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Holger Sonnabend

Katastrophen in der Antike

 

Impressum

 

 

© 2013 Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt/Mainz
ISBN: 978-3-8053-4601-6

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.

Lizenzausgabe für die WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
ISBN: 978-3-534-25570-2

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Inhalt

1. Sinn und Zweck der Beschäftigung mit Katastrophen in der Antike

2. Naturkatastrophen

3. Epidemien

4. Hungerkatastrophen

5. Kriegerische Katastrophen

6. Politische Katastrophen

7. Finanzkatastrophen

8. Brandkatastrophen

9. Schiffskatastrophen

10. Private Katastrophen

 

Chronik der in diesem Buch behandelten Katastrophen

Bibliographie

Bildnachweis

Dank

Personenregister

Ortsregister

 

 

 

 

 

 

Caligula pflegte sich öffentlich darüber zu beklagen, in welchen Zeiten man doch leben müsse. Sie zeichneten sich durch keine allgemeinen Katastrophen aus. Die Herrschaft des Augustus sei durch die Niederlage des Varus, die des Tiberius durch den Einsturz der Zuschauer-Tribüne bei Fidenae berühmt geworden. Seine eigene Regierungszeit drohe durch Wohlstand in Vergessenheit zu geraten. Und so wünschte er sich immer wieder Niederlagen der Heere, eine Hungerkatastrophe, eine Pest, Feuer und ein Erdbeben.

Sueton in der Biographie des römischen Kaisers Caligula (37–41 n. Chr.)

1. Sinn und Zweck der Beschäftigung
mit Katastrophen in der Antike

Ein ganzes Buch voller Katastrophen? Und dazu noch aus einer längst vergangenen Zeit? Wozu soll das gut sein? Sicher kann es bei einem solchen Vorhaben nicht darum gehen, beim Lesen jenes fast wohlige Schaudern zu erzeugen, das sich häufig einstellt, wenn man sich mit Unglücksfällen beschäftigt, von denen man selbst nicht tangiert ist. Und sicher soll auch nicht ein wie auch immer geartetes Bedürfnis nach Sensationen bedient werden. Vielmehr stehen bei dem Unternehmen drei übergeordnete Gesichtspunkte im Mittelpunkt. Erstens ist mit diesem Buch ein Beitrag zur historischen Katastrophenforschung zu leisten. In dieser Hinsicht hat sich nicht nur in der Alten Geschichte, sondern in den Geschichtswissenschaften überhaupt in den letzten Jahren viel getan. Zweitens geht es zwar auch um die Präsentation und Rekonstruktion der Katastrophen an sich, aber zugleich um deren Bedeutung für die Menschen, die diesen Katastrophen ausgesetzt gewesen sind. Drittens ergibt sich daraus die Möglichkeit, den immensen Erfahrungsschatz, den die Antike im Hinblick auf Katastrophen aller Art gesammelt hat, zur Orientierung auch in Bezug auf moderne Katastrophen zu nutzen.

Gerade die Antike, wie man mit vollem althistorischen Selbstbewusstsein hinzufügen darf. Katastrophen gab es zu allen Zeiten, in der Steinzeit ebenso wie im Mittelalter und in der Neuzeit. Jedoch ist die Antike die früheste Phase der menschlichen Geschichte, die aufgrund ihrer Schreibfreudigkeit genügend Material zur Verfügung gestellt hat, um Katastrophen angemessen dokumentieren zu können. Demzufolge liefert die Antike gewissermaßen das reflektierte Urerlebnis der Katastrophe. Hier können Verhaltensweisen, Reaktionen und Deutungsmuster in ihrer ganzen elementaren Anfänglichkeit studiert werden. Und hier können Defizite in der Verarbeitung von Katastrophen ebenso verdeutlicht wie erprobte Möglichkeiten des erfolgreichen mentalen und psychischen Umgangs mit ihnen aufgezeigt werden.

Was verstehen wir unter einer „Katastrophe“? Eine „Umkehr“, eine „Wendung“, wird der auf den exakten Wortsinn bedachte, des Griechischen kundige Altphilologe antworten. Denn das griechische Substantiv katastrophé kommt vom griechischen Verb katastrépho, und das bedeutet „umkehren, umwenden“, auch „umstürzen“. Damit impliziert die Originalbedeutung schon einmal als Voraussetzung für die Zuweisung eines Vorganges in die Kategorie „Katastrophe“, dass dadurch etwas vorher Bestehendes verändert, radikal verändert wird.

Im Allgemeinen wird „Katastrophe“ heute denn auch definiert als ein plötzlich und unerwartet eintretender Unglücksfall größeren Ausmaßes, mit erheblichem Schaden für die Menschen und ihre Umwelt, die in der Regel umfangreiche Hilfs- und Rettungsmaßnahmen notwendig machen. Konkret denkt man dabei an Naturkatastrophen, also an Erdbeben, an Vulkanausbrüche, an Überschwemmungen. Naturkatastrophen werden in diesem Buch selbstverständlich einen breiten Raum einnehmen. Der Schauplatz der antiken Geschichte war der Mittelmeerraum, und dieser war damals wie heute außerordentlich anfällig, was seismische Aktivitäten und damit verbundene Erdbeben angeht. So gibt es eine Fülle von Informationen über Naturkatastrophen in der Antike – Pompeji ist nur der bekannteste Fall gewesen, reiht sich aber ein in eine ganze Serie vergleichbarer Katastrophen.

