Buch
Während einer Gala auf einer Militärbasis nahe Plymouth ereignet sich eine schwere Bombenexplosion. Die Verletzten werden in die nächstgelegene Klinik gebracht – doch der Krankenwagen mit Captain Harry Peterson kommt nie dort an. Verzweifelt wendet sich seine Lebensgefährtin Karene an ihre alte Freundin, die Profilerin Dr. Augusta Bloom. Als Harry in einem weit entfernten Krankenhaus auftaucht, muss Augusta Karene eine schreckliche Nachricht überbringen: Harry kann sich an die letzten vier Jahre nicht erinnern. Karene ist eine Fremde für ihn. Und Augusta wird den Verdacht nicht los, dass man Harry sein Gedächtnis mit Gewalt genommen hat …
Autorin
Die Psychologin Leona Deakin hat als Profilerin für die West Yorkshire Police gearbeitet, bevor sie sich als Psychotherapeutin selbstständig gemacht hat. Sie lebt mit ihrer Familie in Leeds. In ihrer Psychothriller-Reihe um die charismatische Londoner Profilerin Dr. Augusta Bloom greift sie auf eigene Polizei-Erfahrungen zurück.
Leona Deakin
Lost
Psychothriller
Aus dem Englischen
von Ariane Böckler
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Lost« bei Black Swan, an imprint of Transworld Publishers, London.
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Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2022
Copyright © der Originalausgabe 2020 by Leona Deakin
First published as Lost by Transworld Publishers, a part of the Penguin Random House group of companies.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv © FinePic®, München
Redaktion: Christiane Mühlfeld
BH · Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN: 978-3-641-26536-6
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für meinen kleinen Angeber.
Das hier ist für dich.
»Keines Menschen Gedächtnis ist so gut, dass er ständig erfolgreich lügen könnte.«
Abraham Lincoln
»Es gibt immer Hoffnung.«
»Girl With Balloon«, Banksy
1
Als Captain Harry Peterson die Steintreppe hinaufschritt, war ihm keinesfalls bewusst, dass die Zeit ablief. In nicht einmal einer Stunde würde eine Bombe das Gebäude in Trümmer legen.
Er ließ den Blick über den Rasen schweifen. Alle wirkten gelassen und heiter. Hundert uniformierte Offiziere standen vor einem Gartenzelt und tranken Champagner. Die Knöpfe an ihren gut sitzenden Jacken glänzten in der Sonne, und ihre von lautem Gelächter durchzogenen Gespräche vermischten sich mit den Klängen der Royal Marines Band.
Harry lächelte. Er hatte das alles schon oft erlebt, doch den Glamour eines Militärballs würde er mit Sicherheit nie satthaben.
Hinter der Offiziersmesse der Marinebasis Devonport wartete ein dunkel gekleideter, dünner Mann. Unentwegt ging er auf und ab und kontrollierte immer wieder die Gurte seines Rucksacks und den Auslöseschalter in seiner Jackentasche.
Harry hatte es seit jeher als Privileg empfunden, der Royal Navy anzugehören, doch nirgends war dieses Gefühl so stark wie in Devonport. Mit einem Lächeln ging er an den beiden Miniaturkanonen vorbei und betrat das Haus. Er hatte sich nie einen anderen Beruf gewünscht. Schon als Kind hatte er davon geträumt, auf den Schiffen, die er in Portsmouth gesehen hatte, um die Welt zu fahren, und als Teenager hatte er Filme über Kampfpiloten verschlungen und sich Poster von Kriegsfilmen an die Wand gehängt. Zwar wollte er nicht unbedingt kämpfen, aber er wollte gern ein Held sein. In Harry Petersons Vorstellung wollte das jeder. So wie sich darin ebenso jeder wünschte, ein guter Mensch zu sein. Der Mann am Empfang musterte die Rangabzeichen an Harrys Jackenärmel. »Guten Abend, Captain«, sagte er.
Harry nickte ihm zu. Er drängte sich an dem Fotografen vorbei und ließ sich von einer Bedienung ein Glas Champagner reichen. Die zweimal im Jahr stattfindenden Bälle standen stets unter einem bestimmten Motto, zum einen, um sie von den zahllosen förmlichen Abendessen zu unterscheiden, und zum anderen, weil sich die Navy als Verteidigerin der Meere nicht nur als der ehrwürdigste Teil der Streitkräfte empfand, sondern auch als der humorvollste. Und so war für die heutige Festivität das Motto »Ein Abend im Zirkus« ausgegeben worden. Was den Jongleur auf der Wiese ebenso erklärte wie den Mann, der auf Stelzen über das Gelände stolzierte.
Der an den Garten grenzende Raum war zu einer Gin-Bar umfunktioniert wurden. Man hatte die Ledersofas und die schweren Eichentische beiseitegeschoben, und das Personal trug glitzernde Gymnastikanzüge und Federn in den Haaren. Harry suchte nach einem bekannten Gesicht, obwohl er wusste, dass er wahrscheinlich keines entdecken würde. Er war nicht auf dieser Marinebasis stationiert. Commodore Chris Waite hatte ihn zu dem Ball eingeladen, da er ihm einen Posten anbieten wollte. Harry hatte nicht vor, das Angebot anzunehmen – er wollte nicht zurück nach Plymouth – , doch es war nie klug, eine Werbung von vornherein auszuschlagen. Man musste mitspielen; die Militärs hatten gute Gedächtnisse, und vielleicht käme er ja doch eines Tages wieder hierher. Doch jetzt wollte er in London bleiben, nahe bei seinen Kindern. Er hatte so vieles verpasst, als sie klein waren, und wenn er jetzt keinen Posten in der Nähe seiner Exfrau annahm, sähe er die Kinder überhaupt nicht mehr. Er nickte einem jungen Leutnant zu, dessen Freundin ein schulterfreies, pfirsichfarbenes Kleid mit Strassbesatz trug. Die Kleiderordnung war eindeutig gewesen: knöchellange Abendkleider, bedeckte Schultern und wenig Schmuck. Garantiert würde ein Grüppchen Offiziersgattinnen am Ende des Abends über die Kleiderwahl der jungen Frau lästern.
»Schönes Kleid«, sagte Harry, in der Absicht ihr gleich ein Kompliment zu machen, falls sie später etwas Gegenteiliges zu hören bekommen sollte. Sie errötete und dankte ihm mit erfreutem Kichern.
»Danke, Sir«, sagte ihr Freund.
Harry klopfte dem Mann auf die Schulter.
Vor der Offiziersmesse ging der dünne Mann noch immer auf und ab. Es war noch nicht so weit. Doch er hörte Musik und Gelächter. Er hasste sie dafür. Wenn er doch nur ihre Gesichter sehen könnte, wenn alles in die Luft flog. Das war das Einzige, was er bedauerte. Doch das war nur ein winziger Schönheitsfehler.
