Peter Orullian
Das Gewölbe
des Himmels
Die Verbündeten
Aus dem Englischen
von Maike Claußnitzer
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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Vault of Heaven 2. Trial of Intentions (Part Two)«
bei Tor Books, New York.
1. Auflage
November 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen
der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Peter Orullian
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung und -illustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft
Karte © by Peter Orullian
Redaktion: Alexander Groß
Lektorat: Holger Kappel
Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-12524-0
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www.blanvalet.de
Landkarte
1
EIN HAUCH VON RESONANZ
Für einen Leiholan ist die Signatur eines Menschen nicht dessen Name, nichts, was man schreibt oder sagt, sondern vielmehr der Notensatz, der festlegt, wer und was man ist. Es ist die resonante Harmonie des Wesens eines Menschen. Wenn man sie kennt, dann kennt man ihn ganz.
(Einleitende Bemerkung zum Studium der Harmonien und persönlichen Signaturen, Discantus-Kathedrale)
Wendra trat in ein offenes Atrium hinaus, das sich irgendwo tief im Labyrinth der Säle und Gebäude der Discantus-Kathedrale verbarg. Der junge Musikschüler, der sie hergeführt hatte, zog sich wortlos zurück. Jenseits der Freifläche stand Belamae und wartete. Er hatte Wendra erst nach Mittag zu sich gerufen und ihr den Morgen gelassen, um über die Erinnerungen an ihre Mutter nachzudenken, die in ihren Geist zurückgeströmt waren.
Beinahe sofort waren diese Erinnerungen zu etwas wie einem alten, vertrauten Schal geworden, den sie sich um die Schultern legen mochte, wenn der Abend kühl wurde. Die zweite Hälfte der letzten Nacht hatte sie nicht geschlafen. Sie hatte neben ihrem Bett gesessen und getrauert, als hätte sie ihre Mutter aufs Neue verloren. Sie war dankbar, dass ihr die Erinnerungen an Voncencia zurückgegeben worden waren, aber sie machten die Abwesenheit ihrer Mutter noch schwerer erträglich.
Belamae winkte sie zu sich heran.
Wendra durchquerte das Atrium und gelangte zu einem hohen Tisch, auf dem mehrere Stimmgabeln aufgereiht waren.
Belamae stand auf der anderen Seite des Tisches wie ein Schankwirt hinter der Theke, der sich anschickte, ihr etwas zu trinken anzubieten. Er hob eine der Stimmgabeln hoch und schlug damit kräftig auf die Tischplatte. Die Stimmgabel begann zu summen.
»Schwingung«, sagte der Maester und steckte die Gabel in ein Loch, das in ein kleines Kästchen gebohrt war, das auf dem Tisch stand. Während die Gabel weitersummte, hob Belamae eine zweite Stimmgabel auf und steckte sie in das Loch eines benachbarten Kästchens. Dann legte er die Hand auf die erste Stimmgabel, um sie zum Schweigen zu bringen. Zu Wendras Überraschung summte die zweite Gabel in derselben Tonhöhe wie zuvor die erste.
Sie blickte zu Belamae auf und entdeckte ein selbstzufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht. »Die beiden Stimmgabeln sind auf dieselbe Tonhöhe eingestimmt. Die zweite summt das, was wir einen Antwortton nennen. Was Ihr hier hört, ist die Übertragung von Vibration, Wendra. Das nennen wir …«
»Resonanz«, warf sie ein.
»Genau«, sagte er lächelnd. »Wusstet Ihr übrigens, dass man die Sheson einst als ›Innere Resonanz‹ bezeichnet hat? Sheson üben eine Macht über den Willen aus, die diesen Schwingungsanteil aller Dinge nutzt und sich darauf auswirkt. Jetzt passt auf.«
Der Maester wiederholte die Demonstration, benutzte diesmal aber drei ähnlich gestimmte Gabeln, um die Weitergabe der Resonanz von einer an die zweite und von dieser wiederum an die dritte vorzuführen. Wendras Gedanken überschlugen sich, als sie sich Anwendungsmöglichkeiten für dieses neue Wissen ausmalte. Doch bevor sie damit weit kam, hob Belamae eine der Stimmgabeln hoch und winkte Wendra zu einem Klavier hinüber, dem man den Deckel abgenommen hatte.
Es war nur ein kurzer Weg, aber als sie das Instrument erreichten, ging Belamaes Atem mit einem leichten Keuchen. Er sammelte sich und stützte sich mit verkniffenem Gesicht an der Seite des Klaviers ab.
