Amie Kaufman | Meagan Spooner
Unearthed
Weiter, wenn ihr euch traut
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Will
FISCHER E-Books
Amie Kaufman und Meagan Spooner sind langjährige Freundinnen und Teilzeit-Mitbewohnerinnen, die die Welt bereist haben, aber noch nicht die Galaxie. Sie sind sich jedoch sicher: Auch das ist nur noch eine Frage der Zeit. Meagan lebt zurzeit in Asheville, North Carolina, Amie in Melbourne, Australien. Obwohl sie so weit voneinander entfernt wohnen, eint sie ihre Liebe zu Roadtrips, leckeren Zwischenmahlzeiten und Space Operas.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
Der Auftakt der mega-spannenden »Unearthed«-Dilogie
Auf der Erde hätten Jules und Amelia sich gehasst: er ein verwöhnter Jung-Wissenschaftler, der sich in den Kopf gesetzt hat, die Erde vor dem Ressourcen-Kollaps zu retten; sie eine Plünderin, auf der Suche nach irgendetwas, was sie zu Geld machen kann. Fernab der Erde, auf dem kargen Planeten Gaia, müssen sie zusammenarbeiten, denn sie haben dasselbe Ziel: den verlassenen Tempel der Unsterblichen. Nur gemeinsam können die beiden die kryptischen Rätsel lösen und die tödlichen Fallen überwinden, die das Innere des Tempels schützen. Doch können sie einander wirklich vertrauen?
Packende Action, schlagfertig-witzige Dialoge: »Lara Croft« meets »Indiana Jones«.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Das englischsprachige Original erschien 2017 unter dem Titel »Unearthed« bei Disney Hyperion, New York.
Text (c) 2017 by Meagan Spooner and Amie Kaufman
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Dahlhaus & Blommel Media Design, Vreden
nach dem Originalumschlag von Michael S. Heath für Little, Brown Books for Young Readers
Coverabbildung: Michael S. Heath
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0524-7
Für Josh und Tracey, Abby und Jessie.
Familie
Wir sind die Letzten unserer Art.
Wir werden nicht dem Vergessen anheimfallen. Wir werden unsere Geschichte den Sternen erzählen und somit niemals sterben – wir werden die Unsterblichen sein. Vielleicht werden nur die Sterne uns hören, bis wir nichts als eine Erinnerung sind. Doch eines Tages wird eine Spezies die von uns hinterlassene Macht entdecken – und sie wird geprüft werden, denn manche Dinge sollten verborgen bleiben. Manche Geschichten unausgesprochen. Manche Worte ungesagt.
Manche Kräfte unangetastet.
Unsere Geschichte ist eine Geschichte von Gier und Zerstörung, von einem Volk, das dem Schatz, den es hütete, nicht gewachsen war. Unser Ende kam nicht von den Sternen, sondern von innen, durch Chaos und Krieg. Wir waren dessen, was uns geschenkt wurde, niemals würdig.
Der mathematische Code dieser Botschaft enthält einen Schlüssel, um eine Tür in den Äther zu bauen. Jenseits dieser Tür, jenseits des Äthers werdet ihr euch der Prüfung stellen müssen. Die Würdigen, die Auserwählten, werden die Macht finden, die zu schützen wir unser Leben opferten, und zu den Sternen aufsteigen.
Wisset, dass die Reise kein Ende hat. Wisset, dass euch viele Gefahren bevorstehen werden. Wisset, dass hinter der Tür Rettung oder Verderben auf euch warten kann. Also trefft eure Wahl. Wählt die Sterne oder das Nichts, wählt Hoffnung oder Verzweiflung, wählt das Licht oder das unsterbliche Dunkel des Alls.
Trefft eure Wahl – und geht weiter, wenn ihr es wagt.
Auszug aus Die Nachricht der Unsterblichen
(Orig.: Unbekanntes Signal Alpha 312),
dechiffriert und übersetzt von Dr. Elliott Addison, Universität Oxford
So hatte ich mir das absolut nicht vorgestellt.
Die zwei Plünderer dort unten reden Spanisch miteinander, sie lachen über irgendwas, das ich nicht verstehe. Ich liege bäuchlings auf dem Felsen und schiebe mich gerade so weit vor, dass ich unterhalb des Felsvorsprungs ihre Köpfe sehen kann. Der eine der beiden ist größer und breitschultrig. Er ist um die dreißig bis fünfunddreißig und wiegt locker doppelt so viel wie ich. Der oder die andere ist kleiner, der Haltung nach ist es wohl eine Frau – aber selbst sie wäre mir überlegen, wenn die beiden von meiner Anwesenheit wüssten.
Du hattest recht, Mink, ich hätte die Pistole nehmen sollen. In jenem Moment hatte es sich gut angefühlt, die Chefin zu verblüffen – zu sehen, wie ihre Augenbrauen bis unter ihren Pony hochgingen und dort verharrten. »Brauche ich nicht«, hatte ich verächtlich gesagt, ohne zu erwähnen, dass ich eh nicht damit umgehen könnte. »Keiner da unten wird mich auch nur sehen.« Denn bei einem Raubzug zu Hause, in einer Stadt auf der Erde, hätte das gestimmt.
