Thomas Ede Zimmermann
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ISBN 978-3-534-25433-0
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eBook (PDF): 978-3-534-73558-7
eBook (epub): 978-3-534-73560-0
1. Der Gegenstandsbereich
1.1 Lexikalische Semantik
1.2 Bedeutungskomposition
1.3 Semantik vs. Pragmatik
1.4 Objekt- und Metasprache
Übungsaufgaben
2. Ambiguität und Bedeutungskomposition
2.1 Lexikalische Ambiguität
2.2 Klammerungsambiguitäten
2.3 Andere strukturelle Ambiguitäten
2.3.1 Relativsätze und indirekte Fragen
2.3.2 Skopus
2.3.3 Unspezifizität
2.3.4 Fokusassoziation
2.3.5 Lexikalische Zerlegung
2.4 Weitere Phänomene der kompositionellen Semantik
2.4.1 Faktivität und Negationsanhebung
2.4.2 Pronomina
2.5 Das Allgemeine Kompositionalitätsprinzip
Übungsaufgaben
3. Extensionen
3.1 Funktionen contra Vorstellungen
3.2 Referenzielle Ausdrücke
3.3 Multiple Referenz
3.3.1 Substantive und Mengen
3.3.2 Erweiterte Substantive und Teilmengen
3.3.3 Adjektive und Schnittmengen
3.3.4 Relativsätze und Erfüllungsmengen
3.4 Von Erfüllungsmengen zu Wahrheitswerten
3.4.1 Prädikate und ihre Extensionen
3.4.2 Valenz und Stelligkeit
3.4.3 Sättigung
3.4.4 Wahrheitswerte
3.5 Junktoren
3.6 Quantifikation
3.6.1 Quantifizierte Sätze
3.6.2 Quantifikation und Logische Form
Übungsaufgaben
4. Intensionen
4.1 Intensionalität
4.2 Propositionen
4.3 Von Propositionen zu Intensionen
4.3.1 Charakteristische Funktionen
4.3.2 Individualbegriffe und Eigenschaften
4.4 Intensionen und Kompositionalität
4.5 Intensionale Konstruktionen
4.5.1 Einstellungsberichte
4.5.2 Referenziell opake Verben
4.6 Einstellungsberichte de re
4.6.1 Ersetzbarkeit trotz Intensionalität
4.6.2 Gebundene Pronomina
4.6.3 Kennzeichnungen als Quantoren
Übungsaufgaben
5. Aspekte der Wortbedeutung
5.1 Grobklassifikation
5.1.1 Extensionstypen
5.1.2 Starrheit, Inhaltswörter und grammatische Bedeutung
5.2 Paradigmatische Beziehungen
5.2.1 Sinnrelationen
5.2.2 Komponentenanalyse
5.2.3 Bedeutungspostulate
5.3 Syntagmatische Beziehungen
5.3.1 Selektionsbeschränkungen
5.3.2 Umkategorisierung und Erzwingung
Übungsaufgaben
6. Bedeutung in der Kommunikation
6.1 Informationsübermittlung
6.1.1 Informationsfluss in Idealform
6.1.2 Erfolgsbedingungen
6.2 Implikaturen
6.2.1 Maximen
6.2.2 Implikatureffekte
Übungsaufgabe
7. Bedeutung und Kognition
7.1 Schwierige Sätze
7.2 Ausdruckserkennung
7.3 Erkennung und Verarbeitung sprachlicher Inhalte
Musterlösungen zu ausgewählten Übungen
Zitierte Literatur
Register
Das vorliegende Buch wendet sich in erster Linie an StudienanfängerInnen der Germanistik und will ihnen die grundlegenden empirischen Fragestellungen, theoretischen Begriffe und analytischen Methoden der linguistischen Semantik vermitteln. Grob gesprochen handelt es sich bei der Semantik um die Lehre von der sprachlichen Bedeutung. Wer niemals mit diesem Gebiet in Berührung gekommen ist, wird allerdings mit dieser Charakterisierung nicht viel anfangen können. Dieses einleitende Kapitel soll daher zunächst einen ersten Einblick in die Art von Fragestellungen geben, denen sich die Semantik widmet und die uns dann für den Rest des Buchs – vor allem aber in den Kernkapiteln 2–5 – beschäftigen werden.
Wörter und ihre Bedeutungen
Ob Wort, Phrase, Satz oder Text – ein sprachlicher Ausdruck besteht immer aus einer Verbindung von Form und Inhalt. Während sich Phonologie und Syntax mit der Formseite der Sprache beschäftigen, fällt ihre Inhaltsseite, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, im Wesentlichen in den Zuständigkeitsbereich der Semantik. Genauer gesagt ist die Semantik für denjenigen Teil der sprachlichen Bedeutung zuständig, der über alle Verwendungen und Äußerungssituationen hinweg stabil bleibt und somit als Teil des Sprachsystems angesehen werden kann – also dessen, was Sprecherinnen und Sprecher aufgrund ihrer Sprachkenntnis beherrschen. Dazu gehören insbesondere die Bedeutungen einzelner Wörter – natürlich nicht aller Wörter, denn viele von ihnen sind Bestandteil spezifischer Gruppensprachen (Dialekte, Soziolekte, Fachsprachen, …); andere sind im Aussterben begriffen und nur noch wenigen geläufig; wieder andere sind noch nicht bei allen angekommen. Doch die Kenntnis eines gewissen Kernbestands des Wortschatzes darf und muss man allen SprecherInnen unterstellen. Diese Kenntnis, die die formale wie die inhaltliche Seite der Wörter umfasst, macht einen Teil der Sprachkompetenz aus. So ist uns deutschen MuttersprachlerInnen bekannt, dass die Wörter ‚begradigen‘ und ‚begnadigen‘ trotz ihrer lautlichen Ähnlichkeit – phono – logisch handelt es sich um Minimalpaare – und ihres gleichen syntaktischen Verhaltens – beide sind transitive Verben – ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Ebenso bekannt ist uns, dass die Substantive ‚Apfelsine‘ und ‚Orange‘ zwar sehr unterschiedlich ausgesprochen und geschrieben werden, sich aber inhaltlich nicht voneinander unterscheiden. Und wir alle wissen nicht nur, welche uns vertrauten Wörter sich hinsichtlich ihrer Bedeutung unterscheiden; wir wissen auch, was diese Wörter jeweils bedeuten. Zumindest wissen wir dies insoweit, als wir in der Lage sind, die Wörter aufgrund ihrer jeweiligen Bedeutung zu verwenden und zu verstehen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Wissen um die Bedeutung der Wörter unserer Sprache nicht von unseren – ebenfalls impliziten – Kenntnissen der phonologischen und syntaktischen Strukturen. So wie wir die Auslautverhärtung, die Frage-Intonation, das Passiv und die Wortstellungsunterschiede zwischen Haupt- und Nebensatz beherrschen, so erfassen wir auch Bedeutungsunterschiede wie die zwischen den Verben ‚glauben‘ und ‚wissen‘ oder den Adjektiven ‚weiß‘ und ‚weise‘.
