Titel der Originalausgabe: The Monarchy of Fear. A Philosopher Looks at Our Political Crisis © 2018 Martha C. Nussbaum Diese Ausgabe erscheint gemäß der Vereinbarung mit Simon & Schuster Inc. in deutscher Erstübersetzung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt.
Copyright der deutschen Übersetzung © 2019 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
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Lektorat: Dietlind Grüne, Heidelberg
Satz: Mario Moths, Marl
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ISBN 978-3-8062-3875-4
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3904-1
eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-3903-4
2016: Trump wird gewählt und bringt mich zum Nachdenken
1 Einführung: alles eine Frage der Emotionen
2 Angst: Früh und machtvoll
3 Zorn als Kind der Angst
4 Von Angst getriebener Ekel: Die Politik der Ausgrenzung
5 Das Reich des Neides
6 Ein giftiges Gebräu: Sexismus und Frauenfeindlichkeit
7 Hoffnung, Liebe und die Vision einer besseren Zukunft
Danksagung
Nachwort: Bemerkungen zur Situation in Europa
Die Wahlnacht der Präsidentschaftswahl des Jahres 2016 erlebte ich am hellen Tag – in Kyoto, wohin ich gerade wegen einer Preisverleihung gereist war, nachdem mich meine Kollegen zu Hause fröhlich verabschiedet hatten. Ich war angesichts der erbittert gespaltenen Wählerschaft ziemlich besorgt und dennoch recht zuversichtlich, dass die Aufrufe zu Angst und Zorn zurückgewiesen werden würden – obwohl es sehr viel harter Arbeit bedürfen würde, die Amerikaner wieder zusammenzubringen. Meine japanischen Gastgeber kamen wiederholt in mein Hotelzimmer und erklärten mir den Ablauf der verschiedenen Zeremonien. Im Hintergrund dieser Gespräche – allerdings im Vordergrund meiner Gedanken – trafen stets die aktuellsten Wahlergebnisse ein, die in mir zunächst eine immer größere Beunruhigung auslösten, dann schließlich Trauer und auch eine tiefe Angst um das Land, seine Menschen und Institutionen. Ich war mir dessen bewusst, dass meine Angst nicht ausgewogen oder unparteiisch war – also war ich selbst ein Teil des Problems, das mir Sorgen bereitete.
Ich war in Kyoto, um einen Preis entgegenzunehmen, der von einem japanischen Wissenschaftler, Geschäftsmann und Philanthropen – außerdem Priester des Zen-Buddhismus – gestiftet worden war, der diejenigen auszeichnen wollte, die „wesentlich zur wissenschaftlichen, kulturellen und spirituellen Verbesserung der Menschheit beigetragen haben“. Während es mir sehr gefiel, dass Kazuo Inamori die Philosophie als Disziplin anerkannte, die einen bedeutsamen Beitrag leistet, empfand ich die Ehrung eher als eine Herausforderung denn als eine Auszeichnung. Ich fragte mich bereits, wie ich an diesem schwierigen Punkt der Geschichte der USA meinen Lorbeeren gerecht werden könnte.
Als das Wahlergebnis klar war, musste ich zu meinem ersten offiziellen Treffen mit den beiden anderen Preisträgern (beide Wissenschaftler) in den Büros der Inamori-Stiftung. Ich zog daher aufmunternde Kleidung an, richtete mein Haar und versuchte, Glück und Dankbarkeit auszustrahlen. Das erste offizielle Abendessen war eine lästige Pflicht. Die geselligen, durch einen Dolmetscher gefilterten Gespräche mit Fremden hatten keinerlei ablenkenden Charme. Ich wollte meine Freunde umarmen, aber sie waren weit weg. E-Mails sind eine tolle Sache, aber sie können nicht mit einer Umarmung konkurrieren, wenn es um Trost und Zuspruch geht.
In dieser Nacht wachte ich aufgrund der Kombination aus politischer Angst und Jet-Lag immer wieder auf, sodass ich ins Nachdenken kam. Gegen Mitternacht beschloss ich, dass meine Untersuchung der Gefühle in bisherigen Arbeiten nicht tiefgehend genug war. Indem ich meine eigene Angst analysierte, dämmerte es mir allmählich, dass Angst das zentrale Thema war – eine nebulöse und vielgestaltige Angst, welche die Gesellschaft der USA durchdrang. Ich hatte einige vorerst noch unvollständig durchdachte, aber vielversprechende Ideen in Bezug darauf, wie Angst mit anderen problematischen Emotionen wie Wut, Ekel und Neid verbunden ist und sie vergiftet. Ich arbeite nur selten mitten in der Nacht. Ich schlafe gut, und meine besten Ideen kommen mir meistens nach und nach, während ich an meinem Computer sitze. Doch Jet-Lag und eine nationale Krise können die Gewohnheiten ändern, und in diesem Fall hatte ich das freudige Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben. Ich dachte, dass das Ergebnis dieses Aufruhrs möglicherweise ein gewisses Maß an Einsicht sein würde, und – wer weiß? – es könnte eine Einsicht sein, die auch andere auf gute Ideen bringen würde, wenn ich meine Arbeit gut machen würde. Mit einem beruhigenden Gefühl der Hoffnung schlief ich wieder ein.
Am nächsten Tag stürzte ich mich – nach einem erfrischenden morgendlichen Training – in die feierlichen Zeremonien. Ich zog mein Abendkleid an und lächelte so gut ich konnte für das offizielle Porträtfoto. Die Zeremonie auf der Bühne war ästhetisch ansprechend und daher ablenkend. Fasziniert lauschte ich den Lebensläufen meiner Mitpreisträger und ihren kurzen Reden über ihre Arbeit, da sie auf Fachgebieten tätig sind, über die ich wenig weiß (von selbstfahrenden Autos bis zu Grundlagenforschung in der Onkologie), und ich war voller Bewunderung für ihre Leistungen. In meiner eigenen kurzen Rede konnte ich einige der Dinge zum Ausdruck bringen, die mir wirklich am Herzen liegen, und mich bei Menschen bedanken, die mich während meiner gesamten Karriere unterstützt haben. Mindestens genauso wichtig war mir, dass ich auch die Liebe zu meiner Familie und meinen engen Freunden zum Ausdruck bringen konnte. (Die ganze Rede hatte ich für den Dolmetscher im Voraus schreiben müssen, sodass keine spontanen Änderungen möglich waren. Die Gelegenheit, Liebe auszudrücken, war dennoch äußerst tröstlich.)