Harry wandte sich um und sah Commodore Waite hereinkommen, begleitet von seiner Frau in einem eleganten schwarzen Abendkleid.
»Abend, Sir«, sagte Harry und schüttelte Waite die Hand. »Danke für die Einladung.«
Mrs Waite küsste Harry auf die Wange. »Als wir letzten Monat zusammen essen waren, haben Sie ihn den ganzen Abend Chris genannt«, sagte sie. »Und jetzt sagen Sie auf einmal ›Sir‹.«
»Das war Vergnügen, Mrs Waite«, versetzte Harry. »Das hier ist Arbeit.« Sie war die zweite Frau des Commodore und noch neu genug in der Welt des Militärs, um von deren Schrullen fasziniert zu sein.
Sie musterte die von gutgekleideten Gästen umlagerte Gin-Bar. »Das ist für Sie also Arbeit.«
Harry und Chris lächelten sich verständnisinnig zu.
»Was ist es für ein Gefühl, wieder hier zu sein? Bestimmt haben Sie den alten Stützpunkt vermisst«, sagte Waite. Tatsächlich hatte Harry schon immer eine Schwäche für Devonport gehabt.
»Den Stützpunkt schon. Aber die Leute …« Er verzog das Gesicht.
Der Commodore lachte dröhnend, ein passendes Geräusch für einen Mann seines Ranges. »Sie würden sie garantiert zurechtstutzen.«
Waite hielt eine Hand in die Höhe, um eine Gruppe von Offizieren auf der anderen Seite des Raums zu begrüßen. »Ich muss mich mal da drüben blicken lassen«, erklärte er. »Wir reden später weiter; ich will mit Ihnen über Ihren nächsten Einsatz sprechen.«
»Zuerst trinken wir was«, sagte Mrs Waite, hakte sich bei ihrem Ehemann ein und zog ihn in Richtung Gin-Bar.
»Erst mal sehen, was sie haben«, bremste sie Waite.
»Alles von schwarzem Pfeffer bis zu Himbeeren, glaube ich«, antwortete Harry. Er blieb bei seinem Glas Champagner. Bei Arbeitsanlässen behielt er gern die Kontrolle. Als er ans Fenster trat, fiel sein Blick sofort auf eine elegante Rothaarige in einem langen grünen Abendkleid, das an der Taille mit einer bronzefarbenen Schleife gegürtet war. Sie stand auf dem Rasen und hatte die Haare hochgesteckt, sodass ihr Gesicht nur von ein paar losen Locken gesäumt wurde. Eigentlich hatte sie gesagt, dass sie es keinesfalls schaffen würde, weil es in der Arbeit zuging wie verrückt. Harry hastete zum Empfang zurück. Er fand es herrlich, dass sie beschlossen hatte, ihn zu überraschen. Genauso hätte er es auch gemacht.
An der Tür stellte sich ihm ein grauhaariger, muskelbepackter Offizier in den Weg.
»Sir«, sprach er ihn an. »Oberleutnant zur See Philips vom Gemeinsamen Streitkräftekommando. Kann ich Sie bitte kurz unter vier Augen sprechen?«
Es wurde zu Tisch gerufen, und die anderen Gäste strömten nach und nach hinaus und auf das Gartenzelt zu, gehorsam, wie Militärs nun einmal sind.
»Jetzt?«, fragte Harry. Er beugte sich zur Seite und versuchte, Karen in der wogenden Menschenmenge auszumachen. Er wollte sie sehen, sie küssen.
Der Mann trat noch näher zu ihm und flüsterte beinahe. »Ja, Sir«, sagte er. »Ich bin extra hergekommen. Ich muss Sie persönlich briefen.« Der Mann wandte sich um und ging auf die Bar zu.
Harry wusste, dass er sich dem Gemeinsamen Streitkräftekommando nicht verweigern durfte. Er gehörte selbst zu ihnen, und eine Weigerung wäre im besten Fall unhöflich und im schlimmsten Fall gefährlich. Außerdem trug der Oberleutnant zur See keine Galauniform – nur ein weißes Hemd und die Mütze unter einem Arm – , also war er wohl unerwartet entsandt worden. Das Briefing musste dringend sein.
Indem er sich gegen den Strom bewegte, folgte Harry dem anderen durch die Menge. Commodore Waite und seine Frau standen an der Tür zur Bar, während sich das letzte Grüppchen Offiziere langsam nach draußen begab.
Der Oberleutnant zur See schritt auf das Fenster auf der anderen Seite des Raums zu, damit sie nicht belauscht werden konnten. »Was ist denn so wichtig?«, fragte Harry. Er musterte die Abzeichen des Mannes und runzelte die Stirn. Die Epauletten an seinen Schultern waren falsch herum angebracht. Das war ein Anfängerfehler. Oder vielleicht hatte er sich überhastet angezogen.
»Es dauert nur eine Minute, Sir.«
Harry spähte durchs Fenster in den Garten. Er sah Karene draußen stehen, wie sie Ausschau nach ihm hielt. Ein Mann auf Stelzen stapfte am Fenster vorüber. Karene sah auf, und da begegneten sich ihre Blicke. Als Harry ihr zuwinkte, lächelte sie. Im selben Moment explodierte die Bombe.
2
Die Explosion traf Karene mit voller Wucht. Sie wurde nach hinten geschleudert und schlug auf den Betonplatten auf. Instinktiv hielt sie sich einen Arm vor die Augen, als von den Fenstern über ihr Scherben herabregneten. Heiße Luft strömte über ihre Haut, und eine Staubwolke drohte sie zu ersticken. Sie hörte, wie der Stelzenmann stürzte und dabei an einen Tisch stieß, der daraufhin zusammenbrach, sodass die Gläser darauf klirrend zu Boden fielen.
Sie konnte nichts sehen und nur wenig hören: Die Welt war weit weg und ihre Geräusche dumpf, als wäre sie unter Wasser. Was sollte sie tun? Davonlaufen? Sich verstecken? Sie holte tief Luft und beschloss, die Ruhe zu bewahren. Ihr Mund schmeckte nach Metall, und irgendwo brannte etwas.
Sie versuchte sich zu konzentrieren. In der Ferne kam jemand mühsam auf die Beine. Er stolperte, ehe er aufrecht stehen konnte.
»Hey«, rief sie. »Hallo?« Doch obwohl sich ihre Lippen bewegten, kam kein Ton aus ihrem Mund. Sie probierte es erneut, doch die Person bewegte sich weg von ihr und wurde vom grauen Dunst verschluckt.
Sie kroch auf den Stelzenmann zu.
