Das Buch
Bei Experimenten zur biologischen Kriegführung kommt es in einem Labor des amerikanischen Verteidigungsministeriums zu einem Unfall. Ein tödliches Virus verbreitet sich in einer Kettenreaktion über das Land, und die »Supergrippe« dezimiert fast die gesamte Bevölkerung. Die Überlebenden haben unterschiedliche Ansichten, wie die Zivilisation aufrechtzuerhalten sei, und scharen sich um zwei sehr gegensätzliche Anführer: die über hundertjährige Mutter Abagail mit ihren göttlichen Visionen und den teuflischen Randall Flagg, den dunklen Mann. Es kommt zum alles entscheidenden letzten Gefecht zwischen Gut und Böse.
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.
Ein vollständiges Werkverzeichnis der lieferbaren Titel findet sich auf www.heyne.de.
The Stand
Das letzte Gefecht
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Harro Christensen, Joachim Körber,
Wolfgang Neuhaus
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Stand
bei Doubleday, New York
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Text wurde für diese Ausgabe anhand der
Originalausgabe letzter Hand neu durchgesehen.
Copyright © 1978, 1990 by Stephen King
Copyright © 1992 der deutschen Übersetzung by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe
(neu durchgesehen) by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-15343-4
V005
Für Tabby
Diese dunkle Truhe voller Wunder
Vorbemerkung des Autors
The Stand – Das letzte Gefecht ist ein Produkt der Fantasie, wie das Thema an sich schon deutlich macht. Zahlreiche Geschehnisse spielen sich an tatsächlich existierenden Schauplätzen ab – zum Beispiel Ogunquit, Maine; Las Vegas, Nevada, und Boulder, Colorado –, aber ich habe mir bei diesen Schauplätzen die Freiheit genommen, sie so zu verändern, wie es mir für den Gang der Handlung richtig erschien. Ich hoffe, dass Leser, die an den genannten oder anderen im Roman geschilderten Schauplätzen wohnen, mir diese »monströse Anmaßung« (um Dorothy Sayers zu zitieren, die sich derlei Freiheiten auch stets in größerem Umfang nahm) nicht verübeln.
Andere Orte, zum Beispiel Arnette, Texas, und Shoyo, Arkansas, sind ebenso frei erfunden wie die Handlung selbst.
Besonderer Dank geht an Arztassistent Russell Dorr und Dr. Richard Herman, beide vom Bridgton Family Medical Center, die mich über die Eigenheiten der Grippe und ihre etwa zweijährlichen Mutationen aufgeklärt haben, und an Susan Artz Manning aus Castine fürs Gegenlesen des Originalmanuskripts.
Der größte Dank gilt Bill Thompson und Betty Prashker, die dieses Buch bestmöglich realisiert haben.
S. K.
Ein Vorwort in zwei Teilen
Teil 1: Vor dem Kauf lesen
Einiges müssen Sie von vornherein über diese Fassung von The Stand – Das letzte Gefecht wissen, bevor Sie die Buchhandlung verlassen. Daher hoffe ich, dass ich Sie noch rechtzeitig erwischt habe – im Idealfall, während Sie jetzt vor dem Buchstaben K der belletristischen Neuerscheinungen stehen, Ihre anderen Erwerbungen unter dem Arm, und dieses Buch aufgeschlagen vor sich haben. Mit anderen Worten: Ich hoffe, ich habe Sie erwischt, solange Sie Ihr Portemonnaie noch sicher in der Tasche haben. Bereit? Okay; danke. Ich verspreche, mich kurz zu fassen.
Erstens, das hier ist kein neuer Roman. Sollten Sie einer diesbezüglichen Fehleinschätzung unterliegen, so lassen Sie uns das hier und jetzt klarstellen, während Sie noch in sicherer Entfernung von der Registrierkasse sind, wo das Geld aus Ihrer Tasche in die meine fließt. The Stand – Das letzte Gefecht wurde ursprünglich vor mehr als zehn Jahren veröffentlicht.
