500 gebildete neue Siedlungslandschaft bis heute weitgehend konstant erhalten geblieben. Eine weitere Folge der Wüstungsvorgänge und der Vergrößerung der Gemarkungen war eine Zunahme der Waldflächen. Viele Grenzertragsböden, die man noch im Hochmittelalter für die Landwirtschaft gerodet hatte, wurden nun wieder der extensiveren Waldwirtschaft überlassen. Die heutige Feld-Wald-Verteilung bildete sich weitgehend bereits im 15. und 16. Jahrhundert heraus. In Ostdeutschland begann im Spätmittelalter die Bildung von landwirtschaftlichen Großbetrieben: Bäuerliche Siedlerstellen wurden mehr und mehr von den Grundherren eingezogen oder nicht wieder besetzt und zu adligen Gutsbetrieben ausgebaut.
Nach dem starken Bevölkerungs- und Siedlungsrückgang des Spätmittelalters folgte in der Frühen Neuzeit erneut eine Aufbruchphase, die aber immer wieder von Bauernaufständen und Kriegen unterbrochen wurde. Man spricht von Landesausbau, weil in verschiedenen Bereichen Erweiterungen und Verbesserungen für die Agrarwirtschaft vorgenommen wurden. Zunächst ging es vielerorts darum, die wüstgefallenen Flächen (besonders der besseren Böden) zu rekultivieren. Darüber hinaus wurden Sumpf- und Moorgebiete trockengelegt sowie Küstenland und Flussauen eingedeicht und für die Landwirtschaft gewonnen. Im 16. Jahrhundert begann eine zweite Welle der Erschließung und Siedlungstätigkeit östlich der Oder. Der Landesausbau wurde getragen von einem starken Bevölkerungsanstieg. Die Einwohnerzahl in Deutschland verdoppelte sich nach dem Tiefstand um 1400 mit 6,5 Mio. Einwohnern bis zum frühen 17. Jahrhundert auf 13 Mio. Einwohner. Eine Intensivierung der Agrarwirtschaft wurde u.a. auch durch den zunehmenden Verzicht auf die Dreifelderwirtschaft zugunsten einer Fruchtwechselwirtschaft erreicht, wobei das Brachejahr ganz wegfiel.18 Die Marktorientierung der Landwirtschaft nahm bereits im 16. Jahrhundert deutlich zu, da die nun wieder wachsenden Städte mit Nahrungsmitteln versorgt werden mussten. Dies kam nicht nur den Bauern zugute, sondern hatte in den Dörfern auch eine Zunahme des verarbeitenden Gewerbes (wie Müller oder Metzger) und des Handels zur Folge. Die Fortschritte in der Agrarwirtschaft wurden ab dem späten 16. Jahrhundert von einer zunehmenden Fachliteratur festgehalten und verbreitet.
Dieses Bild Albrecht Dürers von 1494 zeigt eine Dorflandschaft in der Region Nürnberg. Im Vordergrund ist die Drahtziehermühle Großweidenmühle zu sehen. Sie kann als frühindustrieller Betrieb bezeichnet werden.
In der Frühen Neuzeit kam es im Nordosten Deutschlands zu einer verstärkten Gutsbildung. Eine grobe Trennlinie hierfür stellte die Elbe dar.19 Westlich der Elbe – im deutschen Altsiedelland – blieb das Lehnssystem zwischen Grundherrschaft und Bauern weitgehend erhalten. Östlich der Elbe hingegen wurden die Bauern nach und nach von den Grundherren aus ihren alten Nutzungsrechten herausgedrängt. So entstanden die in Eigenwirtschaft betriebenen Rittergüter, während die ehemaligen Bauern zu Landarbeitern wurden. Der mit dem Begriff »Bauernlegen« umschriebene Prozess begann im 16. Jahrhundert und endete erst im späten 18. Jahrhundert.