»Alles okay?«, fragte sie und drückte dabei Daumen und Zeigefinger zu einem Okay-Zeichen zusammen, um wenigstens auf diese Art etwas zu kommunizieren. Der Mann nickte und setzte sich auf. Er blickte an dem Gebäude nach oben, das durch die Staubwolke nur in Umrissen erkennbar war, und schüttelte den Kopf.
Karene folgte seinem Blick.
Harry.
Sie musste ins Haus.
Sie erhob sich und lief geduckt auf die Steintreppe zu.
Eine starke Hand fasste sie am Arm.
»Hinlegen«, brüllte der Mann. In seinen Haaren hingen Rußklumpen.
Karene schüttelte den Kopf.
»Hey«, schrie der Mann und zog sie zu Boden. Er presste seinen Mund gegen ihr Ohr, damit sie ihn besser hören konnte. »Hier ist alles voller Militärs. Und keiner von ihnen läuft in den Explosionsbereich, oder?«
»Warum zum Teufel nicht?«, schrie sie zurück. Jedes ihrer Worte klang piepsig.
»Weil wir weder wissen, was das war, noch, ob es schon zu Ende ist, oder ob noch Schlimmeres nachkommt. Wir müssen warten.«
Karene starrte den Mann ungläubig an. »Wie lange wird das dauern?«, schrie sie und machte ihren Arm los. »Es könnte Verletzte geben. Vielleicht verblutet jemand.«
Harry.
Sie stieß den Mann beiseite und setzte ihren Weg die Treppe hinauf fort. Irgendwo schrie jemand. Sie ahnte, dass sie der Situation nicht gewachsen war, doch hatte sie eine Wahl? Sie gelangte stolpernd in den Empfangsbereich, in dem überall der Rauch hing. Harry hatte sich in einem Raum links davon aufgehalten. Sie spähte blinzelnd in diese Richtung und hoffte, ihre Augen würden sich der Situation anpassen, doch die Bilder blieben schwammig. Brennende Holzbalken blockierten den Weg, und die verbogenen Überreste irgendeines Metallteils bildeten ein Stück weiter vorn eine Barriere. Ein junger Offizier kam herbeigeeilt und betrachtete das Chaos. Seine Uniform war sauber, ja völlig staubfrei. Er musste weiter draußen im Garten gewesen sein, vielleicht sogar im Gartenzelt.
»Sind Sie Ärztin?«, fragte er.
»Ich kann Erste Hilfe leisten«, sagte sie kopfschüttelnd. »Aber weiter nichts.«
»Wissen Sie ungefähr, wie viele Leute hier drinnen waren?« Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Wir müssen reingehen«, sagte der Offizier. »Und dann eine Sichtung vornehmen. Leute, die schreien, erst mal übergehen, und uns um die Stillen kümmern. Wer schreit, atmet. Okay?«
Karene sah den jungen Mann an und fragte sich, wie er so gefasst sein konnte, welche Hölle seine Augen bereits gesehen hatten.
»Checken Sie ihre Reaktionen. Dann die Luftwege, die Atmung … Rufen Sie, wenn es ein Problem gibt. Ich komme zu Ihnen, so schnell ich kann.«
Karene zog ihr Kleid bis zu den Knien hoch und schlang den Stoff zu einem Knoten, damit er nicht am Boden schleifte. Dann schritt sie vorsichtig um die Trümmer herum. Harry hatte an einem Fenster links vom Empfang gestanden. Vor der zerstörten Treppe gab es keine Türen, also ging sie den Flur entlang, bis sie linker Hand eine Tür entdeckte. Sie öffnete sie und trat ein. Die Sonne schien in schmalen Streifen durch die zerborstenen Fenster, auf die Karene nun zuging.
»Hilfe«, sagte jemand. »Bitte helfen Sie mir.«
Eine Frau saß an die Wand gelehnt da.
Wer schreit, atmet. Das galt auch für Sprechen.
»Ich komme gleich wieder«, sagte Karene. »Versprochen.«
Sie ging weiter. Es waren keine anderen Schreie zu vernehmen, auch kein Stöhnen oder Schluchzen. Was wiederum bedeutete, dass Harry still war.
Sie fand ihn auf dem Rücken am Fenster liegend vor. Er regte sich nicht. Sie kniete sich hin und tat das, was der junge Offizier empfohlen hatte.
»Harry?«, rief sie. »Harry! Hörst du mich?«
Er reagierte nicht. Sie klappte seinen Mund auf und checkte die Atemwege. Sie waren frei. Dann hielt sie ein Ohr vor seine Lippen. Sie hörte nichts – das Gellen in ihren Ohren war viel zu laut –, doch sie war sicher, dass sie seinen Atem warm und regelmäßig an ihrer Wange fühlte. Sie umfasste sein Handgelenk und tastete nach dem Puls. Er war deutlich zu spüren. Dann suchte sie nach Verletzungen, konnte jedoch nichts finden. Sacht wischte sie die dicke Staubschicht auf Harrys Gesicht von Nase und Mund. Auf Harrys Stirn saß ein kleiner Kratzer.
Sie strich ihm durchs Haar und seitlich am Gesicht entlang, wobei sie innerlich darum flehte, nichts Nasses zu fühlen. Dann wiederholte sie das Gleiche an seinem Oberkörper, fasste unter seine Jacke und betastete schließlich seine Arme und Beine. Er schien unverletzt zu sein. Bewusstlos, aber unverletzt.
»Ma’am, Sie müssen hier rüberkommen.« Die Stimme des jungen Offiziers klang ruhig, aber bestimmt. Dies war keine Bitte, dies war ein Befehl. »Alles gut, Harry«, flüsterte sie. »Hilfe ist unterwegs, und ich gehe nicht weit weg.« Sie küsste ihn auf den Kopf. »Ich liebe dich.«
Sie kroch zurück zur Tür, wo der Offizier neben der Frau kniete. Sie trug einen paillettenbesetzten Akrobatenanzug und hatte eine klaffende Wunde am linken Arm, aus der das Blut auf den marineblauen Teppich rann.
»Sie müssen mir helfen, die Blutung zu stoppen«, sagte der Offizier. Er legte Karenes Hand um den Bizeps der Frau, direkt über der Wunde. »Halten Sie ihren Arm in die Höhe und drücken Sie hier. Fester. Das stoppt die Blutung.«
Die Paillettenfrau starrte mit großen Augen auf ihren Arm.
»Verstanden«, sagte Karene. »Fest drücken.«
»Und nicht loslassen, bis ich zurückkomme. Ich muss nach den anderen sehen. Ist das Ihr Mann?«, fragte er mit Blick auf Harry.