Zweitens, dies ist keine brandneue, vollkommen andere Version des Romans, der als The Stand – Das letzte Gefecht erschienen ist. Sie werden feststellen, dass die alten Hauptfiguren sich im Wesentlichen genauso verhalten, und der Verlauf der Erzählung zweigt auch nicht an einer bestimmten Stelle von der alten Version ab und führt Sie, lieber treuer Leser, in eine völlig neue Richtung.
Diese Fassung von The Stand – Das letzte Gefecht ist eine Erweiterung des bereits erschienenen Romans. Wie gesagt werden Sie keine alten Bekannten treffen, die sich auf merkwürdige Weise anders verhalten, aber Sie werden feststellen, dass fast alle Figuren in dieser Originalfassung des Buches mehr gemacht haben, und wenn ich nicht der Meinung wäre, dass manches davon interessant ist – vielleicht sogar erhellend –, hätte ich diesem Projekt niemals zugestimmt.
Wenn Sie das nicht interessiert, sollten Sie dieses Buch nicht kaufen! Wenn schon geschehen, dann haben Sie hoffentlich den Kassenzettel behalten. Den will Ihre Buchhandlung sehen, andernfalls bekommen Sie weder eine Gutschrift noch Ihr Geld zurück.
Wenn diese erweiterte Fassung Sie aber interessiert, dann bitte ich Sie, mich ein Stückchen weiter zu begleiten. Ich habe Ihnen viel zu erzählen, und ich glaube, dort hinter der Ecke können wir uns besser unterhalten.
Im Dunkeln.
Teil 2: Nach dem Kauf lesen
Was jetzt kommt, ist weniger Vorwort als vielmehr eine Erklärung, warum diese neue Version von The Stand – Das letzte Gefecht überhaupt erscheint. Das Buch war in der bisherigen Form schon außerordentlich lang, und die vorliegende erweiterte Fassung wird von manchen – vielleicht von vielen – als Akt der Selbstgefälligkeit eines Autors angesehen werden, dessen Werke inzwischen so erfolgreich sind, dass er es sich leisten kann. Ich hoffe nicht, aber ich müsste schon verdammt dumm sein, wenn ich nicht wüsste, dass ich damit zu rechnen habe. Schließlich haben viele Kritiker schon die frühere Fassung als aufgebläht und überlang angesehen.
Ob das Buch von Anfang an zu lang war oder es in dieser Ausgabe geworden ist, diese Frage will ich dem einzelnen Leser überlassen. Ich möchte diese wenigen Zeilen nur nutzen und sagen, dass ich The Stand, wie es ursprünglich geschrieben wurde, nicht deshalb veröffentliche, um mir selbst oder einem bestimmten Leser einen Gefallen zu tun, sondern den vielen, die mich darum gebeten haben. Ich würde das Buch nicht in dieser Form anbieten, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass die gestrichenen Passagen die Geschichte bereichern, und ich wäre ein Lügner, würde ich meine Neugier, wie das erweiterte Buch aufgenommen wird, nicht zugeben.
Ich möchte Ihnen die Entstehungsgeschichte von The Stand – Das letzte Gefecht hier ersparen – die Gedankengänge, die einen Roman hervorbringen, interessieren kaum jemand, abgesehen von angehenden Romanautoren. Sie neigen zu dem Glauben, dass es eine Geheimformel gebe, einen erfolgreichen Roman zu schreiben, aber die gibt es nicht. Man hat einen Einfall; an einer bestimmten Stelle klinkt sich ein anderer Einfall ein; man zieht eine oder mehrere Verbindungen zwischen ihnen; ein paar Figuren (anfangs normalerweise eher schattenhafte) bieten sich an; dem Schriftsteller fällt ein mögliches Ende ein (obwohl das tatsächliche Ende meistens anders ausfällt, als der Verfasser es sich vorgestellt hat); und irgendwann macht er sich mit Papier und Bleistift, einer Schreibmaschine oder einem Textcomputer an die Arbeit. Wenn ich gefragt werde: »Wie schreiben Sie?«, dann antworte ich darauf regelmäßig: »Ein Wort nach dem anderen«, und diese Antwort stößt ebenso regelmäßig auf Unglauben. Aber es ist so. Es hört sich zu einfach an, um wahr zu sein, aber denken Sie an die Chinesische Mauer, wenn Sie wollen: ein Stein nach dem anderen, Mann. Mehr nicht. Ein Stein nach dem anderen. Aber ich habe gelesen, dass man das Scheißding ohne Teleskop aus dem All sehen kann.