Als katastrophal können aber auch Seuchen und Epidemien empfunden werden oder die in der Antike ebenfalls nicht seltenen Hungersnöte, die viele Menschen das Leben kosteten. Gleiches gilt für Kriege. Sie sind in der Antike gleichsam der Normalfall gewesen, es gab praktisch kein Jahr, in dem nicht an irgendeiner Stelle der antiken Welt ein Krieg geführt worden ist. Manche sind als besonders katastrophal in die Geschichte eingegangen, zumindest, was die eine Seite der Beteiligten betrifft. So war für die Athener das Scheitern der Flottenexpedition nach Sizilien im Peloponnesischen Krieg (415–413 v. Chr.) ein ähnlicher Schock wie für die Römer das Desaster in der legendären Schlacht von Cannae gegen Hannibal und seine Karthager (216 v. Chr.). Damit ist man bei Katastrophen angelangt, bei denen nicht irgendwelche Naturgewalten am Werk waren, sondern für die die Menschen ganz allein verantwortlich gewesen sind: Kriege sind Katastrophen, die potenziell zu verhindern sind, was bei Erdbeben nicht der Fall ist.

Daher beschränkt sich die vorliegende Darstellung nicht allein auf „konventionelle“ Katastrophen. Sie erweitert das katastrophale Spektrum auf anthropogene Vorgänge und Ereignisse, die jedenfalls für die Betroffenen eine einschneidende Bedeutung hatten. Dazu gehören politische Katastrophen wie Bürgerkriege, Attentate, Umstürze und Revolutionen. Dabei auch wirtschaftliche und finanzielle Katastrophen ins Visier zu nehmen, bedeutet nicht, dem Zeitgeist zu huldigen, sondern eine die antike Katastrophen-Bilanz mit prägende Realität zu beschreiben. Man könnte in diesem Zusammenhang freilich auch den Begriff „Krise“ verwenden. Worin aber liegt der Unterschied zwischen „Krise“ und „Katastrophe“? Im Kern darin, dass Krisen sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, während Katastrophen plötzlich und unerwartet eintreten. Aber auch diese Definition kann nur beschränkt Gültigkeit beanspruchen. Denn auch Katastrophen erweisen ihren „katastrophalen“ Charakter häufig erst durch die mittel- oder längerfristigen Konsequenzen. Insofern kann man darüber streiten, ob die wirtschaftlichen Probleme, von denen das bis dahin prosperierende Römische Reich im 3. Jahrhundert n. Chr. betroffen war, nicht eher als Krise denn als Katastrophe zu bezeichnen sind. Tatsächlich handelte es sich um eine langsame, schon in den Jahrzehnten zuvor angelegte Entwicklung, die jedoch von den meisten Menschen als eine abrupte Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse erlebt wurde.

Eine Katastrophe ist es nun aber ganz ohne Zweifel, wenn jemand durch Feuer seinen gesamten Besitz verliert. Umso gravierender ist der Brand großer Teile einer ganzen Stadt – wie geschehen im Jahre 64 n. Chr., als die Weltstadt Rom brannte, woran man Kaiser Nero die Schuld gab, welcher seinerseits die Verantwortung den (wenigen) Christen von Rom zuschob. Doch das ist, wie zu zeigen sein wird, längst nicht die einzige verheerende Brandkatastrophe in der Antike gewesen. Katastrophal war für einen Reeder oder einen Kapitän der Verlust des Schiffes. Hunderte von Wrackfunden im Mittelmeer beweisen, dass die Schifffahrt auf dem Meer eine riskante Angelegenheit sein konnte. Doch auch auf Flüssen konnte einen das unbarmherzige Schicksal ereilen, und nicht alle hatten so viel Glück wie der Passagier eines Schiffes, das in den glorreichen Zeiten des Imperium Romanum auf dem Neckar unterwegs war und dann unvermittelt in große Schwierigkeiten geriet …

Katastrophengeschichte ist immer auch Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Wie die Menschen Katastrophen der verschiedensten Art wahrnehmen, deuten, wie sie darauf reagieren, welche Konsequenzen sie ziehen (wenn sie denn das Glück haben zu überleben) – das lässt immer auch Rückschlüsse zu auf die Befindlichkeit einer Gesellschaft. Bekanntlich ist es nicht so, dass alle Menschen zu allen Zeiten auf dieselbe Weise auf Katastrophen reagierten, auch wenn es evident ist, dass sich manche Verhaltensweisen über die Zeiten hinweg immer wiederholen. Aber jede Gesellschaft, auch die der Griechen und der Römer, verfügte über ein spezifisches Katastrophen-Wahrnehmungs-Schema und ein spezifisches Katastrophen-Reaktions-Schema.

