Klaus Vieweg
Mit Fotografien von Patrick Lakey
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© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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der WBG ermöglicht.
Lektorat: Hildegard Mannheims
Satz: Janß GmbH, Pfungstadt
Einbandabbildung: Fichte’s House, Jena, Germany © Patrick Lakey
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim
Besuchen Sie uns im Internet: www.lambertschneider.de
ISBN 978-3-650-40010-9
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-650-73786-1
eBook (epub): 978-3-650-73787-8
Dieses Büchlein ist Johann Gottlieb Fichte, dem Begründer der Philosophie des Deutschen Idealismus, gewidmet. Das Titelfoto stammt aus dem Wohnhaus von Fichte in Jena. Besonders mit seiner Wissenschaftslehre von 1794 – dem ‚ersten System der Freiheit‘ – sowie dem Wirken von Schiller, Hölderlin, Schelling und Hegel stieg Jena in den Jahrzehnten vor und nach 1800 zur Hauptstadt der Philosophie auf, zur ‚Fabrik erster Prinzipien‘, zum Mekka, Eldorado oder Rom des philosophischen Denkens. Es war der ‚ Honigmond der deutschen Philosophie‘, in dem die Freiheit ‚das A und O des Nachdenkens‘ bildete, gekrönt von einem Jahrtausendwerk und Grundbuch der Freiheit, Hegels Jenaer Phänomenologie des Geistes.
Vorbemerkung
Immanuel Kant
Der Mann nach der Uhr – Die philosophische Revolution des ‚großen Chinesen von Königsberg‘ und Weltbürgers Immanuel Kant
Friedrich Schiller
‚Das Reich der Vernunft ist ein Reich der Freiheit‘ – Schillers ‚philosophische Bude‘ in Jena
Johann Gottlieb Fichte
Der Jenaer Titan der Freiheit – Fichtes Grundlegungen der Weltphilosophie des Deutschen Idealismus
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
‚In Jene lebt sich’s bene‘ – Hegels thüringische Entdeckungsreise ins Wissen
Arthur Schopenhauer
Der Wille als dunkler Urgrund der Welt – Schopenhauers Frankfurter Spaziergänge mit Pudel
Karl Marx
Ein Welt-Revolutionär in der British Library – Marx’ kapitale Londoner Ökonomie
Friedrich Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten – Zarathustra und der Einsiedler von Sils Maria
Ludwig Wittgenstein
Die Cambridger Schürhakenattacke auf einen ‚Esel aus London‘ – Was ist die Bedeutung eines Wortes?
Martin Heidegger
Heidegger und die Lichtungen des Schwarzwaldes – Die Todtnauberger Hütten- und Weltphilosophie
Max Horkheimer/Theodor Wiesengrund Adorno
Dialektik am Pazifik – Die Frankfurter Aufklärer Horkheimer und Adorno in der Villa Aurora
Literatur
Personenregister
Bildnachweis
Der Band „Philosophische An-Sichten“ verknüpft verschiedene Formen der Erschließung und Repräsentation der Welt, Kunst und Philosophie, hier künstlerische Fotografie mit dem philosophischen Essay, der wiederum selbst als eine Symbiose des Philosophischen und Literarischen gilt. Die Fotografieserie German Photographs (1724–2005) von Patrick Lakey (Los Angeles) versammelt ausdrucksstarke Bilder von Ausschnitten der Welt, welche berühmte deutschsprachige Philosophen aus dem 18. bis 20. Jahrhundert ähnlich gesehen haben konnten, was ihnen möglicherweise ins Auge sprang und was wir heute noch annähernd gleich betrachten können. Die Palette reicht von Fichtes, Schillers und Hegels Jena über Nietzsches Bergwelt von Sils Maria und Heideggers Hütte in Todtnauberg bis zur spartanischen Wohnung von Wittgenstein in Cambridge, von der Domkirche zu Königsberg über die British Library bis zur Villa Aurora in Pacific Palisades. Diese Bilder der Welt werden in den Essays (Klaus Vieweg, Jena) mit Darstellungen zu den philosophischen Weltbildern der Denker, zu ihrer Biografie und zu den auf den Fotografien zu sehenden Orten verbunden – eine Kombination von Camera Work und Philosophy. Wie die Fotos ausgewählte Details ablichten, so richten sich die Texte ebenfalls aus einer speziellen Perspektive auf Facetten von zentralen Gedanken der Philosophen, die mit dem fotografierten Ambiente in einem engen Zusammenhang stehen – Landschaften, Wohn- und Arbeitsstätten, Gartenhäuser und Villen aus Dorf und Großstadt, meist legendäre Orte: von Schillers Jenaer Gartenhäuschen über Nietzsches Sils Maria bis zur Heidegger’schen Hütte; vom Königsberger Dom, an dem Kant oft vorbeispazierte, über das Haus des Verlegers Frommann, wohin Hegel sein einziges Manuskript der Phänomenologie des Geistes rettete, bis zu den Arbeitszimmern eines Fichte, Schopenhauer und Wittgenstein.