Paraphrasen
Wir kennen und verstehen zwar viele Wörter, doch worin diese Kenntnis und dieses Verständnis bestehen, ist gar nicht so leicht zu erklären. In vielen Fällen kann man sich den Wortbedeutungen durch Paraphrasen nähern, also durch sprachliche Umschreibungen, die mehr oder weniger dasselbe besagen wie das zu erklärende Wort. So lässt sich das Verb ‚begradigen‘ als gerade machen‘ umschreiben, während man sich für ‚begnadigen‘ schon eine umständlichere Formulierung einfallen lassen muss – oder das weniger geläufige Verb ‚amnestieren‘ heranzieht, dessen Bedeutung dann wiederum mit ‚begnadigen‘ umschrieben werden kann. Man sieht an dieser Zirkularität der Paraphrasen, dass sie sich nicht eignen, um jemandem den gesamten Wortschatz einer Sprache beizubringen: wenn man keines der beiden Wörter kennt, hilft es auch nicht, wenn man erfährt, dass sie (mehr oder weniger) dasselbe bedeuten. Vielleicht lassen sich ja auf diese Weise alle Wörter auf einige wenige ‚Urwörter‘ zurückführen, die allen Paraphrasen quasi als semantische Atome zugrunde liegen. Doch zumindest die Bedeutung dieser Atome kann dann nicht zirkelfrei durch Paraphrasen beschrieben werden. Insofern die Semantik beansprucht, zumindest prinzipiell die Bedeutung aller sprachlichen Ausdrücke erfassen zu können, kann sie sich also nicht in Paraphrasen erschöpfen – die wir in diesem Buch daher allenfalls als Hilfsmittel einsetzen.
paradigmatisch/syntagmatisch
Wenn es in den folgenden Kapiteln darum geht, Bedeutungen anzugeben, werden wir nicht darauf angewiesen sein, sie durch andere Ausdrücke zu umschreiben. Die Bedeutungen einzelner Wörter werden ohnehin eine untergeordnete Rolle spielen. Denn die Wörter einer Sprache sind nicht isoliert voneinander, sondern müssen stets im Zusammenhang gesehen werden – genauer gesagt in zwei Arten von Zusammenhängen. Zum einen steht jedes Wort in Konkurrenz zu anderen, vergleichbaren Wörtern; zum anderen tritt jedes Wort mit anderen und zumeist andersartigen Wörtern in Beziehung, sobald es mit ihnen zu größeren Ausdrücken zusammengesetzt, also mit diesen kombiniert wird. Die Beziehungen zwischen konkurrierenden Wörtern bezeichnet man als paradigmatisch; die zwischen zu kombinierenden Wörtern als syntagmatisch. Uns interessieren hier natürlich in erster Linie die semantisch relevanten syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen zwischen den Wörtern, also diejenigen, die aufgrund ihrer Bedeutungen bestehen.
Sinnrelationen
Die oben angesprochenen Paraphrasen basieren auf einer paradigmatischen Beziehung zwischen einzelnen Wörtern, der Synonymie: begnadigen‘ und ‚amnestieren‘, ‚Orange‘ und ‚Apfelsine‘, ‚Sonnabend‘ und Samstag‘, ‚obschon‘ und ‚obgleich‘ etc. bedeuten jeweils dasselbe und sind damit Synonyme voneinander (oder zueinander synonym). Daneben gibt es eine ganze Reihe anderer, ebenfalls paradigmatischer Beziehungen zwischen Wörtern mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungen. So besteht zwischen den Adjektiven ‚heiß‘ und ‚kalt‘ ein ähnlicher Bedeutungsgegensatz – die sog. Antonymie – wie zwischen ‚groß‘ und ‚klein‘, ‚hoch‘ und ‚niedrig‘ oder ‚alt‘ und ‚jung‘. Eine weitere paradigmatische Beziehung – die Hyponymie – besteht zwischen Substantiven, die unterschiedlich spezifisch sind – wie ‚Haus‘ vs. Gebäude‘, ‚Eiche‘ vs. ‚Baum‘, ‚Frau‘ vs. ‚Mensch‘, ‚Kuh‘ vs. ‚Tier‘ usw. Und manchmal drücken zwei Wörter gegensinnige Beziehungen aus: ‚vor‘ vs. hinter‘, größer‘ vs. kleiner‘, Vorfahre‘ vs. ‚Nachkomme‘ etc.; in der Semantik nennt man solche Wortpaare Konversen voneinander. Paraphrase, Antonymie, Hyponymie und Konverse sind somit allesamt Beispiele für semantisch relevante paradigmatische Beziehungen zwischen einzelnen Wörtern. Man bezeichnet solche Beziehungen auch als Sinnrelationen.
lexikalische Semantik
Die Untersuchung der Sinnrelationen zwischen einzelnen Wörtern macht einen großen Teil eines Teilgebiets der Semantik aus, der lexikalischen Semantik – so genannt, weil es in ihr um das Lexikon geht, also den Wortschatz. In der lexikalischen Semantik werden Sinnrelationen herangezogen, um einzelne Wortbedeutungen voneinander abzugrenzen und miteinander in Beziehung zu setzen sowie um das Lexikon als Ganzes systematisch darzustellen und allgemeine Muster in diesem System zu erfassen. Gemeinsam ergeben diese Sinnrelationen ein komplexes (lexikalisches) Begriffsnetz.
lexikalische Lücken
Angesichts der offenkundigen Tatsache, dass die Entwicklung des Wortschatzes allerlei historischen Zufällen unterliegt, ist es kein Wunder, dass sich die Begriffsnetze verschiedener Sprachen voneinander unterscheiden. Zu den offensichtlichen Kontrasten in den lexikalischen Strukturen von Sprachen gehören die durch kulturelle, klimatische oder andere äußerliche Faktoren bedingten Unterschiede in der Durchdringung einzelner inhaltlicher Bereiche: je differenzierter die Braukunst, desto mehr Bierbezeichnungen, je mehr es schneit, desto subtiler die lexikalisierten Unterschiede zwischen Schneesorten und weißen Farbtönen, usw. – wenn auch nicht annähernd so vielfältig wie gemeinhin angenommen. Andere Unterschiede kann man einfach nur zur Kenntnis nehmen. So unterscheidet sich das Begriffsnetz des Deutschen von denen skandinavischer Sprachen insofern, als es kein Adjektiv (wie norwegisch ‚utørst‘) enthält, das in derselben semantischen Beziehung zu trinken‘ steht wie ‚satt‘ zu ‚essen‘. Hier klafft eine lexikalische Lücke, die bereits zu diversen erfolglosen (und nicht immer ganz ernst gemeinten) Versuchen geführt hat, aktiv in die Sprachentwicklung einzugreifen und die Lücke mit Neologismen wie ‚schmöll‘ zu schließen (s. Fig. 1.1).