Aber die Geländekarten und Satellitenbilder von Gaias Oberfläche haben mich nicht auf die Kargheit dieser Landschaft vorbereitet. Hier ist es nicht wie in den Ruinen von Chicago mit ihren vielen Abwasserkanälen und ihren halb eingestürzten Wolkenkratzern, mit ihren unzähligen Möglichkeiten, sich zu verstecken und sich ungesehen zu bewegen. Auf dieser öden Welt gibt es nicht mal Pflanzen – nichts als ein paar mikroskopisch kleine Bakterien in den Ozeanen, und die liegen auf der anderen Seite des Planeten. Wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass pünktlich einmal pro Generation irgendwas in Gaias zwei Sonnen auflodert und den ganzen Planeten abfackelt. Zu beiden Seiten der Schlucht ist nichts als offene Wüste, und ich sitze in der Scheiße.
Ich sitze in der Scheiße.
Die Plünderer füllen ihre Feldflaschen gerade an der kleinen Quelle unterhalb des Felsvorsprungs, der gleichen Quelle wie auf unseren raubkopierten Karten, die mich hierhergeführt haben. Ich verstehe zwar ihre Sprache nicht, aber ich muss die Worte nicht kennen, um zu kapieren, dass sie sich über das schmutzige, sandige Wasser in dem Teich beschweren. So als würden sie gar nicht begreifen, wie viel Glück sie haben, dass es überhaupt Wasser auf diesem Planeten gibt. Dass es Luft gibt, die wir atmen können – jedenfalls einigermaßen –, und die passende Temperatur und Schwerkraft, auch wenn die Sonneneruptionen alle Hoffnung auf eine dauerhafte Kolonie zunichtegemacht haben.
Trotzdem kommt diese Welt von allem, was wir bis jetzt gefunden haben, einem bewohnbaren Planeten immer noch am nächsten, mal abgesehen von der Erde und Centaurus. Und von denen stirbt der eine gerade im Eiltempo, und der zweite ist mit unserer heutigen Technik unerreichbar.
Gaia haben wir nur gefunden, weil wir den Anweisungen von irgendwelchen Geschöpfen gefolgt sind, die schon seit Ewigkeiten tot sind. Kein Mensch weiß, wann wir noch mal auf eine solche Welt stoßen werden, es sei denn, wir finden in den Ruinen der Unsterblichen noch mehr Koordinaten. Komisch, dass die Aliens sich ausgerechnet so genannt haben, in genau der Funkbotschaft, in der sie beschreiben, wie sie sich selbst ausgelöscht haben.
Ich halte den Atem an. Hoffentlich schauen sich die Plünderer nicht um, während sie sich hinhocken und ihre Flaschen füllen. Weil ich nicht mit Gesellschaft gerechnet hatte, ist mein Gepäck nicht gerade gut versteckt, aber sie haben es noch nicht gesehen. Idioten. Allerdings bin ich selbst noch dümmer, weil ich meine wichtigste Regel gebrochen habe – ich habe meine Sachen aus den Augen gelassen. Ich habe den Rucksack hingestellt, weil ich nachsehen wollte, was sich hinter diesem Felsgrat verbirgt. Die Wüste ist voller riesiger Felsformationen, die sich dem Himmel entgegenrecken, in Form geschliffen vom Wind und von Gewässern, die es hier schon lange nicht mehr gibt. Hier werde ich also enden, eine Milliarde Lichtjahre von zu Hause entfernt und ohne Vorräte, bloß weil ich die beschissene Landschaft bewundern wollte. Nur ein paar rotbraune Felsbrocken liegen zwischen dem Plündererduo und meiner einzigen Hoffnung, in dieser Gegend zu überleben.
Im Rucksack befinden sich nicht nur meine Verpflegung, meine Klettermontur, mein Wasser, meine Schlafmatte und was ich sonst noch zum Überleben brauche – auch mein Atemgerät ist da drin. Die Atmosphäre auf diesem Planeten enthält einen Tick mehr Stickstoff als die der Erde. Ungefähr acht Stunden pro Tag muss man eine Atemmaske tragen und mit Sauerstoff angereicherte Luft einatmen, sonst wird man matschig im Kopf, und anschließend versagen die Organe. Und mein Atemgerät – sozusagen meine Rettungsleine – steckt in dem Rucksack, der einen oder zwei Meter von zwei Gangstern entfernt liegt.
Der Mann hebt den Kopf, und ich fahre zurück, rolle mich auf den Rücken und blicke hinauf in den strahlend blauen Himmel. Selbst durch das schützende Tuch brennt das Licht der Doppelsonne mir heiß aufs Gesicht, aber ich liege ganz still. Wenn ich meine Sachen nicht wiederkriege, bin ich tot. Dann werde ich nicht mal mehr am Leben sein, wenn sie mich in drei Wochen abholen, und schon gar nicht im Besitz von genug Beute aus den Tempeln, um meine Rückreise zu finanzieren.