»Ja«, antwortete Karene. Es war sinnlos, in dieser Umgebung über den Beziehungsstatus zu diskutieren. »Er ist bewusstlos, aber er atmet, und sein Puls ist kräftig. Ich habe keine größeren Verletzungen gefunden, nur eine kleine Schramme am Kopf. Er hat Glück gehabt.«
Der Offizier musterte sie scharf. »Es ist verführerisch, das Günstigste anzunehmen, aber Sie müssen auch das Gegenteil in Betracht ziehen. Er hat das Bewusstsein verloren, also könnte er auch einen Wirbelsäulenschaden oder innere Verletzungen erlitten haben. Rufen Sie, wenn er sich bewegt.«
Karene nickte.
Wirbelsäulenschaden. Innere Verletzungen. O Gott, Harry.
Erleichtert sah Karene zwei Sanitäter vorübereilen. Der junge Offizier hatte sie offenbar zu Harry geschickt. Sie würden sich um ihn kümmern. Jetzt war er in guten Händen.
3
Marcus Jameson setzte den Fahrradhelm ab, hängte ihn an die Lenkstange und lehnte sein Fahrrad an einen großen Felsen. Die spektakuläre Aussicht entschädigte ihn reichlich für den steilen Anstieg, und im Grunde radelte er ohnehin am liebsten bergauf. Den Schmerz genoss er ebenso wie das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Er trank einen großen Schluck Wasser aus seiner Flasche und hockte sich auf einen kleineren Felsen, um die Scheibe Bananenkuchen zu essen, die er in einem Café in der Nähe des Zeltplatzes gekauft hatte.
Aus seinem Wochenende in Wales war erst eine ganze Woche geworden und schließlich vierzehn Tage. Er wusste, dass es die Verdrängung war, die ihn antrieb. Jeden Tag fuhr er bis zur Erschöpfung Fahrrad, damit er schnell und tief genug wegdämmerte, um bis zum Morgen durchzuschlafen. Die sportliche Betätigung machte es auch leichter, sein Telefon zu ignorieren und den Kontakt zu seiner Schwester, vor allem aber zu Augusta zu verweigern, die noch immer Nachrichten auf seiner Mailbox hinterließ. Nachdem er sie drei Monate lang ignoriert hatte, hätte sie es eigentlich allmählich kapiert haben müssen.
Dass er einen Hang zum Einsiedler hatte, war ihm durchaus bewusst. Man hatte es ihm im Zuge der regelmäßigen psychologischen Evaluierung oft genug gesagt, als er noch beim Geheimdienst gewesen war. Die »Schattenseite« seiner kontaktfreudigen, optimistischen Persönlichkeit war ein verkappter Einzelgänger. Man hatte ihm geraten, auf Anzeichen dafür zu achten, dass er sich von der Realität entfernte, und als er den MI6 verließ, hatte er sich daran gehalten. Er hatte dafür gesorgt, stets beschäftigt zu sein, sich um normale Geselligkeit bemüht und einen neuen Lebenszweck als Privatermittler bei Dr. Augusta Bloom gefunden. Sie hatten sich zusammengeschlossen, nachdem er einen Vortrag von ihr über die Hauptmotive für Verbrechen gehört hatte. Damals hatte er gewitzelt, dass niemand besser dafür geeignet war, Kriminalfälle aufzuklären, als ein Ex-Spion und eine Kriminalpsychologin. Sein Können dafür einzusetzen, anderen zu helfen, hatte ihn erfüllt. Bis alles auseinanderfiel. Die ersten Wochen nach Blooms Verrat hatte er sich in seiner Londoner Wohnung verkrochen. Doch als er einsehen musste, dass ihn seine Schwester Claire nicht in Ruhe lassen würde, änderte er seine Taktik. Seine Fahrten wirkten in gewissem Sinne produktiv – Reisen, Sport – , doch tief in seinem Inneren wusste er, dass ihm das Ganze überhaupt nicht zuträglich war. Er war nach wie vor allein und versteckte sich weiter. Das Problem war, dass er seinem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr trauen konnte. Alles hatte im Frühjahr damit begonnen, dass er Bloom überredet hatte, einem halbwüchsigen Mädchen zu helfen, ihre unzuverlässige Mutter zu finden. Dadurch hatte er sie unwissentlich alle beide in die berechnenden Machenschaften einer Psychopathin verwickelt, die letztlich versucht hatte, ihn umzubringen. Also wie sollte er sich noch auf sein eigenes Urteilsvermögen verlassen?
Jamesons Telefon klingelte und störte die friedliche Stimmung des walisischen Tals mit den Klängen von »Bicycle Race« von Queen. Er spähte aufs Display. Die Nummer war ihm unbekannt.
»Hallo?«, sagte er.
»Marcus Jameson?«, fragte eine Frau.
»M-hm«, antwortete er undeutlich und schluckte schnell den Bissen Bananenkuchen hinunter. »Wer ist da?«
»Mein Name ist Karene Harper, und ich brauche Ihre Hilfe. Haben Sie von dem Bombenanschlag auf der Marinebasis Devonport gehört?«
»Natürlich«, sagte Jameson. »Es wurde ja ausführlich darüber berichtet.«
»Tja, ich war dabei. Mein Lebensgefährte – Captain Harry Peterson – wurde durch die Explosion verletzt.«
Jameson legte sein Kuchenstück oben auf die Papiertüte. »Das tut mir leid.«
»Aber er ist nie im Krankenhaus angekommen.«
»Was? Wie meinen Sie das?«
»Er wurde mit einem Krankenwagen abtransportiert, ist aber nie irgendwo angekommen.«
»Der Anschlag war doch schon vor zwei Tagen. Haben Sie in allen Krankenhäusern nachgefragt?«
»Selbstverständlich.« Ihr Tonfall war knapp und gereizt. »Die Polizei sagt, er hätte sich wahrscheinlich auf eigene Faust aus der Klinik davongemacht, aber er hat sich weder bei mir noch bei seinen Kindern gemeldet.« Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort. »Wahrscheinlich glauben Sie jetzt, dass er tot ist?«
Jameson begriff, dass sein Schweigen abweisend gewirkt hatte. »Nach solchen Explosionen kann ein ziemliches Chaos herrschen«, fuhr er fort. »Es ist nicht immer leicht, jemanden zu identifizieren …«
»Er war nach der Explosion bewusstlos, hat aber geatmet, und es gab keine Anzeichen für eine schwere Verletzung.«
»Das heißt nicht unbedingt …«
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Und wenn er tot ist, ist das die eine Sache, aber im Moment muss ich einfach nur wissen, ob Sie uns helfen, ihn zu finden?«
»Uns?«
In der Leitung herrschte kurz Stille, ehe er eine vertraute Stimme vernahm.