Bankette anlässlich von Preisverleihungen enden in Kyoto pünktlich und extrem früh, sodass ich um 20.30 Uhr wieder in meinem Zimmer war, und ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Ideen, die mir in der Nacht gekommen waren, Gestalt angenommen, und indem ich sie niederschrieb, entwickelten sie sich immer weiter und wurden (zumindest für mich!) immer überzeugender. Nach zwei Abenden Arbeit hatte ich einen langen Blog-Beitrag verfasst, den ein befreundeter Journalist in Australien veröffentlichte, und dieser Blog-Beitrag nahm gleichzeitig auch eine andere Form als Buchvorschlag an.
Aber wer bin ich denn, so könnte mich ein Leser fragen, und wie bin ich dazu gekommen, mich so sehr für Gefühle politischer Einheit und Spaltung zu interessieren? Ich bin natürlich eine Akademikerin, lebe ein sehr privilegiertes Leben, umgeben von wunderbaren Kollegen und Studenten und mit jeglicher Unterstützung, die ich mir für meine Arbeit wünschen könnte. Selbst in dieser Zeit, in der die Geistes- und Kulturwissenschaften unter Druck geraten sind, unterstützt meine Heimatuniversität die Geisteswissenschaften nach wie vor sehr. Als Philosophin ohne Jurastudium freut es mich besonders, dass ich zum Teil an einer juristischen Fakultät unterrichten darf, wo ich täglich etwas über die politischen und rechtlichen Fragen dieser Nation lernen kann, während ich Lehrveranstaltungen zum Thema Gerechtigkeit und zu politischen Ideen anbiete. Ich verfüge also über einen günstigen Aussichtspunkt für einen Gesamtüberblick, doch er mag zu distanziert erscheinen, um die Ängste der meisten Amerikaner teilen zu können.
Ich war auch ein privilegiertes Kind, jedoch auf viel kompliziertere Weise. Meine Familie, die in Bryn Mawr, einem vornehmen Stadtteil im Speckgürtel von Philadelphia lebte, gehörte zur oberen Mittelschicht und war ziemlich wohlhabend. Ich erfuhr Liebe, hatte mehr als ausreichend zu essen und eine exzellente Gesundheitsvorsorge. An einer ausgezeichneten Privatschule für Frauen erhielt ich eine erstklassige Ausbildung. Die Schule bot damals Anreize für herausragende Leistungen – frei von geschlechtsspezifischem Gruppenzwang –, wie sie eine öffentliche Schule Mädchen nicht auf ebenso gleichberechtigte Weise geboten hätte. (Meine Mutter sagte immer zu mir: „Rede nicht so viel, sonst werden dich die Jungen nicht mögen“ – ein guter Rat für die damalige Zeit, doch in der Schule musste ich ihn nicht befolgen.) Ich habe schon immer gern gelesen, geschrieben und Gedankengänge konstruiert. Außerdem gefielen meinem Vater die von mir angestrebten Ziele, und er unterstützte sie. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie in Macon, Georgia, und hatte sich durch Begabung und harte Arbeit zum Teilhaber einer führenden Anwaltskanzlei in Philadelphia hochgearbeitet. Er glaubte und sagte das auch, dass der amerikanische Traum allen offen stehe. Diese Überzeugung säte in mir Zweifel. Er sagte immer wieder, dass Afroamerikaner in Amerika nicht erfolgreich seien, weil sie einfach nicht hart genug arbeiteten; doch ich beobachtete seinen tiefsitzenden Rassismus, mit dem er von Haushaltshilfen verlangte, dass sie ein separates Badezimmer benutzten, und sogar damit drohte, mich zu enterben, wenn ich in der Öffentlichkeit in einer größeren Gruppe (einer Theatergruppe) auftreten würde, zu der ein Afroamerikaner gehörte. Dadurch erkannte ich, dass sein Glaubensbekenntnis der Situation der Afroamerikaner, die durch Stigmatisierung und Rassendiskriminierungsgesetze unterdrückt und beleidigt wurden, nicht gerecht wurde. Der Abscheu meines Vaters vor Minderheiten erstreckte sich auf viele, die (trotz sozialer Hindernisse) durch harte Arbeit Erfolge erzielt hatten: insbesondere auf Afroamerikaner und Juden der Mittelschicht.
Er wusste, dass Frauen zu hervorragenden Leistungen fähig sein können. Er freute sich über meinen Erfolg und ermutigte mich, unabhängig und sogar herausfordernd zu sein. Doch auch hier stellte ich ein Problem fest, denn er hatte eine Frau geheiratet, die als Innenarchitektin gearbeitet hatte, und es verstand sich von selbst, dass sie zu arbeiten aufhörte, was zur Folge hatte, dass meine Mutter für einen Großteil ihres Lebens unglücklich und einsam war. Seine Einstellungen waren äußerst widersprüchlich. Als ich sechzehn war, ließ er mir die Wahl zwischen einem Debütantenball und dem Aufenthalt bei einer Gastfamilie im Ausland im Rahmen eines internationalen Programms (Experiment in International Living), und er freute sich sehr, dass ich mich für Letzteres entschied – doch er selbst hätte eine Frau, die sich nicht für Ersteres entschieden hätte, niemals geheiratet. Er war der Überzeugung, dass das Tragen gewagter modischer Kleidung (bei Frauen und Männern) mit intellektuellem Anspruch und Erfolg durchaus vereinbar sei; und der Spaß, den wir bei gemeinsamen Einkaufsbummeln hatten, wurde durch den subversiven Plan, dass ich bei seinem Vortrag über „Ernennungsbefugnisse“ am Institut für juristische Praxis in einem leuchtend rosa Minirock auftauchen würde, noch verdoppelt. Und doch fragte ich mich, was er wirklich darüber gedacht haben mag, wohin all dies führen würde – vor allem: zu welcher Art von Familienleben? Er ermutigte mich, genau mit jenen aufstrebenden, geschniegelten Männern auszugehen, die – wie er – niemals eine berufstätige Ehefrau gewollt hätten.