Der immer schwierige Versuch der Skizzierung von Grundgedanken der Philosophen für ein breites Publikum wird mit Biografischem und Anekdotischem verbunden, auch mit den skurrilen, kuriosen, schrulligen und bizarren Seiten der Protagonisten der Narrenweisheit, auch unter dezenter Nutzung der Wahrscheinlichkeits- und Möglichkeitsform, z.B. hat es nach bisheriger Kenntnis kein Gespräch zwischen Schopenhauer und Rossini gegeben, auch kein Jenaer G-3-Gipfeltreffen zwischen Fichte, Schelling und Hegel – es wäre wohl zu schön gewesen, oder wie es Hegel vielleicht salopp gesagt hätte: Schade für die Welt!
Sowohl Foto als auch Essay liefern kein Panorama, keine Gesamtsicht, sondern Momentaufnahmen von Details der Lebens- und Denkwege – ebenso sind Foto und Essay Ausdruck der Konstitution der Welt, unserer Welt-Sicht: Schnappschüsse der Welt und des Denkens. Die An-Sichten wollen Augenblicke, das Momentane festhalten und bannen; im Interesse einer Weltsekunde soll das Endlich-Vergängliche überlistet werden. Dem bunten Blitzen der Welt soll mit Kamera- und Geistesblitzen nachgejagt und diese damit bewahrt, aufbewahrt sein, indem der Momentanität eine geistige Bestimmtheit verliehen wird – Facetten des Geistes der so unterschiedlichen Lebensorte, der Ankerplätze für die Lebensschiffe deutscher Philosophen sollen sichtbar werden. Diese bekannt gewordenen Lebensschauplätze erscheinen gewissermaßen als die Basislager für ihre Expeditionen in unentdeckte Weiten des philosophischen Universums. So soll auf diese ungewöhnliche, Anschauung und Interpretation, Bild und Deutung kombinierende Weise etwas vom genius loci eingefangen werden, von der geistigen Atmosphäre, vom intellektuellen Flair der einzigartigen philosophischen Zentralorte von Königsberg über Jena, Sils Maria und London bis Frankfurt am Main und Cambridge.
Zudem steht das Büchlein für eine Kooperation zwischen California und Thuringia, zwischen den zweifellos bedeutenden Weltstädten Los Angeles und Jena. Dabei kommt Jena und Thüringen eine besondere Rolle zu: Ein wirkungsträchtiger früher Kantianismus und spannende Anknüpfungen an die Kantische Philosophie entstanden nach 1789 in der Saalestadt, die in dieser Zeit zur Weltmetropole der Philosophie avancierte – Schiller, Fichte und Hegel stehen dafür in besonderer Weise; Schopenhauer und Marx promovierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Alma Mater Jenensis, Schopenhauer 1813 und Marx 1841. Nietzsches Lebenslauf war von einer ambivalenten und tragischen Beziehung zu Jena und Thüringen (Tautenburg, Weimar) geprägt; von Gottlob Frege, dem in Jena lehrenden Begründer der analytischen Philosophie, erhielt Wittgenstein während seines Besuches an der Saale 1911 die Empfehlung, nach Cambridge zu gehen – eine wichtige Weichenstellung für die Philosophie des 20. Jahrhunderts; die ‚Keimzelle‘ der Frankfurter Schule entstand 1923 während eines Treffens in Geraberg, gelegen im ‚schöne Szenen bietenden Thüringerwaldgebirg‘ (Hegel). All diese Entwürfe und Denkungsarten haben die philosophische Szenerie der beiden vergangenen Jahrhunderte, ja das Zeitalter überhaupt gravierend mitgeprägt.