»Ich wusste, dass du meinen Anruf wegdrücken würdest«, sagte seine Geschäftspartnerin Augusta Bloom. Jamesons freie Hand ballte sich zur Faust. »Oh, das ist fies.« Sie hatten fünf Jahre lang ein Team gebildet, was mehr als genug war. Er hatte nicht die geringste Lust, erneut mit ihr zusammenzuarbeiten. In ihrem letzten Fall hatte sich herausgestellt, dass Bloom und Seraphine Walker – die sich schließlich als gefährliche Psychopathin entpuppt hatte – alte Bekannte waren. Und alle beide hatten ihn aufs Kreuz gelegt. Seraphine hatte sich ihm als Sarah präsentiert, und er hatte sich heftig in ihre kluge, verführerische Fassade verliebt. Und Bloom hatte sich dafür entschieden, ihn im Ungewissen zu lassen und dadurch in Gefahr zu bringen. In den vielen Stunden, die er über Blooms Entscheidung nachgedacht hatte, war er immer wieder zu derselben verstörenden Schlussfolgerung gekommen. Deshalb wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben.
»Mag sein, aber ich brauche dich«, sagte sie. »Karene ist eine alte Freundin von mir, und die Sache ist eine Militärangelegenheit. Du hast mich einmal um einen Gefallen gebeten, und jetzt bitte ich dich im Gegenzug auch um einen.«
»Ja, und schau nur, wie das geendet hat.« Der kleine Gefallen hätte ihn fast das Leben gekostet.
»Ich weiß nicht, wie oft ich sagen soll, dass es mir leidtut, Marcus, aber ich werde es wiederholen, bis du mir glaubst. Allerdings geht es jetzt weder um dich noch um mich; es geht um meine Freundin und ihren verschwundenen Freund. Du weißt, dass du auf eine Weise Zugang zum Militär hast, wie ich ihn nie bekommen würde. Du brauchst dich nicht mal mit mir zu treffen, wenn du nicht willst. Du kannst direkt mit Karene arbeiten. Sie ist einverstanden.«
Jameson biss die Zähne zusammen. Bloom stellte ihn hin, als wäre er ein bockiges Kind. »Ich überleg’s mir«, sagte er.
»Ehrlich?«
»Ja.« Er legte auf.
4
»Wird er uns helfen?«, fragte Karene. Ihre Stimme klang jetzt weicher, viel matter als am Telefon.
»Er kann einem spannenden Fall nicht widerstehen«, sagte Bloom und reichte ihrer Freundin eine Schachtel Papiertaschentücher. Ihre Worte klangen erstaunlich zuversichtlich, in Anbetracht dessen, dass sie selbst nicht daran glaubte. Die Ereignisse von vor drei Monaten hatten ihre Beziehung dermaßen zerrüttet, dass sie nicht wusste, ob man sie wieder flicken konnte. Sie hatte Jameson im Dunkeln gelassen, was er nach wie vor als Verrat empfand. Nur wollte er nicht einsehen, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte. Ihr war es darum gegangen, Seraphine aufzuhalten. Koste es, was es wolle. »Ich hoffe, er lenkt noch ein«, sagte Bloom, und das hoffte sie wirklich.
Es war Montag spätnachmittags. Bloom war mit dem Zug nach Plymouth gefahren, wo Karene seit dem Ball in einem Hotel wohnte. Sie saßen in ihrem minimalistischen Hotelzimmer, Bloom auf dem Schreibtischstuhl und Karene auf dem kleinen Sofa.
»Als du Harry zum letzten Mal gesehen hast, lag er also bewusstlos auf dem Boden?«
Karene schüttelte den Kopf. »Ich habe die Sanitäter bei ihm gesehen. Eigentlich hätte ich hingehen sollen; ich wollte auch, aber der Arzt hat gesagt, ich soll mich nicht vom Fleck rühren. Er hat gesagt, ich soll den Arm dieser Frau festhalten, bis er wiederkommt. Also habe ich das getan und zugesehen, wie sie Harry abtransportiert haben.«
»Und du hast in jedem Krankenhaus nachgefragt?«, hakte Bloom nach. »In allen?«
Karene schnäuzte sich und nickte. »Im Umkreis von fünfzig Kilometern.«
Bloom kannte Karene seit dem Studium und hatte sie noch nie verstört oder weinend gesehen; der Gefühlsausbruch irritierte sie etwas. Karene war immer eine jener unerschütterlich positiven Frauen gewesen, fröhlich und mit sich im Reinen, die Unangenehmes mit Humor bekämpften. Es war nur folgerichtig, dass sich Karene auf seelische Resilienz spezialisiert hatte: Sie selbst verfügte eindeutig in hohem Maße darüber. Sie war die Jüngste von fünf Geschwistern mit vier älteren Brüdern und einem Vater, der von seiner Tochter nie viel erwartet hatte. Doch sie war zäh. Oder zumindest war sie es früher gewesen. Bloom hatte Karene seit Jahren nicht gesehen, und so hatte sie der Anruf am Vorabend ziemlich überrascht.
»Wo ist er, Augusta?«, sagte Karene, während ihr neue Tränen über die Wangen rannen. »Warum wurde er nicht wie alle anderen ins Derriford Hospital gebracht?«
»Du hast gesagt, er war nicht schwer verletzt. Vielleicht hat er das Krankenhaus auf eigene Faust verlassen?«
»Aber in Derriford haben sie keinen Eintrag darüber, dass er überhaupt aufgenommen wurde. Ich habe die Polizei und das Militär um Hilfe gebeten, aber sie interessieren sich nur für den Attentäter. Harry hat offenbar keine Priorität.« Karenes bitterer Tonfall passte zu ihrem fassungslosen Blick.
»Was ist mit den Sanitätern?«, fragte Bloom. »Konntest du mit ihnen reden?«
Karene schüttelte den Kopf. Bloom nahm sich vor, die Sanitäter ausfindig zu machen, und machte sich eine entsprechende Notiz. »Es war ein Terroranschlag. Ein Selbstmordattentäter. Glauben sie das?«
Karene nickte.
»Hast du mit Harrys Kollegen in der Navy gesprochen?«
»Ja. Ich habe Harrys Vorgesetzten angerufen, sowie mir klar geworden ist, was passiert ist. Aber in der Arbeit hat niemand irgendetwas von Harry gehört. Es sind jetzt schon zwei Tage, Augusta. Ich habe so ein entsetzliches Gefühl …«
»Dass er irgendwo in einer Leichenhalle liegt?«
Karene blinzelte mehrmals.
»Oder …«, fuhr Bloom fort.
»Oder was? Was könnte sonst geschehen sein?« Karene suchte sichtlich verzweifelt nach Antworten.
Bloom schwieg einen Moment lang. Die Besatzung des Krankenwagens wäre verpflichtet gewesen, ihren Patienten in ein Krankenhaus zu bringen. Doch kein Krankenhaus hatte Harry aufgenommen. »Ich glaube, die Antwort liegt bei den Sanitätern. Falls es überhaupt welche waren.«
»Was soll das heißen?«, fragte Karene.
»Ich frage mich eben, ob es besonders schwierig ist, sich ein paar weiße Jacken und eine Trage zu besorgen«, antwortete sie und sprach damit ihren Gedanken aus.
