Über das Buch
Es sind scheinbar aussichtslose Fälle: Das Kind, das von einer Brücke in den Tod stürzte. Das Video, auf dem zu hören und zu sehen ist, wie im Leipziger Rockerkrieg ein Mann erschossen wird. Oder der Tatort eines schweren Raubes, an dem es zwar viele Spuren aber nur wenige Erkenntnisse gibt. Er rekonstruiert Tatorte in 3-D-Modellen, simuliert den Tathergang und schafft digitale Doubles von Opfern und Tätern. Immer dann, wenn Ermittler mit klassischen Methoden der Spurenauswertung nicht weiterkommen, wenden sie sich an Dirk Labudde. Anhand seiner spannendsten Fälle zeigt er, dass die Zukunft der digitalen Forensik längst begonnen hat, welche Chancen darin liegen, aber auch welche Risiken.
Über den Autor
Dirk Labudde, geboren 1966, hat in Rostock, Enschede und Kaiserslautern Theoretische Physik und Medizin studiert. Seit 2009 ist er Professor für Bioinformatik und digitale Forensik an der Hochschule Mittweida. Als Berater für verschiedene Polizeien der Länder und Staatsanwaltschaften hilft er bei der forensischen Aufklärung von Straftaten und ist als Sachverständiger vor Gericht tätig.
DIRK LABUDDE
DIGITALE
FORENSIK
Die Zukunft der Verbrechensaufklärung
LÜBBE
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ulrike Strerath-Bolz
Umschlaggestaltung: Kristin Pang
Umschlagmotiv: © Tomas Rodriguez, Köln
eBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-2385-5
luebbe.de
lesejury.de
Es passt einfach nicht zusammen. Von der Steilküste kann der Junge nicht ins Meer gestürzt sein. Wo sind seine Hose, die Schuhe, die Socken? Hat die Strömung sie ihm ausgezogen?
Dafür war sie eigentlich zu schwach.
Oder hat er sich selbst vorher entkleidet? Nur, wo sind die Sachen dann? Und wer zieht sich vor einem Unfall die Hose aus?
Ich sitze mit drei meiner Studierenden vor der großen digitalen Bildschirmwand des Labors. Wir sind ratlos. Das Surren der Klimaanlage untermalt unser Schweigen. Der Kaffee in meinem Becher ist kalt. Seit Stunden versuchen wir, einen Ablauf für diesen Fall zu rekonstruieren, einen, der Antworten gibt und nicht ständig neue Fragen aufwirft. Auf dem Bildschirm ist die Steilküste des spanischen Ferienortes Lloret de Mar zu sehen, ein originalgetreu nachgebautes 3-D-Modell, das wir mithilfe von Daten aus Spezialkameras erstellt haben. Vor einigen Wochen ließen wir diese Kameras mit Drohnen über die Küste fliegen, genau dort, wo im Juli 2019 der 17-jährige Linus Wetzel* aus Hessen mit schwerem Schädelbruch tot aus dem Meer gezogen worden war. Zusammen mit zwei Freunden hatte er in Lloret de Mar mit einem Jugendreiseveranstalter Urlaub gemacht. Auch für Linus Wetzel bauten wir ein Computermodell, ein Dummy, das auf seinem Körpergewicht und seiner Größe beruhte. Von Dutzenden Positionen aus ließen wir es immer und immer wieder von der Küste hinunterstürzen. Nur ein einziges Mal landete es im Wasser, allerdings von einer Stelle aus, die flacher ist und an der ein Weg verläuft, sodass Linus Wetzel nicht so dicht an der Küste hätte entlanggehen müssen. Dass sein Sturz ein Unfall war, erscheint an dieser Stelle daher eher unwahrscheinlich. Von allen anderen Stellen aus schlug das Dummy aber stets an den Klippen und Steinvorsprüngen auf – jedenfalls landete es nicht im Wasser.
Wie kommen wir hier weiter? Ich laufe zwischen Bildschirmwand und Stuhl hin und her, in Bewegung kann ich besser denken. Noch einmal gehen wir alle Informationen durch:
Linus Wetzel soll in der Nacht nach einem Streit mit Freunden oder Fremden am Strand – dazu gibt es unterschiedliche Aussagen – den Weg hinauf zu den Klippen gelaufen sein. Vorher machte er noch einen Abstecher in eine Bar. Dort fiel er auf, weil er betrunken und hilflos wirkte. Er soll dann weiter in Richtung Steilküste gelaufen sein. Danach verliert sich seine Spur. Die spanische Polizei geht davon aus, dass er betrunken von den Klippen ins Meer stürzte. Ein Unfall also. Doch unsere Simulation zeigt, dass das sehr unwahrscheinlich ist. Und es bleiben die vielen unbeantworteten Fragen: Warum ist die Aussage des Freundes so widersprüchlich? Und wo sind die Hose, die Schuhe, die Socken? Das alles passt einfach nicht zusammen.