Die Zeit der Jenaer Philosophie in den Jahren von 1789 bis 1807 gilt als die philosophische Genieperiode ‚since the days of Plato‘: ‚Jena scheint wirklich im Reiche der Philosophie ungefähr die Rolle zu spielen, welche die Hauptstädte im Reiche der Mode zu spielen pflegen. Immer fängt in der Provinz die neue Mode an getragen zu werden, wenn sie eben in der Hauptstadt durch die neueste verdrängt worden ist. Und wenn im übrigen Deutschland eine neue Philosophie in die Zeit ihrer schönsten Blüte tritt, hat eben eine neueste in Jena ihren Frühling angetreten‘ (K. F. Forberg). Auch trafen sich der Fotograf und der Verfasser der Essays zum ersten Male an der Universität Jena, die den Namen von Friedrich Schiller trägt. So möge der vielleicht entstandene ‚Jena-Zentrismus‘ bei Fotos und Essays mit einem gewissen Verständnis behandelt werden.
Das Foto vom Königsberger Dom wurde dankenswerterweise von Vladimir Kurpakov (Kaliningrad) zur Verfügung gestellt und von Patrick Lakey technisch bearbeitet. Besonderer Dank für wichtige Hinweise und für die prüfende Lektüre geht an Ralf Beuthan (Seoul), Dieter Birnbacher (Düsseldorf), Marshall Brown (Seattle), Suzanne Dürr (Jena), Axel Ecker (Utzberg), Gottfried Gabriel (Konstanz), Günter Gersting (Göttingen), Erika Harenberg (Todtnauberg), Richard T. Gray (Seattle), Wolfgang Kienzler (Jena), Anton Friedrich Koch (Heidelberg), Johannes Korngiebel (Jena), Cecilia Muratori (Florenz), Tommaso Pierini (Pisa), Michael Quante (Münster), Werner Stark (Marburg), Renate Reschke (Berlin), Peter Villwock (Sils Maria), Wolfgang Welsch (Berlin) und Adrian Wilding (Erfurt).
Jena im August 2013 |
Klaus Vieweg |
Immanuel Kant spazierte gerne vorbei am Königsberger Dom. Dort befinden sich heute seine Grabstätte und ein Denkmal für den Philosophen.
[Königsberger Dom, Kaliningrad, Russland]
Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung
erwarte ich eine Revolution
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Wer dem menschlichen Geschlechte sagt: so weit, und weiter
nicht! hat ihm den Kopf abgesprochen.
Den Schlagbaum auf!
Theodor Gottlieb von Hippel
Am 4. Juli 1791 trafen sich der damals schon berühmte Immanuel Kant und der noch völlig unbekannte junge Johann Gottlieb Fichte vor der ehrwürdigen Domkirche in Königsberg – ein für die Philosophie der Neuzeit äußerst folgenreiches Treffen und sicher ein wichtiger Impuls für die Entstehung der Welt-Philosophie des Deutschen Idealismus aus dem Geiste des Kantischen Denkens. Im Anschluss an diese Gespräche in der ostpreußischen Stadt schrieb Fichte den Versuch einer Critic aller Offenbarung, gewidmet dem großen Königsberger, der dann im August 1791 auch bei einer Wanderung mit ihm über diesen philosophischen Erstling diskutiert und die Publikation befürwortet hatte. Man flanierte am Pregelflusse entlang, über den Philosophendamm, einer Promenade zwischen Wiesen und Gärten, zum Frischen Haff, vorbei an der Insel Venedig – Königsberg selbst wurde wegen seiner Brücken als ‚Venedig des Nordens‘ beschrieben. Die beiden Denker spazierten am Dom vorbei zum Brandenburger Tor mit herrlicher Aussicht auf die Stadt, ihre Umgebung und die Schiffe im Hafen. Die wie Rom auf einer Ebene mit sieben Hügeln gelegene, hanseatisch geprägte ostpreußische Hafen- und Handelsstadt mit ‚merkantilischer Rührigkeit‘, ein Völkergemisch mit protestantischer Dominanz wurde durch ihre Weltoffenheit und den