»Belamae?«
»Es geht mir gut, mein Mädchen. Manchmal können meine Atemluft und mein Blut nicht mit mir mithalten.« Er rieb sich ein wenig die Brust. Wendra erkannte, wie bleich seine Haut war und wie hohl seine Wangen wirkten. Er sah krank aus. Aber er bemerkte ihre Besorgnis und lächelte strahlend. »Nun«, fuhr er fort, »könntet Ihr aus unserem ersten Experiment den Schluss ziehen, dass Resonanz nur in exakt derselben Tonhöhe auftritt. Beobachtet dies hier.« Er schlug mit der Stimmgabel seitlich gegen das Instrument und führte sie mit einer langsamen, anmutigen Bewegung eine Handbreit über die Saiten hinweg. Als er fertig war, ließ er die Stimmgabel verstummen und fragte: »Was hört Ihr?«
Wendra beugte sich über das Klavier. Was sie wahrnahm, erstaunte sie. Sie hörte nicht nur denselben Ton, sondern auch, wie mehrere seiner Oktaven in den Saiten mitschwangen, die über den Resonanzboden gespannt waren.
»Ihr hört Oktaven, mein Mädchen – Saiten, die nicht in derselben Schwingung gespannt sind, aber in einer mathematisch verwandten. Seht her.« Er deutete auf mehrere Saiten. »Ihre Längen sind alle proportional: Wenn sich die Länge verdoppelt, klingt die Saite eine Oktave tiefer.«
Sie nahm Belamae die Stimmgabel ab, schlug sie an und führte sie noch einmal über die Saiten. Nachdem sie die Gabel gedämpft hatte, beugte sie sich vor und spitzte die Ohren. »Ich höre auch Terzen und Quinten, aber leiser.«
»Genau!«, rief Belamae. »Das sind zweit- und drittrangige Harmonien und noch weit mehr. Zusammen wirken sie nicht immer wohlklingend, und doch sind sie mit der Signatur eines Gegenstands verwandt. Zwei beliebige Töne stehen wirklich immer in einem Verhältnis zueinander, das sich aus unwandelbaren Strukturen ergibt. Es hat viel mit Mathematik zu tun.«
Sie verfielen in freundschaftliches Schweigen, bis Wendras Verstand sich einer anderen Frage zuwandte: »Wenn alle beliebigen Töne in einem Verhältnis zueinander stehen, hilft das zu erklären, wie eine Leiholan von dem, was sie singt, geprägt wird.«
Er nickte. »In sehr handfester Hinsicht werdet Ihr zu dem, was Ihr singt.«
»Was ist dann mit dem Leidenslied?«, fragte sie und dachte dabei zugleich an die Version des Liedes, die Belamae für den Krieg umgearbeitet hatte.
Belamaes Lächeln verschwand.
Wendra erläuterte ihre Frage näher: »Ihr sagt, dass das Leidenslied sich ständig wandelt.« Sie verfolgte den Gedankengang weiter. »Wenn das Leidenslied sich also wandelt und eine Leiholan auf einer gewissen Ebene zu dem wird, was sie singt, dann ist Soluna …«
Er hob die Hände. »Wir singen das Leidenslied schon seit vielen Zeitaltern, Wendra. Wir verstehen uns darauf, uns seinen winzigen Veränderungen anzupassen. Aber … in den letzten Jahren ist es anders geworden. Ich bin überzeugt, dass mehr am Werk ist als nur die gewöhnliche Entwicklung des Liedes.«
»Habt Ihr eine genauere Ahnung, was es sein könnte?«
Aus seinem angespannten Gesicht sprach aufrichtige Besorgnis, doch er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber eine andere Leiholan hat sich gestern Nacht schlimmer denn je abgemüht. Das Leidenslied hat sie übel zugerichtet. Ich mache mir Sorgen, dass sie vielleicht nicht …« Er blickte zu Wendra hoch und umfasste ihre Hände. »Aber bitte regt Euch nicht auf. Wir müssen Musik machen, und heute werden wir uns auf das konzentrieren, was ich Euch gerade gezeigt habe: Alles verfügt über eine Resonanzstruktur, die sich aus vielen harmonischen Signaturen zusammensetzt, und es ist möglich, gemeinsame Resonanzen zu diesen Signaturen in vielen Dingen gleichzeitig zu finden.«
Wendra schlenderte allein durch die Straßen des Kathedralenviertels. Sie war von neuem überrascht, dass die Discantus-Kathedrale, die sie seit Beginn ihrer Ausbildung nicht mehr verlassen hatte, inmitten eines Elendsquartiers stand.
Die Leute grüßten sie überwiegend voller Wärme. Der Kampf gegen die geringen Möglichkeiten, die das Leben ihnen bot, verband alle Elenden. Die Hälfte derer, an denen sie vorbeikam, ließen ihrem »Hallo« eine Bitte um Essen oder Geld folgen, und wenn Wendra den Kopf schüttelte, bekam sie gewöhnlich ein »Mögen die toten Götter Euch behüten« zu hören, bevor sie weiterging. Die Übrigen grüßten sie gleichermaßen liebenswürdig, aber unter ihrer Herzlichkeit verbarg sich ein Anflug von Unlauterkeit oder Wahnsinn.