*
Morde, Raubüberfälle, Erpressungen, nicht zu identifizierende Leichen und uneindeutige Tode wie der von Linus Wetzel bestimmen seit Jahren meinen Alltag. Vorgezeichnet war dieser Weg für mich nicht. Denn ich bin Physiker, Bioinformatiker und Professor an der Hochschule Mittweida in Sachsen. Rückblickend passte es zwar hervorragend, dass ich viele Jahre lang in der Bioinformatik als einer der Pioniere Methoden entwickelt habe, mit denen sich biologische Prozesse in Computersimulationen übertragen lassen. Doch Verbrechen interessierten mich damals höchstens im Film. Dass ich heute als digitaler Forensiker Tatorte und -abläufe mithilfe von Computersimulationen analysiere, verdanke ich dem früheren Chemnitzer Polizeipräsidenten. Er hatte seit Anfang der 2010er-Jahre immer öfter Betrugs- und Schadensmeldungen auf dem Tisch, die mit elektronischen Medien und dem Internet zu tun hatten. Doch nur wenige seiner Polizistinnen und Polizisten kannten sich damit gut genug aus, um effektiv zu ermitteln. 2013 wandte er sich deshalb an meinen Hochschulrektor: Ob wir Wissenschaftler seine Leute unterstützen könnten, etwa durch Kooperationen, wollte er wissen. Vielleicht könnten wir sie ja auch weiterbilden?
Die Anfrage landete auf meinem Tisch. Seitdem hat mich die Welt der Verbrechen nicht mehr losgelassen. Heute bietet mein Lehrstuhl vielfältige IT-Forensik-Schulungen für Ermittlerinnen, Ermittler, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte an. Außerdem arbeite ich als Sachverständiger und Berater eng mit Strafverfolgungsbehörden zusammen. Parallel baute ich einen Studiengang für Allgemeine und Digitale Forensik auf, um Forschung und Praxis enger miteinander zu verknüpfen. Denn anders als in den USA, den Niederlanden oder Großbritannien werden Ermittlerinnen und Ermittler in Deutschland nicht an staatlichen Hochschulen ausgebildet, sondern an Polizei(hoch)schulen und -akademien. Einen institutionellen Austausch zwischen Grundlagenforschung und Praxis gibt es nicht. Mit meinem Studiengang versuche ich das zu ändern. Mein Team und ich entwickeln digitale Lösungen und Methoden für Ermittlungsprobleme, denen ich in der Praxis, also bei konkreten Fällen, begegne. Beides fließt in die Ausbildung der Studierenden ein, die später zur Polizei gehen, aber auch in der freien Wirtschaft als IT-Sicherheitsexperten oder als digitale Forensiker arbeiten.
Forensik ist eine Querschnittswissenschaft, und genau das macht sie so spannend für mich: Medizin, Biologie, Physik, Chemie, Psychologie greifen ineinander, und mittlerweile gehört eben auch die Informatik dazu. Das war nicht immer so. Die moderne Forensik entstand erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Analyse und Systematisierung von Spuren ins Zentrum von Ermittlungen rückte. Zuvor konzentrierten sich diese vor allem auf Zeugenaussagen. Das Problem dabei war: Aussagen von Zeugen sind nie objektiv, zumal wenn sie – wie noch bis weit ins 19. Jahrhundert üblich – unter Androhung oder Einsatz von Gewalt zustande kommen. Der Beweiswert von Spuren wurde also immer wichtiger.