Fig. 1.1: Leserbrief
Wir werden auf die Kartographierung des Lexikons durch Sinnrelationen im funften Kapitel zuruckkommen. Bis dahin werden die Bedeutungen einzelner Wörter und die paradigmatischen Beziehungen zwischen ihnen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Aber mit Sinnrelationen werden wir dennoch zu tun haben. Denn diese können nicht nur zwischen Wörtern, sondern zwischen sprachlichen Ausdrücken beliebiger Komplexität bestehen. So sind z.B. die drei erweiterten Substantive in (1)a miteinander synonym, während die in (1)b eine Kette von Unter- und Oberbegriffen bilden:
(1) a. weibliches Pferd – Stute – Pferd weiblichen Geschlechts
b. schwarzes Turnierpferd männlichen Geschlechts – schwarzer Hengst-Säugetier
Sinnrelationen machen auch vor Sätzen nicht Halt. Eine von ihnen erweist sich dabei als besonders interessant. Sie besteht zwischen zwei Aussagesätzen, wenn der Eine aus dem Anderen folgt:
(2) a. Niemand hat ein Tier gesehen.
b. Kein Bauer hat eine Kuh gesehen.
Implikation
Offenbar kann man von (2)a auf (2)b schließen; denn (2)a kann nicht zutreffen, ohne dass auch (2)b richtig ist. Um diesen Schluss zu ziehen, sind keinerlei Kenntnisse der einschlägigen Tatsachen (Bauern, Tiere, Transaktionen) vonnöten. Er ergibt sich vielmehr ganz allein aufgrund des Verständnisses dieser beiden Sätze: er basiert auf einer Sinnrelation zwischen ihnen, einer Beziehung, die aufgrund ihrer Bedeutungen besteht. Diese Sinnrelation wird als Implikation (engl.: entailment) bezeichnet. Im vierten Kapitel werden wir sehen, wie sich die Implikationsbeziehungen zwischen Aussagesätzen unmittelbar aus ihren Bedeutungen ergeben.
Während man im lexikalischen Bereich prinzipiell sämtliche Sinnrelationen durch Auflistung angeben kann, müssen wir zur systematischen Erfassung von Fällen wie in (1) und (2) grundsätzlich andere Wege beschreiten: was man braucht, ist eine Methode zur Beschreibung der Kombination von Bedeutungen. Allerdings findet man eine solche – das zeigt die Erfahrung – gerade nicht, wenn man von lexikalischen Bedeutungen und Strukturen ausgeht, um dann schrittweise zu komplexen Ausdrücken zu gelangen. Das umgekehrte Vorgehen, das beim Satz beginnt und sich nach unten vorarbeitet, ist erfolgreicher. Wir werden daher die Einzelheiten der lexikalischen Semantik zunächst aufschieben, bis wir Klarheit über die semantisch relevanten syntagmatischen Beziehungen gewonnen haben; das wird in den Kapiteln 3 und 4 geschehen.
Quellen
Die Unterscheidung zwischen syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen geht auf den Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure [1857–1913] zurück, den Begründer des Strukturalismus – einer Forschungstradition („Schule“), die vor allem für die Sprachwissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tonangebend war und in der Sinnrelationen in den Mittelpunkt der Semantik gestellt wurden. Einen Überblick gibt das 2. Kapitel von Geeraerts (2010). – Der (getürkte) Leserbrief in Fig. 1.1 wurde 1975 in der satirischen Zeitschrift pardon abgedruckt; als wahrer Autor hat sich später Robert Gernhardt (et al. 1979: 312) geoutet. Über das Eskimo-Vokabularfür ‚Schnee‘kann man sich bei Pullum (1989) informieren.
Bedeutung jenseits des Lexikons
Sprachliche Bedeutung ist nicht allein eine Angelegenheit des Wortschatzes, sondern betrifft ebenso die Kombination von jeweils mehreren Wörtern zu größeren sprachlichen Einheiten. Dass es auch jenseits des Lexikons Bedeutung geben muss, zeigt ein Vergleich der folgenden beiden deutschen Sätze:
(3) Ich habe jede Woche eine Zeitung gelesen.
(4) Ich habe eine Woche jede Zeitung gelesen.
Der für jede Sprecherin und jeden Sprecher des Deutschen unmittelbar erkennbare Bedeutungsunterschied zwischen (3) und (4) kann nicht allein von den sieben Wörtern herrühren, aus denen die beiden Sätze bestehen; denn (3) und (4) enthalten genau dieselben Wörter, und diese Wörter bedeuten in beiden Sätzen offenbar auch jeweils dasselbe. Der Bedeutungsunterschied zeigt sich vielmehr in der Abfolge der Wörter. Andererseits führt nicht jede (grammatisch korrekte) Umstellung auch gleich zu einem Bedeutungsunterschied. So bedeutet (5) dasselbe wie (3), und (6) besagt so viel wie (4):
(5) Jede Woche habe ich eine Zeitung gelesen.
(6) Eine Woche habe ich jede Zeitung gelesen.
Der Unterschied zwischen (3) und (4) ergibt sich somit aus der Art und Weise, in der die genannten Wörter miteinander kombiniert werden, aus ihren unterschiedlichen syntagmatischen Beziehungen in diesen Sätzen. In (3) und (5) wird der indefinite Artikel ‚eine‘ auf das Substantiv ‚Zeitung‘ bezogen, während der (sogenannte) Determinator ‚jede‘ eine Einheit mit dem Substantiv ‚Woche‘ bildet; in (4) und (6) ist es genau umgekehrt. Die unterschiedlichen syntaktischen Bezüge und Strukturen in (3) und (4) führen also zu verschiedenen Bedeutungen.