Zwischenzeitlich verstärkte jener Auslandsaufenthalt meine Zweifel am Credo meines Vaters. Ich wurde zu einer Familie von Fabrikarbeitern in Swansea in Südwales geschickt und begriff, wie Armut, schlechte Ernährung, schlechte sanitäre Einrichtungen (Außentoilette) sowie schlechte Gesundheitsbedingungen (vor allem der Kohlebergbau, der die Gesundheit etlicher Familienmitglieder ruiniert hatte) den Menschen nicht nur ein blühendes Leben, sondern auch ihre Sehnsucht und Kraft raubt. Meine gleichaltrigen Gastschwestern in dieser Familie wollten nicht studieren oder durch harte Arbeit glänzen. Wie in den britischen Arbeiterfamilien, die in Michael Apteds „Seven Up“1 und seinen Fortsetzungen so schonungslos dargestellt werden, sahen sie für sich selbst keine Zukunft, die rosiger war als das Leben ihrer Eltern, und ihre größte Freude war es, in Kneipen zu gehen und die legalen Spielkasinos in der Nähe aufzusuchen. Ich erinnere mich daran, wie ich im Bett lag, einen Roman über die britische Oberschicht las – in diesem Haus mit einer Außentoilette im Garten – und darüber nachdachte, warum Eirwen Jones, die in meinem Alter war, nicht das geringste Interesse am Lesen und Schreiben, ja nicht einmal am Lernen der walisischen Sprache hatte. Die durch Armut aufgebauten Hindernisse sind oft tief im Inneren eines Menschen verwurzelt, und viele benachteiligte Menschen können dem Weg meines Vaters nicht folgen. (Er erzählte, dass er ausreichend zu essen, viel Liebe, geistige Anregung und eine gute Gesundheitsversorgung bekommen und irgendwie eine erstklassige Ausbildung erhalten hatte. Dabei war ihm nicht bewusst, was für riesige Vorteile ihm die Tatsache, dass er weiß war, brachte. Außerdem lebte er, geboren im Jahr 1901, in einer Welt mit größeren Chancen für sozialen Aufstieg als es sie heute selbst für arme Weiße gibt.) So sah ich mich selbst in einer neuen Perspektive: nicht nur als sehr kluges Kind, sondern als Produkt sozialer Faktoren, die ungleich verteilt sind. Es war nicht überraschend, dass ich dieses Verständnis viel später durch die Mitarbeit in einer internationalen Entwicklungsorganisation und durch eine enge Partnerschaft mit Gruppen, die sich für die Bildung und die Rechte von Frauen in Indien einsetzen, vertieft habe.
Wie die meisten der Leute, die ich in Bryn Mawr kannte, war ich damals Republikanerin, und ich bewunderte die Ideen von Barry Goldwater, der die individuellen Freiheitsrechte betonte. Ich glaube immer noch, dass Goldwater ein ehrenwerter Mann war und dass er sich voll und ganz für das Ende der Rassentrennung einsetzte – er hatte seine Prinzipien sogar auf mutige Weise in sein Familienunternehmen integriert. Ich denke, er glaubte tatsächlich, dass sich die Menschen dafür entscheiden sollten, gerecht zu sein, sich gegenseitig zu respektieren und zu helfen, allerdings ohne den Zwang der Regierung. Während ich noch in der Highschool für seinen Wahlkampf zu arbeiten begann, stellte ich jedoch fest, dass die meisten meiner politischen Mitstreiter nicht von hoher Gesinnung, sondern zutiefst rassistisch waren und den Liberalismus lediglich in seiner Funktion als Schutzschirm für Ansichten unterstützten, welche die Rassentrennung befürworteten. Die Hässlichkeit jener Politik, welche die Vorherrschaft der Weißen zum Ziel hatte, stieß mich ab und überzeugte mich davon, dass Goldwater naiv war und dass allein die Gesetzgebung stark genug sein würde, die Rassentrennung zu überwinden. Mittlerweile (nach meinem Aufenthalt in Swansea) hatte ich auch begriffen, dass wirkliche Gleichberechtigung gleichen Zugang zu einer guten Ernährung und Gesundheitsversorgung erfordert. Ich begann, die politischen Ideale des New Deal zu übernehmen, und mein Vater beschwerte sich bei meiner Schule darüber, dass meine Geschichtslehrer mich „einer Gehirnwäsche unterzogen“ hätten – es war nicht das einzige Mal, dass er die geistige Unabhängigkeit, die er so stolz gefördert hatte, unterschätzen sollte.
Ich erwähnte bereits das Theater: schon früh wurden die Künste, insbesondere das Theater und die Musik, für mich zu einem Fenster in eine weniger ausgrenzende Welt. Erstens war es eine Welt, die – im Gegensatz zur weißen, angelsächsischen, protestantischen Kultur („WASP-Kultur“) von Bryn Mawr – den Ausdruck starker Emotionen unterstützte. Alle meine Lehrer förderten meinen Verstand, aber der Theaterlehrer förderte meine gesamte Persönlichkeit. Also fasste ich den Entschluss, Schauspielerin zu werden. Ich arbeitete für zwei Spielzeiten an einem Sommertheater, verließ das Wellesley College nach drei Semestern, um eine Stelle bei einem Repertoiretheater anzunehmen, und verfolgte meine Schauspielkarriere an der heutigen Tisch School of the Arts an der Universität New York – bis ich einsah, dass ich keine sehr gute Schauspielerin, dieses Leben zu unsicher und meine wahre Leidenschaft das Nachdenken und Schreiben über die Stücke war. Doch als Amateurin spiele und singe ich nach wie vor (aufgrund meiner Lebenserfahrung bin ich nun besser), und es bereitet mir Freude. Ich ermutige auch meine Kollegen zum Schauspielen (in Stücken, die im Zusammenhang mit unseren Konferenzen über Recht und Literatur stehen). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die juristische Fakultät menschlicher macht und intellektuelle Freundschaften bereichert, wenn ich mit meinen Kollegen Gefühle teile.
Im Theater begegnete ich zum ersten Mal Menschen, die offen homosexuell waren. Ja, im Alter von siebzehn Jahren war ich vernarrt in einen schwulen Schauspieler, und ich verfolgte sein Leben mit der gesteigerten Anteilnahme einer enttäuschten Verliebtheit. Ich sah, dass er einen Lebenspartner hatte, der ihn besuchte und mit dem er die Absolventenringe ausgetauscht hatte, dass sie jedoch nur in der Welt des Theaters offen ein Paar waren und nicht in der größeren Gesellschaft. Dies erschien mir völlig absurd und irrational. Er war sehr viel netter als die meisten Jungen, die ich kannte: Er zeigte mehr Verständnis und Respekt. Ich denke, ich hatte mittlerweile verstanden, dass sich hinter Rassismus und Sexismus oft ein abstoßendes Eigeninteresse verbirgt. Die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, die mir – ebenso wie ihre Erscheinungsformen – bis dahin verborgen geblieben war, war ein weiteres schlimmes amerikanisches Laster, das ich in der Folge auf meiner Liste ergänzte.