Doch was genau sind Spuren? Edmond Locard, Direktor des weltweit ersten offiziellen Polizeilabors in Lyon und Begründer der modernen Forensik, formulierte es um 1910 so:
Überall dort, wo er [der Täter] geht, was er berührt, was er hinterlässt, auch unbewusst, all das dient als stummer Zeuge gegen ihn. Nicht nur seine Fingerabdrücke oder seine Fußabdrücke, auch seine Haare, die Fasern aus seiner Kleidung, das Glas, das er bricht, die Abdrücke der Werkzeuge, die er hinterlässt, die Kratzer, die er in die Farbe macht, das Blut oder Sperma, das er hinterlässt oder an sich trägt. All dies und mehr sind stumme Zeugen gegen ihn. Dies ist der Beweis, der niemals vergisst. Er ist nicht verwirrt durch die Spannung des Augenblicks. Er ist nicht unkonzentriert, wie es die menschlichen Zeugen sind. Er ist ein sachlicher Beweis. Physikalische Beweismittel können nicht falsch sein, sie können sich selbst nicht verstellen, sie können nicht vollständig verschwinden. Nur menschliches Versagen, diese zu finden, zu studieren und zu verstehen, kann ihren Wert zunichtemachen.1
Einen Tatort ohne Spuren gibt es also nicht. Wobei unter Tatort nicht nur der eigentliche Ort des Geschehens zu verstehen ist, sondern es sind auch all jene Orte, die einen Bezug zur Tat haben, etwa weil sich Täter oder Opfer vorher oder nachher dort aufhielten. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden dann die Grundlagen für die heutige Spuren- und Tatortanalyse gelegt: Systematiken und wissenschaftliche Methoden entstanden, um etwa Schusswaffen zu analysieren, um Merkmale abzugleichen, mit denen sich Menschen identifizieren lassen – wie Schuh- und Fingerabdrücke, DNA-Spuren –, oder um Verletzungen von Opfern rechtsmedizinisch einzuordnen.
Ab den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich ein neuer Tat- und Spurenort: die digitale Welt. Computer wurden zu einem Massenprodukt, das Internet trat seinen Siegeszug an und veränderte die Arbeits- und Lebensweise der Menschen fundamental. Heute gibt es kaum noch einen Bereich, der nicht digital beeinflusst ist. Die meisten von uns führen längst ein digitales Leben: 94 Prozent aller über 14-jährigen Deutschen nutzen das Internet und verbringen im Schnitt darin täglich 136 Minuten. Und es wird immer mehr: In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Nutzungsdauer digitaler Medien fast verdoppelt.2 Überwachungskameras filmen uns, wir schreiben Sprachnachrichten, chatten in Messengern, suchen im Netz nach Themen oder Produkten, bestellen diese und hinterlassen dabei – Spuren. Natürlich nutzen und missbrauchen auch Kriminelle all dies. Doch bis die Strafverfolgungsbehörden begannen, die digitale Welt als Tatort ernst zu nehmen und bei Ermittlungen auch an diesen Bereich zu denken, dauerte es eine Weile – die Entstehungsgeschichte unseres Studiengangs ist nur ein Beispiel dafür. Selten wurde der technologische Wettlauf zwischen Tätern und Ermittlern unter so ungleichen Startbedingungen begonnen wie im Zeitalter der Digitalisierung.
Ein frühes Beispiel für diesen Wettlauf liefert bereits Locards Lehrer, der französische Kriminalist Alphonse Bertillon. Der drängte einst darauf, Straftäter in möglichst immer gleicher Position und auf die gleiche Art und Weise zu fotografieren; erst dann seien die Aufnahmen hilfreich bei der Suche und Identifizierung von Tätern. Damit hatte er zwar recht. Doch es dauerte nicht lange, bis Verbrecher begannen, ihr Äußeres zu ändern, sich Bärte und Haare wachsen zu lassen oder sie zu färben. Der Wettlauf zwischen Tätern und Kriminaltechnik läuft seitdem in immer schnellerem Tempo. Technologien entwickeln sich rasant. Täter adaptieren sie so schnell, dass Strafverfolgungsbehörden naturgemäß das Nachsehen haben. Ihre Strukturen sind nicht gut geeignet, um bei diesem Wettrennen mithalten zu können. Sie hinken wie auch andere Behörden in Deutschland bei der Digitalisierung hinterher, sind oft schwerfällig, weil es viele Entscheider und langwierige Prozesse gibt. Datenschutzbestimmungen und der Föderalismus erschweren oft flächendeckende, einheitliche Lösungen – und das in einer digitalen Welt, die weder Länder- noch Zeitgrenzen kennt. Es gibt zu wenige IT-Experten bei Polizei und Justiz, und den meisten Ermittlern mangelt es an digitalem Grundwissen. Im Vergleich zur analogen Welt haben Straftäter es daher immer noch ungleich leichter, unbemerkt und ungestraft in digitalen Tatorten davonzukommen.3
Inzwischen ist zwar das weite Feld der IT-Forensik entstanden. Allerdings beschränkt es sich meist noch darauf, Methoden und Analysen allein auf digitale Taten und Orte anzuwenden, also auf sogenannte Cybercrime-Delikte wie etwa Datendiebstähle, digitale Erpressungen oder das Verschicken und Teilen von Bildern und Videos, die Kindesmissbrauch zeigen. Die Herausforderungen, vor denen Ermittler dabei stehen, sind immens. Denn die Datenflut ist riesig und wächst kontinuierlich: Allein innerhalb eines Chats werden meist neben Textnachrichten massenweise Bilder und Videos geteilt, die es dann auszuwerten gilt. Auf beschlagnahmten Datenträgern wie Computern oder Handys finden sich Terabytes an möglichen Spuren – Verdächtiges und Strafbares gilt es von Unverdächtigem abzugrenzen. Bislang werten vor allem Menschen diese Daten aus. Doch das ist längst nicht mehr angemessen zu bewältigen – es ist zu viel für die verfügbare Zahl an Polizistinnen und Ermittlern. Noch sind die Möglichkeiten begrenzt, mithilfe von intelligenten Systemen die Auswertungen zu beschleunigen. Doch überall auf der Welt wird an solchen Software-Lösungen gearbeitet. Auch mein Team und ich sind daran beteiligt.