Getreide-, Hanf- und Bernstein-Handel in alle Weltgegenden geprägt. Sie zeichnete sich auch als ein Zentrum der Literatur – der ‚Teufel der Dichtkunst‘ trieb in Gestalt eines von Hippel, Hermes und später eines Kleist und E. T. A. Hoffmann sein königsbergisches Unwesen – und durch ihren ‚Demokratismus der Bildung‘ aus. Auf der anderen Seite der Medaille standen erhebliche Armut, ein streng preußischmilitärisches Regime mit Prügel und Spießrutenlauf, eine unbarmherzige Justiz und rigide religiöse Strömungen. Kant und sein junger Gast schlenderten bis zum Haus des englischen Kaufmanns Robert Motherby und trafen dort weitere Kant-Vertraute, den bekannten Dichter Theodor Gottlieb von Hippel, den Philosophen Christian Jacob Kraus, den Professor Johann Ernst Schulz sowie die Brüder Jachmann; man mag über David Hume, Adam Smith und den kategorischen Imperativ debattiert haben.
Kants Lebensweg vollzog sich in der Spannung von Lokalatmosphäre und dem ‚elementarischen Gären einer Epoche‘. Er wurde 1724 in einer Handwerkerfamilie geboren, studierte ab 1740 an der Albertina, der Universität Königsberg, und veröffentlichte 1749 seine erste naturphilosophische Schrift im Anschluss an Leibniz. Ab 1748 musste er seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer und Hofmeister verdienen und teilte darin das nicht leichte Schicksal seiner großen Fortsetzer Fichte, Hölderlin und Hegel. Nach 1754 begann er seine akademische Laufbahn an der Universität seiner Heimatstadt, verteidigte die Doktordissertation und brachte 1755 seine erste bedeutende Arbeit Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels heraus. Hier leuchtete die philosophische Genialität schon auf, mit einem schon früher beschriebenen Selbstbewusstsein: „Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.“
Der Philosoph erwies sich als erfolgreicher Dozent, zeigte sich als „witz- und anekdotenreicher Gesellschafter“, trat mit Eleganz, Charme und mitunter mit extravaganter Kleidung auf, ging ins Kaffeehaus, zum Wein und Billard, mit Johann Georg Hamann in die Windmühle zum bäurischen Abendbrot und disputierte mit dem Kollegen über seinen Aufsatz von 1764 über Das Gefühl des Schönen und Erhabenen und über David Hume. Für sein Geschäft ließ der Buchhändler Kanter, der einige Schriften von Kant verlegt hatte, ein Porträt des Philosophen anfertigen, auch wohnte der Philosoph zeitweilig im Hause des Buchhändlers, in einem kulturellen Magnet der Stadt mit Kaffeehausflair.
Kant war von kleiner, schmächtiger Gestalt, aber seine Augen „wie vom himmlischen Aether gebildet, aus welchem der tiefe Geistesblick, dessen Feuerstrahl durch ein leichtes Gewölk etwas gedämpft wurde, sichtbar hervorleuchtete.“ (R. B. Jachmann) Er pflegte in diesen Jahren galanten Umgang mit der Damenwelt, etwa mit der Gräfin Keyserlingk. In einem Brief an Kant spielte eine Bekannte des Denkers in sexuell-unzweideutiger Weise auf die Uhr von Laurence Sternes Tristram Shandy an: Walter Shandy hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, in genauen Abständen eine große Uhr aufzuziehen, und hatte „gleicherweise eine andere kleine Familienangelegenheit für denselben Zeitpunkt zur Erledigung angesetzt“ (L. Sterne). Und auch Maria Charlotta Jacobi schrieb: ‚nun gut, wir erwarten sie, dan wird auch meine Uhr aufgezogen‘. Der Königsberger hätte bis zu seinem vierzigsten Jahr vielleicht auch eine Critica della donna pura schreiben können.