Karenes Augen weiteten sich. »Du glaubst, diese Leute waren gar keine Sanitäter?«
»Ich weiß aus meiner Zusammenarbeit mit der Polizei, dass solche Vorfälle von den Einsatzkräften gewissenhaft gemanagt werden. Es muss einen Einsatzleiter gegeben haben, der dafür gesorgt hat, dass die Verletzten in die nächstgelegenen Unfallkliniken gebracht wurden. Solche Fehler sind sehr unwahrscheinlich. Was ein Komplott wahrscheinlich macht. Harry ist aus einem konkreten Grund verschwunden.«
»Aus welchem Grund denn?« Karene wirkte auf einmal verängstigt.
Bloom schüttelte langsam den Kopf. Sie hatte keine Ahnung.
5
Am Dienstagmorgen saß Bloom wieder in ihrem gemieteten Büro im Souterrain unter einer schicken Werbeagentur am Russell Square. Das Büro war klein: nur zwei Schreibtische, ein Whiteboard und zwei zusätzliche Stühle für Besucher. Nicht dass sie viele Besucher gehabt hätten. Der Vorteil von Räumlichkeiten im Souterrain bestand in der Anonymität; vor manchen Gestalten, mit denen sie zu tun hatte, verbarg sie lieber, wo sie zu finden war.
Jameson kam herein, eine Flasche Wasser in der Hand. Normalerweise brachte er sich einen Kaffee mit. Er hatte seine dunklen Haare so lang wachsen lassen, dass die dicken Locken sein Gesicht umrahmten und an seinen Hemdkragen stießen. Gelassen schlenderte er zu seinem Schreibtisch, als wäre in den letzten Monaten nichts geschehen, als wäre er jeden Tag hier gewesen. Doch seine sonst so wachen Augen blickten matt und müde drein. Und er lächelte auch nicht.
»Na dann«, sagte er, während er sich setzte und seinen Laptop auspackte. Alles ohne den gewohnten scherzhaften australischen Akzent, keine Witze à la »G’day Bruce« oder »Was liegt an?«
Seit den Ereignissen im Frühjahr hatte sie sich nach seiner Rückkehr gesehnt, jedoch bezweifelt, dass es je dazu käme. Er war so wütend gewesen. Und das hatte nicht nachgelassen, nicht im Geringsten. Trotzdem war er jetzt hier. Nach einem einzigen Anruf. Sie hatte lediglich das richtige Problem finden müssen. Nun ärgerte sie sich darüber, dass sie darauf nicht schon früher gekommen war. »Willkommen zurück«, sagte sie.
»Es gibt Regeln.« Er drehte sich auf seinem Stuhl so, dass er sie ansah. »Ich will keine Entschuldigungen hören. Was passiert ist, ist passiert. Ich arbeite an diesem Fall mit, um meine Schuld bei dir zu begleichen, nicht mehr und nicht weniger. Es heißt nicht, dass ich zurückgekehrt bin«, fuhr er fort, »und ich will auf keinen Fall ihren Namen hören.«
Bloom wusste, dass er Seraphine meinte. Sie hatte ihm viel bedeutet, vielleicht hatte er sie sogar geliebt, aber sie hatte ihn bis ins Mark verletzt. Sie hatte ihn für ihre Zwecke eingespannt, ihn benutzt und hereingelegt. Jameson hatte das kaum verkraftet und bis heute nicht begriffen, mit welch souveräner Überlegenheit Psychopathinnen wie Seraphine andere manipulieren konnten. Es war fast eine Art Superkraft. Um nicht aufzufallen, hatte sie gelernt, Normalität vorzutäuschen. Sie besaß jahrelange Übung darin, eine trügerische Maske aufzusetzen, doch hinter ihrem schönen Gesicht befand sich ein kalter, berechnender Verstand, der nichts als Verachtung für ebenjene Menschen empfand, die sie nachahmte. Eine Verachtung, die sie sehr gefährlich machte.
»Wie geht’s Jane?«, fragte Bloom und steuerte damit in weniger gefährliches Fahrwasser. Jane war das junge Mädchen, dessen Mutter Anfang des Jahres verschwunden war – der Gefallen, um den Jameson sie gebeten hatte. Und dann war Jane selbst verschwunden, in Seraphines Auftrag von ihrer eigenen Mutter verschleppt. Bloom und Jameson hatten es geschafft, Jane zurückzuholen, doch Janes Mutter Lana wurde nach wie vor vermisst.
»Gut.«
»Trifft sie ihren Vater regelmäßig?«
»Jedes zweite Wochenende.«
»Es muss schön für sie sein, Stiefbrüder zu haben.«
Jameson ignorierte die Bemerkung. »Wo beginnen wir in dieser Peterson-Sache? Ich habe mich schon ein bisschen umgehört und für heute Nachmittag einen Termin bei seinem Chef vereinbart. Patrick Grey. Northwood Headquarters. Wir können mit der Metropolitan Line hinfahren. Es dauert nur fünfundvierzig Minuten.«
»Ja, ich habe deine E-Mail gelesen. Danke, dass du das organisiert hast. Hast du ihn am Telefon schon gesprochen?«
»Nur kurz. Er meinte, es sei völlig untypisch. Dieser Peterson sei ein gewissenhafter und zuverlässiger Mann.«
»Interessant. Dann ist es also unwahrscheinlich, dass er sich einfach so aus dem Staub gemacht hat, es sei denn, er hatte keine andere Wahl.«
»Oder er ist tot.«
Bloom hob die Brauen. »Dann fahren wir also heute Nachmittag nach Northwood? Gut. Und heute Vormittag befragen wir Karene. Sie kommt um zehn.«
»Hast du nicht bereits mit ihr gesprochen?« Er klang frostig, abweisend. Er war zwar da, aber es war nicht wie früher, überhaupt nicht.
Bloom holte tief Luft. »Ich dachte, wir sollten sie gemeinsam befragen, und alles gründlich von Anfang an durchsprechen: So machen wir es doch normalerweise.«
»Haben wir.«
Bloom runzelte die Stirn.
»So haben wir es normalerweise gemacht«, erklärte er.
»Und warum sollen wir eine erprobte Methode kippen?«
Einen Moment lang erwiderte er ihren Blick, ehe er wieder auf seinen Bildschirm sah.
Karene brachte einen vollgeschriebenen Notizblock mit, auf dem sie ihre Erlebnisse während des Anschlags und danach ebenso festgehalten hatte wie alles, was sie in den letzten zwei Tagen in Erfahrung gebracht hatte.