Falls es jemand doch interessiert: Die Geschichte wird im letzten Kapitel von Danse Macabre erzählt, einem geschwätzigen, aber benutzerfreundlichen Überblick über das Horror-Genre, den ich 1981 veröffentlicht habe. Das soll jetzt keine Werbung für das Buch sein; ich sage nur, dass die Story dort steht, wenn Sie sie lesen wollen, obwohl sie nicht etwa erzählt wird, weil sie an sich interessant wäre, sondern um ein völlig anderes Anliegen zu verdeutlichen.
Wichtig für das vorliegende Buch ist es, dass alles in allem etwa vierhundert Manuskriptseiten aus der endgültigen Fassung herausgekürzt worden waren. Der Grund dafür war nicht inhaltlicher Natur; wäre das der Fall, dann wäre ich damit zufrieden, das Buch sein Leben so leben und seinen letztlichen Tod so sterben zu lassen, wie es ursprünglich veröffentlicht wurde.
Die Streichungen waren auf Verlangen der Buchhaltung vorgenommen worden. Man rechnete die Herstellungskosten zusammen, verglich diese mit den Verkaufszahlen der Hardcoverausgaben meiner vorherigen vier Bücher und kam zum Ergebnis, dass ein Ladenpreis von 12,95 Dollar für den Markt das Äußerste sei (vergleicht das mal mit dem jetzigen Preis, Freunde und Nachbarn!). Ich wurde gefragt, ob ich die Kürzungen selbst vornehmen wolle oder es mir lieber sei, wenn jemand im Lektorat es mache. Widerwillig habe ich den chirurgischen Eingriff dann selbst vorgenommen. Ich glaube, gute Arbeit abgeliefert zu haben – jedenfalls für einen Schriftsteller, dem man gern Logorrhö vorwirft. Es gibt nur eine Stelle – die Reise des Mülleimermanns quer durch das Land von Indiana nach Las Vegas –, die mir in der ersten Fassung deutlich amputiert zu sein scheint.
Wenn also die Geschichte eigentlich komplett vorhanden ist, warum dann überhaupt die Mühe? Vielleicht doch aus Selbstgefälligkeit? Hoffentlich nicht; sollte das nämlich der Fall sein, hätte ich viel Lebenszeit vergeudet. Nun bin ich aber einmal der Meinung, dass das Ganze immer größer ist als die Summe seiner Teile. Wäre dem nicht so, dann wäre die nachfolgende Version von »Hänsel und Gretel« in jeder Hinsicht akzeptabel:
Hänsel und Gretel waren zwei Kinder mit einem lieben Vater und einer lieben Mutter. Die liebe Mutter starb, und der Vater heiratete eine Schlampe. Die Schlampe wollte die Kinder loswerden, damit sie mehr Geld für sich selbst ausgeben konnte. Sie brachte ihren feigen, matschköpfigen Manne dazu, Hänsel und Gretel in den Wald zu führen und umzubringen. Im letzten Augenblick überlegte der Vater der Kinder es sich anders und ließ sie leben, damit sie langsam im Wald verhungern konnten, anstatt schnell und barmherzig durch das Messer zu sterben. Beim Herumspazieren fanden die Kinder ein Haus aus Lebkuchen. Das gehörte einer Hexe, die auf Kannibalismus abfuhr. Sie sperrte die Kinder ein und kündigte an, sie zu verspeisen, sobald sie groß und fett geworden seien. Aber die Kinder zeigten ihr, was eine Harke war. Hänsel schubste sie in den Ofen. Sie fanden den Schatz der Hexe und zudem wohl eine Landkarte, fanden sie doch schließlich auch wieder nach Hause. Als sie dort ankamen, schickte Paps die Schlampe in die Wüste, und danach lebten sie alle glücklich. Ende.