Abschließend behandelt das vorliegende Buch eine Art von Katastrophe, die im Allgemeinen unberücksichtigt bleibt, wenn von diesem Thema die Rede ist: die Katastrophe im ureigensten privaten Bereich, die für fast alle Zeitgenossen ohne jedes Interesse ist, die Betroffenen aber genau so hart treffen kann wie die größte Naturkatastrophe. Gemeint sind private, individuelle Schicksalsschläge wie Tod, Krankheit, Unfall, plötzliche Armut. Solche Fälle hat es zu allen Zeiten in Hülle und Fülle gegeben, ohne dass sie – sieht man einmal von entsprechenden Vorkommnissen in den höchsten Kreisen der Gesellschaft ab – allgemein prominent zur Kenntnis genommen worden wären. Die Quellen, die darüber Auskunft geben, sind – neben den zahlreich erhaltenen, allerdings vornehmlich auf Ägypten bezogenen Papyri – Inschriften, insbesondere Grabinschriften, die in der Antike noch weitaus auskunftsfreudiger gewesen sind als die heutigen, und Weihinschriften, in denen man sich an die Götter wandte, um sie um Hilfe in einer Notlage zu bitten oder ihnen für eine erwiesene Hilfe zu danken. So reicht der Bogen also von den großen Naturkatastrophen, von denen die Menschen als Gemeinschaft betroffen waren, bis hin zu den ganz privaten Schicksalen, die in ihrer Intensität nicht als minder gravierend empfunden wurden.

2. Naturkatastrophen

Im Schatten von Pompeji

Wie heißt die Stadt in Griechenland, die 426 v. Chr. von einem schweren Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami verwüstet wurde? Die Antwort lautet: Orobiai. Wer diese Antwort sofort parat hat, darf für sich zu Recht einen Expertenstatus reklamieren. Wie heißen die beiden Städte in Italien, die 79 n. Chr. durch den verheerenden Ausbruch des Vesuv verschüttet wurden? Wer die Antwort auf diese Frage weiß, erntet keine Lorbeeren, sondern darf sich höchstens damit rühmen, in der historischen Allgemeinbildung nichts Entscheidendes versäumt zu haben. Pompeji und Herculaneum sind gewissermaßen die Synonyme für die antike Naturkatastrophe schlechthin. Jedoch war dieses Ereignis, so gravierend es auch gewesen ist, nicht die schlimmste Naturkatastrophe, die es in der Antike gegeben hat. Erst die besonderen Umstände verhalfen Pompeji und Herculaneum zu jener Prominenz, die dafür verantwortlich ist, dass sich heute regelmäßig Ströme von Touristen aus aller Welt durch diese beiden Städte ergießen. Verpackt unter einer dicken Schicht aus Lava und Bimsstein, harrten die verschütteten Städte jahrhundertelang der Wiederentdeckung, die dann im 18. Jahrhundert erfolgte, zu intensiven archäologischen Forschungen führte und dem modernen Besucher das einmalige Erlebnis beschert, sich in einer Stadt zu bewegen, die fast noch genauso aussieht wie in jenen verhängnisvollen Tagen im August des Jahres 79 n. Chr.

Orobiai hingegen blieb diese Popularität versagt. Der Ort befand sich an der Nordwestküste von Euboia und war in der Antike wegen seines Apollon-Orakels auch überregional bekannt. Als die Katastrophe hereinbrach, flüchteten viele in die Berge, doch nicht wenige Menschen kamen ums Leben. Von der Siedlung blieb kaum noch etwas übrig. Lange Zeit lag die Stätte brach, bis in byzantinischer Zeit an dieser Stelle eine neue Siedlung entstand. Touristen kommen nicht hierher, um der Katastrophe von 426 v. Chr. zu gedenken, sondern um sich an den Badestränden von Rovies, wie die moderne Siedlung heißt, zu vergnügen.

Der Vesuv, Pompeji und Herculaneum haben die anderen Naturkatastrophen der Antike in den Schatten gestellt. Ohne dass man ihnen deswegen einen Vorwurf machen kann, verdecken sie den Umstand, dass es in der Antike massenhaft Naturkatastrophen gegeben hat. Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsunamis, auch Überschwemmungen waren gewissermaßen an der Tagesordnung. Der mediterrane Mensch hatte mit der Katastrophe zu leben, sie gehörte gleichsam zu seiner alltäglichen Erfahrung – wie es in vielen Regionen der Mittelmeerwelt, vor allem in Italien, Griechenland und der Türkei, auch heute noch der Fall ist.

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Schauplatz einer der bekanntesten Naturkatastrophen der Antike: Herculaneum, im Hintergrund der Vesuv, der 79 n. Chr. auch Pompeji zerstörte