Nachdem ich mich dagegen entschieden hatte, Schauspielerin zu werden, wandte ich mich wieder dem akademischen Leben der Universität von New York zu und blühte dort auf. Bald darauf lernte ich meinen späteren Mann kennen, verlobte mich und konvertierte zum Judentum. Was mich am Judentum anzog und noch immer anzieht, ist die vorrangige Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit. Außerdem liebte ich schon immer die jüdische Kultur, in die ich eingetreten bin, und fand, dass in ihr Emotionen stärker ausgedrückt und Streitigkeiten auf eine offenere Weise ausgetragen werden als in der „WASP-Kultur“. Einer meiner (sehr erfolgreichen) jüdischen Kollegen sagte über seine eigene Zeit in führenden Anwaltskanzleien, WASP-Anwälte würden einen nie kritisieren, sondern nach fünf Jahren einfach plötzlich feuern, während jüdische Anwälte zwar herumschreien und auf und ab springen, einen am Ende jedoch recht fair behandeln würden. Obwohl ich nicht mehr verheiratet bin, habe ich meinen jüdischen Namen und meine jüdische Religion beibehalten und bin jetzt mehr am Leben meiner Gemeinde beteiligt, als ich es vorher war. (Mit der mittleren Initiale „C“ ehre ich meinen Geburtsnamen, Craven.) Ich schloss mich also einer der Gruppen an, die mein Vater verachtete, und er kam nicht zu meiner Hochzeit, obwohl meine Mutter mir dabei half, sie zu organisieren. Zu der Zeit waren meine Eltern bereits geschieden.
Ich hatte also ein in mancher Hinsicht begünstigtes Leben, aber schon früh lernte ich, es als privilegiert zu betrachten und darüber nachzudenken, dass andere von solchen Privilegien ausgeschlossen waren. Eine Form der Diskriminierung, der ich nicht entgehen konnte, war die Diskriminierung von Frauen, die in meiner frühen Karriere eine große Rolle spielte (obwohl ich auch eine Menge Ermutigung erfuhr) und die wahrscheinlich erklärt, warum ich in Harvard keine Festanstellung bekam – obwohl bei einer knappen Entscheidung und zwei gespaltenen Abteilungen eine Vielzahl von Dingen angeführt werden könnte, um das Ergebnis zu erklären. Und wie die meisten berufstätigen Frauen meiner Generation habe ich die Probleme kennengelernt, die entstehen, wenn das Familienleben um neue und noch nicht vollständig durchdachte Erwartungen herum strukturiert wird. Selbst wenn beide Parteien die besten Absichten haben, sind die männlichen Erwartungen aus einer früheren Ära im Herzen schwer zu besiegen, besonders, wenn Kinder im Spiel sind. Und manchmal können zwei Menschen, die sich lieben, einfach nicht zusammenleben. Aber ich bereue gewiss nicht, mich in das Abenteuer begeben zu haben. Meine Tochter, die jetzt bei Friends of Animals in Denver für die Rechte von wilden Tieren arbeitet, gehört zu den großen Glücksquellen meines Lebens. (Ihr liebenswerter und unterstützender Ehemann, der im Alter von achtzehn Jahren in der DDR zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, weil er ein politisches Plakat aufgehängt hatte, das den Kommunismus kritisierte, hat mir die Perspektive eines Einwanderers eröffnet, der die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihren Freiheiten und ihren Traditionen des Willkommenheißens und der Inklusion liebt.)
Manchmal sind Akademiker von den Realitäten des menschlichen Lebens zu weit entfernt, um gute Beiträge zu dessen Strukturen leisten zu können. Das ist ein Risiko, das mit der akademischen Freiheit und dem sicheren Arbeitsverhältnis – wunderbaren Institutionen, wie sie die Philosophen der meisten früheren Epochen nicht geschützt haben – verbunden ist. Mein eigenes Engagement und meine Bemühungen haben mich immer dazu geführt, der Philosophie das breite Spektrum der behandelten Themen zurückzugeben, das sie in der griechischen und römischen Antike auszeichnete: die Analyse der Emotionen und des Kampfes um ein gelingendes Leben in schwierigen Zeiten; das Bedenken von Liebe und Freundschaft sowie der menschlichen Lebensspanne (einschließlich des Alterns, das von Cicero so großartig untersucht wurde); die Hoffnung auf eine gerechte Welt. Ich hatte zahlreiche Partner auf dieser Suche nach einer menschlichen Philosophie (und mehrere großartige Mentoren, darunter Stanley Cavell, Hilary Putnam und Bernard Williams). Doch ich hoffe, dass mir auch meine eigene Geschichte – sowohl in ihren unverdienten Privilegien als auch in ihrem Bewusstsein für Ungleichheiten – bei meiner Suche geholfen hat.
Wenn ich an diesem Abend im November 2016 meine Freunde hätte umarmen können, hätte ich dieses Buchprojekt vielleicht nicht begonnen – oder zumindest nicht genau dann. Aber als ich diesen Weg einmal eingeschlagen hatte, waren meine Freunde wichtige Quellen der Unterstützung, des Verständnisses, skeptischer Herausforderungen und nützlicher Vorschläge. Ehrerbietung ist Gift für die intellektuelle Arbeit, und ich bin so glücklich, dass meine Kollegen und Freunde alles andere als ehrerbietig sind. Doch es gibt einen vor allen anderen, dessen skeptische Herausforderungen, provozierende Einsichten, zynischer Spott über alle Emotionen sowie unerschütterliche Unterstützung und Freundschaft dazu führen, dass ich mich meines Lebens und meiner Arbeit mehr freue und (so hoffe ich) meine Arbeit besser mache. Daher widme ich dieses Buch Saul Levmore.
1 Anm. d. Übers.: Die „Up“-Serie ist eine Reihe von Dokumentarfilmen, die von Granada Television für ITV produziert wurden und das Leben von vierzehn britischen Kindern von 1964 an, als sie sieben Jahre alt waren, begleiten.
In den USA gibt es heute sehr viel Angst, und diese Angst ist häufig mit Zorn, Schuldzuweisungen und Neid vermischt. Angst blockiert allzu oft rationale Überlegungen, sie vergiftet die Hoffnung und behindert eine konstruktive Zusammenarbeit für eine bessere Zukunft.
Worum geht es bei der heutigen Angst? Viele Amerikaner fühlen sich machtlos. Sie haben das Gefühl, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Sie fürchten um ihre eigene Zukunft und die Zukunft der Menschen, die sie lieben. Sie fürchten, dass der amerikanische Traum – die Hoffnung, dass die eigenen Kinder erfolgreich sein und es besser haben werden, als man es selbst hatte – gestorben und ihnen alles entglitten ist. Diese Gefühle haben ihre Grundlage in realen Problemen, unter anderem in der Stagnation des Einkommens der unteren Mittelschicht, in der alarmierenden Verschlechterung der Gesundheit und im Sinken der Lebenserwartung der Mitglieder dieser gesellschaftlichen Gruppe, insbesondere der Männer, sowie in den explodierenden Kosten der Hochschulausbildung in einer Zeit, in der ein Hochschulabschluss für eine Anstellung zunehmend unerlässlich ist. Aber wirkliche Probleme sind schwer zu lösen, und ihre Lösung erfordert lange, anstrengende Untersuchungen und Zusammenarbeit in Richtung einer ungewissen Zukunft. Es kann daher nur allzu attraktiv erscheinen, mit diesem Gefühl der Panik und Ohnmacht umzugehen, indem man es in Schuldzuweisungen an Außenstehende wie Einwanderer, ethnische Minderheiten und Frauen umwandelt und sich von ihnen innerlich distanziert. „Sie“ haben uns unsere Jobs weggenommen. Oder: Reiche Eliten haben uns unser Land gestohlen.