Sie sah wieder besser aus, kräftiger. Sie trug eine weite Hose und dazu eine grüne Bluse mit einer großen Seidenschleife. Ihre orangefarbenen Ballerinas passten perfekt zu ihrem roten Haar, das ordentlich zur einen Seite geflochten war. Karene hatte seit jeher in der akademischen Welt gearbeitet und sich nie irgendwelchen Kleiderordnungen unterwerfen müssen. Sie setzte sich, und es war augenblicklich klar, dass sie schnell zur Sache kommen wollte.
»Na los«, sagte sie. »Was müsst ihr wissen?«
»Wie viel Zeit lag zwischen Ihrer Ankunft und dem Moment, als die Bombe losging?«, fragte Jameson. Sein freundlicher Tonfall und das breite Lächeln bewiesen, dass er Karenes weibliche Reize durchaus wahrgenommen hatte.
»Ich bin um Viertel vor acht in Devonport angekommen, und die Explosion war fünfzehn Minuten später, gerade, als zum Essen gerufen worden war.«
»Devonport ist die Marinebasis?«, fragte Bloom.
»Ja«, bestätigte Karene. »In Plymouth.«
»Und Harry war dort stationiert?«, hakte Jameson nach.
»Nein. Er war bei Konteradmiral Grey in Northwood stationiert. Doch der Commodore in Plymouth wollte Henry für einen Einsatz haben, und die Einladung gehörte dazu.«
»In Berichten hieß es, der Sprengsatz sei im Empfangsbereich des Gebäudes explodiert, als die Leute sich nach draußen bewegten«, sagte Jameson.
»Das ist richtig. Die Bar war drinnen, aber das Essen wurde in einem Gartenzelt im Freien serviert.«
»Wissen Sie, wie viele Leute verletzt wurden?«, fragte er weiter.
»Zwei Offiziere kamen ums Leben, und zwei weitere liegen noch im Derriford Hospital. Der Commodore hat ein Bein verloren, und seine Frau wurde ebenfalls verletzt. Es wurden außerdem vier Leute vom Servicepersonal verletzt, zwei Männer und zwei Frauen, die auch im Krankenhaus liegen. Und die Frau eines anderen Offiziers liegt nach wie vor im Koma; sie war noch im Haus geblieben, um dem Babysitter eine Textnachricht zu senden.«
»Zusammen mit Harry sind das zwölf Personen«, sagte Jameson und runzelte die Stirn. »Das sind nicht viele.«
»Es reicht«, sagte Karene und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
»Wie viele Leute waren denn insgesamt vor Ort?«, fragte Jameson.
»Über dreihundert.«
»Dann ist die Bombe also explodiert, als die meisten Leute das Gebäude schon verlassen hatten?« Jameson kritzelte etwas auf seinen Notizblock.
»Das ist doch gut, oder?«, sagte Karene.
Jameson lehnte sich zurück und sah Bloom an. »Findest du das nicht seltsam?«
»Der durchschnittliche Selbstmordattentäter möchte so viel Schaden wie möglich anrichten«, erklärte Bloom. »Also warum warten, bis die meisten Leute den Raum verlassen haben?«
»Vielleicht war ihm nicht klar, dass sie so schnell verschwinden würden?«, meinte Karene.
»Ich würde sagen, wenn er sich mit umgeschnallter Bombe in einem Gebäude befindet, und die Leute alle nach und nach hinausgehen, dann drückt er unverzüglich auf den Auslöser«, sagte Jameson.
»Dann ist er also zu spät gekommen?«, mutmaßte Bloom.
»Oder er wollte gar nicht so viel Schaden anrichten wie möglich«, sagte Jameson. »Das war gar nicht seine Absicht.«
»Wie meinst du das?«, fragte Bloom.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Jameson. »Aber es ist doch seltsam. Mal sehen, was ich über den Attentäter ausgraben kann.«
»Genau deshalb bist du ja hier«, sagte Bloom lächelnd. Sie war sich bewusst, dass sie die Sache nicht ohne ihn aufklären konnte. Zwar hatte sie in seiner Abwesenheit ein paar Fälle allein bearbeitet, doch bei diesem hier wäre es unmöglich. Jameson besaß eine schillernde Vergangenheit. Er hielt sich sehr bedeckt, doch er war eine Zeitlang beim MI6 gewesen, also eher beim Geheimdienst als beim Militär, aber trotzdem unter Zuständigkeit des Verteidigungsministeriums. Dieser Fall war genau seine Kragenweite.
Sie hoffte nur, er würde lange genug bleiben, dass sie ihn dazu bringen konnte, wieder dauerhaft bei ihr einzusteigen.
6
In der U-Bahn musste Bloom an eine ähnliche Fahrt denken, die sie vor ein paar Monaten nach Leeds unternommen hatten. Damals hatte Marcus fröhlich mit ihr geplaudert. Jetzt vermied er jeglichen Blickkontakt und hatte eine finstere Miene aufgesetzt.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Ich hab’s dir doch gesagt. Ich will nicht darüber reden.«
»Ich frage dich nicht danach, sondern ich frage dich, wie es dir jetzt geht, hier und heute.«
Jameson warf ihr einen Blick zu. »Gut.«
Sie fand nicht, dass er »gut« aussah. Er war blass, und das Hemd hing ihm zu locker um die Schultern, doch dies war nicht der geeignete Moment, um darüber zu reden.
Jameson starrte auf einen Fleck auf dem Boden des Waggons. Das tat er schon die ganze Zeit, seit sie eingestiegen waren. »Was hältst du von Karene?«, fragte er. »Ist sie koscher?«
»Ich hätte dich nicht angerufen, wenn sie es nicht wäre.«
Seine Unterlippe zuckte. »Ja, aber du hast ja auch nicht angerufen.«
Bloom ignorierte die Spitze. »Was willst du denn wissen? Ich vertraue ihr. Sie ist eine der unerschrockensten Frauen, die ich je kennengelernt habe.«
Jameson lachte künstlich auf. »Tatsächlich?«
»Nicht oberflächlich und emotionslos wie … du weißt schon …« Sie wusste, dass sie Seraphines Namen nicht erwähnen durfte. »Sie ist einfach sehr robust. Ihre ganze Forschung über psychische Resilienz beruht auf persönlichen Beweggründen. Sie weiß alles, was man darüber wissen kann. Für ihre Doktorarbeit hat sie Hunderte von Menschen befragt: Erfolgstypen, Leute in Hochrisikoberufen, Menschen mit chronischen Krankheiten. Sie alle besitzen dieselben Eigenschaften, die sie immer weiterkämpfen lassen.«
»Und die wären?« Die U-Bahn fuhr in die Station Baker Street ein.
»Die richtige Einstellung: Hartnäckigkeit, Optimismus, Zielgerichtetheit. Daher ist es sonderbar, dass sie so …« Bloom rang um das richtige Wort.