Was soll ich jetzt nur machen? Ich könnte Mink kontaktieren – aber mein Satelliten-Handy steckt in meinem Rucksack, und der Funksatellit wird sowieso erst in sechs Stunden über diesem Teil des Planeten stehen. Und selbst wenn ich Mink irgendwie Bescheid geben könnte – als sie mich auf diesem Felsbrocken abgesetzt hat, war sonnenklar, dass ich hier nur wieder wegkomme, wenn es sich für sie lohnt. Es kostet eine Stange Geld, Plünderer mit den offiziellen Versorgungsshuttles hin und her zu schmuggeln, durch das Portal nach Gaia, einem schimmernden Durchgang im Weltraum, der von den Schiffen der Internationalen Allianz kontrolliert wird. Wenn ich nicht bezahlen kann, wird sie sich nicht die Mühe machen, mich zur Erde zurückzubringen.
Ich brauche diesen Rucksack.
»Tengo que hacer pis«, sagt der Mann, woraufhin seine Partnerin aufstöhnt und ein paar Schritte weggeht.
Ich höre einen Reißverschluss, ein Grunzen, und dann – eine halbe Sekunde später – wie etwas in die Quelle plätschert.
O Herrgott noch… – wirklich reizend, du Arschloch. Als wärt ihr die Einzigen auf diesem Planeten, die diese Quelle nutzen wollen.
»Bah«, protestiert die Frau und spricht mir damit voll aus dem Herzen. »En serio, Hugo?«
Ich beuge mich so weit runter, dass ich einen Blick auf den Typen erhaschen kann, der breitbeinig über der Quelle steht, die Hände um die Leistengegend gelegt – dann kneife ich die Augen wieder zusammen, bevor ich mehr erkennen kann. Das hätte ich nun echt nicht gebraucht.
Ich sollte die beiden überrumpeln, solange er mit Pinkeln beschäftigt ist, aber mir zittern die Hände, und zwar nicht wegen Sauerstoffmangels. Mink hatte ich ja etwas vormachen können, genau wie den Plünderern, die ich für diesen Job ausgebootet habe, als sich herumsprach, dass sie jemanden suchte. Ein paar kannten mich schon von den Hehlern in Chicago, andere kamen von weiter her und lernten mich erst kennen, als wir uns alle abstrampelten, um genommen zu werden. Die Kleine, das Mädchen, das ganz allein da runtergeht, um die Tempel auszurauben. Echt abgefahren, sagten sie lachend. Die tickt nicht ganz richtig. Aber in Chicago hat mich nie einer gesehen.
Genau deswegen war ich so gut und konnte Mink davon überzeugen, mich für sie arbeiten zu lassen: weil mich nie jemand gesehen hat. Ich musste nie kämpfen. Ich musste nie jemanden vertreiben. Ich musste mir nie zwei erfahrene und wahrscheinlich bewaffnete Plünderer vom Leib halten, während ich mir meine Sachen holte.
Ich versuche zu atmen, sauge die Luft durch das Tuch, das dadurch gegen meine aufgesprungenen Lippen gepresst wird. Für einen Augenblick fühlt es sich an, als müsste ich ersticken, als hätte mir jemand eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt – ich muss mir ins Gedächtnis rufen, dass es nur Stoff ist, dass ich problemlos atmen kann, dass ich diese Extradosis Sauerstoff erst in ein paar Stunden brauchen werde und einfach nur Angst habe. Ruhig Blut, rede ich mir zu. Noch haben sie deinen Rucksack nicht gesehen. Alles bestens.
Doch als hätte dieser Gedanke mir Unglück gebracht, höre ich gleich darauf die vor Überraschung schrille Stimme der Frau, die ihren Partner ruft. Der Reißverschluss des Mannes wird geschlossen, und schwere Stiefelschritte bewegen sich nach links – hinüber zu dem Findling, hinter dem halb verborgen mein Rucksack steht.
»¿Ésto pertenece al grupo?« Ein Stiefel trifft auf Stoff und dahinter auf etwas Hartes. Sie treten gegen meinen Rucksack.
Aber es ist nicht das, was mich den Mut verlieren lässt. Denn ich verstehe zwar nicht, was sie sagen, aber eines der Wörter kenne ich. In einigen Banden in Chicago wurde Spanisch gesprochen. »Grupo« bedeutet Gruppe. Die beiden sind nicht allein hier. Mink hat mich vorgewarnt, dass noch mehr Auftraggeber diese Versorgungs- und Forschungsmissionen nutzen würden, um Plünderer auf Gaias Oberfläche zu schmuggeln, aber ich war davon ausgegangen, dass sie zu zweit sein würden, oder allein, wie ich.
Was bedeutet, dass sie meine Ausrüstung mit zu ihrer Bande nehmen, wenn ich sie nicht sofort hole. Und dann habe ich es mit einem halben Dutzend Plünderern zu tun statt nur mit zweien.