kompositionelle Semantik
Der Zusammenhang zwischen Bedeutung und syntaktischer Struktur ist Gegenstand der kompositionellen Semantik. Der Terminus spielt darauf an, dass sich die Bedeutungen komplexer Ausdrücke – also solcher, die aus mehr als einem Wort bestehen – durch Kombination der Bedeutungen ihrer Teile ergeben; den Prozess der Kombination von Teil-Bedeutungen bezeichnet man dabei als Bedeutungskomposition. Wie dieser Prozess im Einzelnen aussieht, wird uns noch in den Kapiteln 2–4 beschäftigen. An dieser Stelle genügt es zu verstehen, dass bei der Bedeutungskomposition einzelne Wortbedeutungen so miteinander kombiniert werden, dass am Schluss die Bedeutung eines Gesamtausdrucks herauskommt und dass dabei die syntaktische Struktur dieses Gesamtausdrucks eingeht. Wie wir später noch im Detail sehen werden, läuft dieser Kompositionsprozess schrittweise ab, indem zunächst jeweils die Bedeutungen kleinerer Einheiten aus denen ihrer Teile ermittelt werden. So ergeben sich zunächst die Bedeutungen von ‚jede Woche‘, ‚eine Zeitung‘ und ‚habe gelesen‘ durch Kombination der entsprechenden Wortbedeutungen; und aus diesen lässt sich dann (über ein paar Zwischenschritte) die Bedeutung von (3) bestimmen. Für (4) dagegen wird man zunächst die Bedeutungen von ‚eine Woche‘, ‚jede Zeitung‘ sowie (ebenfalls) ‚habe gelesen‘ ermitteln und dann miteinander kombinieren. Insgesamt lassen sich auf diese Weise die Bedeutungen von (3) und (4) schrittweise – oder wie man in der Semantik sagt: kompositionell – aus denen der (hier alphabetisch aufgelisteten) Wörter ‚eine‘, ‚gelesen‘, ‚habe‘, ‚ich‘, ‚jede‘, ‚Woche‘ und ‚Zeitung‘ bestimmen, wobei die unterschiedlichen syntagmatischen Beziehungen zwischen ihnen dafür sorgen, dass sich die beiden Satzbedeutungen voneinander unterscheiden.
Besonders deutlich wird der Einfluss der syntaktischen Struktur auf die Bedeutung bei strukturell ambigen Ausdrücken, also Phrasen und Sätzen, deren Bestandteile auf mehr als eine Weise strukturiert werden können. So kann ‚alte Männer und Frauen‘ so viel bedeuten wie ‚Frauen und alte Männer‘ oder aber gleichbedeutend sein mit ‚alte Männer und alte Frauen‘. Die beiden folgenden alternativen Klammerungsmöglichkeiten machen dies deutlich:
(7) alte Männer und Frauen
a. [[alte Männer] und Frauen]
b. [alte [Männer und Frauen]]
Oberfläche Lesarten
Streng genommen haben wir es in (7) mit zwei verschiedenen sprachlichen Ausdrücken zu tun, die nur gleich aussehen – gleich geschrieben und (nahezu) gleich ausgesprochen werden: (7) ist, wie man in der Sprachwissenschaft sagt, die gemeinsame Oberfläche, die zwei Strukturierungen mit unterschiedlichen Bedeutungen zulässt, die Lesarten (7)a und (7)b.
Disambiguierung Ambiguität
Die Klammerungen disambiguieren die (Oberflächen-)Phrase ‚alte Männer und Frauen‘, d.h. sie machen sie eindeutig, indem sie ihr (alternative) Strukturen unterlegen. Die jeweilige Klammerung ist nicht die Bedeutung der Phrase, sondern Teil ihrer syntaktischen Struktur, also ihrer Form. Sie erfüllt damit eine ähnliche Funktion wie die in Wörterbüchern verwendete Indizierung von mehrdeutigen Wortformen: ‚Bank1‘ [Sitzgelegenheit] vs. ‚Bank2‘ [Finanzinstitut]. Auch diese Indizes dienen der Disambiguierung; allerdings ist in diesen Fällen die Mehrdeutigkeit – oder Ambiguität, wie man in der Semantik sagt – von anderer Art: sie ist lexikalisch, nicht strukturell. Die Klammerungen in (7) zeigen zudem an, wie der Kompositionsprozess jeweils vonstatten gehen muss. Die Bedeutung der Phrase (7)a ergibt sich, wenn man zunächst die Bedeutung des Adjektivs ‚alte‘ mit der des einfachen Substantivs ‚Männer‘ und dann das Ergebnis mit den Bedeutungen der restlichen beiden Wörter (‚und‘ und ‚Frauen‘) kombiniert. Bei (7)b dagegen verläuft die Bedeutungskomposition anders: hier müssen zunächst die Bedeutungen der (pluralischen) Substantive ‚Männer‘ und ‚Frauen‘ mit der der Konjunktion ‚und‘ kombiniert werden; dann wird das Ergebnis dieser Kombination – also die Bedeutung von ‚Männer und Frauen‘ – mit der Bedeutung des Adjektivs kombiniert.
Nicht immer ist der Zusammenhang zwischen syntaktischer Struktur und Bedeutung so deutlich wie bei „Klammerungsambiguitäten“ à la (7). So sind die folgenden beiden (Oberflächen-)Sätze mehrdeutig, ohne dass die Quelle dieser Mehrdeutigkeit offenkundig ist:
(8) Die Studierenden, die wenig Geld haben, müssen nichts zahlen.
(9) Fritz sucht ein nahe gelegenes japanisches Restaurant.
Bevor Sie weiter lesen, sollten Siesich zunächst klar machen, wie Sie (8) verstehen. Am besten denken Sie sich dazu eine Situation aus, auf die (8) zutrifft.
appositive Lesart
Zum einen kann mit (8) gemeint sein, dass Studierende nichts zahlen müssen, wobei nebenher zu verstehen gegeben wird, dass Studierende im Allgemeinen minderbemittelt sind. In dieser, sog. appositiven Lesart lässt sich (8) annähernd wie folgt paraphrasieren:
(10) Die Studierenden, die ja wenig Geld haben, müssen nichts zahlen.
restriktive Lesart
Wenn dies nicht die Lesart war, die Sie zuvor im Kopf hatten, sollten Sie sich an dieser Stelle davon überzeugen, dass (10) dennoch eine legitime Paraphrase für einen Sinn von (8) ist. Doch (8) kann man auch anders verstehen, nämlich als Aussage über einen Teil der Studierendenschaft. Das ist die restriktive Lesart, die paraphrasiert werden kann durch:
(11) Diejenigen Studierenden, die wenig Geld haben, müssen nichts zahlen.