Zu wenig genutzt wurden und werden zudem digitale Methoden bei analogen Verbrechen, also all jenen Straftaten, die nicht im digitalen Raum passieren. Dabei können sie die Ermittlungen in diesen Fällen immens verbessern. Zum einen liefert die Auswertung der digitalen Kommunikationsmittel von Täter und Opfer oft entscheidende Hinweise, wo sie sich wann aufhielten oder mit wem sie zuletzt in Kontakt standen. Darüber hinaus können digitale Methoden aber auch helfen, die Spurenlage analoger Tatorte besser zu systematisieren. Sie lassen sich als getreue 3-D-Modelle am Computer rekonstruieren, Spuren können in diese Modelle übertragen und überprüft, Tatabläufe darin simuliert werden. Fotos und Videos lassen sich mit digitalen Werkzeugen verbessern und genauer auswerten. Inzwischen können wir sogar Menschen allein anhand ihrer Anatomie in Überwachungsvideos identifizieren. Ein Schädel reicht, um mit digitalen Methoden Gesichter unbekannter Toter in 3-D-Modellen zu rekonstruieren.
Die Software-Grundlagen für diese Methoden sind vorhanden und werden in anderen Feldern wie der Architektur, der Spiele- und Filmwelt schon lange genutzt. In der Ermittlungsarbeit kommen sie jedoch erst seit gut zehn Jahren in Deutschland langsam an. In diese Lücke bin ich damals mit meinem Studiengang gestoßen. Inzwischen habe ich an Dutzenden Fällen mitgearbeitet. Von einigen werde ich im Folgenden erzählen, nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern nach den jeweiligen Forensik-Methoden, die hierbei angewandt wurden und diese darin genauer erklären. Ich werde zudem zeigen, wie diese Methoden sich voraussichtlich weiterentwickeln werden und warum vieles von dem, was heute schon technisch möglich ist, aus guten Gründen noch nicht angewandt wird. Softwareprogramme, die auf Basis intelligenter Systeme arbeiten, können zwar enorm bei der Auswertung von Datenmassen helfen, etwa von Fotos, Videos und Dokumenten. Sie können auch zerstörtes Material wiederherstellen und solches in schlechter Qualität verbessern. Teilweise tun sie das auch bereits. Vorhersagen, wo und wann es am wahrscheinlichsten ist, dass eine Straftat passiert, können sie ebenfalls schon treffen. Doch noch fehlen vielfach die juristischen Rahmenbedingungen, um all dies beweiskräftig vor Gericht einsetzen zu können. Es muss klar sein, wie genau diese Systeme arbeiten, wie Algorithmen programmiert wurden und auf welcher Basis Informationen ersetzt werden. Datenschutzkriterien sind einzuhalten. Auch Risiko- und Folgenabschätzungen müssen mit einfließen in die Erarbeitung solcher Rahmenbedingungen.
Normalerweise sind es Staatsanwaltschaften oder Gerichte, die mich um Hilfe bitten und als Sachverständigen für digitale Forensik beauftragen. Im Fall des 17-jährigen Linus Wetzel, der im Meer vor Lloret de Mar tot aufgefunden wurde, war es ein TV-Journalist, der mich Ende 2020 um eine Tatortrekonstruktion bat. Klingt ein Fall spannend und kann ich an ihm unsere Methoden ausprobieren oder sogar weiterentwickeln, nehme ich mit meinem Team auch Anfragen von Privatermittlern oder eben Journalisten an. An ihnen kann ich meinen Studierenden erklären, mit welchen forensischen Herausforderungen sie in Zukunft zu tun haben werden. In diesem Fall war die Aktenlage der spanischen Ermittler dürftig und lückenhaft. Es gab nur wenige gesicherte Spuren – was durchaus häufiger der Fall ist. Ein Hobbytaucher hatte Linus Wetzels Leiche mehr als 36 Stunden nach seinem Verschwinden in sieben Metern Wassertiefe vor der Küste gefunden. Die Obduktion ergab später, dass der junge Mann an schweren Schädelverletzungen gestorben war, vermutlich verursacht durch einen Sturz von den Klippen. Die spanische Polizei befragte Linus’ Freunde, die mit ihm nach Lloret de Mar gereist waren, und suchte die Küste nach seiner fehlenden Hose, den Socken und Schuhen sowie seinem Ausweis ab – ergebnislos. Mitte August, knapp vier Wochen nach Linus’ Tod, schloss die spanische Polizei das Verfahren ab. Ihr Ergebnis: Der Schüler stürzte in jener Nacht alkoholisiert und offenbar unter Einfluss von Ecstasy ohne fremdes Zutun die Klippen hinunter ins Meer.