Ehe ich es mir anders überlegen kann, rolle ich mich herum und lasse mich vom Rand des Felsvorsprungs hinabfallen, nur wenige Meter von den Plünderern entfernt.
Die Frau fährt zurück und kommt vor Überraschung ins Stolpern. »¡Qué chingados!«, entfährt es ihr. Ihre Hand bewegt sich zu ihrer Taille, wo etwas in einem Holster glitzert.
Der Mann dagegen ist weniger leicht zu erschrecken und bleibt einfach nur stehen. Misstrauisch mustert er mich – und steht zwischen mir und meiner Ausrüstung.
»Ich will nur meine Sachen«, sage ich und lasse meine Stimme dabei so tief klingen, dass mir die Kehle weh tut. Ich kann mich zwar nicht größer machen, aber dank meiner Montur ist es nicht komplett offensichtlich, dass ich ein Mädchen bin. Wenn sie mich für einen kleinen Mann halten, macht mich das weniger zur Zielscheibe. Ich deute auf den Rucksack. »Meine Sachen«, wiederhole ich etwas lauter und blicke zwischen den beiden hin und her.
Ich wünschte, ich hätte in Fremdsprachen besser aufgepasst, bevor ich von der Schule abgegangen bin – dann könnte ich vielleicht mehr als nur ein paar Brocken Spanisch. Meine einzige Eins hatte ich in Mathe, und das mag zwar die universelle Sprache sein – wie die Nachricht der Unsterblichen bewiesen hat –, aber im Moment nützt mir das wenig.
»Wer zum Teufel bist du?«, fragt der Mann. Er spricht mit Akzent, aber das Englisch geht ihm leicht von den Lippen. Wenigstens etwas.
»Amelio«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. Nicht ganz die Wahrheit, aber nah genug dran. »Ich bin aus dem gleichen Grund wie ihr hier. Gebt mir einfach meinen Kram, dann bin ich weg.«
Inzwischen hat sich die Frau von ihrem Schreck erholt, richtet sich auf und kommt nach vorn zu ihrem Kollegen. Sie ist schätzungsweise Mitte vierzig und hat ein sonnengegerbtes Gesicht. Ihre Haut wirkt ein ganzes Stück heller durch die Staubschicht auf ihren Zügen – die Staubschicht, die sich jetzt zu einem Grinsen teilt. »Nur ein Junge.«
Der Mann grunzt zustimmend und schiebt mit einer lässigen Bewegung seinen Mantel zurück, um den Daumen in seiner Hosentasche zu verhaken – und, natürlich rein zufällig, die Pistole zu enthüllen, die in dem Holster an seiner Seite ruht. »Vielleicht schnappen wir uns einfach deine Sachen, freuen uns über den Extra-Sauerstoff, und du, Junge, läufst nach Hause zu deiner Mama.«
Ich hole tief Luft und warte kurz, bis ich mir sicher bin, dass meine Stimme vor Verzweiflung nicht höher klingt. »Meine ›Mama‹ kommt erst in ein paar Wochen wieder hierher, genau wie eure. Gebt mir meine Sachen. Unbefugtes Betreten ist schon schlimm genug, wollt ihr wirklich noch Mord hinzufügen? Ihr werdet mich nicht erschießen. Ich gehöre zu Minks Plünderern. Wenn ihr der in die Quere kommt, seid ihr tot, sobald ihr zurück auf die Station kommt.«
Der Mann, der bestimmt anderthalb Köpfe größer ist als ich, reibt sich das Kinn. In der trockenen Luft hört man das Kratzen seines Dreitagebarts ganz deutlich. »Kein Mensch wird dich hier finden«, erwidert er. »Keine Leiche, kein Verbrechen, hm?«
»Hugo«, unterbricht ihn die Frau und fixiert mich aus zusammengekniffenen Augen. »No es niño, es niña.«
Scheiße. Ich kann genug Spanish, um das zu verstehen. Mit der Nummer, mich als Mann statt als Jugendliche auszugeben, werde ich wohl nicht mehr lange durchkommen.
»Nimm den Helm ab«, befiehlt der Mann.
Mein Herz hämmert in meiner Brust und übernimmt das Kommando. »Nein.«
Der Typ macht einen Schritt nach vorn, die Hand immer noch an der Waffe. »Entweder du nimmst den Helm ab, oder du ziehst das Shirt aus. Such es dir aus.«
Instinktiv will ich nach meiner Waffe greifen, aber ich weiß, dass das mein Todesurteil wäre. Ich hätte keine Chance. Die Frage, ob ich ein erwachsener Mann oder ein Mädchen bin, wird ihn nicht mehr sehr lange beschäftigen, und im Grunde wird es diesen Leuten egal sein, dass ich erst sechzehn bin. Es wird ihnen egal sein, dass sie eine Minderjährige töten. Mit der Landung auf Gaia haben sie schon gegen das Planetenembargo der IA verstoßen, und das bedeutet für sich genommen bereits lebenslänglich.