Auch hier sollten sich die LeserInnen zunächst davon überzeugen, dass (11) eine mögliche Paraphrase von (8) ist. (8) ist offenbar ambig. In der Tat spricht einiges dafür, dass es sich dabei um eine strukturelle Ambiguität handelt, die sich ähnlich wie in (7) durch Klammerung erklären lässt. Doch in diesem Fall ist nicht offensichtlich, wie das funktionieren soll. Um des dramatischen Effekts willen (aber auch aus pädagogischen Gründen) vertagen wir die Antwort auf diese Frage auf das nächste Kapitel.
[un-]spezifische Lesart
Auch bei (9) liegt eine Ambiguität vor. Zum einen kann der Satz eine Situation beschreiben, in der Fritz gerne japanisch essen gehen würde, aber keinen weiten Weg dafür in Kauf nehmen möchte. In diesem Fall haben wir es mit einer unspezifischen Lesart zu tun, weil es sich nicht um ein bestimmtes (= spezifisches) Restaurant handelt, das Fritz sucht; vielleicht gibt es nicht einmal eines. Doch (9) hat auch eine andere, spezifische Lesart, die z.B. vorliegt, wenn Fritz ein bestimmtes Lokal sucht – etwa weil er dort etwas abholen muss; in diesem Fall muss er nicht einmal wissen, dass es sich um ein japanisches Restaurant handelt (vielleicht kennt er ja nur den Namen), aber es handelt sich um ein bestimmtes Restaurant. Die Ambiguität von (9) ist ebenfalls struktureller Natur, lässt sich allerdings nicht durch einfache Klammerung erklären; auch darauf kommen wir im nächsten Kapitel zurück.
Um zu beschreiben, wie sich Bedeutungen kompositionell miteinander kombinieren lassen, muss man zunächst einmal wissen, was für Objekte Bedeutungen überhaupt sind. Wir hatten bereits bemerkt, dass dies aus Spre cherInnen-Sicht alles andere als offensichtlich ist: selbst wer eine Sprache perfekt beherrscht, muss nicht in der Lage sein anzugeben, was genau die Bedeutung eines gegebenen Wortes oder Satzes ist. In dieser Hinsicht geht es der Semantik nicht anders als dem Rest der Grammatik: auch wer – wie jedeR Muttersprachlern – die Regeln des deutschen Satzbaus perfekt beherrscht, muss nicht in der Lage sein, diese Regeln explizit anzugeben: Sprachbeherrschung ist implizites Wissen. Die Wortstellungsregeln (und Grammatikregeln im Allgemeinen) können zwar für wissenschaftliche oder pädagogische Zwecke explizit gemacht werden; doch es gibt sie auch ohne Grammatikbücher, die sie lediglich rekonstruieren (oder normieren). Und was für syntaktische und phonologische Regeln und Prozesse gilt, gilt auch für die Inhaltsseite der Sprache, deren Beherrschung ebenfalls implizites Wissen darstellt, nämlich die Kenntnis der Wortbedeutungen und des Prozesses der Bedeutungskomposition. In der Semantik geht es darum, dieses Wissen explizit zu machen. Dafür sind insbesondere Annahmen darübervonnöten, um was für Objekte es sich bei sprachlichen Bedeutungen handelt. Dass dies nicht ganz einfach und offensichtlich ist, lassen schon die obigen Beispiele erahnen: was etwa soll die Bedeutung der Konjunktion ‚und‘ sein oder die des unspezifischen Indefinitums ‚ein japanisches Restaurant‘? Muttersprachliche Intuition und schulgrammatisches Vorwissen sind mit derlei Fragen offenkundig überfordert.
Extension und Intension
Die Antworten der modernen Semantik – auf die wir erst im dritten und vierten Kapitel im Detail eingehen werden – basieren auf der Grundidee, dass sprachliche Bedeutung primär dem Zweck dient, Informationen auszutauschen und dass jeder einzelne Ausdruck – jedes Wort, jede Phrase, jeder Satz, jeder Text – seinen eigenen Beitrag zu diesem Zweck leistet. Aus Sicht der Bedeutungskomposition stellt es sich dabei als sinnvoll heraus, diesen Beitrag in zwei Anteile aufzuspalten: die Intension, die den Informationsgehalt eines Ausdrucks ausmacht, und die Extension, die festhält, auf wen oder was sich diese Information bezieht. Der Unterschied lässt sich am leichtesten anhand sog. Kennzeichnungen verstehen; das sind definite Nominale im Singular wie zum Beispiel ‚die zweitgrößte Stadt Sloweniens‘ oder auch ‚der Geburtsort des Sportdirektors des VfB Stuttgart‘. Beide Nominale beziehen sich auf denselben Ort, nämlich Maribor, identifizieren diesen aber anhand ganz unterschiedlicher Informationen. Aus semantischer Sicht heißt das, dass sie dieselbe Extension besitzen, aber verschiedene Intensionen. Die Konstruktion dieser beiden Bedeutungsanteile nimmt einen Großteil des vorliegenden Buchsein. Dabei wird sich zum einen zeigen, dass in der Tat jeder Ausdruck sowohl eine Extension als auch eine Intension besitzt und dass diese beiden Bedeutungsanteile zum anderen die Hauptrolle bei der Bedeutungskomposition spielen.
Quellen
Die Bedeutungskomposition hat in der linguistischen Semantik lange Zeit keine nennenswerte Rolle gespielt. Einzelne Versuche, strukturalistische Methoden über die lexikalische Semantik hinaus zu erweitern, sind letztlich grandios gescheitert; vgl. z.B. Weinreichs (1966) oder Rohrers (1971: 81 ff.) Kritik des Ansatzes von Katz & Fodor (1963).
wörtliche Bedeutung vs. Situationsbedeutung
Die sprachliche Bedeutung ist ein weites Feld – zu weit, als dass Extension und Intension es in all seinen Nuancen erfassen könnten. Insbesondere gibt es eine ganze Reihe von Bedeutungsaspekten, die nicht einmal Teil des grammatischen Systems sind, sondern sich in der Sprachverwendung ergeben. In der Linguistik (oder Sprachwissenschaftdas ist dasselbe) wird daher der Bereich der sprachlichen Bedeutung in zwei Teile untergliedert, von denen nur einer – die sog. wörtliche oder konventionelle Bedeutung – den Zuständigkeitsbereich der Semantik ausmacht; der andere Teil – die Situations- oder Gebrauchsbedeutung – ist Gegenstand der Pragmatik. Grob gesprochen besteht der Unterschied zwischen den beiden Bedeutungsaspekten darin, ob …
(a) sie Teil der jeweiligen Einzelsprache (Deutsch, Englisch, Swahili …) sind und von deren Grammatik und Lexikon abhängen
… oder ob …
(b) sie sich aus Gesprächsstrategie und -ökonomie, gesellschaftlichen Konventionen oder anderen außersprachlichen Faktoren ergeben.