Außerdem war ständig Musik zu hören. In beinahe jedem Gasthaus und jeder Taverne fand irgendeine Aufführung statt. Die Klänge der verschiedenen Lieder, der Fleischgeruch und der durchdringende Gestank derjenigen, die sich kein Bad leisten konnten, ließen Wendra fast vergessen, dass sie unterwegs war, um Menschenhändler wie Jastail zu finden, der sie und Penit beinahe verkauft hätte. Sie hatte es sogar darauf abgesehen, den Wegelagerer selbst aufzuspüren.
Sie hatte keinen rechten Hinweis darauf, wo sie ihn aufstöbern könnte, aber bei ihrer damaligen Entführung hatte er sie ein ganzes Stück auf dem Fluss mitgenommen, demselben Fluss, der durch Decalam strömte. Daher vermutete sie, dass sie nur einen ruhigen Anleger finden musste, um Schiffe zu entdecken, die dem verbotenen Handel dienten – die Sorte, die schnell in die Strömung hinausstoßen und mitsamt der Beute schon weit flussabwärts sein konnte, bevor eine allgemeine Suche begann.
Deshalb machte sie sich nicht erst die Mühe, den Kopf in Saufbuden an engen Gässchen zu stecken oder Bordelle, Spielhöllen oder Auktionshäuser aufzusuchen, und sie teilte auch niemandem mit, wohin sie unterwegs war, am wenigsten von allen Belamae. Er würde diesen Ausflug als genau das betrachten, was er war: einen Schritt auf das Wissen zu, ob und wann sie ihre Ausbildung abbrechen würde. Aber sie musste wenigstens damit beginnen, Nachforschungen anzustellen, auch wenn es sie gefreut hätte herauszufinden, dass der Flusshafen von Decalam wenig mehr als ein Fischmarkt und der Ausgangspunkt von Reisen war. Jedenfalls suchte sie sich einen möglichst geraden Weg durch das Viertel, eifrig darauf bedacht zu ergründen, wie es darum stand.
Die Luft wurde kälter, als sie sich dem Flussbezirk näherte. Sie bemerkte, dass die Musik hier langsamer war und häufiger in Moll dargeboten wurde, die Stimmen ungeschliffener und gebrochener, als litten sie unter ständigem Tabakkrautgenuss oder Schlafmangel. Ein Teil von ihr erkannte, dass diese Musik auf gewisse Weise im Einklang mit der Atmosphäre des Viertels stand – und mit seinen Bewohnern.
Sie kam an mehreren Wirtshäusern vorbei, die zugleich auch als Herbergen dienten, bevor sie ein verwinkeltes Molenlabyrinth erreichte, das einer Reihe von Straßen und Wegen auf dem Wasser glich. Zahllose Schiffe und Kähne lagen vertäut in der Nacht. Der Geruch nach altem, nassem Holz hing schwer über allem. Nur wenige Menschen spazierten an der Kaifront entlang, und die, die es taten, sprachen mit gedämpfter Stimme, wenn sie es denn überhaupt taten. Ein zarter Nebel hing in der Luft, genug, um lästig zu sein, aber nicht so dicht, dass er Wendras Gesichtsfeld sehr eingeschränkt hätte.
Als sie den Blick über Dutzende von Schiffen schweifen ließ, bemerkte sie mehrere mit beleuchteten Fenstern. Die Art von Leuten, nach denen sie Ausschau hielt, blieb gewiss unter sich, statt in Tavernen oder Gasthäusern herumzustehen. Nur zum Zeitvertreib irgendwo Geld auszugeben, wäre unvernünftig gewesen – nicht das, was Jastail getan hätte. Mit dem Gedanken wagte sie sich auf die Anleger hinaus.
Leichtsinnig, mich allein auf das Wagnis einzulassen, dachte sie. Aber sie hatte ja ihr Lied.
Die Pfähle und Stegränder waren mit braunem Moos bewachsen. Im schwachen Schimmer der Sturmlaternen, die von eisernen Haken hingen, die in die Pfähle getrieben waren, wirkte es rau, wie Korallen. Einige der Schiffe, an denen sie vorbeikam, schienen leer zu sein, trotz der Lampen, die in ihrem Innern brannten. Je weiter sie in das Molenlabyrinth hinausgelangte, desto häufiger hörte sie die Stimmen derer, die sich in kleinen, schwimmenden Wirtshäusern in Grüppchen um flackernde Öllampen scharten und sich dem wichtigen Geschäft des Trinkens hingaben.
Das Geräusch Wellen schlagenden Wassers. Der Geruch von verfaulendem Holz und ein angedeutetes Fischaroma. Der matte Lichtschein auf einem Schiff, das binnen eines Augenblicks ablegen und auf den Fluss hinausfahren konnte. Irgendetwas sagte ihr, dass sie bald am Ziel sein würde. Am äußersten Rand der Anleger standen auf dem Landungssteg vor einigen der Schiffe kräftige Männer als stumme Wächter. Auf einem von denen, riet sie.