Die innere Dorfentwicklung der Frühen Neuzeit ist gekennzeichnet durch ein starkes Anwachsen der unterbäuerlichen Schichten.20 Dazu gehörten einmal die sog. »Kleinstellenbesitzer«, deren Land meist am Dorfrand lag und die nach heutigem Sprachgebrauch eine Nebenerwerbslandwirtschaft betrieben. Danach kamen die Hausbesitzer ohne Land und zuletzt die Landbewohner ohne Haus- und Landbesitz. Letztere Gruppe wohnte meist bei den Bauern zur Miete. Hierzu ein Beispiel: Im Kirchspiel Belm bei Osnabrück besaßen im Jahr 1601 neben 173 groß- und kleinbäuerlichen Betrieben 79 Haushaltungen weder Haus noch Land, das sind 32 % aller Haushalte!21 Wie kam es zu diesem Anwachsen der dörflichen Unterschichten? In Realteilungsgebieten wurden die Betriebsgrößen durch die fortgesetzten Teilungen des Besitzes immer kleiner, sodass sie nicht mehr zur Ernährung eines Hausstandes ausreichten. So war man zum Nebenerwerb gezwungen. In Anerbengebieten mit geschlossener Hofübergabe blieben den nicht erbenden Kindern meist nur geringe Einkommensmöglichkeiten. Sie verdingten sich meist als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder im Transportgewerbe. Andere wichtige Arbeitsmöglichkeiten bestanden im Dorfhandwerk, das sich nun mehr und mehr auf dem Land entwickelte und schließlich zur zweiten ökonomischen Basis des Dorfes entfaltete.
Eine der ältesten Dorfzeichnungen besitzen wir von Heudorf bei Konstanz aus dem Jahre 1576.
Gut zu erkennen sind neben Kirche, Friedhof, Mühle, Backhaus und Bauernhäusern auch der das Dorf abschließende Dorfzaun.
Immer wieder kämpften Bauern um ihre Rechte gegen ihre Grundherren, hier eine Bauernkriegsszene von 1524: Bauern aus den Dörfern Rappertsweil, Weissenau, Obereschbach und Untereschbach rotten sich zu einem Heer zusammen.
Ab der Frühen Neuzeit haben wir auch genauere Vorstellungen vom Aussehen des Dorfes, was wir u.a. zahlreichen überlieferten Zeichnungen verdanken.22 Diese enthalten sowohl konkrete als auch stilisierte Dorfansichten. Wichtige, in den Bildern wiederkehrende Dorfbereiche sind Kirche mit Kirchhof, Wirtshaus, Backhaus, Schmiede, Badehaus, Dorfplatz mit Linde und der Dorfzaun (Etter) mit Tor. Ab etwa 1500 kamen zunehmend Rathäuser hinzu – sie verkörperten den wirtschaftlichen Aufschwung und das wachsende Selbstbewusstsein der gemeindlichen Selbstverwaltung. Ein Dorf in Rheinhessen dürfte um 1550 etwa so ausgesehen haben: »Den Mittelpunkt bildete der Dorfplatz, über den die Durchgangsstraßen führten. Auf der einen Seite wurde er durch die Friedhofsmauer abgeschlossen. Inmitten dieses Friedhofes, der leicht erhöht lag, befand sich die Kirche. In unmittelbarer Nähe der Mauer, von allen Seiten zugänglich, stand das Rathaus mit einer besonders dekorativen Front zum Platz hin. Am Dorfbrunnen schöpfte man seinen Wasserbedarf und schliff seine Schneidewerkzeuge. Die alte Dorflinde beherrscht die Mitte des Platzes, unter ihr fanden vor der Erbauung des Rathauses die Gemeindeversammlungen und Gerichtssitzungen statt, und hier traf man sich zum geselligen Beisammensein. Um den Dorfplatz gruppierten sich ferner das Dorfwirtshaus, in dem Reisende übernachten konnten, die Dorfschmiede und das Gemeindebackhaus, etwas abseits war der Löschweiher angelegt. Am Ortsrand, am Bach, lag die Mühle und das Badhaus und außerhalb das Siechenhaus. Als Gegensatz stand am anderen Ortsende ein vornehmes Anwesen des Ortsherren.«23
Bauernaufstände und Unruhen gegen die adligen und kirchlichen Grundherren hatte es seit dem Frühmittelalter immer wieder gegeben. Im Spätmittelalter nahmen sie jedoch stark zu, auch in der Radikalität ihrer Forderungen. Zum Höhepunkt des bäuerlichen Widerstands gegen die Feudalherren wurde der Deutsche Bauernkrieg von 1524/25. Angeregt durch die Schweizer Eidgenossenschaft und die deutsche Reformation mit dem zündenden Wort von der »Freiheit der Christenmenschen« begannen die Aufstände 1524 am Südostrand des Schwarzwaldes.24 Der Aufruhr wurde zu einem Flächenbrand und verbreitete sich schnell in ganz Südwestdeutschland und von dort nach Franken, Thüringen, Tirol und ins Salzburger Land. Auch Adlige und Städter schlugen sich auf die Seite des bäuerlichen Widerstands. Die bekanntesten unter ihnen waren Götz von Berlichingen aus der Region Neckartal-Odenwald und Florian Geyer aus Franken. Insgesamt 300.000 Bauern schlossen sich den regional gegliederten Heeren an. Die Forderungen der Bauern zielten vor allem auf eine Wiederherstellung des »guten alten Rechts« auf freie Waldnutzung, Jagd und Fischfang, das ihnen nach und nach von den Grundherren entzogen worden war. 1525 wurde ein Forderungskatalog von »Zwölf Artikeln« aufgestellt, der zum Manifest des Bauernkrieges wurde. Darin heißt es u.a.: Aufhebung der Leibeigenschaft und Mäßigung der Frondienste. Der Widerstand der Bauernheere wurde in mehreren großen Schlachten gebrochen und die Zahl der Opfer wird auf 100.000 Personen geschätzt. Letztlich verloren die aufbegehrenden Bauern. Gründe hierfür waren, dass die Bauernheere zu isoliert voneinander auftraten, außerdem blieb der breite gesellschaftliche Rückhalt für die Anliegen der Bauern aus. Selbst Martin Luther distanzierte sich mit seiner Schrift »Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern« von der Bewegung. Im Ergebnis wurden durch den Ausgang des Bauernkrieges die Rechte der Feudalherrschaft gestärkt. Allerdings sind einige Historiker der Auffassung, dass die Aufstände in Westdeutschland die Durchsetzung einer intensiveren Leibeigenschaft wie in Ostdeutschland verhindert haben.