Die Probleme, welche die Globalisierung und Automatisierung für Amerikaner der Arbeiterklasse mit sich bringen, sind real, fundamental und scheinbar unlösbar. Statt sich diesen Schwierigkeiten und Unsicherheiten zu stellen, können Menschen, die ihren Lebensstandard sinken sehen, sich auf Bösewichte stürzen, und eine Fantasie nimmt Gestalt an: Wenn „wir“ „sie“ irgendwie draußen halten (eine Mauer bauen) oder an „ihrem Platz“ (in untergebenen Positionen) festhalten, können „wir“ unseren Stolz und Männer ihre Männlichkeit zurückgewinnen. Angst führt also eher zu aggressiven Strategien der Distanzierung von „den anderen“ als zu nützlichen Analysen.
Gleichzeitig grassiert die Angst auch unter den „Linken“, die eine größere soziale und wirtschaftliche Gleichstellung anstreben und fest entschlossen sind, die hart erkämpften Rechte von Frauen und Minderheiten zu verteidigen. Viele Menschen, die über das Wahlergebnis bestürzt waren, reagieren, als ob das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe. Eine Mehrheit meiner Studierenden, viele Bekannte und viele Kollegen fühlen und sagen – oft mit großer Angst –, dass unsere Demokratie am Rand des Zusammenbruchs stehe, dass die neue Regierung in ihrer Bereitschaft, auf Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie einzugehen, beispiellos sei. Sie befürchten vor allem das mögliche Verschwinden der demokratischen Meinungs-, Reise-, Vereinigungs- und Pressefreiheit. Vor allem meine jüngeren Studierenden glauben, dass das Amerika, das sie kennen und lieben, im Begriff ist zu verschwinden. Statt die Dinge nüchtern zu analysieren, der anderen Seite Gehör zu schenken und zu versuchen, die Dinge zu ordnen, verteufeln sie häufig die andere Hälfte der amerikanischen Wählerschaft und stellen sie als Monster, als Feinde alles Guten dar. Wie im Buch der Offenbarung scheinen wir in den letzten Tagen zu leben, in denen ein Häuflein von Rechtschaffenen gegen die Kräfte Satans antreten muss.
Wir alle müssen erst einmal tief durchatmen und uns an unsere Geschichte erinnern. Als ich ein kleines Mädchen war, wurden Afroamerikaner im Süden gelyncht. Kommunisten verloren ihre Arbeit. Frauen begannen gerade erst, an renommierten Universitäten zu studieren und in die Arbeitswelt einzutreten; sexuelle Belästigung war ein allgegenwärtiges Vergehen, und es gab keine Gesetze, die als Abschreckung hätten wirken können. Juden konnten keine Partnerschaften in großen Anwaltskanzleien erwerben. Homosexuelle Männer und Frauen, die nach dem Gesetz Verbrecher waren, hielten ihre sexuelle Orientierung fast immer geheim. Menschen mit Behinderungen hatten keinen Anspruch auf öffentliche Räume und staatliche Bildung. Transgender war eine Kategorie, für die es noch keinen Namen gab. Amerika war alles andere als schön.
Diese Fakten sagen uns zwei Dinge, die meine Studierenden wissen müssen. Erstens: Das Amerika, dem sie nachtrauern, hat es nie gegeben, nie vollständig; es war ein laufendes Projekt, eine Reihe dynamischer Bestrebungen, die durch harte Arbeit, Kooperation, Hoffnung und Solidarität über einen langen Zeitraum in Gang gehalten wurden. Ein gerechtes und inklusives Amerika war und ist noch keine vollendete Realität. Zweitens mag die gegenwärtige Zeit wie ein Rückschritt in unseren Bemühungen in Richtung menschlicher Gleichberechtigung erscheinen, aber sie ist nicht die Apokalypse, und es ist tatsächlich eine Zeit, in der Hoffnung und Arbeit viel Gutes bewirken können. Nicht nur werden auf linker wie rechter Seite die Gefahren durch Panik übertrieben, sondern durch diese Panik wird die Zeit noch viel gefährlicher, als es sonst der Fall wäre, und dieser Umstand lässt wirkliche Desaster wesentlich wahrscheinlicher werden. Es ist wie in einer schlechten Ehe, in der Angst, Misstrauen und Schuldzuweisungen sorgfältiges Nachdenken über die wirklichen Probleme und ihre Lösung verdrängen. Stattdessen werden diese Emotionen zu einem eigenen Problem und verhindern konstruktive Arbeit, Hoffnung, Zuhören und Kooperation.
Wenn Menschen Angst voreinander und vor einer unbekannten Zukunft haben, führt dies leicht dazu, dass ein Sündenbock gesucht wird, dass Rachefantasien und ein giftiger Neid auf die Bessergestellten (seien es die Wahlsieger oder die sozial und wirtschaftlich Mächtigeren) aufkommen. Wir alle erinnern uns an die Aussage von Franklin D. Roosevelt, dass wir „vor nichts Angst haben müssen, außer vor der Angst selbst“. Vor Kurzem hörten wir den scheidenden Präsidenten Obama sagen: „Die Demokratie kann zerbrechen, wenn wir der Angst nachgeben.“ Roosevelt hatte unrecht, wenn wir seine Worte wörtlich nehmen: Obwohl wir Grund hatten, Angst vor der Angst zu haben, hatten wir zu seiner Zeit auch viele andere Dinge zu fürchten, wie etwa den Nazismus, Hunger und soziale Konflikte. Die Angst vor diesen Übeln war vernünftig, und in diesem Sinne brauchen wir keine Angst vor unserer Angst zu haben, obwohl wir sie stets analysieren sollten. Doch Obamas präzisere und bescheidenere Aussage ist sicherlich richtig: Der Angst nachzugeben, das heißt, sich von ihren Strömungen mitnehmen zu lassen und die skeptische Prüfung abzulehnen, ist sicher gefährlich. Wir müssen genau über die Angst nachdenken und darüber, wohin sie uns führt. Nachdem wir tief durchgeatmet haben, ist es wichtig, dass wir alle uns so gut wie möglich selbst verstehen, indem wir diesen Moment der Distanz nutzen, um herauszufinden, woher die Angst und die damit verbundenen Gefühle kommen und wohin sie uns führen.
Aber vielleicht sind meine Leser noch nicht davon überzeugt, dass die Angst wirklich ein tief greifendes Problem für die demokratische Selbstregierung ist. Ich stelle mir daher einen kleinen Dialog zwischen mir (MN) und einem Verteidiger der Angst vor, den ich VA nenne.