Sie trat an zwei der Männer heran, wurde aber schon fortgescheucht, bevor sie auch nur den Mund geöffnet hatte, um zu lügen. Am Ende wandte sie sich nach links und wanderte am äußersten Ende der Kaianlagen entlang, bis sie kaum noch die Lichter der Hafenkante sehen konnte. Die wenigen Geräusche, die bis hierher drangen, klangen wie eine verstimmte Spieldose, verzerrt und schleppend. Fast ganz am Ende erspähte sie noch einen Wächter, der auf einer Kiste saß und reglos vor sich hinstarrte.
Sie holte tief Luft und trat auf ihn zu. Nicht schnell. Nicht zögerlich. Sie blieb dort, wo er das Anlegerende einer kurzen Planke bewachte, vor ihm stehen. »Ich komme in geschäftlichen Angelegenheiten.«
Der Mann musterte sie von Kopf bis Fuß wie ein Bauer ein Maultier, das versteigert wird. »Das glaube ich kaum.«
»Ich komme in geschäftlichen Angelegenheiten«, wiederholte sie und zwängte ihre Stimme aus der Kehle hervor, um ihr einen heiseren Beiklang zu verleihen. »Wenn ich das noch einmal sagen muss, dann sorge ich dafür, dass dein Herr dir den verlorenen Kauf aus dem Arsch schneidet.«
Ihre Drohung schien keinerlei Auswirkung auf die Bereitschaft des Mannes zu haben, sich zu bewegen. »Und was für ein Geschäft glaubst du hier abschließen zu können?«
»Ich habe Ware zu verkaufen«, antwortete sie und bemühte sich, gleichmütig zu klingen. »Das kann ich hier tun, oder ich kann woanders hingehen. Wenn du mich abweist, dann sorge ich dafür, dass sich herumspricht, dass du es getan hast – und ich sorge dafür, dass eure Rivalen erfahren, dass ihr schlecht bezahlt. Ich vermute, dein Herr wird dir auch das aus dem Arsch schneiden.«
Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Das glaube ich dir nicht.«
»Wie wäre es dann damit?« Wendra beugte sich vor, um ihm ruhig in die Augen zu sehen. »Was, wenn ich die Geschäfte deines Herrn nicht einfach schädige, sondern sie beende? Was, wenn ich alle Einzelheiten über dieses Schiff der Stadtwache von Decalam mitteile? Einem der Gardisten ist vor kurzem die Tochter entführt worden. Seine Gerechtigkeit wird anders aussehen als die deines Herrn, denke ich.«
Der Mann lachte. »Geh schon rein.« Er packte sie am Arm. »Und wenn du dich nachher einsam fühlst, habe ich hier etwas, das dagegen hilft.« Er fasste sich in den Schritt.
»Ich glaube nicht, dass du die nötige Ausdauer hast«, sagte sie. »Aber ich werde das Angebot nicht vergessen.«
Er ließ sie los, und Wendra überquerte die Planke und stieg zwei Stufen aufs Deck hinab. Sie ging zu einer großen Kajüte vorn auf dem Schiff, holte tief Atem und trat ein, nicht übereifrig, nicht zaudernd, sondern einfach wie jemand, der etwas zu versilbern hatte.
Oje – hier war sie wirklich fehl am Platz! Ihre Kleider waren zwar keine tristen Lumpen, standen aber mehrere Stufen unter denen, die diese Leute trugen: Brokatgewänder so bunt wie das Gefieder eines Erpels oder in üppigem Kobaltblau und Scharlachrot. Breite Ärmelaufschläge und Kragen. Gürtel, die mit Glassteinen besetzt waren. Ordentlich gestutzte, mit Rosenöl zurechtgestrichene Bärte. Die Damen waren mit Perlenketten unterschiedlicher Länge ausstaffiert. Sie machten kein Geheimnis daraus, wofür sie einen Teil ihrer Handelsgewinne ausgaben. Aber der Aufputz wirkte beinahe komisch und zutiefst unangemessen, wenn man die zahlreichen Flecken auf jedem einzelnen Kleidungsstück bedachte, und als würden die Kleider selbst noch nicht seltsam genug aussehen, standen sie zudem in scharfem Kontrast zu den Gesichtern ihrer Besitzer. Die Haut dieser Leute war so wettergegerbt wie die von Flussschiffern, die dem grellen Schein der Sonne ausgesetzt waren, die nicht nur vom Himmel niederbrannte, sondern auch vom Wasser widergespiegelt wurde.
Sie waren zu fünft, drei Männer und zwei Frauen. Sie wirkten nicht bösartig oder leutselig wie Jastail, sondern eher wie ein Trupp Händler. Der einzige Unterschied bestand in der Flasche auf dem Tisch. Das hier war weder Maische noch Glühwein. Die Flasche hatte ein vergoldetes Etikett. Es war ein alter Whisky. Sein durchdringender Geruch lag in der Luft.