Wir versuchten daher zunächst, mithilfe von Aufnahmen aus Überwachungskameras, Chatverläufen und Zeugenaussagen einen Ablauf jener verhängnisvollen Nacht am Computer zu rekonstruieren. Demnach war Linus Wetzel irgendwann nach Mitternacht vom Strand verschwunden – allerdings widersprachen sich die Aussagen seines Freundes dazu. Anfangs erzählte er, Linus und er hätten sich zu zweit mit drei Mädchen am Strand amüsiert. Der dritte Freund sei zu dieser Zeit allein in der Disco gewesen. Plötzlich sei Linus dann aufgestanden und weggegangen. Die Mädchen wurden nie identifiziert und von der spanischen Polizei befragt, um die Aussage des Freundes zu überprüfen. Später sprach er von drei jungen Einheimischen, die ihn und Linus plötzlich angegriffen hätten. Linus sei weggerannt, weshalb er sehr wütend auf ihn gewesen sei. Tatsächlich schickte er noch in der Nacht an einen anderen Freund in Deutschland eine Sprachnachricht, in der er die Situation schilderte und sich über Linus’ Verhalten aufregte: »… wenn ich den finde, fick ich den richtig« und »Bei Gott … wenn ich den seh’, ich hau’ den tot!«. Er gab an, Linus später in der Nacht zusammen mit dem Freund, der in der Disco war, gesucht, aber nicht gefunden zu haben. Gegen 1.30 Uhr will ein Barkeeper Linus Wetzel am Tresen seiner Bar gesehen haben, die auf dem Weg zu den Klippen liegt. Linus soll um Hilfe und Alkohol gebeten haben. Auf seinem T-Shirt seien Blutstropfen zu sehen gewesen, betrunken und desorientiert habe er gewirkt. Der Barkeeper sah ihn noch in Richtung Steilküste laufen. Was danach geschah, ist unbekannt.
Für die dreidimensionale Ablaufrekonstruktion des Sturzes haben wir den Obduktionsbericht, die Zeugenaussagen, den Fundort im Meer, aber auch die Strömungsverhältnisse zugrunde gelegt. Das Ergebnis, dass Linus Wetzel von nur einer einzigen Stelle aus ins Meer hätte stürzen können, hat mich ratlos zurückgelassen. Zumal von dieser Stelle ein Unfall noch unwahrscheinlicher ist, da es dort einen Weg gibt. Und die Stelle liegt nicht in der Richtung, in die der Barkeeper Linus hat laufen sehen. Ich bitte daher einen befreundeten Rechtsmediziner, der Experte für die Biomechanik von Verletzungen ist, sich den Obduktionsbericht genauer anzuschauen. Er wundert sich, dass darin keine Halswirbelverletzungen vermerkt sind, die eigentlich bei einem Sturz von den Klippen zu erwarten wären. Am Ende können wir trotz all dieser Ungereimtheiten und offenen Fragen mit unserer Rekonstruktion und Simulation nicht erklären, wie Linus Wetzel starb. Die Unfalltheorie der spanischen Polizei allerdings lässt sich auch nicht bestätigen. Im Gegenteil, sie erscheint sehr unwahrscheinlich. Stattdessen zeigen wir, wie notwendig es gewesen wäre und noch immer ist, weitere Spuren zu suchen und zu sichern. Wichtige Handydaten wie die GPS-Standortinformationen wurden nicht ausgewertet, Zeuginnen und Zeugen nicht vernommen, längst nicht alle Überwachungskameras überprüft. Und nach den fehlenden Kleidungsstücken suchte die Polizei ebenfalls nicht intensiv genug. Der Journalist berichtet zwar in einem Fernsehbeitrag über die Ergebnisse unseres Gutachtens. Doch die spanische Polizei beeindruckt das offenbar nicht. Der Fall galt für sie bereits als abgeschlossen. Die deutsche Staatsanwaltschaft hat zwar ein Verfahren zur Aufklärung der Todesursache eingeleitet, doch das Amtshilfeersuchen, das sie an die Spanier stellt, zieht sich hin. Ein Jahr, nachdem der Fernsehbeitrag gesendet wurde, gibt es noch immer keine neuen Erkenntnisse. Ich fürchte, meine Ergebnisse bleiben folgenlos. Wie genau und warum Linus Wetzel starb, darauf wird es vermutlich keine Antworten geben.