Über viele dieser Katastrophen liegen in den Quellen nur lapidare Informationen vor. Häufig werden sie von den antiken Historikern und Chronisten nur en passant erwähnt, stehen also gar nicht im Mittelpunkt dessen, was sie eigentlich sagen wollen. Nie hätte man erfahren, dass es 64 n. Chr. in Neapel ein – allerdings wohl nicht allzu schweres – Erdbeben gegeben hat, wäre nicht zeitgleich Kaiser Nero im dortigen Theater aufgetreten, um seine Gesangskünste zum Besten zu geben. Der Biograph Sueton (Nero 20,3) berichtet, dass während der Vorstellung durch das Erdbeben die Mauern des Theaters ins Wanken gerieten, der Kaiser jedoch ungerührt weitersang. Der Historiker Tacitus (ann. 15,34) kennt eine etwas andere Version: „Als alle Zuschauer weggegangen waren, stürzte das Theater in sich zusammen, ohne einen Menschen zu verletzen.“ Das Erdbeben ist Nebensache, der Auftritt des Kaisers die Hauptsache. Und auch ein Ausbruch des Aetna auf Sizilien wäre auf ewig im Dunkel der Katastrophengeschichte verborgen geblieben, hätte Sueton (Cal. 51,1) nicht verraten, dass der römische Kaiser Caligula, der zwischen 37 und 41 n. Chr. regierte, einen Besuch in Messina eiligst abbrach, weil ihm „der Rauch aus dem Gipfel des Aetna und sein Rumoren Furcht einflößte“. Bei den Griechen verhielt sich dies nicht anders, wie sich an vielen Beispielen demonstrieren ließe. Wenn die Katastrophen in diesen Zusammenhängen also nur eine marginale Rolle spielen, so gibt es auch keine Möglichkeit, Näheres über sie herauszufinden.

Die Katastrophe von Helike

Zum Glück ist aber auch eine ganze Reihe von Naturkatastrophen außerordentlich gut dokumentiert, so dass wir uns nicht über deren Ablauf, sondern auch über deren Folgen und die Reaktionen der Menschen detailliert unterrichten können. Eine schlimme Katastrophe, in ihren Auswirkungen sicherlich nicht weniger gravierend als der Untergang von Pompeji, fand 373 v. Chr. in Griechenland statt. Ort des Geschehens: die Stadt Helike in der nördlichen Peloponnes am Golf von Korinth. Touristenreisen nach Helike erübrigen sich, denn die einst wohlhabende und deswegen auch blühende Stadt gibt es nicht mehr. Sie ist im Meer versunken, als Ergebnis des furchtbaren Zusammenwirkens von einem Erdbeben und einem Tsunami. Ein wahres Schreckensszenario muss sich damals, in einer kalten Winternacht, in und um Helike abgespielt haben. Rückblickend schreibt im 1. Jahrhundert v. Chr. der griechische Historiker Diodor (15,48): „Niemals zuvor sind griechische Städte von einer solchen Katastrophe betroffen worden, und niemals zuvor sind ganze Städte mitsamt ihren Einwohnern verschwunden.“

Diese Aussage mag man noch damit relativieren, dass die antiken Autoren immer von der Tendenz geleitet gewesen sind, die Katastrophe, die sie gerade beschrieben, als die schlimmste aller Zeiten zu charakterisieren. Doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich damals ein ungewöhnlich schweres Unglück ereignete – so schwer, dass der Name „Helike“ bis in die Spätantike hinein synonym für ein schreckliches Inferno stand.

Wie sich aus den Angaben der antiken Schriftsteller rekonstruieren lässt, lief die Naturkatastrophe folgendermaßen ab: Mitten in der Nacht begann die Erde heftig zu beben. In Panik liefen die Menschen aus ihren Häusern ins Freie. Viele jedoch wurden unter den einstürzenden Mauern, Dächern und Wänden begraben. Am Morgen präsentierte sich die einst so stolze Stadt Helike als ein Trümmerfeld. Die Überlebenden befanden sich noch im Schockzustand, als sie ein, wie es Diodor formuliert, „noch größeres und noch unglaublicheres Unglück“ traf: „Das Meer türmte sich zu einer immensen Höhe, und eine riesige Flutwelle überschwemmte alle samt ihrer Heimatstadt.“

Helike versank im Meer aufgrund eines gewaltigen Tsunamis, und dies, obwohl das Zentrum der Stadt mehr als zwei Kilometer vom Meer entfernt lag. Auch die benachbarte Stadt Bura, in den Bergen gelegen, wurde von der Naturkatastrophe schwer in Mitleidenschaft gezogen. Angeblich kamen alle Bewohner, die sich in der Stadt aufhielten, ums Leben. Sie waren so überrascht, dass sie nicht mehr fliehen konnten.

Heute wird, sobald eine Naturkatastrophe geschehen ist, eine umfangreiche Hilfsmaschinerie in Bewegung gesetzt. Soldaten, Rotes Kreuz, private Organisationen erscheinen am Ort des Geschehens und versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie kümmern sich um die Überlebenden, um die Obdachlosen. Regelmäßig tauchen auch, wenn die Gefahr vorüber ist, Politiker auf, sorgsam darauf bedacht, dass ihr Erscheinen auch von den Medien registriert wird. Sie kümmern sich um die Betroffenen und versprechen schnelle und unbürokratische Hilfe, versichern zudem, alles zu tun, um zukünftig besser gegen solche Katastrophen gewappnet zu sein. Wie verhielt es sich in dieser Hinsicht in der Antike? Der Fall Helike beweist, wie viele andere Beispiele, dass Unterstützung von außen eine Selbstverständlichkeit war. Helike gehörte zum Achäischen Bund, einer Vereinigung von insgesamt zwölf Stadtstaaten. Kaum war die Nachricht von dem Unglück publik geworden, schickte der Bund 2.000 Helfer zum Ort der Tragödie. Viel ausrichten konnten sie allerdings nicht mehr, denn die Stadt Helike gab es nicht mehr, sie war in den Fluten verschwunden.