Sie warteten ab, was sie tun würde, nicht so, als ob sie ein Eindringling wäre, aber so, als sei sie wie hundert andere. Wendra sah Messer und Schwerter an ihren Gürteln. Zwei Dolche lagen auf dem Tisch neben der Flasche.
»Ich nehme einen Schluck davon«, begann Wendra in dem Versuch, ihre Rolle zu spielen.
Wortlos goss einer der Männer einen Mundvoll in sein eigenes Glas und streckte es ihr hin.
Wendra nahm es, stürzte den Inhalt hinunter und kämpfte gegen das Brennen an, das ihr in der Nase und hinter den Augen aufstieg. Dann reichte sie das Glas zurück.
Immer noch sprach keiner von ihnen. Sie warteten.
Wendra schluckte zwei Mal. »Ich habe Ware zu verkaufen. Kauft Ihr?«
»Wir haben keine Ahnung, wovon Ihr da sprecht«, sagte der Mann, der ihr das Getränk eingegossen hatte. Er hatte einen kräftigen Bauch. Einen, der aussah, als ob er aus verhärteten Muskeln bestand.
»Drei Kinder«, fügte sie hinzu, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.
Der Mann zeigte keinerlei Neugier.
Wendra dachte an ihre eigene Entführung zurück, und ihr kam ein Einfall. »Und außerdem noch eine schwangere Frau.«
Einen Moment lang verrieten die gefühllosen Gesichter reges Interesse. Der Mann, der ihr eingeschenkt hatte, winkte einem seinen Gefährten zu, sich hinter Wendra zu stellen, um ihr den Weg zur Tür abzuschneiden.
»Menschen zu verkaufen ist verabscheuungswürdig«, sagte der Mann. »Was bringt Euch auf den Gedanken, dass wir mit solcher Ware handeln?«
Wendra kämpfte ihren panischen Drang nieder davonzulaufen und trat weiter in den Raum. Sie betastete die Flasche und nahm das Etikett in Augenschein, als wäre sie jemand, der die Unterschiede zwischen verschiedenen Whiskysorten kannte. »Ich kann meine Ware auch anderswo anbieten, wenn Ihr zu zimperlich dafür seid.«
Nun lächelte der Mann und entblößte Zähne, die so braun waren wie das Moos auf den Pfählen. »Setzt Euch«, lud er sie ein.
»Ich habe nicht vor, lange genug hierzubleiben, um es mir gemütlich zu machen«, entgegnete sie. »Nehmt es mir nicht übel. Der Whisky leistet Euch schon Gesellschaft.«
Der Mann lachte über die Beleidigung. »Ihr seid sehr wagemutig für ein hübsches Mädchen, das allein weit draußen auf den Anlegern unterwegs ist.«
»Was bringt Euch auf den Gedanken, dass ich allein hier bin?« Wendra sah ihnen nacheinander herausfordernd in die Augen.
»Ach, ich weiß nicht.« Der Stuhl des Mannes ächzte unter seinem beträchtlichen Gewicht, als er sich zurücklehnte. »Die Anleger verbergen nicht viel. Und jede Unterstützung, die Ihr vielleicht habt, würde wohl zu spät kommen. Meint Ihr nicht?«
Wendra entschloss sich, an dieser Stelle eine Karte auszuspielen. Eine, von der sie hoffte, dass sie eine Reaktion hervorrufen würde, die sie ausnutzen konnte. »Sagt der Name Jastail Euch irgendetwas?«
Das Lächeln des Mannes verflog augenblicklich. Wendra sah Ärger auf mehreren Gesichtern. »Ihr seid doppelt dumm, hier herauszukommen und dann auch noch den Namen dieses Schufts zu nennen!« Er beugte sich vor und starrte sie an. »Ihr seid keine Händlerin, sonst wärt Ihr klug genug, uns nicht mit Jastails Freundschaft zu drohen. Das würden selbst seine engsten Freunde nicht tun – also seid Ihr nicht mit ihm befreundet.« Das Lächeln des Mannes kehrte zurück. Er schenkte sich noch etwas ein und leckte den Rand des Bechers ab, um anzudeuten, dass er gern Wendras Lippen gekostet hätte, bevor er den Whisky hinunterstürzte. »Die eigentliche Frage«, fuhr er fort, »ist doch, warum Ihr nach ihm sucht. So ein hübsches Ding wie Ihr …«
Unter dem Fußboden hervor hörte Wendra einen gedämpften Schrei: »Los! Lauf weg!«
Der Hüne sah einen seiner Männer an, der daraufhin durch die hintere Kajütentür schlüpfte. Dann richtete er sein Augenmerk wieder auf Wendra.