Ich weiß nicht, was Sie davon halten, aber für mich ist diese Version ein Reinfall. Die Geschichte ist da, aber sie ist nicht elegant. Sie ist wie ein Cadillac, dessen Chromteile man entfernt und dessen Farbe man bis aufs stumpfe Metall abgeschmirgelt hat. Man kann damit fahren, aber er ist irgendwie nicht, na ja, geil.
Ich habe nicht die ganzen vierhundert gekürzten Seiten wieder eingefügt; es ist ein Unterschied, ob man etwas richtig renoviert oder einfach nur flickschustert. Ein Teil dessen, was beim Kürzen auf dem Boden des Schneideraums gelandet ist, verdiente es, auch dort zu bleiben. Andere Stellen, beispielsweise Frannies Begegnung mit ihrer Mutter am Anfang des Buches, bilden eine Bereicherung und verleihen eine Tiefe, die ich, als Leser, außerordentlich schätze. Kehren wir einen Moment zu »Hänsel und Gretel« zurück; wie vielleicht erinnerlich, verlangt die böse Stiefmutter von ihrem Mann, dass er ihr die Herzen der Kinder als Beweis dafür mitbringt, dass der unglückliche Holzfäller ihren Befehl ausgeführt hat. Der Holzfäller beweist einen letzten Überrest Intelligenz, indem er ihr die Herzen von zwei Kaninchen mitbringt. Oder man nehme die berühmte Spur aus Brotkrumen, die Hänsel hinter sich ausstreut, damit er und seine Schwester den Rückweg finden. Pfiffiges Kerlchen! Aber als er der Spur zurückfolgen will, muss er feststellen, dass Vögel die Krumen gefressen haben. Beides ist für die Handlung nicht von entscheidender Bedeutung, aber in gewisser Weise bildet es die Handlung – beides sind großartige, magische Versatzstücke des Geschichtenerzählens. Sie machen aus einem potenziell langweiligen Stück eine Geschichte, die seit über hundert Jahren Leser bezaubert und einen das Gruseln lehrt.
Ich habe so eine Ahnung, dass nichts, was ich neu eingefügt habe, so gut ist wie Hänsels Brotkrumenspur, aber ich habe immer bedauert, dass niemand außer mir und ein paar Leuten bei Doubleday je den Irren kennengelernt hat, der sich The Kid nennt … oder Zeuge wird, was ihm vor einem Tunnel zustößt, der wiederum ein Kontrapunkt zu einem anderen Tunnel ist – dem Lincoln-Tunnel in New York, den zwei Personen früher im Roman durchqueren müssen.
Hier also The Stand – Das letzte Gefecht, lieber treuer Leser, wie es gemäß den Vorstellungen seines Verfassers ursprünglich aus dem Ausstellungsraum rollen sollte. Alle Chromteile sind wieder montiert, ob gut oder schlecht. Der letzte Grund, warum ich diese Version präsentiere, ist der einfachste. Es ist zwar nie mein Lieblingsroman gewesen, aber den Leuten, die meine Bücher mögen, scheint er stets am besten zu gefallen. Wenn ich irgendwo einen Vortrag halte (was ich so selten wie möglich tue), sprechen mich die Leute immer auf The Stand – Das letzte Gefecht an. Sie sprechen von den Figuren, als wären es lebende Menschen, und manchmal fragen sie: »Was ist aus Soundso geworden?« … als würde ich ab und an Briefe von meinen Romanfiguren bekommen.