*
Anders als im Krimi, wo sich alle Ungereimtheiten nach und nach aufklären, stoßen Ermittlerinnen und Ermittler und auch ich als Forensiker immer wieder auf Fragen, die wir nicht beantworten können. Das hat verschiedene Gründe; meist liegt es an der Spurenlage. Im Laufe meiner Arbeit habe ich dabei viel über das Locard’sche Prinzip gelernt: Jemand betritt einen Ort und hinterlässt automatisch und immer Spuren. Diese gilt es so vollständig wie möglich zu finden. Doch das ist nur ein Teil der forensischen Wahrheit. Denn gesucht werden muss nicht nur nach allen physischen Spuren, sondern vor allem auch nach Mustern, also nach Informationen, die fehlen, und solchen, die vorhandene Spuren in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen können. Auf die Suche nach diesen Informationen haben mein Team und ich allerdings nur dann Einfluss, wenn wir als Berater bei Ermittlungen frühzeitig eingebunden sind. Meist werde ich jedoch als Sachverständiger beauftragt und bekomme für eine bestimmte Frage die entsprechenden Informationen und Ermittlungsergebnisse zur Verfügung gestellt. Manchmal ist das besser so, denn ich gerate nicht in Gefahr, mich von Ermittlungsergebnissen und Hypothesen beeinflussen zu lassen. Manchmal erfahre ich als Sachverständiger auch erst im Laufe eines Gerichtsprozesses von bestimmten Spuren oder Aussagen, die für meine Rekonstruktion wichtig gewesen wären. Dann muss ich meine Simulationen im laufenden Verfahren und oft unter Zeitdruck anpassen. Es gibt aber auch jene Fälle, bei denen ich von Anfang an oder ab einem frühen Zeitpunkt als Berater dabei bin. Dann kann ich frühzeitig schauen, ob es digitale Werkzeuge und Wege gibt, um Muster in der Spurenlage und fehlende Spuren zu erkennen. Im Fall von Linus Wetzel wäre das sicherlich sinnvoll gewesen.
Am Ende aber sind auch digitale Forensik-Methoden – ob sie nun auf intelligenten Systemen basieren oder nicht – immer nur ein Hilfsmittel, um eine Tat besser zu verstehen. Sie können die Fallarbeit von Ermittlerinnen und Ermittlern enorm erleichtern und verbessern. Sie können sie aber nicht ersetzen.
* Name wurde anonymisiert. Der echte Name ist den Autoren bekannt.
»Hallo, Herr Labudde, Kriminaldirektor Thomas Mayer* hier von der Landespolizeidirektion Thüringen. Kann ich mir mal Ihre Arbeit anschauen?« Der Anruf im Herbst 2016 kommt überraschend. Seit ich vor zwei Jahren das Institut gegründet habe, ist die Zusammenarbeit mit der Polizei nur schleppend vorangekommen. Doch in diesem Jahr haben einige Medien über unsere Arbeit berichtet – vor allem über unsere 3-D-Tatortrekonstruktionen. Mayer ist Dezernatsleiter im Thüringer Landeskriminalamt und kennt mich von der Durchsuchung eines Unternehmens im Jahr zuvor, bei der ich als IT-Berater dabei war. Damals ging es um die Auswertung von Computern. Jetzt will er wissen, was wir sonst noch so können. Der Brandanschlag auf ein geplantes Flüchtlingsheim in Rockensußra, einem Ortsteil von Ebeleben in Thüringen, soll unser Testfall werden. Ein Jahr zuvor hatten Unbekannte die Dachstühle von drei Wohnblocks angezündet, in denen Asylsuchende untergebracht werden sollten. Mehrere Bewohner des Ortes werden nun verdächtigt, das Feuer gemeinsam gelegt zu haben. Mayer bringt uns die Zusammenfassung der Akte nach Mittweida. Er möchte, dass wir überprüfen, ob die Aussagen verdächtiger Bewohner, wo sie zum Tatzeitpunkt waren, und was sie von dort aus gesehen haben, stimmen können. Dafür fahren wir mit ihm, zwei weiteren Kollegen und einem Brandexperten nach Rockensußra. Mit Drohnen machen wir dort 3-D-Aufnahmen von den Gebäuden und Straßen, wo die Zeugen gewesen sein wollen, und erstellen damit später am Computer ein Modell des Ortes. Mit diesem lässt sich zeigen, dass etliche Aussagen nicht zutreffen können. Ein Mann hätte durch einen Bauernhof schauen müssen, andernfalls wäre nicht zu sehen gewesen, was er ausgesagt hat. Ein anderer konnte mit einem Nachbarn nicht geredet haben, weil dieser viel zu weit entfernt stand. Viele der Aussagen, die einzeln betrachtet möglich erscheinen, werden durch die Visualisierung unplausibel oder widerlegt.