Sie versuchte nicht, ihre Verstellung weiter durchzuhalten. »Ganz recht. Der Hurensohn schuldet mir etwas. Ich werde ihn dafür bezahlen lassen, darauf könnt Ihr Gift nehmen. Aber ich muss wissen, wo ich ihn finden kann. Ich muss wissen, wo er Handel treibt.« Wendra dachte nach und fügte schnell hinzu: »Ich habe nichts gegen die Ware, mit der Ihr handelt, und es stimmt, dass ich selbst vorhabe, Händlerin zu werden.« Ihr wurde schon übel dabei, auch nur die Worte auszusprechen. »Aber für den Augenblick begnüge ich mich mit einer Liste von Orten, an denen ›es staubt‹.«
Wendra erinnerte sich an den Ausdruck für die Versteigerungsblöcke, auf denen gefangene Ware mit gekalkten Füßen, die bei jedem Schritt Staub aufwirbelten, eine behelfsmäßige Bühne überquerte. Die Schuhe wurden ihnen abgenommen, um einer Flucht vorzubeugen, und ihre Füße wurden gekalkt, damit sie nicht rissig wurden und den Wert der Sklaven minderten.
Der Mann nickte und wusste anscheinend sowohl ihre Absicht, von Jastail einen Preis zu fordern, als auch ihre Kenntnis des Handels zu schätzen. »Was ist mit den drei Kindern? Und der schwangeren Frau?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Eine Lüge«, gestand sie.
Ein gedämpfter Schlag ertönte, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Wieder unter den Bodendielen hervor.
Der Mann bekundete theatralisch seine Enttäuschung. »Schade um die Schwangere … Gebärmütter sind unsere Spezialität.« Er lächelte und beugte sich so nahe heran, dass Wendra den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. »Aber was die toten Götter einem mit einer Hand nehmen, geben sie einem mit der anderen zurück.« Er sah über ihre Schulter einen seiner Kumpane an, der vorwärtshechtete, Wendras Arme packte und sie ihr auf dem Rücken festhielt.
Der Mann lehnte sich zurück, goss sich noch einen Whisky ein und nippte diesmal nur daran, während er sie nachdenklich musterte. »Du bist in gebärfähigem Alter. Du wirst einen schönen Preis einbringen. Und wenn Jastail irgendeinen Hader mit dir hat, zahlt er vielleicht anderthalbmal so viel, um Gelegenheit zu haben, derjenige zu sein, der dich hineinverkauft.«
»Hinein?«, fragte sie.
Der Mann winkte ab, statt ihre Frage zu beantworten. »Steckt sie zu den anderen«, sagte er und widmete seine Aufmerksamkeit wieder seinem Getränk.
»Wartet!«, rief sie. Etwas im Klang ihrer Stimme weckte die Neugier der Händler und ließ den Mann, der sie festhielt, stehen bleiben. »Nur für den Fall, dass ich entkomme … sagt mir, wo ich ihn finden kann. Ich lasse es mir nicht nehmen, ihn zu töten.«
Der Mann sah sie wieder an und schüttelte mit einer gewissen Anerkennung den Kopf. »Der Dreckskerl muss ja eine ziemliche Wirkung auf dich gehabt haben! Was hat er getan, dich gezwungen, die Beine breit zu machen? Das ist nichts, worauf unsere Käufer Wert legen.« Der Mann beugte sich vor und riss ihr die Hose weit genug herunter, um ihre Taille in Augenschein zu nehmen. Ihm war anzusehen, dass ihm etwas dämmerte, als er die Dehnstreifen erspähte, die ihre Haut von ihrer nicht lange zurückliegenden Schwangerschaft zurückbehalten hatte. »Du hast ein Kind zur Welt gebracht, wie ich sehe. Jastail hat dich um des Kindes willen entführt. Der Dummkopf ist zu allem entschlossen, das muss man ihm lassen!«
»Sagt es mir einfach«, drängte Wendra.
Noch während sie sprach, kehrte der Mann, der hinausgegangen war, zurück und schloss die rückwärtige Kajütentür hinter sich.
»Auch wenn es dir kaum etwas nützen wird, mein Mädchen: Jastail ist ein Gewohnheitstier. Wenn du schon in seiner Gesellschaft warst, dann weißt du, wo du ihn findest.«
Natürlich.
Der Mann hatte ihre Hose nicht losgelassen und beäugte jetzt ihre Haut. Sein Blick schweifte über ihren Bauch und bis zu ihren Brüsten hinauf. »Vielleicht können wir ja auch etwas Spaß mit dir haben. Was ein Käufer nicht weiß …«
Beide Frauen in der kleinen Kajüte bedachten Wendra mit lüsternen Blicken. Der zweite Mann, den sie noch sehen konnte, machte sich nicht die Mühe, seine Begierde zu verhehlen. »Vielleicht kann sie ja mit den Damen anfangen«, schlug er vor, »und wir stoßen später hinzu.«
Ihr Menschenhandel, ihre Vorliebe für guten Whisky, die unverkennbare Wollust, die diese Männer und Frauen miteinander gemein hatten … Diese Mannschaft verfügte über einen tiefen, wahnwitzigen Vergnügungsdrang, nicht anders als Jastail, der nur noch dann spielen konnte, wenn es um den allerhöchsten Einsatz ging.