Der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 unterbrach die Epoche des frühneuzeitlichen Landesausbaus und führte weite Teile Deutschlands erneut in eine schwere Krise, die mit der spätmittelalterlichen Wüstungsphase zu vergleichen ist. Nur wenige Regionen wie Schleswig-Holstein, größere Gebiete Niedersachsens und das Rheinland westlich der Linie Neuss – Köln – Trier wurden von den marodierenden Kriegstruppen verschont. Die meisten Landstriche hingegen sind von den Heereszügen mehrfach heimgesucht worden. Die Gesamtzahl der damals durch Deutschland ziehenden Soldaten wird auf eine Million geschätzt, das waren 6–10 % der Bevölkerung. Städte und Dörfer wurden immer wieder Opfer von räuberischen Gewalttaten und Zerstörungen. Vor allem die Landbevölkerung in den wenig geschützten Dörfern und kleineren Städten waren sämtlichen Soldatengruppen nahezu wehrlos ausgeliefert. Mittelbare Kriegsfolgen waren Hungersnöte durch Ernteausfälle und Plünderungen sowie Pestepidemien wie im Späten Mittelalter. Der lange Krieg bedeutete einen erheblichen Rückschritt für das ganze Land. An erster Stelle standen millionenfache Bevölkerungsverluste: Zu Beginn des Krieges zählte das Deutsche Reich 16 Mio. Einwohner, am Ende des Krieges nur noch 10 Mio.25 Es dauerte danach ungefähr ein Jahrhundert, bis die Bevölkerungsverluste wieder ausgeglichen waren. Regional waren die Verluste noch extremer – so soll die Bevölkerungszahl im Herzogtum Württemberg von 1618 bis 1648 von etwa 400.000 auf nur noch 50.000 Einwohner abgesunken sein.26 Zahlreiche Städte und Dörfer waren durch den Krieg völlig zerstört und menschenleer, die Felder verödet. Die Viehbestände auf dem Land waren durch den Krieg bis auf unter 10 % des Vorkriegsniveaus abgesunken. Der Dreißigjährige Krieg hinterließ somit ein verwüstetes Land und eine völlig heruntergekommene Wirtschaft. Er schob, gerade im Vergleich zu England und Frankreich, die längst notwendige wirtschaftliche und politische Modernisierung Deutschlands und gerade auch des ländlichen Raumes um mehr als ein Jahrhundert hinaus.
Viel Zeit und Kraft brauchte das Land, um sich von den Verlusten und Wunden des Dreißigjährigen Krieges zu erholen. Fast ein Jahrhundert dauerte allein die Phase des Wiederaufbaus. Entvölkerte Gebiete mussten wiederbesiedelt, Häuser und ganze Dörfer wiederaufgebaut, ehemalige Felder mühsam rekultiviert werden. Nur nach und nach konnten die Viehbestände wieder aufgefüllt werden. Erst um das Jahr 1740 war die Zahl der Bauernhöfe wieder auf dem Stand von 1618, dies gilt auch für die Einwohnerzahlen in Deutschland.27 Bemerkenswert ist, dass der Dreißigjährige Krieg – im Unterschied zur spätmittelalterlichen Agrarkrise – kaum dauerhafte Ortswüstungen hinterlassen hat.
2829