»Verzweifelt ist.«
»Sie wirkt wirklich verzweifelt, oder? Es ist sonderbar.«
»Du warst noch nie verliebt, nicht wahr, Augusta?«
»Also … das würde ich nicht sagen …«
»Wenn du es nicht aus jeder Pore dieser Frau sprühen siehst, dann hast du es garantiert noch nie selbst gefühlt.« Seine Stimme hatte einen kalten Unterton, der eher abwertend als spöttisch klang.
Bloom suchte sich einen eigenen Fleck auf dem Boden, den sie anstarren konnte.
Das Taxi setzte sie in Northwood ab. Jameson nannte dem Wachmann seinen Namen und erklärte ihm, dass ihre Passierscheine von Patrick Grey angefordert worden waren. Sie zeigten ihre Ausweise und erhielten dafür rote Ansteckschildchen.
Ein Wachmann begleitete sie zu Bau 410, wo das Gemeinsame Streitkräftekommando stationiert war. Der schachtelartige Empfangsbereich war ein großer weißer Raum mit schwarzen Sitzmöbeln und Fotos von militärischen Motiven. Jameson nannte am Empfangstresen erneut seinen Namen, und man bat sie, sich kurz zu setzen.
»Hier spielt sich das also alles ab?«, fragte Bloom und sah sich um. In den Fenstern über ihnen hingen Flaggen der Army, der Navy und der Royal Air Force.
»Diese Männer sind schon seit Jahrzehnten für gemeinsame Einsätze verantwortlich.«
»Soll heißen?«
»Hier werden sämtliche Militäreinsätze in Übersee geplant und kontrolliert. Vor Mitte der Neunzigerjahre wurde das Oberkommando über jeden Einsatz entweder der Army, der Navy oder der Royal Air Force übertragen, doch das führte zu Unstimmigkeiten, daher wurde beschlossen, dass man ein Gemeinsames Streitkräftekommando brauchte, und das hier ist es: das Joint-Forces-Hauptquartier.«
»Dann werden hier also sämtliche Einsätze für alle Waffengattungen geplant?«
»Mit ein paar Ausnahmen wie zum Beispiel unserer nuklearen Abschreckung.«
»Warst du schon mal hier?«
Jameson zuckte die Achseln, was hieß, dass er sich dazu nicht äußern würde.
»Da ist er«, sagte Jameson und erhob sich, als ein Mann in einem blauen Pullover mit goldenen Schulterstücken auf sie zuging, begleitet von einer jüngeren Offizierin in einem blütenweißen Rock und einem schwarzen Hemd.
»Konteradmiral Grey«, sagte der Mann und streckte ihnen die Hand entgegen. »Und das ist meine Stabschefin Captain Tessa Morrisey.« Statt sie durch die Sicherheitsschleusen zu führen, nahm Grey ihnen gegenüber Platz, während Captain Morrisey stehen blieb.
»Wir müssen uns leider hier unterhalten.« Er wandte sich an Jameson. »Ihr Hintergrund in allen Ehren, aber Sie müssen wissen, dass Ihre Sicherheitsfreigabe erlischt, sobald Sie hier rausgehen, und Ihre Begleiterin hat überhaupt keine.«
»Das ist mir durchaus bewusst«, sagte Jameson. Er setzte sich aufrechter hin und reckte die Schultern.
»Sie haben gesagt, Sie waren mit unseren Leuten im Irak?« Grey hatte die Veränderung in Jamesons Haltung entweder nicht wahrgenommen, oder er ignorierte sie. Bloom vermutete Letzteres.
»Ja. Boote der Royal Navy bieten einen prima Taxiservice.«
»Schiffe«, sagte Grey.
»Danke, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für uns nehmen konnten«, sagte Bloom, um das Gespräch voranzutreiben. »Darf ich fragen, wie lange Sie Henry Peterson schon kennen?«
»Harry und ich kennen uns schon ewig«, sagte er. »Ich war sein Kommandant, als er frisch zum Leutnant befördert worden war. Wir haben uns gut verstanden. Er ragte heraus.«
»Wie das?«, fragte Bloom
»Vielleicht könnten wir zuerst Ihre Rolle abklären und dann weitermachen«, sagte Grey und ließ den Blick zwischen Bloom und Jameson hin und her schweifen.
»Mr Jameson und ich sind private Ermittler«, sagte sie. »Wir wurden von Captain Petersons Lebensgefährtin Karene Harper damit beauftragt, ihn zu finden.«
»Und dazu müssen wir über seine derzeitige Tätigkeit Bescheid wissen«, ergänzte Jameson.
Grey hob eine Braue, musterte aber nach wie vor Bloom. »Ich habe nach Mr Jamesons Anruf mit den zuständigen Stellen gesprochen. Und wir haben die Sache im Griff.«
»Die Royal Navy Police«, sagte Jameson zu Bloom. »Sie suchen nach Peterson, stimmt‘s?«
»Es wurden Ermittlungen eingeleitet, ja. Und natürlich befasst sich auch die Zivilpolizei mit der Sache. Es liegt in den Händen der Zuständigen. Vielleicht sollten Sie es auch dort belassen.«
Bloom besaß einiges an Berufserfahrung: Sie wusste, dass sie damit entlassen waren, beschloss jedoch, dies zu ignorieren. Es war weiter nichts als ein Machtspiel. Das Gleiche hatte sie schon viele Male bei der Arbeit mit höherrangigen Polizeibeamten erlebt. Führungspersönlichkeiten wie Grey behielten gern die Zügel in der Hand. Es hatte nichts mit organisatorischen Empfindlichkeiten zu tun, sondern ausschließlich mit persönlichen. So war zum Beispiel nicht ohne Belang, dass Greys Stellvertreterin stehen blieb. Hier war eine junge Offizierin, die genau wusste, was ihr Chef von ihr erwartete, und Bloom vermutete, dass das Gehorsam war.
»Keines der Krankenhäuser in und um Plymouth hat irgendwelche Aufzeichnungen darüber, dass Captain Peterson aufgenommen worden wäre«, sagte Bloom. »Insofern ist es unwahrscheinlich, dass er auf eigene Faust die Klinik verlassen hat. Eine plausiblere Hypothese wäre, dass er im Krankenwagen zu sich gekommen und in orientierungslosem Zustand irgendwie davonmarschiert ist. Wenn das der Fall wäre, würde man allerdings davon ausgehen, dass die Sanitäter dies zu Protokoll gäben.«
»Und das haben sie nicht?«, sagte Grey und verriet damit seine lückenhaften Nachforschungen.
»Wir haben sie bisher nicht gefunden«, erklärte Jameson. Bloom wusste, dass er nach ihrem Gespräch mit Karene heute Morgen ein paar erste Erkundigungen beim Rettungsdienst eingezogen hatte. Sie hatten keinen Eintrag über einen Harry Peterson, wollten aber nach unidentifizierten Opfern schauen, auf die seine Beschreibung passte.