Um die Fälle unter (b) kümmert sich die Pragmatik; wörtliche Bedeutungen fallen dagegen unter (a). Die Abgrenzung ist nicht immer ganz einfach, manchmal sogar umstritten, in weiten Bereichen der Sprache jedoch unproblematisch. Wir werden im sechsten Kapitel darauf zurückkommen. An dieser Stelle müssen ein paar Beispiele genügen.
Ironie
Beim Verlassen der Mensa trifft Fritz, ein stadtbekannter Gourmet, seinen Freund Uwe, der sich nach der Qualität des heutigen Wahlessens erkundigt. Fritzens Antwort ist knapp:
(12) Das Steak war wie immer zart und saftig.
Wörtlich genommen spricht Fritz damit dem Mensaessen eine hohe Qualität zu. Aber wörtlich meint er seine Äußerung nicht; vielmehr will Fritz mit seinem Kommentar zu verstehen geben, dass das Steak wie immer war – also weder zart noch saftig. Und Uwe versteht seinen Freund nur allzu gut. Doch damit er ihn versteht, muss er zunächst einmal verstehen, was Fritz wörtlich gesagt hat. Aber weil eben Uwe seinen Freund gut kennt, weiß er, dass Fritz das, was er da gerade gesagt hat, kaum in dieser wörtlichen Form gemeint haben kann: nichts spricht dafür, dass Fritz urplötzlich unter Geschmacksverirrung oder Gedächtnisschwund leidet und das Mensa-Steak als schon immer zart und saftig einstuft. Außerdem kann Uwe bei Fritz einen leicht schelmischen Gesichtsausdruck ausmachen. Er schließt also zu Recht – wie Fritz es nicht anders erwartet – dass sein Freund ihm etwas Anderes mitteilen will, nämlich das blanke Gegenteil dessen, was er eigentlich – wörtlich – gesagt hat. Fritz‘ Äußerung war ironisch gemeint und kommt bei Uwe genauso an. Doch nur ihre wörtliche Bedeutung geht die Semantik etwas an.
kommunikative Absicht
Einem Reisenden wird vor dem Einstieg ins Flugzeug kurz hintereinander zweimal dieselbe Frage gestellt – einmal von einer Mitreisenden, danach von einem Flughafenmitarbeiter:
(13) Haben Sie vielleicht eine Uhr dabei?
Die Mitreisende möchte nur wissen, ob noch Zeit für einen Kaffee ist – ihre Frage gilt eigentlich der Uhrzeit. Sie hätte also auch direkt – aber vielleicht etwas unvermittelt – fragen können:
(14) Wie spät ist es eigentlich?
Der Flughafenmitarbeiter dagegen möchte nur verhindern, dass der Metalldetektor unnötig Alarm schlägt und fordert mit seiner Äußerung der Frage (13) den Reisenden auf, seine Uhr gegebenenfalls auf das Transportband zu legen. Er hätte also auch die Aufforderung (15) geben können:
(15) Legen Sie bitte auch Ihre Uhr auf das Band!
Trotz dieser verschiedenen Verwendungen und beabsichtigten Reaktionen seitens des Adressaten ist die Frage in beiden Fällen dieselbe, nämlich (13); und sie hat auch dieselbe wörtliche Bedeutung. Die Tatsache, dass sie einmal im Sinn von (14) verwendet wird und das andere Mal auf (15) hinausläuft, ist ein Unterschied in der kommunikativen Absicht, die die Sprecher(innen) mit ihrer jeweiligen Äußerung verfolgen – und somit aus semantischer Sicht irrelevant.
Angemessenheit
Die Leiterin des für das Mensaessen zuständigen Studentenwerks wird anlässlich einer angekündigten Preiserhöhung von der Studentenzeitschrift Campus-Courier interviewt. Der Nachwuchsredakteur eröffnet das Gespräch mit den folgenden Worten:
(16) Willst Du allen Ernstes für den Fraß noch mehr Kohle verlangen?
Der Mann hat noch einiges zu lernen. Denn seine Art zu fragen ist nicht gerade diplomatisch und wenig dazu geeignet, eine entspannte Gesprächsatmosphäre zu schaffen: seine Formulierung ist gänzlich unangemessen – kein Wunder, dass die Leiterin des Studentenwerks barsch reagiert. Doch das Anliegen des Redakteurs ist vollkommen legitim. Nur vielleicht hätte er es besser mit der folgenden Formulierung versucht:
(17) Planen Sie tatsächlich eine Anhebung der Essenspreise?
Auf diese Weise hätte er im Wesentlichen dieselbe Frage auf angemessenere Weise stellen können. Aber: so wichtig die Unterschiede zwischen den beiden Formulierungen für das Wohl des Campus-Couriers auch sind – aus semantischer Sicht kann man sie getrost vernachlässigen. Denn wörtlich besagen die beiden Fragen (nahezu) dasselbe.
Die drei Beispiele stehen stellvertretend für Phänomene, die in verschiedenen Teilbereichen der Pragmatik untersucht werden. Wir werden diese Bereiche für den Rest des Buchs allerdings weitgehend ignorieren.
Die wörtliche Bedeutung scheint regelrecht zu verblassen gegenüber dem bunten Katalog von Phänomenen und Beobachtungen, die den Gegenstandsbereich der Pragmatik ausmachen. Allerdings zeigen schon diese wenigen Beispiele, dass Situationsbedeutung überhaupt erst auf dem Hintergrund eines wörtlichen Vorverständnisses entsteht. Denn dem Verstehen der Situationsbedeutung geht immer das Erfassen der wörtlichen Bedeutung voraus. Für die Pragmatik heißt das, dass die Situationsbedeutung aus der wörtlichen Bedeutung hergeleitet werden muss. Die wörtliche Bedeutung bildet – neben allerlei kontextuellen Einflüssenden Input der pragmatischen Analyse und ist somit für diese unverzichtbar.
Mit dem Erfassen der wörtlichen Bedeutung sprachlicher Ausdrücke verhält es sich ähnlich wie mit der Wahrnehmung: die meisten von uns tun es mühelos, aber nur wenige können erklären, wie das passiert. Und für eine genaue Erklärung des Phänomens müssen auch eine ganze Reihe wissenschaftlicher Disziplinen bemüht werden. Eine von ihnen ist die Semantik, die zwar das Phänomen des sprachlichen Verstehens nicht ganz allein erklären kann, aber doch einen entscheidenden Beitrag dazu zu liefern vermag. Welcher Art dieser Beitrag ist, lässt sich an dieser Stelle nur andeuten. Aber wir werden im Schlusskapitel des Buchs noch einmal auf diese Frage zurückkommen, nachdem wir uns mit der Denk- und Arbeitsweise der Semantik vertraut gemacht haben. Das Folgende lässt sich allerdings jetzt schon sagen: die Semantik hat es nicht (oder allenfalls am Rande) mit dem subjektiven, psychologischen Aspekt des sprachlichen Verständnisses zu tun – also mit der Frage, was in den einzelnen Personen vorgeht, während sie etwas verstehen. Vielmehr geht es um die Frage, was diese Personen verstehen, was also diese ominöse wörtliche Bedeutung ist, die sie erfassen.