Wendra konnte sich nicht aus dem Griff des Mannes befreien, der sie festhielt, und selbst, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre, hätte es keinen Sinn gehabt davonzulaufen. Sie wäre niemals auch nur bis zur Tür gelangt, ohne wieder von den Händlern gepackt zu werden, und schon gar nicht an dem Wächter auf dem Anleger vorbei. Sing sie nieder. Aber sie wollte nicht ihr Schreilied singen. Das hätte viel Aufmerksamkeit erregt – es wäre laut gewesen und hätte wahrscheinlich gleich die ganze Kajüte zerstört.
Resonanz. In vielen Dingen zugleich.
Ohne weiter nachzudenken, begann sie zu summen. Das musste die Händler seltsam berühren, denn sie erstarrten alle und musterten sie unverwandt.
Wendra ließ ihr Summen in Gesang übergehen, griff damit aus, streichelte sie und malte sich die dunklen Lüste aus, die ihnen innewohnten – Fleisch auf Fleisch, Atem, der modrig von ganzen Flaschen voll gutem Roggenbrand war, mit anzusehen, wie Menschen die letzte Hoffnung verloren, wenn sie für so wenige Münzen verscherbelt wurden, dass man das Geld einfach in die Tasche stecken konnte.
Wendra bemühte sich, den Ton leise zu halten und eine schwermütige, verführerische Melodie zu singen. Sie improvisierte einen Text, der unausgesprochene fleischliche Gelüste andeutete, ganze Winter, die man damit zubrachte, vor dem Feuer alten, lange aufgesparten Whisky zu trinken, während Körper sich in unterschiedlichsten Kombinationen lustvoll vereinten … und die Klagen der Sklaven, die sie verkauften, um das alles zu bezahlen. Kontrolle. Das war das Aphrodisiakum im Herzen jedes Händlers. Und Wendra sang ihr Lied. Sie fand die Stelle in jedem Einzelnen von ihnen, an der jene Töne Resonanz erzeugten.
So, wie eine Stimmgabel die andere zum Summen brachte, und dann noch eine, und noch eine, umfing Wendras Lied sie alle mit der Umarmung dessen, was sie wollten … wonach sie sich aus tiefster Seele sehnten. Was den größten Widerhall in ihnen erzeugte.
Und sie liebkoste diese Gelüste mit ihrem Lied.
Sie sah, wie die Augen der Händler glasig wurden, gebannt von den Visionen, die sie in ihnen heraufbeschwor. Der Mann, der sie festgehalten hatte, ließ sie los. Dem Anführer glitt das Glas aus der Hand und zerbarst auf dem Boden – niemand zuckte zusammen. Die Frauen zogen die Brauen zu dem Ausdruck des Genusses zusammen, den man in Augenblicken höchster Lust empfindet.
Wendra sang weiter und fand eine neue Mitte für das Lied. Eine tiefere Resonanz. Sie überstürzte nichts und sang auch nicht lauter. Sie sang tiefer. Sie griff nach ihren eigenen Gefühlen, nach den Abgründen düsterer Lust, die sie empfand, wenn sie sich ausmalte, die Stilletreuen zu zerfleischen, die diesen Handel überhaupt erst herbeigeführt hatten. Sie fand wieder die Resonanz ihres eigenen Herzens, als ihre Vision schonungslos wurde und ihr Lied Fleisch von den Knochen derjenigen riss, die menschliche Ware kauften.
Und sie malte sich aus, das Gleiche den Händlern anzutun, in deren Kreis sie auf diesem vor Anker liegenden Schiff stand.
Aber diesmal war ihr Lied keine Reihe heiserer Schreie. Diesmal war es eine langsame, persönliche Melodie, ein Klang, der die Saiten der düsteren Begierde so gewaltsam anschlug, dass diese Händler dort, wo sie saßen oder standen, allmählich in sich zusammensackten.
Wendra sang weiter. Sie drang noch weiter nach unten vor, fand eine Resonanztiefe, von der sie nicht geglaubt hatte, sie erreichen zu können, und die ihrem eigenen Verstand düstere Begierden eingab: Verlockendes, das ausprobiert und erlebt werden wollte. Sie richtete sie gegen die Händler und entdeckte in ihnen abscheuliche Absichten, die sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte. Aber sie scheute nicht davor zurück. Sie gab sich ihnen hin. Sang sie. Erweckte sie für diese fünf zum Leben. Für sich selbst. Sie verwandelte sie in solch einen jubilierenden, unerträglichen Rausch der Erfüllung, dass sie sich nur ansatzweise bewusst wurde, dass sie alle schon dank der Heftigkeit ihrer Lust ihren letzten Atemzug getan hatten.