Zu den unerfreulichen Begleiterscheinungen moderner Naturkatastrophen gehört der offenbar nicht zu zähmende Wunsch vieler Menschen, nach der Katastrophe den Ort des Unglücks persönlich in Augenschein nehmen. Für dieses Phänomen hat sich der Begriff „Katastrophentourismus“ eingebürgert. Man könnte zu der Ansicht neigen, dass sich manche Dinge niemals ändern, wenn man erfährt, dass es einen solchen Katastrophentourismus auch im Fall Helike gegeben hat.

Einheimische Fischer machten ein lukratives Geschäft daraus, neugierig herbeigereiste Zeitgenossen mit ihren Booten entlang der Küste zu chauffieren und ihnen dabei die auf dem Meeresgrund verstreuten Reste der versunkenen Stadt Helike zu zeigen. Unter diesen Neugierigen befand sich gelegentlich auch Prominenz wie der Geograph Eratosthenes, zu dessen Verdiensten unter anderem die nahezu exakte Berechnung des Erdumfangs zählte. Er bestieg ein Boot, und die Fischer erzählten ihm, am Grund des Meeres befinde sich eine bronzene Statue des Gottes Poseidon. In den Händen halte er ein Seepferd, dessen gezackte Formen eine Gefahr für die Netze der Fischer darstelle. Viel später, in der römischen Kaiserzeit, gab der Reiseschriftsteller Pausanias (7,24,13) zu, unter Wasser eigentlich gar nicht viel erkannt zu haben: „Die Reste von Helike sind noch gut erkennbar, aber nicht mehr so gut, da sie vom Salzwasser entstellt sind.“

Tatsächlich dürfte sich das Vergnügen der Touristen an der submarinen Besichtigung der versunkenen Stadt Helike im Laufe der Zeit in immer engeren Grenzen gehalten haben, weil man praktisch nichts mehr sah. Doch bis in die Neuzeit hinein gab es Reisende, die von Erfolgserlebnissen berichteten. So notierte am Ende des 18. Jahrhunderts der italienische Reisende Xavier Scrofani, der 1794/95 eine Tour durch Griechenland unternahm:

„Von einem kleinen Kahn aus sehe ich auf dem Grund des Meeres die Reste von Helike. Das Meer hat einen großen Teil der Mauern dieser Stadt, ebenso seine Häuser und seine Tempel beschädigt. Aber man erkennt noch eine Straße, eine Ecke des Theaters und ein anderes großes Gebäude, das man für das Senatslokal hält.“

Man darf getrost davon ausgehen, dass hier mehr Imagination als Realität im Spiel war. Authentischer waren hingegen die archäologischen Forschungen der letzten Jahre. In einer Lagune wurden Ruinen entdeckt, die man mit einiger Wahrscheinlichkeit mit dem antiken Helike identifizieren darf. Hundertprozentige Sicherheit besteht indessen noch nicht, zumal sich die Landschaftsformation – und auch der Küstenverlauf – seit der Antike doch verändert haben.

Zerstörung und Auferstehung von Rhodos

Keiner der Bewohner von Helike hat die Naturkatastrophe, die sich in einer kalten Winternacht des Jahres 373 v. Chr. ereignete, überlebt. Für sie kam jede Hilfe zu spät. Jedoch: Hilfe war da. Und das war kein Einzelfall. Antike Opfer von Naturkatastrophen konnten sich, wenn sie das Desaster überlebt hatten, darauf verlassen, dass man sich um sie kümmerte. Das hatte weniger mit Humanität zu tun als vielmehr mit politischen Beweggründen. Im Fall von Helike erfolgten die wenn auch wirkungslosen Hilfsmaßnahmen aufgrund der Solidarität innerhalb einer politischen Organisation (des Achäischen Bundes). Eine andere Motivation lag den Hilfsaktionen in der Zeit des Hellenismus zugrunde – also jener Zeit nach dem Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.), die geprägt war von der Herrschaft konkurrierender griechisch-makedonischer Könige. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Fall Rhodos. Die griechische Insel vor der Küste Kleinasiens liegt inmitten einer seismisch höchst aktiven Zone, war und ist demzufolge immer wieder teils schweren Erdbeben ausgesetzt. 227 v. Chr. gab es ein besonders heftiges Erdbeben, das immense Schäden verursachte. Viele Gebäude waren zerstört, auch der Hafen war in Mitleidenschaft gezogen worden. Zu beklagen war auch der Verlust eines Weltwunders: Der „Koloss von Rhodos“, eine monumentale Statue des Gottes Helios, 66 Jahre zuvor aufgrund eines Gelübdes errichtet, stürzte ebenfalls ein. Er durfte damit das zweifelhafte Privileg für sich beanspruchen, die kürzeste „Lebensdauer“ unter allen Sieben Weltwundern der Antike gehabt zu haben.