Mitte der 1760er-Jahre wuchsen allerdings die Sorgen des Philosophen um seine Gesundheit erheblich, was zu einschneidenden Veränderungen seiner Lebensführung führte. Er entschloss sich mit hypochondrischer Genauigkeit zu einer ‚gewissen Gleichförmigkeit der Lebensart und der Gemütsbeschäftigung‘, Vorbild hierfür mag Kants enger Freund, der englische Kaufmann und Gelehrte Joseph Green, gewesen sein, der nach unabänderlichen Regeln und Maximen gelebt haben soll. Der Freundeskreis von Green und Kant ging R. B. Jachmann zufolge „so pünktlich um sieben Uhr aus einander, daß ich öfters die Bewohner der Straße sagen hörte: es könne noch nicht sieben seyn, weil der Professor Kant noch nicht vorbeigegangen wäre“. Der Protagonist Orbil in Theodor von Hippels Komödie Der Mann nach der Uhr (1765), der wohl Green nachempfunden sein mag, gilt als ein wahrer whimsical man, ähnlich Walter Shandy, welcher der Sklave der peinlichsten Pünktlichkeit geworden war: ‚der bunt angestrichene Gips-Abguß aller gelehrten und philosophischen Pedanterei‘ (Jean Paul). Die englische Uhr symbolisiert Ordnung und Rechtschaffenheit wie auch das Pedantische: Jeden Morgen um fünf vor fünf soll Lampe mit dem Ruf ‚Es ist Zeit‘ Kant geweckt haben. Der in der Komödie auftretende, Kant ähnelnde Magister Blasius erscheint in „stolzer Verstandesaufgeblasenheit“. Das Vorlesungsprogramm von Blasius entsprach wohl dem Kantischen von 1760/61 an der Albertina. Laut von Hippel hatte Kants Philosophie „das Leben zu sehr unter dem Focus der Studierstube angesehen“. In von Hippels Lebensläufen tritt ein „Großvater Professor“ auf, der unübersehbare Ähnlichkeit mit Kant aufweist.
Der Philosoph diskutierte regelmäßig mit seinem Freund Green besonders über Rousseau und Hume. Es wird berichtet, Kant habe keinen Satz seiner Kritik der reinen Vernunft niedergeschrieben, ohne ihn vorher mit Green zu besprechen. Auch in diesen Jahren nahm Kant sein Mittagessen in einem Gasthaus ein, im Kaffee- und Gasthaus des Zornig in der Junkerstraße oder im Billard-Haus von Gerlach, mit Rot- oder Weißwein, er hätte wohl auch eine ‚Kritik der Kochkunst‘ (von Hippel) schreiben können, während der legendäre Diener Martin Lampe lange Zeit seinen Junggesellen-Haushalt führte. Kant nahm an literarischen Gesellschaften teil; Herder, Kraus und von Hippel zählten zu seinen Hörern an der Universität.
Die von der Forschung so bezeichnete ‚vorkritische‘ Periode seines Denkweges – einer seiner Königsberger Nachfolger Karl Rosenkranz spricht von den Propyläen, von der ‚heuristischen‘ Phase, Kant selbst von einem ‚Propädeutikum‘ – endet mit der Berufung Kants zum Professor Ordinario der Logic und Metaphysic am 31. März 1770, womit der ‚Königsberger Mandarin‘ zur Zierde der Albertina und in Berlin und in ganz Deutschland langsam berühmt wurde. Er begann mit der Arbeit an seiner Kritik der reinen Vernunft, einem Schlüsselwerk der modernen Philosophie, eine Arbeit, die ihn das nächste Dezennium weitgehend beschäftigte. 1781 hallte dieser Paukenschlag der Philosophie durch Europa – zunächst ohne viel gelesen und noch weniger verstanden zu werden –, 1787 erschien eine revidierte Fassung, im nächsten Jahrzehnt gefolgt von den systematischen Hauptwerken Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik des Urteilskraft (1790) – das die philosophische Denkungsart umstürzende dreiblättrige Kleeblatt des Transzendentalismus, eine „großartige Ausführung von Triumph zu Triumph bis zum Kulminationspunkt 1790“ (K. Rosenkranz). Damit avancierte Kant zu einem der wirkmächtigsten philosophischen Denker der Neuzeit. Kant kehrte „zuerst von Grund aus die Vorstellung um, nach welcher das Subjekt unthätig und ruhig empfangend, der Gegenstand aber wirksam ist: eine Umkehrung, die sich in alle Zweige des Wissens wie durch eine elektrische Wirkung fortleitete“ (Schelling).