Quellen
Die heute in der Linguistik verbreitete Auffassung der Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik lässt sich auf diverse sprachphilosophische Einflüsse zurückführen, vor allem Grice (1966–67), Searle (1969) und Stalnaker (1970).
Dem kleinen Vorgeschmack auf Themen und Inhalte dieses Buchs folgen nun noch ein paar vorbereitende Hinweise zu seiner Lektüre. Der erste betrifft die Doppelrolle, die die deutsche Sprache spielen wird (und oben schon gespielt hat). Zum einen nämlich ist das Buch auf Deutsch geschrieben, zum anderen handelt es vom Deutschen. Das Deutsche fungiert somit, wie man in der Semantik sagt, zum einen als Metasprache und zum anderen als Objektsprache. Dieser an sich einfache Sachverhalt führt gelegentlich zu Verwirrungen:
(18) Jeder Satz beginnt mit einem Konsonanten.
(19) ‚Jeder Satz‘ beginnt mit einem Konsonanten.
(18) ist offenkundig falsch, auch wenn der Satz selbst mit einem Konsonanten beginnt; (19) trifft dagegen zu, weil ‚J‘ ein Konsonant ist. Der Unterschied zwischen den beiden Sätzen besteht darin, dass in (18) von Sätzen die Rede ist, während der gleichlautende Satz (19) ein bestimmtes Nominal betrifft – nämlich das Subjekt von (18). Um diesen Unterschied zu benennen, sagt man, dass die Wortfolge ‚jeder Satz‘ in (18) verwendet (oder gebraucht), in (19) dagegen nur erwähnt (oder zitiert) wird. Im Schriftbild schlägt sich der Unterschied darin nieder, dass erwähnte Ausdrücke (im Fließtext) in einfachen Anführungszeichen ‚…‘ erscheinen; das ist die Konvention, die wir in diesem Buch befolgen. Diese Markierung erwähnter Ausdrücke dient der Eindeutigkeit und hilft, möglichen Konfusionen vorzubeugen. Den LeserInnen wird dringend empfohlen, dieser Konvention nicht nur beim Lesen Beachtung zu schenken, sondern auch beim Bearbeiten der Übungsaufgaben. Neben den einfachen Anführungszeichen gibt es noch zwei weitere Formen der Hervorhebung:
• Doppelte Anführungszeichen markieren „uneigentliche“ Verwendungen, also Bezeichnungen und Phrasen, die verwendet (und nicht erwähnt) werden, aber mit einer gewissen Distanzierung – wie soeben das Wort ‚uneigentlich‘.
• Die Kursivsetzung dient der Hervorhebung einzelner Ausdrücke (Emphase) sowie der Einführung von Fachtermini.
Dass das Deutsche als Metasprache fungiert, hat den Vorteil, dass den LeserInnen eine hinreichende Beherrschung der Objektsprache unterstellt werden kann; sonst wären sie ja kaum in der Lage, dem (metasprachlich-)deutschen Text zu folgen.
Quellen
Die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache stammt aus Tarski (1936).
zu 1.3
1. Listen Sie die Eigenschaften von (16) auf, aufgrund derer eine Äußerung dieses Satzes in der oben beschriebenen Interview-Situation unangemessen ist.
zu 1.4
2. Betrachten Sie die folgenden beiden Sätze. Treffen sie zu? Drücken sie triviale Sachverhalte aus?
a. Ein Indefinitum ist ein Indefinitum.
b. ‚Ein Indefinitum‘ ist ein Indefinitum.
3. Übersetzen Sie (18) und (19) ins Englische. Achten Sie dabei darauf, dass Ihre Übersetzungen jeweils dasselbe besagen wie das deutsche Original; insbesondere sollte (19) durch die Übersetzung nicht falsch werden.
Im Zentrum dieses Buchs steht die kompositionelle Semantik, die die grundlegenden Mechanismen der Bedeutungskomposition zu beschreiben und erklären sucht – also die Bedeutung beliebig komplexer sprachlicher Ausdrücke in Abhängigkeit von ihrer syntaktischen Struktur und den Bedeutungen der Wörter, aus denen sie bestehen. In diesem Kapitel werden wir uns zunächst einige für diesen Prozess typische Phänomene ansehen; erst am Schluss werden wir eine allgemeine Strategie zur Erklärung der Bedeutungskomposition kennen lernen.
Im einfachsten Fall besteht ein sprachlicher Ausdruck aus einem einzigen, monomorphemischen (unzusammengesetzten) Wort; aus Sicht der kompositionellen Semantik gibt es dann hinsichtlich seiner Bedeutung nichts zu erklären. Das Adjektiv ‚blond‘ zum Beispiel bezieht sich auf eine Haarfarbe. Warum sich dieses Adjektiv auf eine Haarfarbe bezieht (und nicht z.B. auf eine geistige Verfassung) und warum ausgerechnet dieses Adjektiv diese Bedeutung hat (und nicht z.B. ‚blind‘), lässt sich zwar sprachhistorisch erklären, ist aber den SprecherInnen in aller Regel nicht bekannt. Sowieso spielt diese Erklärung keine Rolle für die tatsächliche Verwendung dieses Adjektivs. Dass ‚blond‘ gerade die Bedeutung hat, die es im gegenwärtigen Deutschen hat, muss man als SprecherIn einfach hinnehmen; es handelt sich um eine nicht weiter erklärungsbedürftige Grund-Tatsache der deutschen Semantik, die uns SprecherInnen bekannt ist, weil wir sie irgendwann im Verlauf des Spracherwerbs gelernt haben.
Ganz anders verhält es sich dagegen mit der Bedeutung von syntaktisch komplexen Ausdrücken. Dass z.B. der Satz (1) das bedeutet, was er bedeutet, wissen wir SprecherInnen des Deutschen nicht, weil wir das irgendwann einmal so gelernt haben:
(1) Der blonde Mann sieht die blinde Frau.
Vielmehr haben wir gelernt, was die einzelnen Wörter in diesem Satz bedeuten und wie man diese Wortbedeutungen miteinander zu der Bedeutung des Satzes (1) verbindet – und zwar so, dass er etwas anderes bedeutet als (2), obwohl dieser Satz aus denselben Wörtern mit denselben Wortbedeutungen besteht:
(2) Der blinde Mann sieht die blonde Frau.