Rhodos war damals eine reiche Handelsrepublik. Reich geworden war man, weil man wusste, wie man zu Geld kam. Es hätte den Bürgern von Rhodos keine Probleme bereitet, den Wiederaufbau nach dem Erdbeben selbst zu finanzieren. Doch man wählte einen anderen, einen raffinierten und gleichzeitig doch auch naheliegenden Weg. Nach und nach besuchten eloquente Abgesandte der Stadt die einzelnen Könige und Fürsten in der großen, weiten Welt des Hellenismus. Sie schilderten die Auswirkungen des Erdbebens in den schwärzesten Farben. Wie die antiken Quellen betonen, traten sie dabei aber so würdevoll auf, dass keiner auf die Idee kam, es mit Bittstellern zu tun zu haben. Doch ihr Anliegen war ganz klar: Sie wollten finanzielle und materielle Mittel einwerben, um den Wiederaufbau durchzuführen und dabei möglichst die eigenen Kassen zu schonen. Und die Rechnung ging auf, denn die Rhodier waren zusätzlich zu allem anderen auch noch geschickte Psychologen. Freimütig sagten sie ihren königlichen Gastgebern, wie viel Geld oder welche Mittel sie von deren monarchischen Kollegen erhalten hatten. Und da zwischen den hellenistischen Herrschern eine gesunde (und manchmal auch ungesunde) Rivalität herrschte, war jeder bemüht, die anderen in Sachen Freigebigkeit zu übertrumpfen. So konnten die Gesandten aus Rhodos überall reich beschenkt die Heimkehr antreten. Was sie an Hilfszusagen im Gepäck hatten, konnte sich wirklich sehen lassen. Hieron und Gelon, die Herrscher von Syrakus, gaben zum Beispiel 75 Silbertalente für den Wiederaufbau der Stadtmauern und der Docks. König Antigonos Doson von Makedonien spendierte, wie buchhalterisch genau festgehalten wurde, 10.000 Dachbalken von 8 bis 16 Ellen Länge, 5.000 Querbalken, sieben Ellen lang, 3.000 Talente Eisen, 1.000 Talente Pech und viele andere Materialien mehr. Auch bei Seleukos, dem Herrscher Syriens, schauten die rhodischen Abgesandten vorbei und zogen auch dort mit reicher Ernte wieder ab. Bei alledem wollte auch der König von Ägypten, Ptolemaios III. mit dem Beinamen Euergetes I. nicht zurückstehen. Er versorgte die Rhodier mit Geld und Fachpersonal, das bei dem Wiederaufbau Hand anlegen sollte. Dank der gebefreudigen Könige konnten sich die Rhodier nun daranmachen, die durch das Erdbeben verursachten Schäden zu beseitigen. Und zufrieden stellten sie am Ende fest: Die Stadt Rhodos erstrahlte nun in neuem Glanz, sie war sogar schöner als vor dem Erdbeben. Nur das Weltwunder Koloss richtete man nicht mehr auf. Da hielten sich die Rhodier an einen alten Orakelspruch, der, allerdings etwas obskur, lautete: „Was gut liegt, soll man nicht bewegen.“ Nach einem Bericht des römischen Antiquars Plinius (Naturalis historia 14,41) machte das kolossale Erdbeben-Opfer aber auch in diesem Zustand noch eine gute Figur: „Der Koloss wurde nach 66 Jahren durch ein Erdbeben umgestürzt, doch auch liegend erregt er noch Staunen. Nur wenige können seinen Daumen umfassen, seine Finger sind größer als die meisten Standbilder. Weite Höhlungen klaffen in den zerbrochenen Gliedern. Innen sieht man große Steinmassen, durch deren Gewicht man die Statue beim Aufstellen stabilisiert hatte.“ Heute liegt der Koloss nicht mehr dort, wo ihn die Rhodier einst nach dem Erdbeben liegen gelassen haben. Als im 7. Jahrhundert n. Chr. die Araber kamen, wurden die wertvollen Trümmer abtransportiert.

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Der antike Hafen von Phalasarna an der Westküste Kretas ist heute komplett verlandet – vermutlich eine Folge des Seebebens von 365 n. Chr.

Römische Kaiser als Katastrophenhelfer

Ptolemaios trug den richtigen Beinamen. „Euergetes“ war das griechische Wort für „Wohltäter“. Und als euergesía pflegten die Griechen damals die Verpflichtung der Herrschers zu bezeichnen, sich in allen Lebenssituationen großzügig zu zeigen. Freigebigkeit war eine herrschaftslegitimierende Kategorie, geradezu notwendig, um als Monarch allgemeine Akzeptanz zu finden. Die euergesía gehörte demzufolge in der Zeit des Hellenismus zu den elementaren Herrschertugenden. Naturkatastrophen waren eine gute Gelegenheit, um zu beweisen, dass man bereit war, die Erwartungen zu erfüllen und sich als „Euergetes“ zu betätigen. Und so nutzte man auch gerne das Erdbeben von Rhodos, um seine Freigebigkeit zu demonstrieren.