Einige Gedanken der in einem Herkuleswerk von über 10 Jahren entstandenen Kritik der reinen Vernunft waren schon durch von Hippels Roman Lebensläufe nach aufsteigender Linie 1788 dem Publikum bekannt geworden, durch einen Roman, in dem Kant in Gestalt des Großvaters Professor und Se. Spektabilität auftritt. Dem Königsberger Philosophen Johann Georg Hamann zufolge fand Kant im Lebensläufer hundert Winke aus seinen Vorlesungen: ‚Kantische Bächlein sind in Hippel’sche Fruchtfelder geflossen‘. Mit Anspielung auf Kant, der in seinem Leben nur bis ins nahe gelegene Pillau gereist war, ironisierte der Roman die allgemeine Reisesucht: ‚Ich bin beständig zu Hause – Seitdem die neue Welt entdeckt ist, ist sie ein Theil von unserem Geburtsorte‘ und fügt gut kopernikanisch-kantisch hinzu: „Jede Geschichte, jedes Faktum muß sich bequemen, sich nach uns zu richten“. Trotz dieser Vorwegnahmen verteidigte Kant seinen Freund von Hippel, der sich als Oberbürgermeister und Stadtpräsident, als Dichter und Mitarbeiter am Allgemeinen Landrecht (der preußischen Verfassung) hervortat, gegen den Vorwurf des Plagiats.
Der „Alleszermalmer“ der bisherigen Metaphysik – wie Moses Mendelssohn Kant einmal nannte – eröffnete mit seiner ersten Kritik, dem Beginn seines ‚kritischen‘ Unternehmens, ein neues Zeitalter der Philosophie, konzipiert sowohl in Auseinandersetzung mit Leibniz, Wolff und Baumgarten, den Koryphäen der traditionellen Metaphysik, als auch mit der britischen Tradition eines Locke, Berkeley, Newton und Hume; Letzterer habe seinen ‚dogmatischen Schlummer‘ unterbrochen und die ersten Funken des neuen Lichts gezündet. Überhaupt trug die Beschäftigung Kants mit der ‚skeptischen Methode‘, mit dem Skeptizismus eines Pyrrhon, Sextus Empiricus, Montaigne und Hume in den 1760er-Jahren – mit einer durch „Vorsichtigkeit der durch Erfahrungen gewitzigten Urteilskraft“ – zum Durchbruch der neuen Denkungsart wesentlich bei; die Skepsis galt als Kathartikon, als sich selbst mit abführendes Abführmittel. Ein Weg zwischen Scylla und Charybdis von Dogmatismus und Skeptizismus, jenseits von Intellektualismus und Sensualismus, von Rationalismus und Empirismus war einzuschlagen. Das Nervenzentrum seines Projekts bilden die Überlegungen über die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori, die vor aller Erfahrung und zugleich als Bedingung aller Erfahrung gelte. Als „transzendental“ gilt „unser[e] Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll“, was der Erfahrung vorhergeht und diese erst möglich macht. Das Prinzip der transzendentalen Deduktion, eines der schwierigsten Lehrstücke der Philosophie überhaupt, beinhaltet, dass die Kategorien als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden müssen, diese Begriffe in jeder möglichen Erfahrung vorausgesetzt sind – die Begriffe sind der objektive Grund der Möglichkeit unserer Erfahrung. Mit dem Gedanken der Einheit von Denken und Sein, mit dem Prinzip der Deduktion der Kategorien kann der Kritizismus – so Hegel – als echter Idealismus gelten; diese Theorie des Verstandes ist von der Vernunft über die Taufe gehalten worden, in ihr wird das Prinzip der Spekulation – Identität des Subjektiven und Objektiven – formuliert. In Kants Kernfrage nach der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori artikuliert sich die ‚wahrhafte Vernunft‘, die Identität von Sein und Denken im Denken, ein transzendentaler oder kritischer Idealismus, in bewusster Differenz zum empirischen und dogmatischen Idealismus eines Berkeley und Descartes. Weder Begriff noch Anschauung ist für sich allein etwas; die Anschauung für sich ist blind, der Begriff allein leer. Anschauung und Denken liegen nicht prinzipiell als besondere isolierte Vermögen auseinander, sie haben ihre Einheit, ihre absolute, ursprüngliche Identität im ‚Erkenntnisvermögen‘, im Selbstbewusstsein, in der ursprünglichen Einheit der Apperzeption – Ich denke, Ich bin als denkend tätig. Die absolut ursprüngliche synthetische Identität repräsentiert das ‚Vehikel aller Begriffe‘, den Ausgangspunkt der transzendentalen Deduktion.