VA: Aber wir wollen die Angst doch nicht vernichten. Ohne Angst wären wir alle tot. Angst ist nützlich, und sie treibt uns zu lebensrettenden Handlungen an.
MN: Sicher, da hast du recht. Doch Angst hat eine starke Tendenz, von uns Besitz zu ergreifen und uns zu egoistischen, gedankenlosen und unsozialen Handlungen anzutreiben. Ich werde versuchen, dir zu zeigen, dass diese Tendenz aus der Geschichte der Evolution und der psychologischen Struktur dieser Emotion stammt. Mehr als andere Gefühle bedarf die Angst sorgfältiger Prüfung und Eindämmung, wenn sie nicht giftig werden soll.
VA: Davon bin ich noch nicht überzeugt. Doch ich möchte jetzt auch wissen, warum du sagst, dass die Angst für die demokratische Selbstregierung besonders gefährlich ist. Sicherlich sind Demokratien häufig gut beraten, die Angst zu befragen, wenn es darum geht, Gesetzen und Institutionen eine Struktur zu geben. Sind unsere Verteidigungsbemühungen nicht etwa eine vernünftige Antwort auf die legitime Angst vor Fremdherrschaft? Und wie verhält es sich mit unserer Verfassung? Wurden ihre Väter nicht von Angst geleitet, als sie die grundlegenden Freiheitsrechte niederschrieben? Schließlich schrieben sie über all die Dinge, welche die Briten verletzt oder ihnen genommen hatten: Ihre Angst, dass sich ähnliche Dinge in der neuen Nation ereignen könnten, gab der Demokratie einen guten, keinen schlechten Rat.
MN: Es wäre dumm zu leugnen, dass Angst häufig gute Handlungsempfehlungen gibt. Die Angst ist schließlich ein Teil unserer evolutionären Ausstattung für das Überleben. Doch deine Beispiele beziehen sich auf eine Angst, die durch eine sorgfältige und ausführliche öffentliche Diskussion gefiltert wurde. Du hast voreilige und ungerechtfertigte Feldzüge unerwähnt gelassen. Du hast Fälle ausgelassen, in denen Rechte ungleich verteilt oder Privilegien aufgrund weitverbreiteter Ängste hastig eingeschränkt wurden. Wir haben die Angewohnheit, in Zeiten, in denen die Nation Belastungen ausgesetzt ist, missliebige Menschen zu Sündenböcken zu erklären und ihre Rechte auf eine Weise zu beschneiden, die später als völlig fehlgeleitet erscheinen wird. Eugene Debs wurde wegen friedlicher Reden gegen die Teilnahme der USA am Ersten Weltkrieg ins Gefängnis geworfen. Gesetzestreue und friedliche japanische Amerikaner wurden in Lagern interniert. Dies sind Fälle, in denen die Angst uns nicht nur nicht in die Richtung verfassungsmäßiger Rechte führte, sondern zur Folge hatte, dass bereits etablierte Rechte zurückgenommen wurden, und dasselbe Klima der Angst führte dazu, dass selbst unsere Gerichte dies damals nicht erkannten. Angst ist oft schneller als das sorgfältige Nachdenken. Es ist diese von Unsicherheit getriebene Flucht nach vorn, die ich mit großer Skepsis betrachte. Diese Form der Angst untergräbt Brüderlichkeit, vergiftet die Zusammenarbeit und lässt uns Dinge tun, für die wir uns später zutiefst schämen.
VA: Nochmals: Ich warte auf deine Argumente! Du hast mich davon überzeugt, dass hier ein Problem vorliegt. Doch ich sehe noch nicht, wie groß es ist oder wie seine Lösung aussehen könnte. Aber es gibt da noch eine andere Sache, die du versuchen musst, mir zu erklären. Du verwendest den Titel „Das Königreich der Angst“. Und du wiederholst ständig, dass Angst ein besonderes Problem für die demokratische Selbstregierung darstellt. Was ich nicht verstehe, ist die besondere Verbindung, die du scheinbar zwischen der Angst und einer Bedrohung der Demokratie feststellst. Bedroht die Angst, soweit sie ein gesellschaftliches Problem ist, nicht alle Regierungsformen auf gleiche Weise?
MN: Nein, nicht wirklich. In einer absoluten Monarchie kann der Monarch natürlich nicht übermäßig ängstlich sein, obwohl er oder sie auch gut beraten wäre, nicht überstürzt zu handeln. Doch Monarchen nähren sich von der Angst von unten. Die Angst, vom Monarchen bestraft zu werden, garantiert regelkonformes Verhalten. Und die Angst vor Bedrohungen von außen führt zu freiwilliger Knechtschaft: Ängstliche Menschen wünschen sich Schutz und Fürsorge, und bei ihrer Suche danach wenden sie sich an einen starken, absoluten Herrscher. In einer Demokratie müssen wir uns hingegen gleichberechtigt in die Augen sehen, und dies bedeutet, dass die Bürger durch ein Vertrauen auf Augenhöhe miteinander verbunden sein müssen. Vertrauenswürdigkeit ist mehr als Verlässlichkeit. Sklaven können sich auf das brutale Verhalten ihres Herrn verlassen, aber natürlich vertrauen sie ihm nicht. Vertrauen bedeutet, bereit zu sein, sich anderen auszusetzen, die eigene Zukunft in die Hände der Mitbürger zu legen. Absolute Monarchen brauchen oder wollen kein Vertrauen.
Man denke an eine Ehe. In einer Ehe nach althergebrachtem Muster, in der das männliche Familienoberhaupt einem Monarchen glich, bestand kein Bedarf an Vertrauen. Die Ehefrau und die Kinder mussten lediglich Gehorsam leisten. Doch die Ehen, wie sie die Menschen heute anstreben, sind ausgewogener und verlangen echte Verletzlichkeit, Gegenseitigkeit und beiderseitiges Vertrauen. Und Vertrauen wird durch Angst untergraben. In dem Maße, in dem ich dich als Bedrohung meines Lebens und meiner Ziele betrachte, werde ich mich vor dir schützen, und ich werde geneigt sein, mich strategisch zu verhalten, ja, statt zu vertrauen, mich sogar zu verstellen.
Entsprechendes gilt in der Politik. Diese Weigerung zu vertrauen durchzieht jetzt das ganze Land. Meine Studierenden vertrauen niemandem, der Trump gewählt hat, und sie betrachten solche Menschen als eine feindliche Macht – bestenfalls als „bedauernswerte Menschen“, schlimmstenfalls als Faschisten. Viele Trump-Anhänger erwidern das Kompliment und sehen Studierende und Universitäten als subversive Feinde „echter Menschen“ an.