Auf die Bereitschaft zur Hilfe von Seiten des Staates konnten auch die Bewohner des Römischen Reiches bauen, vor allem in der Kaiserzeit. Auch hier achtete der Kaiser ganz persönlich darauf, dass die Opfer von Naturkatastrophen in ihrem Unglück nicht allein blieben. In aller wünschenswerten Deutlichkeit zeigte sich dies bei einem schweren Erdbeben, dass 17 n. Chr. weite Teile Kleinasiens erschütterte. Dieses Erdbeben ist als das „12-Städte-Beben“ in die Chroniken eingegangen, weil nicht weniger als zwölf große Städte in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der römische Historiker Tacitus weiß darüber Folgendes zu berichten (ann. 2,47):

„In diesem Jahr wurden 12 bekannte Städte in Kleinasien von einem Erdbeben getroffen. Da es zur Nachtzeit eintrat, war das Unheil noch überraschender und furchtbarer. Es half auch das bei solchen Unglücksfällen übliche Rettungsmittel der Flucht ins Freie nicht viel, da die Bewohner von klaffenden Erdrissen verschlungen wurden. Man erzählt, es hätten sich hohe Berge gesenkt, in steiler Höhe sei erschienen, was vorher Ebene gewesen war, und unter den Trümmern seien Flammen hervorgeschossen.“

Kaiser in Rom war zu dieser Zeit Tiberius, der Nachfolger des großen Augustus. Erst drei Jahre zuvor hatte er die Herrschaft angetreten, doch beim 12-Städte-Beben stellte er unter Beweis, dass er (jedenfalls in dieser Phase seiner Regierung noch) das Einmaleins des erfolgreichen Kaisers beherrschte. Kaum war die Nachricht von dem verheerenden Erdbeben in Rom angekommen, wurden Tiberius und seine Zentrale aktiv. Am schwersten hatte es die Stadt Sardes, die einstige Metropole der lydischen Könige, getroffen. Die Bewohner erhielten für Maßnahmen zum Wiederaufbau einen sofortigen Betrag in Höhe von 10 Millionen Sesterzen zugewiesen. Außerdem wurden ihnen für einen Zeitraum von fünf Jahren die sonst an die römische Staatskasse zu zahlenden Steuern erlassen (dieses Privileg erhielten auch die übrigen elf von der Naturkatastrophe heimgesuchten Städte). Außerdem schickte er einen Mann seines Vertrauens nach Kleinasien, der vor Ort die anstehenden Arbeiten koordinieren sollte.

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Nach dem 12-Städte-Beben ließ sich Kaiser Tiberius auf Münzen als Katastrophenmanager feiern

War bei den hellenistischen Herrschern das Motiv zu helfen die Erfüllung der Erwartungen, die man mit ihnen in ihrer Eigenschaft als „Wohltäter“ verband, so handelte der römische Kaiser gemäß der patronalen Verpflichtungen, die ihm seine Position auferlegte. Er war der Patron aller Römer, er war der „Vater des Vaterlandes“ (pater patriae), der seine Schutzbefohlenen niemals im Stich lassen durfte. Im Gegenzug revanchierten sich diese mit absoluter Loyalität und Treue zum Herrscher.

Von der patronalen Pflichterfüllung des Kaisers profitierten 17 n. Chr. die Städte in Kleinasien, die ihrerseits wussten, wie sie sich dem hilfsbereiten Herrscher erkenntlich zu zeigen hatten. Sie stifteten ihrem Patron eine kolossale Statue, die auf dem Caesar-Forum in Rom aufgestellt wurde. Tiberius wusste seine Unterstützung ebenfalls in angemessener Weise publik zu machen. Er ließ Münzen in Umlauf bringen, die mit der Legende Civitatibus Asiae Restitutis (etwa: „Nach der Wiederherstellung der Städte Asiens“) an seine segensreiche Tätigkeit erinnerten.

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Auch die allegorischen Frauenfiguren auf der Basis eines Altars aus Puteoli (Kampanien) sollten die Fürsorge des Kaisers nach dem 12-Städte-Beben in Kleinasien dokumentieren

Eine antike Mega-Katastrophe

Fragt man nach den schwersten Naturkatastrophen der Antike, so nimmt einen traurigen Spitzenplatz ein Ereignis von nach damaligen geographischen Vorstellungen globalen Ausmaßen ein. Es handelt sich um ein Erdbeben in Kombination mit einem fürchterlichen Tsunami, dessen Auswirkungen von der Ostküste des Mittelmeeres bis nach Sizilien zu spüren waren. Das Datum dieser Tragödie war der 21. Juli 365 n. Chr. Die antiken Berichte überschlagen sich geradezu in dem Bestreben, Begriffe und Bezeichnungen dafür zu finden, was sich im Sommer 365 auf dem Mittelmeer abspielte. Nach Ammianus Marcellinus, dem Autor eines großen Geschichtswerkes, soll das Unglück „die ganze Weite des Erdkreises“ erfasst haben. Der christliche Schriftsteller Hieronymus vermerkt, diese Katastrophe habe die ganze bewohnte Welt heimgesucht. Er schreibt (Chron. 2,44c): „Das Meer überflutete die Küsten und verursachte viele Leiden für zahllose Völker auf Sizilien und den anderen Inseln.“

Als Christ dachte er an eine Neuauflage der Sintflut. Schadensberichte kolportieren die antiken Gewährsleute auch aus Kreta, Nordafrika und vor allem aus Alexandria, der großen, stolzen Hafenstadt in Ägypten, einst von Alexander dem Großen gegründet und auch im Römischen Reich eine Stadt mit Weltformat.