Beim außerplanetaren Recht versteht die Internationale Allianz keinen Spaß, nicht nach dem Fehlschlag des Projekts, das die irdischen Nationen überhaupt erst dazu brachte, sich zusammenzuschließen. Dreihundert Leute waren damals an Bord des Schiffes, unterwegs nach Alpha Centauri, auf der Suche nach einem besseren Ort als der Erde – vielleicht sind sie ja gescheitert und am Ende hilflos durchs All getrieben, weil Typen wie diese hier sich an Bord geschmuggelt und eine Meuterei ausgelöst haben. Die zwei können nur genauso hierhergekommen sein wie ich – indem sie gegen das Gesetz verstoßen haben –, und sie werden sich wegen eines weiteren Verstoßes keine grauen Haare wachsen lassen.
Ich schlucke heftig und beiße die Zähne zusammen. Ich bin Millionen Lichtjahre von zu Hause entfernt, auf einem fremden Planeten, aber erst jetzt wird mir richtig klar, dass die größte Gefahr hier draußen von anderen Menschen ausgehen könnte.
Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt, die Anstrengung, Ruhe zu bewahren, droht mich zu überwältigen – die eine Hälfte von mir will wegrennen, die andere kämpfen, und gefangen zwischen diesen gegensätzlichen Impulsen bleibe ich einfach nur wie erstarrt stehen. Und warte.
Und dann mischt sich eine neue Stimme in das Gespräch. »Oh, ein Glück, ich dachte schon, alle wären weg!« Die Worte zerschneiden die gespannte Atmosphäre wie eine Schere ein Gummiband, und alle Köpfe drehen sich zu dem Sprecher um.
Ein Junge, kaum älter als ich, taucht über dem Rand des Felsvorsprungs auf und schlittert den Geröllabhang hinunter, beladen mit einem so großen Rucksack, dass ich komplett hineinpassen würde und trotzdem noch Platz hätte. Mit einem dumpfen Geräusch setzt er ihn ab, richtet sich stöhnend auf und massiert sich das Kreuz. Er hat dunkle Haut und schwarzes Haar, das sich in kleinen Locken eng um seinen Kopf schmiegt, und ein breites Lächeln, das so wirkt, als könnte er damit sogar die Steine aus dem Boden hervorschmeicheln.
Seine ganze Kleidung sieht nach Geld aus: die khakifarbene Cargohose mit der passenden Weste, das makellose Hemd und die Stiefel, die so neu sind, dass sie unter der feinen Staubschicht an den Spitzen noch glänzen. Er ist groß und schlaksig und hat diese leicht hängenden Schultern, die man von langen Stunden über Tabletdisplays und Computertastaturen bekommt.
Akademiker, höhne ich innerlich. Typen wie ihn sieht man gelegentlich in Chicago. Sie studieren das Wetter und das Klima, oder was sonst noch zum Massen-Exodus beigetragen hat, und fast immer werden sie von einer Plündererbande verjagt. Was zum Teufel machst du hier? Die IA hat die Planetenoberfläche doch noch nicht mal für Forschungsmissionen freigegeben. Genau das machen sich Kriminelle wie wir zunutze – solange wir es noch können.
Er blickt zwischen uns dreien hin und her und zieht die Brauen zusammen. »Wo sind denn die anderen?«, fragt er. Seine Vokale sind ganz lang, das R weich – ein Brite oder so, wie die Leute im Fernsehen. Als er keine Antwort bekommt, versucht er es erneut. »Da jia zai na li? Waar is almal? Où est tout le monde?« Mühelos wechselt er von einer Sprache zur nächsten.
Ein Schweigen folgt, bei dem sein Lächeln langsam schwindet und Verwirrung Platz macht. Das Schweigen wird immer drückender, bis die Frau es unvermittelt bricht. »Wer zum Teufel bist du?«
Das Lächeln des Jungen erstrahlt von neuem, und als hätte man ihn aufs Höflichste begrüßt, tritt er vor und streckt ihr die Hand hin. »Jules Thomas«, sagt er, wobei er seinen Oberkörper ein klein wenig nach vorne neigt. Er verbeugt sich. Er verbeugt sich doch tatsächlich, was zur Hölle wird das hier? »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Wenn Sie so nett wären, mich zum Expeditionsleiter zu führen, damit ich meine Empfehlungsschreiben aushändigen kann und …«
Ein Klicken unterbricht ihn, als die Frau eine Pistole aus ihrem Holster zieht, sie entsichert und auf den Jungen richtet.
Jules stutzt, sein Lächeln verblasst, und er lässt die Hand sinken. Sein Blick geht von der Waffe zu dem Gesicht der Frau, die sie hält, dann zu dem anderen Plünderer und schließlich zu mir. Und was auch immer er in meinem Gesicht liest – Furcht, Erschöpfung, allgemeine »Was-zum-Teufel-ist-hier-eigentlich-los«-Panik –, lässt sein Lächeln verschwinden.