Die Bedeutungskomposition ist gerade das, was beim Satzverständnis – und beim Verstehen komplexer Ausdrücke im Allgemeinen – zur Kenntnis der Wortbedeutungen hinzukommt. Es ist die Bedeutungskomposition – die Art, auf die die einzelnen Wortbedeutungen sich miteinander zur Satzbedeutung „aufaddieren“ – die den Unterschied zwischen unserem Verständnis dieser beiden Sätze ausmacht.
Am deutlichsten zeigt sich der Effekt der Bedeutungskomposition dort, wo er auf unterschiedliche Weisen verlaufen kann und dann zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Die Rede ist von den bereits im vorangehenden Kapitel erwähnten strukturellen Ambiguitäten. Vor allem anhand solcher Fälle werden wir auf den folgenden Seiten Einiges von der Vielfalt der Bedeutungskomposition kennenlernen.
Zunächst sei aber daran erinnert, dass auch einzelne Wörter mitunter mehrdeutig sind:
(3) Der Arzt, zu einem dringenden Hausbesuch gerufen, wird an der Haustür von einer schluchzenden Frau empfangen: „Sie sind umsonst1 gekommen, Herr Doktor!“ – „Nicht umsonst2, nur vergebens!“
Die ebenso geistreiche wie geschmacklose Antwort des Arztes nutzt eine Zweideutigkeit in der Form ‚umsonst‘ aus, die sowohl im Sinne von unentgeltlich‘ (‚umsonst2‘) als auch synonym mit ‚vergebens‘ (‚umsonst1‘) verwendet werden kann. In (3) haben wir die Mehrdeutigkeit durch disambiguierende Indizes aufgelöst. Das tötet zwar den Witz, macht aber zugleich deutlich, worin er besteht (bzw. bestand): die Dame des Hauses und der zynische Arzt verwenden unterschiedliche Wörter, die gleich ausgesprochen und geschrieben werden. Nur die Wortformen sind gleich, die Bedeutungen sind verschieden.
Haben zwei Wortformen unterschiedliche Bedeutungen, spricht man von lexikalischer Ambiguität. Eine solche kann aus verschiedenen Gründen vorliegen:
(4) Grade der lexikalischen Ambiguität
a. Schwache Homonymie
Zwei formal unterscheidbare Wörter besitzen eine gemeinsame (Oberflächen-)Form.
b. Starke Homonymie
Zwei erkennbar verschiedene Wörter sind formal ununterscheidbar.
c. Polysemie
Zwei formal ununterscheidbare Wörter sind nachweislich, aber nicht (unmittelbar) erkennbar verschieden.
schwache Homonymie
Schwache Homonymien sind leicht nachweisbar und in der Regel den Spre cherInnen einer Sprache bewusst. ‚Gehalt‘ und ‚Bank‘ sind typische Fälle. Natürlich handelt es sich bei dem Geld, das der Arbeitgeber monatlich überweist, nicht um einen Gehalt (von was auch immer), sondern um ein Gehalt – die Wortformen sind gleich, aber die beiden Wörter unterscheiden sich im Genus, dem „grammatischen Geschlecht“. Ebenso wirkt sich die politische Reglementierung der Finanzwirtschaft hoffentlich weniger auf die europäischen Bänke aus als auf die Banken – die Singularformen sind gleich, aber die Wörter unterscheiden sich in den Pluralformen. Einen ähnlichen, aber etwas subtileren Unterschied kann man zwischen zwei verschiedenen Verwendungen von ‚Teil‘ ausmachen. Während man z.B. im Englischen mit ein und demselben Wort ‚part‘ gleichermaßen Abschnitte von Büchern wie Funktionselemente von Maschinen bezeichnen kann, unterscheidet man im Deutschen zwischen dem ersten Teil einer Trilogie und dem schwer zu besorgenden Teil eines Vergasers. Wer nicht glaubt, dass es hier einen sprachlichen Unterschied gibt, setze die beiden Teile in den Nominativ: der erste Teil ist langatmig, aber das Teil unter der Motorhaube findet man nirgends. Ganz klar: es gibt im Deutschen zwei Wörter der äußeren Gestalt ‚Teil‘, die sich im Genus unterscheiden. Beide sind Substantive, aber das eine ist maskulin, das andere ein Neutrum. Doch schwache Homonymie kann auch über verschiedene Kategorien (Wortarten) hinweg bestehen, wie die Formen ‚Ehe‘ und ‚Rasen‘ belegen: ersteres kann ein Substantiv oder eine Konjunktion sein (die zumindest am Satzanfang ebenso groß geschrieben wird), letzteres eine Verbform oder ein Substantiv. In all diesen Fällen ist klar, dass es sich jeweils um verschiedene Wörter handelt; denn sie verhalten sich auf der Formseite, also morphologisch und syntaktisch, unterschiedlich.
starke Homonymie
Eine starke Homonymie liegt dagegen vor, wenn zwei verschiedene Wörter derselben Kategorie angehören und dabei durchweg identische Formen aufweisen. Ein Standardbeispiel ist ‚Schloss‘, bekanntlich ebenso eine Bezeichnung für Schließvorrichtungen wie für herrschaftliche Wohngebäude. In beiden Fällen handelt es sich um ein Substantiv neutralen Geschlechts, und auch die einzelnen Formen (‚Schlosses‘, ‚Schlössern‘ etc.) unterscheiden sich nicht voneinander. Der Unterschied liegt allein in der Bedeutung. Das hört sich zugegebenermaßen ein bisschen seltsam an: ‚Schloss‘ soll nicht ein Wort sein, sondern zwei Wörter auf einmal? Doch ist das eine rein terminologische Angelegenheit ohne weiteren Tiefgang. In (4) ist der Terminus Wort in dem Sinn zu verstehen, dass damit die Bedeutung mit eingeschlossen ist. Denn in der Semantik geht man davon aus, dass ein sprachlicher Ausdruck, also auch ein Wort, immer nur eine (wörtliche) Bedeutung hat. Und das heißt also tatsächlich: ‚Schloss‘ ist nicht ein Wort mit zwei Bedeutungen, sondern entspricht streng genommen zwei verschiedenen Wörtern mit je einer Bedeutung. Um unnötige terminologische Härten zu vermeiden, werden wir es allerdings in dieser Hinsicht nicht immer so genau nehmen und von verschiedenen Lesarten desselben Worts sprechen – wobei dann mit letzterem nur die Oberflächenform gemeint ist.