Sie hatte sie getötet. Sie hatte mit ihrem Lied in Körper und Geist ein stummes Entzücken gewoben – eines, das die Erregung ausnutzte, die Macht und Überlegenheit in einem auslösten. Die Erregung der Lust.
Sie hörte auf zu singen und sank zitternd auf Hände und Knie. Ihr Gesicht und ihr Körper waren schweißüberströmt. Sie keuchte vor Erschöpfung und angesichts der Empfindungen, die sie noch immer in Wellen durchliefen.
Nachträglich kam ihr der Gedanke, dass eine der Frauen in ihren letzten Augenblicken dankbar dafür gewesen war, von den Zwängen befreit zu werden, die sie an dieses Geschäft gebunden hatten.
Es verging wohl eine halbe Stunde, bis Wendra wieder klar sehen konnte. Als sie den Kopf hob, entdeckte sie ein Röhrchen im Stiefel des toten Anführers. Sie zog es hervor, öffnete es und fand eine Landkarte, auf der Sklavenhandelsposten verzeichnet waren.
Als sie inmitten dieser Sklavenhändler kniete, erschauerte sie, weil ihr bewusst wurde, wie wahr Belamaes Mahnung gewesen war.
Jedes Mal, wenn Ihr in Resonanz mit etwas oder jemandem singt, verändern sich Eure eigenen Schwingungen ein klein wenig.
Sie konnte einen gefährlichen, sinnlichen Klang spüren, der sich in ihr vor Lachen ausschüttete. Ein unvernünftiger Gedanke huschte ihr durch den Sinn: Geh schon, leg den Türsteher flach!
… verändern sich Eure eigenen Schwingungen ein klein wenig.
Das brachte sie dazu, über das Singen des Leidensliedes nachzudenken. War das, was sie gerade gesungen hatte, auch eine Art Leidenslied gewesen? Sie wusste es nicht. Was hier geschehen war, kam ihr seltsam unwirklich vor. Und berauschend. Was kann ich noch singen … und wem könnte es schaden? Aber es tat ihr nicht leid, die Händler getötet zu haben. Davon konnte keine Rede sein.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie aufstand. Stumm durchsuchte sie die Toten und entdeckte einen Schlüsselbund bei dem Mann, der die Runde kurz verlassen hatte. Sie huschte durch die Hintertür und fand eine Luke auf dem Deck. Sie öffnete das Vorhängeschloss, mit dem sie gesichert war, und zog die Klappe hoch, unter der sich eine Treppe verbarg, die in einen dunklen Laderaum führte.
Wendra stieg langsam in die Tintenschwärze hinab. Sie hatte den Eindruck, gemustert und beurteilt zu werden. Einen Augenblick später wurde tiefer im Laderaum eine kleine Öllampe entzündet. Was sie sah, ließ ihr das Herz vor Mitgefühl und Zorn heftiger klopfen. Sieben Frauen waren an hölzerne Pritschen gekettet. Drei von ihnen waren schwanger. Wenn sie sich nicht täuschte, würden die Kinder binnen einem oder zwei Mondumläufen geboren werden.
Wortlos suchte sie den Schlüssel, um ihre Ketten aufzuschließen. Die Frauen beobachteten Wendra schweigend. Was sie am meisten überraschte, war, dass keine von ihnen von der Pritsche, aus dem Laderaum hervor oder vom Schiff stürmte.
Die Jüngste von ihnen sah Wendras Augen die Frage wohl an. Sie zitterte in der Kälte, und ihr Bauch verriet, dass ihr Kind fast weit genug war, geboren zu werden. »Sie werden uns wiederfinden.« Es war die Angst, die sie gebunden hielt – vermutlich eine Drohung, die sie wiederholt gehört hatten, seit man sie gefangen genommen hatte.
»Nein«, sagte Wendra. »Die entführen keine Frauen mehr.«
Sie wollte ihnen etwas vorsingen. Etwas Sanftes, Tröstliches. Aber, bei allen Höllen, wie müde sie war – und wie sie innerlich fror! Also legte sie sich stattdessen neben das junge Mädchen und hoffte, dass sie selbst über genug Körperwärme verfügte, um dessen Zittern zu lindern. Sie lächelte im Dämmerlicht ein klein wenig und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie vielleicht mehr Wärme brauchte als das Mädchen.
»Was tun wir jetzt?«, fragte eine andere Frau.
»Lasst mich eine Weile ruhen. Dann verlassen wir den Hafen, und Ihr geht nach Hause.«
Zwei der Frauen tauschten einen zweifelnden Blick. »Was ist mit dem Wachhund auf dem Anleger?«
Wendra schenkte ihnen noch ein kleines Lächeln. »Für den habe ich ein Lied.«