»Oh«, sagt er.
Okay, das hier könnte auf jeden Fall besser laufen. »Ich bin der Linguist und archäologische Experte«, sage ich langsam und deutlich und hebe dabei die Hände hoch, um zu demonstrieren, dass von mir keinerlei Gefahr ausgeht. »Ich wurde von Charlotte Stapleton eingestellt – Sie gehören doch zur Expedition von Global Energy Solutions, oder?«
»Global Energy«, wiederholt die Frau und umfasst die Waffe fester, ganz so, als würde sie sie nur zu gern benutzen, wenn ich so freundlich wäre, ein bisschen näherzutreten.
Mehercule. Ich kann es mir gerade noch verkneifen, laut mit dem Epitheton herauszuplatzen. Als ich mich auf Global Energy Solutions’ nicht ganz so legalen Plan zur Umgehung der Gesetze einließ, wusste ich zwar, dass die Crew, der ich mich anschloss, etwas rauer sein würde, aber eigentlich hätte ich erwartet, die ersten fünf Minuten der Expedition zu überleben.
Immerhin scheinen sie ganz anständiges Wachpersonal zu haben. Sobald die Sache hier geklärt ist, wird sich das als Vorteil erweisen.
»Ich bin Jules Thomas«, sage ich erneut, nur für alle Fälle. Das ist natürlich nicht mein richtiger Nachname. Die wiederholten Warnungen meiner Kontaktperson Charlotte, meine wahre Identität nicht zu enthüllen, waren unnötig. Ich werde mich hüten, irgendjemandem aus dieser Crew zu verraten, wer mein Vater ist, mal abgesehen von der Anführerin.
»¿Quién carajo es ésto?«, fragt die Frau, die immer noch mit der Waffe auf mich zielt.
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, sage ich. So langsam komme ich mir vor wie eine kaputte Audioaufnahme. »Ich bin Jules Thomas. Das hier sind die Koordinaten, die man mir gegeben hat – ich soll hier die Expeditionsleitung treffen. Tengo instrucciones para reunirme con nuestro jefe aquí.«
»Das kannst du erzählen, so oft du willst.« Endlich ergreift der Dritte das Wort – nur ein Junge, seiner höheren Stimme nach zu urteilen, die barsch durch ein Tuch vor seinem Mund dringt. »Aber das hier sind wohl kaum deine Leute, Kumpel.« Während er spricht, bewegt sich die Waffe und richtet sich für einen Moment auf ihn. Aber das würde ja bedeuten, dass er gar nicht zu ihrer Gruppe gehört – demnach müssen es Plünderer sein, von mehr als nur einer Gruppe. Und nicht alle von ihnen sind von so edler Gesinnung wie Global Energy Solutions.
»So langsam glaube ich das auch«, murmle ich.
»Schnauze«, blafft die Frau.
Ich riskiere einen weiteren Versuch. »Wie wahrscheinlich ist es, dass wir gleich erschossen werden?«
»Sehr wahrscheinlich«, sagt der Junge und verlagert sein Gewicht nach hinten, als sich die Waffe wieder auf mich richtet. Hinter dem Tuch, der Brille und dem Helm ist sein Gesicht zwar nicht zu sehen, aber in seiner Stimme liegt eine Nervosität, die meine eigene noch einen Tick zunehmen lässt.
Ob sie wohl irgendeine Sehenswürdigkeit nach einem benennen, wenn man zu den Ersten gehört, die auf einem neuen Planeten krepieren?
»Ihr könnt meinen Rucksack haben«, probiere ich und deute darauf, um Zeit zu schinden, während sich in meinem Kopf langsam ein Plan formt. »Ich zeige euch, wie meine Ausrüstung funktioniert. Die wird euch gefallen. Verpflegung habe ich auch. Lebensmittel. Schokolade.«
Letzteres bringt mir die volle Aufmerksamkeit der beiden bewaffneten Räuber ein – selbst wenn die Schokolade ihnen nicht schmecken sollte, auf dem Schwarzmarkt ist sie ein Vermögen wert. Und hier sind Luxusgüter mit Sicherheit knapp. Wer auch immer die beiden sind, irgendwer aus ihrer Gruppe wird die Schokolade schon wollen. Ich habe sie mitgenommen, um mit den anderen Mitgliedern der Expedition Freundschaft zu schließen, vorbeugend, bevor einer von ihnen auf die Idee kommt, der Streber könnte sich gut als Zielscheibe für Spott eignen – aber jetzt werde ich meine zukünftigen Kollegen eben ohne die Schokolade umgarnen müssen.
Während die beiden abgelenkt sind, drückt der Junge sich hinten an ihnen vorbei. Als er die Hand nach seinem Rucksack ausstreckt, begreife ich auf einmal, was er vorhat. Er wird sich das Teil schnappen und mich hier sitzenlassen. Kann ich es ihm verübeln? Vielleicht würde er ja sogar Hilfe holen, aber ich glaube nicht, dass ich darauf warten kann. Dieses Duo macht einen ausgesprochen schießfreudigen Eindruck. Wenn er türmt, werde ich dafür bezahlen.