Und es gibt noch eine andere Seite der Verbindung. Wenn Menschen sich ängstlich und machtlos fühlen, suchen sie gierig nach Kontrolle. Sie können es nicht abwarten, zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln werden; sie müssen andere Menschen dazu bringen, das zu tun, was sie wollen. Wenn sie sich also keinen wohlwollenden Monarchen suchen, der sie beschützen könnte, werden sie sich nur allzu wahrscheinlich selbst wie ein Monarch verhalten. Später werde ich diese Tendenz auf die Art und Weise zurückführen, mit der Babys versuchen, ihre Betreuungspersonen zu Sklaven zu machen: Was können sie anderes tun als schreien, wenn sie ihre eigene Ohnmacht erkennen? Auch auf diese Weise untergräbt die Angst das gleichberechtigte Geben und Nehmen, die Wechselseitigkeit, die für das Überleben von Demokratien unerlässlich ist. Und das führt zu vergeltendem Zorn, der spaltet, wenn es darum geht, einer ungewissen Zukunft auf konstruktive und kooperative Weise zu begegnen.
VA: Du hast den Zorn erwähnt. Das führt mich zu einer anderen Frage: Wozu diese Betonung der Angst? Gibt es nicht viele Gefühle, welche die Demokratie bedrohen? Was hat es denn eigentlich mit dem Zorn auf sich? Sollten wir uns angesichts seiner aggressiven Tendenzen nicht mehr Sorgen um dieses Gefühl machen als um die Angst? Bewegt nicht das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, viele Amerikaner dazu, andere anzugreifen? Neid wird ebenfalls häufig für eine große Bedrohung der Demokratie gehalten, da er Klassenkonflikte anfacht. Und schließlich wurde auch viel über die Rolle des Ekels im Rassismus sowie in anderen Formen der Stigmatisierung und Diskriminierung geschrieben.
MN: Da hast du vollkommen recht, und die Kapitel dieses Buches werden sich in der Tat mit diesen verschiedenen Emotionen und den Zusammenhängen zwischen ihnen befassen. Aber nachdem ich jahrelang über jede dieser Emotionen mehr oder weniger isoliert von den anderen gearbeitet habe, habe ich erkannt, dass meine bisherige Vorgehensweise einige äußerst wichtige Kausalzusammenhänge zwischen den Emotionen verdeckt hat. Insbesondere habe ich erkannt – und ich werde versuchen, dich davon zu überzeugen –, dass die Angst sowohl genetisch als auch kausal eine Vorrangstellung hat und dass die drei anderen Emotionen, die du angeführt hast, aufgrund einer „Ansteckung“ durch die Angst vergiftet werden und die Demokratie bedrohen. Gewiss, Menschen schlagen zurück, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen. Doch wie genau verhält es sich damit? Wie kommt es dazu? Warum fühlen Menschen so, und unter welchen Bedingungen wird die Schuldzuweisung zu einem politischen Gift? Es sind Fragen dieser Art, die wir bei jedem der Gefühle stellen müssen, und ich glaube, dass sie sich sämtlich auf Angst und Lebensunsicherheit zurückführen lassen.
VA: Aber was soll diese ganze Aufregung um Gefühle? Sicherlich sind die großen Probleme der amerikanischen Gesellschaft struktureller Art, und wir benötigen strukturelle Lösungen, die durch Gesetze realisiert werden können – unabhängig davon, ob sie den Menschen gefallen oder nicht. Wir müssen nicht abwarten, bis die Menschen besser oder sich ihrer selbst besser bewusst werden, um die Dinge, die repariert werden müssen, zu beheben, und die Konzentration auf Gefühle kann uns sogar von der strukturellen Arbeit ablenken, die geleistet werden muss.
MN: Ich stimme dir voll und ganz darin zu, dass Strukturen und Gesetze von entscheidender Bedeutung sind. Die Positionen, die ich bezüglich dieser Fragen vertrete, werden sich im weiteren Verlauf zeigen. Doch Gesetze lassen sich nicht ohne die Herzen und Köpfe der Menschen in Kraft setzen oder aufrechterhalten. In einer Monarchie ist das nicht der Fall; alles, was der Monarch benötigt, ist ausreichend Angst, um Gehorsam zu bewirken. In einer Demokratie benötigen wir viel mehr: Liebe zum Guten, Hoffnung auf die Zukunft, Entschlossenheit, die zerstörerischen Kräfte des Hasses, des Ekels und des Zorns zu bekämpfen – die allesamt, so behaupte ich, durch die Angst genährt werden.
VA ist nicht zufrieden und sollte es auch nicht sein, da bislang nur Behauptungen aufgestellt, jedoch keine Argumente oder Analysen angeboten wurden. Dennoch sollte VA inzwischen eine allgemeine Vorstellung davon haben, in welche Richtung meine Argumentation zielt. Die gegenwärtigen Probleme – wirtschaftliche, soziale und die Sicherheit betreffende – sind kompliziert und widersetzen sich einfachen Lösungen. Wir wissen kaum, wie die Arbeitswelt sich entwickeln und in den nächsten Jahrzehnten aussehen wird. Auch die steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung stellen jede Partei und jeden führenden Politiker vor unglaublich schwierige Herausforderungen. Eine Hochschulausbildung, die für eine dauerhafte Beschäftigung zunehmend wichtig wird, gerät für viele amerikanische Bürger immer mehr außer Reichweite. Die verwirrende politische Situation im Nahen und im Fernen Osten sollte zwar von allen verstanden werden, entzieht sich jedoch einer einfachen Analyse. Denken ist schwierig; sich der Angst zu ergeben und andere zu beschuldigen, ist einfach.
VA könnte allerdings eine noch grundlegendere Frage stellen: Warum sollten wir uns in dieser Zeit der Krise überhaupt an einen Philosophen wenden? Worum geht es in der Philosophie, und wie kann sie uns helfen?
Was Philosophie ist, wird in vielen unterschiedlichen historischen Traditionen verschieden beantwortet. Für mich geht es in der Philosophie nicht um dogmatische Aussagen. Es geht nicht darum, dass eine Person behauptet, tiefsinniger zu sein als andere, oder angeblich weise Aussagen trifft. Es geht darum, ein „geprüftes Leben“ zu führen, bescheiden angesichts der Tatsache, dass wir nur wenig wirklich verstehen, mit der Verpflichtung zu präzisen, wechselseitigen und aufrichtigen Argumenten sowie der Bereitschaft, anderen als gleichberechtigten Partnern zuzuhören und auf das, was sie vorbringen, zu reagieren. Philosophie in dieser sokratischen Form zwingt, bedroht oder verspottet niemanden. Sie kommt nicht mit nackten Behauptungen daher, sondern stellt stattdessen eine Denkstruktur auf, die den Zuhörer Schlussfolgerungen aus Prämissen, die er frei diskutieren kann, ziehen lässt.