Ich werde unweigerlich gefragt, ob das Buch jemals verfilmt werden wird. Die Antwort lautet übrigens ja. Wird es ein guter Film? Ich weiß es nicht. Schlecht oder gut, Filme haben immer eine seltsam abschwächende Wirkung auf Fantasy-Werke (es gibt selbstverständlich Ausnahmen; Der Zauberer von Oz fällt einem da sofort ein). Bei Diskussionen verteilen die Leute endlos Rollen für die verschiedenen Figuren. Ich war immer der Meinung, Robert Duvall würde einen großartigen Randall Flagg abgeben, aber ich habe Leute schon Schauspieler wie Clint Eastwood, Bruce Dern und Christopher Walken vorschlagen hören. Sie klingen alle nicht schlecht, ebenso wie Bruce Springsteen einen interessanten Larry Underwood abgeben würde, sollte er sich jemals an der Schauspielerei versuchen (was er, wenn ich mir seine Videos so ansehe, ziemlich gut machen würde, glaube ich … trotzdem wäre mein persönlicher Favorit Marshall Crenshaw). Aber letztlich ist es vielleicht besser, wenn Stu, Larry, Glen, Frannie, Ralph, Tom Cullen, Lloyd und der dunkle Bursche nur dem Leser gehören, der sie sich durch die Linse der Fantasie in einer lebhaften, wechselhaften Form vorstellen kann, die keine Kamera nachempfinden könnte. Schließlich vermitteln Filme nur mit Tausenden von starren Fotos die Illusion der Bewegung. Die Fantasie dagegen fließt mit ihren eigenen Gezeiten. Filme, auch die besten, lassen die Literatur erstarren – wer sich je Einer flog über das Kuckucksnest angesehen und danach Ken Keseys Roman gelesen hat, wird feststellen, dass es schwer, wenn nicht sogar unmöglich ist, nicht das Gesicht von Jack Nicholson bei Randle Patrick McMurphy zu sehen. Das ist nicht zwangsläufig schlecht … aber es schränkt doch ein. Der Vorzug einer guten Geschichte liegt darin, dass sie grenzenlos und flüssig ist; eine gute Geschichte gehört jedem Leser auf seine spezielle Weise.
Und zu guter Letzt: Ich schreibe nur aus zwei Gründen – um mich und um andere zu erfreuen. Indem ich zu dieser langen Geschichte dunklen Christentums zurückgekehrt bin, ist mir hoffentlich beides gelungen.
24. Oktober 1989
Outside the street’s on fire
In a real death waltz
Between what’s flesh and what’s fantasy
And the poets down here
Don’t write nothing at all
They just stand back and let it all be
And in the quick of the night
They reach for their moment
And try to make a honest stand
But they wind up wounded
Not even dead
Tonight in Jungleland
BRUCE SPRINGSTEEN
And it was clear she couldn’t go on!
The door was opened and the wind appeared,
The candles flew and then disappeared,
The curtains blew and then he appeared,
Said, »Don’t be afraid,
Come on, Mary«,
And she had no fear
And she ran to him
And they started to fly …
She had taken his hand …
»Come on, Mary;
Don’t fear the Reaper!«
BLUE ÖYSTER CULT
WHAT’S THAT SPELL?
WHAT’S THAT SPELL?
WHAT’S THAT SPELL?
COUNTRY JOE AND THE FISH
DER KREIS ÖFFNET SICH
Wir brauchen Hilfe, dachte der Dichter.
EDWARD DORN
»Sally.«
Ein Grummeln.
»Wach jetzt auf, Sally.«
Ein lautes Grummeln: Lass mich schlafen.
Er schüttelte sie heftiger.
»Wach auf. Du musst aufwachen!«
Charlie.
Die Stimme von Charlie. Der sie wecken wollte. Wie lange schon?
Sally tauchte aus dem Schlaf hoch.
Ein kurzer Blick auf die Nachttischuhr zeigte ihr, dass es Viertel nach zwei Uhr war. Charlie hatte hier zu dieser nächtlichen Stunde nichts verloren; eigentlich müsste er im Dienst sein. Dann sah sie ihn zum ersten Mal richtig an, und irgendetwas schoss in ihr hoch, eine tödliche Intuition.
Ihr Mann war leichenblass. Die Augen waren aufgerissen und quollen aus den Höhlen. In der einen Hand hielt er die Autoschlüssel. Mit der anderen schüttelte er sie, obwohl sie die Augen längst aufgeschlagen hatte. Es war, als hätte er die Tatsache, dass sie wach war, irgendwie nicht registriert.
»Was ist denn, Charlie? Ist was passiert?«
Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Sein Adamsapfel ruckte angestrengt, aber außer dem Ticken der Uhr war in dem kleinen Firmenbungalow kein Laut zu hören.
»Brennt es irgendwo?« Eine dämliche Frage, aber eine andere Erklärung für seinen merkwürdigen Zustand wollte ihr nicht einfallen. Immerhin waren seine Eltern damals bei einem Hausbrand ums Leben gekommen.