»Du bleibst hier«, herrscht die Frau mich an und macht dann eine Kopfbewegung zu ihrem Begleiter hin. Der massige Typ geht nach vorn und öffnet meinen Rucksack, dann kippt er ihn um, und ich zucke zusammen, als etwas von dem Inhalt gegen einen Felsen knallt. Der Junge fährt herum, er schaut von mir zu dem Rucksack, den sie gerade durchwühlen, und wieder zurück.
»Bitte nicht«, sage ich leise und riskiere einen kurzen Blick zu dem Jungen hin.
Der Mann, der meinen Rucksack durchsucht, lacht nur, aber ich meine gar nicht die Sachen, die er gegen den Felsen knallen lässt. Die Worte gelten dem Jungen hinter ihm, der jetzt neben seiner Ausrüstung steht und über die Schulter zu mir zurückblickt. Wenn er sich aus dem Staub macht, werde ich nicht lange genug am Leben bleiben, um zu meiner Expedition zu stoßen.
»Was ist das?« Der Große hält mein Set mit den Pickeln und Pinseln in die Höhe und mustert es misstrauisch.
»Das dient zum, äh, Säubern der Steine.«
Die beiden glotzen mich an, als wäre ich ein Idiot, und nachdem sie diejenigen sind, die mich gerade mit vorgehaltener Waffe um meine Besitztümer bringen, während ich hilflos dabei zusehen muss, kann ich ihrer Einschätzung kaum widersprechen. »Das Zelt«, sage ich. »Das Zelt wird euch gefallen, es ist vollautomatisch.« Mein Blick zuckt zu dem Jungen hoch, auch wenn wegen der Brille schwer zu sagen ist, ob er mich ansieht. »Wirklich verblüffend.«
Schweigend verlagert der Junge sein Gewicht, zum Sprung bereit. Einen Schritt in die Richtung der Frau mit der Pistole. Er kapiert schnell – er hat meinen halbgaren Plan zumindest einigermaßen begriffen.
Der Mann holt das strahlendblaue Bündel heraus, das mein Zelt enthält, und dreht es zwischen seinen Händen hin und her. Mit gefurchter Stirn sieht er zu mir hoch. Sieht nicht besonders verblüffend aus, denkt er offensichtlich.
»Zieh an dem orangefarbenen Anhänger dort«, sage ich, richte mich ein wenig auf und hole tief Luft. Ich zwinge meinen Körper zur Ruhe, zur Bereitschaft, genau wie im Pool vor einem Polo-Match. »Anaranjado.«
Er nickt, dreht das Bündel noch einmal hin und her und findet den Anhänger. Ohne zu zögern, zieht er daran und beugt sich vor, um zu sehen, was dort zum Vorschein kommt.
Wie vom Hersteller versprochen entfaltet sich das Zelt in 2,6 Sekunden. Die Spreizstreben schießen heraus und rasten ein, das strahlendblaue Gewölbe öffnet sich explosionsartig. Eine Zeltstange trifft den Großen an der Nase, und ich hechte auf ihn zu und begrabe seinen Körper unter meinem, wobei ich uns beide in der Luft drehe. Ich schnappe nach Luft und stemme mich von ihm weg, um ihm ins Gesicht boxen zu können. Schmerz durchzuckt mich von den Knöcheln bis zur Schulter, als sein Kopf nach hinten ruckt. Mehercule, ich hätte mir von Neal zeigen lassen sollen, wie man jemandem einen Fausthieb versetzt, ohne sich die Hand zu brechen. Doch ehe ich mich umdrehen kann, höre ich irgendwo über mir einen ohrenbetäubenden Knall, der von den umliegenden Felsen wieder und wieder zurückgeworfen wird.
Ich rapple mich gerade noch rechtzeitig hoch, um mitzubekommen, dass mein Gegner mir nachsetzen will – nur um wenige Zentimeter von mir entfernt stehen zu bleiben. Nach Luft schnappend, taumle ich rückwärts und erwarte, seine Partnerin zu erblicken, die ihre Waffe auf mich richtet – doch stattdessen sehe ich, dass sie auf dem Boden liegt und sich nicht mehr rührt. Über ihr steht der Junge, der mit der Waffe auf das Gesicht meiner Angreiferin zielt.
Nur dass es gar kein Junge ist. Ihr Helm liegt auf dem Boden, ein bisschen zerbeult an der Stelle, wo sie ihn benutzt haben muss, um die Frau daneben niederzuschlagen. »Nicht schlecht«, keucht sie, ohne den Blick von ihrem Opfer zu wenden. Sie ist klein, mit blasser, sommersprossiger Haut und einem struppigen schwarzen Haarschopf, aus dem hier und da blaue und pinkfarbene Strähnen ragen. Jetzt ist zwar absolut nicht der richtige Moment, um stehen zu bleiben und die Aussicht zu genießen, aber Deus, sie ist wirklich etwas Besonderes.