In seinem Nachruf auf Kant verweist Schelling 1804 behutsam auf eine grundsätzliche Schwierigkeit des Kritizismus: Kant „macht gerade die Grenze zweier Epochen in der Philosophie, der einen, die er auf immer geendigt, der andern, die er mit weiser Beschränkung auf seinen, bloß kritischen, Zweck negativ vorbereitet hat“. Das Resultat der Kritik der reinen Vernunft scheint ein negatives. Hier kommt die Frage von John Locke ins Spiel: ‚Wie weit erstreckt sich unsere Erkenntnis und wie kann der Horizont gefunden werden, welcher zwischen dem erleuchteten und dem finsteren Teile, zwischen demjenigen, was sich begreifen läßt, und demjenigen, was sich nicht begreifen läßt, die Scheidegrenzen macht?‘
Es geht um die Limitation der Reichweite der Vernunft, das Setzen von prinzipiellen Grenzen für die Philosophie, auch hervorgehend aus der pyrrhonisch-skeptischen Hypothek der Scheidung von Erscheinung und Ding an sich sowie der These, dass wir von den Dingen, wie sie an sich sind, nichts wissen – ein ganz Leeres und bloß Negatives, ein absolutes Jenseits. Dieses Lehrstück hat ein doppeltes Gesicht: Es richtet sich einerseits gegen das empiristische Verfahren und den gemeinen Menschenverstand; der Grund des Seins von Erscheinungen liegt nicht in ihnen selbst. Die ursprüngliche Identität des Ich im Denken, die reine Apperzeption wirkt als ‚Schmelztiegel und Feuer zur Verzehrung der Mannigfaltigkeit‘ und als Grund des Denkens der Einheit, ein idealistischer Zentralgedanke, mit dem die ‚Realität der Welt gleichsam zerquetscht‘ wird (Hegel). Solches Erkennen von Erscheinungen, diese Schranke gilt als absolut. Mit dem Ding an sich wird damit andererseits ein von Kategorien verlassenes Reich angenommen, das Pendant des abstrakten Ich als einer bestimmungslosen Identität, das ‚leere Ich macht diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstand‘. Die theoretische Vernunft ist darin nicht konstitutiv, sondern nur regulativ, was ‚zu viel Zärtlichkeit gegenüber den Dingen‘ impliziert (Hegel). Zudem mutiert der kritische Idealismus hier zum subjektiven Idealismus, zu einem Konstruktivismus, in welchem die Inhalte des Bewusstseins nur durch uns gesetzt sind; die Gedanken und Kategorien sind eben nicht zugleich Bestimmungen der Gegenstände, sondern von der Objektivität (dem Ding an sich) getrennt. Somit ergibt sich ein Dualismus zwischen Kants Prinzip des Denkens, seinem Antirealismus und Antinaturalismus und der Welt der Wahrnehmung und des reflektierenden Verstandes, eine Spannung zwischen dem idealistischen Fundament und dem empiristisch-realistischen Moment seines Philosophierens sowie die Einschränkung auf eine Epistemologie ohne Ontologie. Dies öffnete das Tor für verschiedene Interpretationen des Kritizismus, die Bandbreite der Einschätzungen reicht so vom Widerleger des Idealismus bis hin zum Antirealisten.
Kants praktische Philosophie, besonders die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und die zweite große Kritik, die Kritik der praktischen Vernunfta priori