»Irgendwie«, sagte er. »Irgendwie ist es schlimmer. Du musst dich anziehen, Liebling. Hol Baby LaVon. Wir müssen hier weg.«
»Aber warum?«, sagte sie und stand auf. Schwarze Angst hatte sie gepackt. Alles war auf einmal so merkwürdig. Wie in einem Traum. »Wohin? In den Garten?« Aber ihr war klar, dass er nicht den Garten meinte. Sie hatte Charlie noch nie so ängstlich gesehen. Sie holte tief Luft, konnte aber weder Rauch noch Feuer riechen.
»Sally, Liebling, stell keine Fragen. Wir müssen weg. Weit weg. Hol Baby LaVon, und zieh sie an.«
»Aber sollte ich nicht … Haben wir Zeit zu packen?«
Das schien ihm Einhalt zu geben, ihn irgendwie aus dem Gleis zu bringen. Sie hatte gedacht, ihre Furcht könnte kaum größer werden, aber da hatte sie sich wohl geirrt. Was sie bei ihm für Angst gehalten hatte, kam eher nackter Panik gleich. Er strich sich abwesend durchs Haar und antwortete: »Ich weiß nicht. Ich muss erst die Windrichtung prüfen.«
Mit dieser seltsamen Bemerkung, die ihr überhaupt nichts sagte, ließ er sie frierend und ängstlich und verwirrt barfüßig in ihrem Babydoll-Nachthemd dastehen. Es war, als hätte er den Verstand verloren. Was hatte die Windrichtung damit zu tun, ob sie Zeit zum Packen hatte oder nicht? Und was sollte überhaupt weit weg heißen? Reno? Vegas? Salt Lake City? Und …
Sie legte die Hand an den Hals, weil eine andere Erklärung sie durchfuhr.
Fahnenflucht. Dieser überstürzte nächtliche Aufbruch bedeutete, dass Charlie unerlaubt die Truppe verlassen wollte.
Sie ging in das kleine Zimmer, das als LaVons Kinderzimmer diente, stand einen Augenblick da und sah unentschlossen auf das schlafende Baby in seinem rosa Strampelanzug hinunter. Sie klammerte sich an die schwache Hoffnung, dass alles nichts weiter als ein außergewöhnlich lebhafter Traum war. Er würde vorbeigehen, sie würde morgens um sieben aufwachen, wie gewöhnlich, LaVon und sich selbst etwas zu essen machen und dabei die erste Stunde der Today-Show ansehen, und wenn Charlie um acht Uhr von der Arbeit kam, nachdem er wieder einmal seine Nachtschicht im Nordturm des Reservats abgesessen hatte, würde sie ihm Eier kochen. In zwei Wochen würde er wieder die Tagschicht übernehmen und nicht mehr so launisch sein, und wenn er nachts bei ihr schlief, würde sie keine verrückten Träume wie diesen mehr haben und …
»Beeil dich!«, zischte er sie an und machte ihre schwache Hoffnung zunichte. »Wir haben gerade noch Zeit, ein paar Sachen zusammenzukramen … Aber bei Gott, Frau, wenn du sie lieb hast …« Er deutete auf die Wiege. »… dann zieh sie an!« Er hustete nervös in die Hand, riss Sachen aus den Kommodenschubladen und warf sie achtlos in zwei alte Koffer.
Sie weckte Baby LaVon und beruhigte sie, so gut sie konnte; die Dreijährige quengelte verwirrt, weil sie mitten in der Nacht geweckt wurde, und als Sally ihr Unterhose, Bluse und eine Latzhose anzog, weinte die Kleine. Das Weinen versetzte Sally mehr in Angst als alles andere. Es erinnerte sie an die Anlässe, wenn LaVon, die normalerweise ein wahrer Engel war, geweint hatte: von Windeln wund gescheuert, beim Zahnen, bei Pseudokrupp oder Kolik. Als sie Charlie sah, der mit einem großen Bündel ihrer Unterwäsche in den Armen an der Tür vorbeistürmte, wandelte sich ihre Angst in Wut. BH-Träger wehten hinter ihm her wie die Luftschlangen von Silvestertröten. Er warf die Wäsche in einen der Koffer und klappte ihn zu. Der Saum ihres besten Slips hing heraus, und sie hätte wetten können, dass er zerrissen war.