Mayer ist überzeugt. Erst jetzt verrät er, worum es ihm eigentlich geht: drei Kindermorde aus den 90er-Jahren, die nie aufgeklärt werden konnten. Nun, so scheint es, ist ein vierter hinzugekommen, ein besonders brisanter. Eine Sonderkommission werde gerade eingerichtet und soll mit allem arbeiten, was an moderner Technologie zur Verfügung steht. Mayer schaut mich ernst an: »Lassen sich Ihre Rekonstruktionen auf die Fälle anwenden?« – »Klar«, antworte ich spontan und schiebe schnell hinterher: »Wenn die Datenlage es hergibt.« Ich bin aufgeregt. Dies könnte der Durchbruch für meine Methoden werden, für die digitale Forensik und das Institut. Denn seit ich weiß, worum genau es geht, ist mir klar: Das öffentliche Interesse an den Ermittlungen in diesem seit Jahren ungelösten Fall wird riesig sein.
Am 2. Juli 2016 hat ein Pilzsammler in einem Waldstück bei Rodacherbrunn in Thüringen Skelettteile von Peggy Knobloch entdeckt – 15 Jahre, nachdem das neunjährige Mädchen in seiner Heimatstadt Lichtenberg auf dem Heimweg von der Schule spurlos verschwunden war. Lichtenberg in Oberfranken liegt nur 20 Kilometer von Rodacherbrunn entfernt. Als dann auch noch eine DNA-Spur des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt am Tatort gefunden wird, der Ende der 90er-Jahre zusammen mit Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in den rechtsextremen Untergrund gegangen war, ist die Sensation perfekt. Die drei hatten zwischen 2000 und 2006 neun Menschen aus rassistischen Gründen getötet. Böhnhardt, der aus Jena stammt, war 2014 schon einmal mit einem Kindermord in Verbindung gebracht worden: dem an dem neunjährigen Bernd Beckmann. Der Schüler war 1993 aus Jena spurlos verschwunden und lag wenige Tage später tot am Ufer der Saale. Böhnhardt war damals als Zeuge befragt worden, ein damaliger Freund galt als Tatverdächtiger. 2014 beschuldigte dieser nun Böhnhardt, für die Tat verantwortlich gewesen zu sein. Das ließ sich nicht erhärten. Doch nun sieht es nach ein paar Zufällen zu viel aus, waren doch in dem ausgebrannten Wohnmobil, in dem sich Böhnhardt zusammen mit Uwe Mundlos 2011 in Eisenach das Leben genommen hat, verkohlte Reste eines Kinderschuhs, einer Puppe, eines Teddys und einer Wasserpistole gefunden worden. An dem Schuh und den Spielzeugen befanden sich auch DNA-Spuren der beiden Männer. Und schließlich hatten Ermittler auf einem Computer, der in einer vom Terroristen-Trio genutzten Wohnung in Zwickau stand, Missbrauchsdarstellungen von Kindern entdeckt. Könnte es also sein, dass die drei (oder einer von ihnen) etwas mit Peggy Knoblochs Tod zu tun hatten und vielleicht sogar mit dem weiterer Kinder?
In den 90er-Jahren war in der Region nicht nur Bernd Beckmanns Tod unaufgeklärt geblieben. Auch bei der zehnjährigen Ramona Kraus aus Jena, die im August 1996 spurlos verschwand und deren Leiche ein Jäger ein halbes Jahr später in einem Wald bei Treffurt in Hessen fand, wurde nie ein Täter ermittelt. Dasselbe gilt für die zehnjährige Stephanie Drews aus Weimar, deren lebloser Körper im August 1991 unter der Teufelstalbrücke an der A 4 tot gefunden wurde.