Ammianus Marcellinus liefert eine sehr detaillierte Beschreibung dessen, was sich damals, an jenem verhängnisvollen Juli-Tag, zwischen Palästina und Sizilien abgespielt haben soll (26,10,15–19). Kurz nach Sonnenaufgang lieferten Blitz und Donner die Ouvertüre. Dann begann die Erde zu zittern, das Meer teilte sich und strömte wieder zurück:

„Der Schlund der Tiefe öffnete sich. Die vielgestaltigen Arten der Meerestiere wurden, im Schlamm zappelnd, sichtbar, und die weiten Täler und Höhen, die die Natur bei ihrer Entstehung unter unermesslichen Fluten verborgen hat, wurden damals, wie man glauben darf, den Sonnenstrahlen zugänglich. Viele Schiffe waren so wie auf trockenem Boden gestrandet, und eine Menge Menschen liefen ohne Furcht zwischen den kleinen zurückgebliebenen Tümpeln umher, um Fische und ähnliche Tiere mit den Händen zu sammeln.“

Diese Sorglosigkeit aber sollte den neugierigen Menschen zum Verhängnis werden:

„Da erhoben sich die Meereswogen wie im Zorn über den erzwungenen Rückzug in umgekehrter Richtung, brachen durch die brodelnden Untiefen über Inseln und weit ausgedehnte Strecken des Festlands mit Gewalt herein und machten unzählige Gebäude in den Städten und wo sie sonst zu finden waren dem Erdboden gleich.“

Und nun kam es zu einem wahren Inferno:

„Als niemand mit einem Zurückfluten der Wassermassen rechnete, töteten und verschlangen diese viele tausend Menschen. Bei dem heftigen Strudel der zurückbrandenden Fluten sanken viele Schiffe, wie man später sah, als sich die Brandung des stürmischen Elements gelegt hatte, und die beim Schiffbruch ums Leben gekommenen Seeleute lagen auf dem Rücken oder mit dem Gesicht nach unten am Strand.“

Der Historiker erinnert sich, persönlich ein Schiff gesehen zu haben, das bei der Stadt Methone auf der Peloponnes an Land geschleudert worden war, wo es als stummer Zeuge der Naturkatastrophe von 365 n. Chr. liegen blieb.

Eine Kontrollinstanz zur Bestätigung oder auch zur Relativierung der antiken Berichte (neben Ammianus und Hieronymus haben auch verschiedene andere Autoren, sowohl christlicher als auch nichtchristlicher Couleur, über das Desaster Schilderungen geliefert) sind die modernen archäologischen und geologischen Forschungen. Dabei konnte der Nachweis erbracht haben, dass sich die Katastrophe von 365 tatsächlich ereignet hat – eine Feststellung, die nicht selbstverständlich ist, denn antike Autoren (selbst Historiker) haben gelegentlich, aus den unterschiedlichsten Gründen, Katastrophen auch schlicht erfunden. Das gilt zum Beispiel für die römischen Bürgerkriege in der Endphase der Republik, als Größen wie Caesar, Pompeius, später Octavian (der nachmalige Kaiser Augustus) und Marcus Antonius um die Macht kämpften. Die erbitterten politischen und militärischen Auseinandersetzungen lassen die beschreibenden und kommentierenden Autoren von einem grotesken Szenario unterschiedlichster Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Unwettern, Finsternissen (sie zählten in der Antike auch zu den Naturkatastrophen), Erdbeben oder Heuschreckenplagen begleiten. Diese waren mit Sicherheit nicht real, sondern dienten der darstellerischen Absicht, das Chaos auf der politischen Bühne mit angeblichem Chaos in der Natur zu verbinden, als Zeichen für die gestörte Harmonie zwischen Göttern und Menschen. 365 ereignete sich eine reale Katastrophe – es fragt sich nur, ob sie wirklich so verheerend war, wie es die antiken Informanten behaupten. Nachgewiesen werden konnte das Epizentrum westlich von Kreta. Die Insel wurde damals sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Als Folge der Katastrophe verschoben sich Oberflächenniveau und Küstenverlauf in der Weise, dass die Insel sich Richtung Osten neigte, mit der weiteren Konsequenz, dass die Häfen im Osten (man kann das heute noch sehen) im Meer versanken. Verifiziert werden konnten auch die Berichte, die davon sprechen, dass der gesamte östliche Mittelmeerraum – und also auch die Millionenstadt Alexandria – von der Katastrophe betroffen wurden. Nordafrika und Sizilien sind als Schauplätze dieser Katastrophe von 365 dagegen eher unsicher. Vielleicht wurden lokale Schadensereignisse aus ungefähr derselben Zeit mit der großen Katastrophe im Osten der mediterranen Welt in Verbindung gebracht.