»Was ist denn los?«, schrie sie, und ihre wütende Stimme hatte zur Folge, dass LaVon wieder in Tränen ausbrach, nachdem sie sich gerade erst zu einem leisen Schniefen beruhigt hatte. »Bist du übergeschnappt? Die schicken uns Soldaten hinterher, Charlie! Soldaten!«
»Heute Nacht nicht«, sagte er, und seine Stimme klang so überzeugt, dass es erschreckend war. »Und jetzt hör mal zu, Schatz. Wenn wir nicht schnellstens abhauen, kommen wir nie mehr aus dem Stützpunkt raus. Ich weiß nicht mal, wie ich es überhaupt geschafft habe, vom Turm wegzukommen. Das Sicherheitssystem war wohl defekt. Warum auch nicht? Das ganze verdammte System hat einen riesengroßen Defekt.« Und dann stieß er ein schrilles, irres Lachen aus, das ihr mehr Angst machte als alles andere zuvor. »Ist das Baby angezogen? Gut. Stopf ein paar von seinen Kleidern in den anderen Koffer. Den Rest in den blauen Beutel im Schrank. Und dann nichts wie weg hier. Ich glaube, wir kommen durch. Der Wind weht von Osten nach Westen. Wenigstens das, Gott sei Dank.«
Er hustete wieder in die Hand.
»Daddy!« Baby LaVon streckte ihm die Arme entgegen. »Will zu Daddy! Ja. Huckepack, Daddy! Huckepack! Ja!«
»Jetzt nicht«, sagte Charlie und verschwand in der Küche. Einen Augenblick später hörte Sally Geschirr klappern. Er holte ihr Erspartes aus der blauen Suppenschüssel auf dem obersten Regal. Dreißig oder vierzig Dollar, die sie, einen Dollar, manchmal nur einen halben, nach dem anderen gespart hatte. Ihr Haushaltsgeld. Also war es Wirklichkeit. Was auch immer geschehen war, es war Wirklichkeit.
LaVon, der von ihrem Vater – der ihr selten, wenn überhaupt je, etwas abschlug – der Huckepackritt verweigert worden war, fing wieder an zu weinen. Sally bemühte sich, ihr das leichte Jäckchen überzustreifen, dann stopfte sie den größten Teil ihrer Kleider achtlos in den Beutel. Allein der Gedanke, noch etwas anderes in den zweiten Koffer zu packen, war lächerlich. Er würde platzen. Sie musste darauf knien, damit sie die Schnallen zubekam. Sie dankte Gott, dass LaVon sauber war und dass sie keine Windeln mehr brauchten.
Charlie kam ins Schlafzimmer zurück, und jetzt rannte er tatsächlich. Er stopfte immer noch Dollarscheine in die Hosentasche. Sally hob LaVon auf. Das Baby war jetzt hellwach und hätte allein laufen können, aber Sally wollte es in den Armen halten. Sie bückte sich und hob den Beutel auf.
»Wohin dehn wir, Daddy?«, fragte LaVon. »Hab deslafn.«
»Baby kann im Auto weiterslafn«, sagte Charlie und packte die beiden Koffer. Der Saum von Sallys Slip flatterte. Seine Augen hatten immer noch diesen starren Ausdruck. Eine Ahnung, die zur Überzeugung wuchs, stieg in Sally auf.
»Ein Unfall?«, flüsterte sie. »O Jesus, Maria und Josef, es stimmt, nicht? Es war ein Unfall. Da draußen.«
»Ich habe eine Patience gelegt«, sagte er. »Ich habe aufgeblickt und festgestellt, dass die Uhr von Grün auf Rot gesprungen war. Ich habe den Monitor eingeschaltet. Sally, sie sind alle …«
Er verstummte und blickte in Baby LaVons Augen, die groß und neugierig waren, wenn auch immer noch verweint.
»Da unten sind alle T-O-T«, sagte er. »Alle bis auf einen oder zwei, und die sind inzwischen wahrscheinlich auch schon ab oder hinüber.«
»Was ist teh-oteh?«, fragte LaVon.