Sokrates debattierte in der Demokratie Athens mit zahlreichen Menschen. Er stellte fest, dass alle über die Fähigkeit zum Begreifen und zum Verständnis ihrer selbst verfügten. (Platon bringt dies zum Ausdruck, indem er zeigt, wie Sokrates ein Gespräch mit einem unterdrückten, ungebildeten Sklavenjungen führt und dieser einen komplizierten geometrischen Beweis findet.) Philosophisches Fragen geht von dieser grundlegenden Fähigkeit aus, doch es zeigt auch, dass die meisten von uns es vernachlässigen, diese zu kultivieren: Menschen (einschließlich Militärführer, kulturelle Autoritäten und Politiker, wie Sokrates herausfand) legen sich nicht wirklich Rechenschaft über das ab, was sie denken, und sie eilen auf der Grundlage unausgegorener, oft inkonsistenter Ideen zum Handeln. Die Philosophie lädt zum Dialog ein und respektiert den Zuhörer. Im Gegensatz zu den übertrieben selbstbewussten Bürgern, die Sokrates befragt hat (Euthyphro, Critias, Meletus), ist der philosophische Redner bescheiden und verletzlich: Seine Position ist transparent und damit möglicher Kritik ausgesetzt. (Seine oder ihre Position, denn Sokrates sagte, er würde gerne Frauen befragen, wenn auch nur im Jenseits, und Platon unterrichtete Frauen in seiner Akademie!)
Sokrates hatte recht mit der Aussage, dass seine Methode eng mit den Zielen der demokratischen Selbstregierung verbunden ist, in der das Denken jedes Einzelnen zählt, und indem er darauf bestand, dass sie einen äußerst wertvollen Beitrag zum Leben in einer Demokratie leistet und die Qualität der öffentlichen Diskussion verbessert. Er sagte, er sei wie eine Bremse auf dem Rücken der Demokratie, die er mit einem „edlen, aber trägen Pferd“ verglich: Der Stachel der philosophischen Befragung sollte die Demokratie wachrütteln, damit sie ihrer Aufgabe besser gerecht werden könne. Dies ist kein Buch über öffentliche Ordnung oder Wirtschaftsanalyse, auch wenn beide Disziplinen für die Lösung unserer Probleme von entscheidender Bedeutung sind. Es ist allgemeiner und introspektiver. Sein Ziel ist ein besseres Verständnis einiger jener Kräfte, die uns zum Handeln bewegen, und insofern bietet es allgemeine Handlungsanweisungen. Doch sein vorrangiges Ziel ist Verstehen. Verstehen ist immer praktisch ausgerichtet, denn ohne es fehlt dem Handeln zwangsläufig die Richtung, und es wird von prinzipienlosen Einzelentscheidungen hin und her geworfen.
Philosophen reden über viele Themen, die für die Demokratie relevant sind. Meine eigene Arbeit hat sich, wie viele philosophische Arbeiten in den letzten Jahrzehnten, mit politischen Institutionen und Gesetzen auseinandergesetzt und allgemeine Argumente darüber vorgelegt, was Gerechtigkeit ist und über welche Grundrechte oder -ansprüche sämtliche Staatsbürger verfügen. In den Kapiteln über die Verhinderung von Neid und die Gestaltung von Hoffnung werde ich einige dieser Ideen bezüglich der Handlungsfähigkeit von Menschen und der „menschlichen Fähigkeiten“ ansprechen. Ich bin der Meinung, dass sie uns auf unserem Weg helfen können, doch wird das nicht der Hauptschwerpunkt dieses Buches sein.
In der anderen Hälfte meiner beruflichen Laufbahn habe ich mich auf das Wesen der Gefühle sowie auf ihre Rolle bei unserer Suche nach dem guten Leben konzentriert. Einer langen Tradition folgend, die sich (in der westlichen Philosophie) von Platon über moderne Denker wie Adam Smith und John Rawls erstreckt, habe ich (gestützt auf Psychologie und psychoanalytisches Denken ebenso wie auf Philosophie) dafür argumentiert, dass Gefühle eine wichtige Rolle in einem akzeptablen politischen Gemeinwesen spielen. Sie können eine Gemeinschaft destabilisieren und fragmentieren. Sie können aber auch eine bessere Zusammenarbeit und ein energischeres Streben nach Gerechtigkeit zur Folge haben. Gefühle sind nicht von Geburt an festgelegt, sondern werden durch soziale Kontexte und Normen auf zahllose Art und Weise geprägt. Das ist eine gute Nachricht, denn es bedeutet, dass wir viel Raum haben, die Emotionen unserer eigenen politischen Kultur zu gestalten. Es ist auch eine schlechte Nachricht – für Faulpelze und Menschen ohne Wissbegier: Es bedeutet, dass wir das Wesen von Angst, Hass, Zorn, Ekel, Hoffnung und Liebe erforschen und darüber nachdenken müssen, wie wir sie so gestalten können, dass sie gute demokratische Bestrebungen unterstützen, statt diese zu blockieren oder auszuhöhlen. Wir können uns der Verantwortung nicht entziehen, indem wir über unseren eigenen Hass oder unsere übertriebene Angst sagen: „Es tut mir leid, aber so sind die Menschen nun einmal.“ Nein, es gibt nichts Unvermeidliches oder „Natürliches“ an Rassenhass, Angst vor Einwanderern, der Leidenschaft, Frauen als zweitrangig zu behandeln, oder dem Ekel vor den Körpern von Menschen mit Behinderungen. Wir haben das zugelassen, wir alle, und wir können und müssen es rückgängig machen.
Kurz gesagt: Wir müssen uns selbst erkennen und Verantwortung für uns selbst übernehmen. So ist es etwa die Aufgabe einer anständigen Gesellschaft, darauf zu achten, wie der Hass auf bestimmte Gruppen durch soziale Anstrengungen und institutionelle Entwicklungen minimiert werden kann. Selbst eine so einfache politische Entscheidung wie die Entscheidung, Kinder mit Behinderungen in „normale“ Klassenzimmer zu inkludieren, hat offensichtliche Folgen für die Ausprägungen von Angst und Aggression. Wir müssen die betreffende Frage untersuchen – in diesem und in vielen anderen Fällen – und dann, auf der Grundlage dessen, was wir verstanden haben, Richtlinien auswählen, die Hoffnung, Liebe und Zusammenarbeit bewirken, und solche vermeiden, die Hass und Ekel nähren. Manchmal können wir nur besseres Verhalten hervorbringen, während unter der Oberfläche weiterhin Hass brodelt. Manchmal können wir jedoch tatsächlich ändern, wie Menschen einander sehen und emotional aufeinander reagieren – wie dies im Fall der gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderungen mit Sicherheit geschieht. (Es hilft, früh damit zu beginnen.)