Politiker fordern nun neue Ermittlungen. Die Landespolizeidirektion Thüringen beschließt daher, die Fälle wieder aufzunehmen und vor allem: nach Verbindungen zwischen ihnen zu suchen. Deshalb hat Thomas Mayer mich kontaktiert. Ich soll mit meinen Methoden die Ermittlungen unterstützen – von Beginn an. Anfang 2017 kommt heraus, dass die DNA-Spur von Böhnhardt wohl doch nicht vom Fundort bei Rodacherbrunn stammt – sie befand sich an einem winzigen Textilstück, das so viele Jahre im Wald nicht überdauert haben konnte. Angeblich kam der winzige DNA-Fitzel über die Spurensicherung an den Tatort, so die offizielle Erklärung, eventuell durch einen Messstab, der auch am Fundort von Böhnhardts Leiche, dem ausgebrannten Wohnwagen in Eisenach, benutzt wurde. Überzeugend ist diese Erklärung nicht. Die Thüringer Behörden schließen eine solche Übertragung aus, die Reinigungsvorschriften sprächen dagegen. Auch ich halte eine Verunreinigung bei der Spurensicherung wegen der langen Zeit zwischen beiden Terminen für extrem unwahrscheinlich. Aufgeklärt wurden die Hintergründe der DNA-Spur am Fundort von Peggys Leiche bis heute nicht.
Die Soko »Altfälle« soll dennoch starten – und damit auch mein Team und ich. Unser erstes Treffen findet im Frühjahr 2017 statt. Zu neunt sitzen wir in einem Besprechungsraum der Soko »Altfälle«, sechs Kripobeamtinnen und -beamte, zwei meiner wissenschaftlichen Mitarbeiter und ich. In dem alten Polizeigebäude in Jena ist noch vieles im Umbau, der Besprechungsraum nur spärlich eingerichtet: ein großer Tisch, an der Wand eine Leinwand, durch die hohen Fenster des Altbaus scheint die Sonne. Die Stimmung im Büro dagegen ist unterkühlt. Die Beamten sind skeptisch, das ist deutlich zu spüren. Was wollen diese Theoretiker bei uns?, fragen sie sich wohl insgeheim. Sie ziehen die Vorhänge zu und starten eine Präsentation, um uns die Fälle zu erklären. Jeweils ein Teil der insgesamt 19 Ermittler der Soko soll sich mit einem der drei Morde beschäftigen. Geleitet wird jede Mord-Einheit von einem Verfahrensführer, eine weitere Gruppe soll nach Querverbindungen suchen. Die Akten, Hunderte Leitz-Ordner gefüllt mit mehreren Zehntausend Seiten, die in einem Dokumentenraum nebenan stehen, müssen hierfür erst mal digitalisiert werden. Dann sollen Hinweise der alten Ermittlungen erneut überprüft, noch lebende Zeugen ein weiteres Mal vernommen werden. Eine Mammutaufgabe hat begonnen, die Suche nach dem roten Faden. Eine Polizistin projiziert Fotos der drei toten Kinder und die Bilder der Spurensicherung auf die Leinwand.
So wird das nichts, denke ich nach ein paar Minuten. Die Beamten rattern runter, was bisher getan wurde und was sie noch tun wollen, geben aber keinen Einblick in die kriminalistischen Fragen. Wo, frage ich mich, sollen wir da ins Spiel kommen? Wollen die überhaupt eine Zusammenarbeit? Also wage ich einen Versuch: »Was weiß man darüber, ob der Fundort jeweils auch der Tatort war?« Kurzes Schweigen, zögerlich zählt die Beamtin, die gerade präsentiert hat, die Indizien auf, die etwa im Fall von Bernd Beckmann dafür sprechen. Jetzt muss ich dranbleiben, den Ermittlern zeigen, wie unsere Computermodelle ihnen helfen können: »Die Taten sind fünfundzwanzig Jahre her. Die Tat- und oder Fundorte haben sich seitdem verändert. Wir können Ihnen die Orte, so wie sie in den Neunzigern aussahen, am Computer wiedererschaffen und in dieses Modell alle Hinweise aufnehmen, sie auf Zusammenhänge oder Widersprüche hin abklopfen.« Zumindest sind jetzt alle Augen auf mich gerichtet. Ich fahre fort: »Dafür brauche ich alle Informationen über die Tat- und Fundorte: Wo genau lag die Leiche? Wie war die Körperhaltung, wie die Beschaffenheit des Bodens, der Umgebung? Schien die Sonne an dem Tag oder regnete es?« Jedes noch so kleine Detail sei wichtig, sage ich. Und dass ich nicht nur alle Ermittlungsdetails kennen muss, sondern auch die Hypothesen zum möglichen Tatablauf, damit ich diese anhand der Daten durchspielen und so überprüfen kann. Jemand stellt eine Frage, dann noch einer. Das Interesse scheint geweckt. Aber als ich wissen will, ob wir kompletten Zugang zu den Akten bekommen, heißt es, das müsse erst noch geprüft werden. Das Eis ist noch nicht ganz gebrochen, aber die technischen Möglichkeiten scheinen sie zu interessieren.