»Nicht wichtig, Schatz«, sagte Sally. Ihr war, als würde ihre Stimme aus einem langen Canyon ertönen.
Charlie schluckte. Etwas klickte in seinem Hals. »Wenn die Uhr auf Rot springt, müssten Magnetschlösser eigentlich alles abriegeln. Sie haben einen Chubb-Computer, der die ganze Anlage steuert, und der ist angeblich narrensicher. Ich habe gesehen, was auf dem Monitor ist, und da hab ich einen Satz zur Tür raus gemacht. Ich dachte, das verdammte Ding würde mich in zwei Teile schneiden. Die Tür hätte sie in dem Augenblick abschotten müssen, als die Uhr auf Rot umsprang, und ich weiß nicht, wie lange sie schon auf Rot stand, bevor ich aufgesehen und es bemerkt habe. Auf jeden Fall war ich schon fast beim Parkplatz, bis ich hörte, wie die Tür zuging. Wenn ich dreißig Sekunden später zur Uhr raufgeschaut hätte, dann wäre ich jetzt im Kontrollraum im Turm eingeschlossen wie ein Käfer im Glas.«
»Was ist es? Was …«
»Keine Ahnung. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich weiß nur, dass es sie ruck, zuck um… – G-E-T-Ö-T-E-T hat. Wenn sie mich wollen, dann müssen sie mich fangen. Ich habe Gefahrenzulage bekommen, aber so viel bezahlen sie mir nicht, dass ich hierbleiben würde. Der Wind weht nach Westen. Wir fahren nach Osten. Komm jetzt.«
Immer noch im Halbschlaf, und in einem grässlichen Traum, folgte sie ihm in die Einfahrt, wo ihr zehn Jahre alter Chevy in der Wüstendunkelheit der kalifornischen Nacht langsam vor sich hin rostete.
Charlie warf die Koffer in den Kofferraum und den Beutel auf den Rücksitz. Sally stand einen Augenblick mit dem Baby auf dem Arm an der Beifahrertür und betrachtete den Bungalow, wo sie die letzten vier Jahre gelebt hatten. Als sie eingezogen waren, überlegte sie, war LaVon noch in ihrem Leib gewachsen und hatte alle Huckepackritte noch vor sich gehabt.
»Los doch!«, sagte er. »Steig ein, Frau!«
Sie gehorchte. Er stieß zurück, die Scheinwerfer des Chevys strahlten das Haus ganz kurz an. Ihre Spiegelbilder in den Fenstern sahen wie die Augen eines gejagten Tieres aus.
Er saß verkrampft über dem Lenkrad, sein Gesicht wirkte im trüben Schein des Armaturenbretts erschöpft. »Wenn die Tore des Stützpunkts geschlossen sind, versuche ich durchzubrechen.« Das war sein Ernst.
Aber zu derart verzweifelten Maßnahmen bestand kein Anlass. Die Tore des Stützpunkts standen offen. Ein Wachmann war über einer Zeitschrift eingenickt. Den anderen konnte sie nicht sehen; vielleicht war er im Wachlokal. Dies war der äußere Teil des Stützpunkts, ein ganz normales Fahrzeugdepot der Armee. Was im Zentrum des Stützpunkts vor sich ging, interessierte diese Burschen hier nicht.
Ich habe aufgesehen und festgestellt, dass die Uhr auf Rot geschaltet hatte.
Sie zitterte und legte ihm die Hand aufs Bein. Baby LaVon war wieder eingeschlafen. Charlie tätschelte ihre Hand: »Alles wird gut, Liebes.«
Bei Dämmerung fuhren sie nach Osten durch Nevada, und Charlie hustete ununterbrochen.
BUCH EINS
CAPTAIN TRIPS
16. Juni bis 4. Juli 1990
»I called the doctor on the telephone,
Said doctor, doctor, please,
I got this feeling, rocking and reeling,
Tell me, what can it be?
Is it some new disease?«
THE SYLVERS
»Baby, can you dig your man?
He’s a righteous man,
Baby, can you dig your man?«
LARRY UNDERWOOD