»Schnapp dir seine Waffe«, sagt sie, wobei sie ihre eigene, gestohlene Waffe vollkommen ruhig hält.
»Seine was?« Immer noch starre ich sie an und versuche zu begreifen, was hier vor sich geht.
»Seine Waffe, du Genie.« Sie nickt zu der Pistole hinüber, die etwa einen Meter von dem Kerl entfernt liegt, der vor Wut praktisch schäumt, aber nicht riskieren will, erschossen zu werden. »Ihre Kumpane haben den Schuss bestimmt gehört. Jetzt wäre ein hervorragender Zeitpunkt, um hier zu verschwinden.«
Langsam schiebe ich mich vorwärts, damit der Kerl nicht nach mir greifen kann, dann ziehe ich die Pistole mit einem Fuß zu mir her. Als ich mich vorbeuge, um sie hochzuheben, wird die Stimme des Mädchens wieder barscher, als sie dem Mann befiehlt: »Zieh deine Schuhe aus.«
»Schuhe?«, wiederholt er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Zapatos«, übersetze ich, auch wenn der Mann, seinem Gesicht nach zu schließen, nicht wegen der Sprachbarriere zögert. Ich schiebe die Pistole in meine Jackentasche und werfe dem Mädchen meinerseits einen neugierigen Blick zu. »Dürfte ich erfahren, wieso?«
»Damit sie uns nicht verfolgen können«, antwortet sie. »Jedenfalls nicht so schnell. Hol dir auch ihre, nur für den Fall, dass sie aufwacht.«
Schlau. Ich bücke mich, um der bewusstlosen Frau die Stiefel auszuziehen. Sie gibt ein leises Stöhnen von sich, wird jedoch nicht wach. »Hast du so was schon mal gemacht?«
Das bringt mir endlich eine Art Lächeln von dem Mädchen ein. »Ich improvisiere. Aber das tue ich schon mein Leben lang. Stopf die Stiefel in deinen Rucksack und lass uns hier verschwinden.«
»Falls wir noch eine halbe Minute erübrigen können, hätte ich da eine Idee.« Ich nicke zu dem Kerl hinüber, der die Hände in die Höhe hält. »Señor, quítase los pantalones.«
Offenbar kennt das Mädchen das spanische Wort für Hose – sie beginnt zu lachen, während der Mann wütend vor sich hin flucht. »Das wird hässlich«, prophezeit meine neue Partnerin und gibt dem Mann mit ihrer Waffe ein Zeichen, meinem Befehl Folge zu leisten.
»Vermutlich«, pflichte ich ihr bei. »Aber auch peinlich. Sie werden ihre Freunde anlügen müssen, behaupten, wir seien groß und stark und in der Überzahl gewesen. Sie werden wohl kaum erzählen wollen, dass das hier das Werk von zwei Jugendlichen ist. Es könnte die Bande davon abbringen, uns zu verfolgen.«
Gegen ihren Willen beeindruckt, lässt sie einen ihrer Mundwinkel nach oben wandern, und ich verbiete meinen Hormonen ihr Freudentänzchen – sie zum Lächeln zu bringen, sollte im Moment nicht meine oberste Priorität sein. Auch wenn das viel spaßiger ist als der Kerl, der mir wutentbrannte Blicke zuwirft, während er sich die Hose herunterzerrt. Er kickt sie zu mir herüber, ich stopfe sie zu den Stiefeln in meinen Rucksack, und während das Mädchen weiter mit der Waffe auf ihn zielt, entfernen wir uns langsam rückwärts von der Lichtung.
Und dann, als wir weit genug weg sind, rennen wir.
Wir klettern über einen Felshaufen, bis wir uns außer Sichtweite befinden, dann schlittern wir die nächste Schlucht hinunter und nehmen den Weg entlang des Gerölls an ihrem Grund, wo nicht die Gefahr besteht, dass wir unerwünschte Fußspuren hinterlassen werden, anhand derer die Plünderer uns verfolgen könnten. Wir rennen, bis meine Lunge brennt, bis mir der Brustkorb weh tut, bis meine Kehle sich zusammenzieht.
Als wir schließlich zu einem Fluss kommen, verlangsamen wir in wortlosem Einvernehmen unser Tempo. Keuchend beuge ich mich vor und stütze mich auf meine Oberschenkel, und das Mädchen lässt sich auf ein Knie herab, um eine Hand ins Wasser zu tauchen und es sich ins Gesicht zu spritzen. Dann wirft sie mir einen langen Seitenblick zu, wobei ihre Augen vor unerwarteter Heiterkeit funkeln. Die Erleichterung platzt als kurzes Auflachen aus mir heraus, was auch sie in Gelächter ausbrechen lässt. Wegen des geringeren Sauerstoffanteils in Gaias Atmosphäre ist Rennen eine ganz schlechte Idee, und das Gekicher trägt nicht zu unserer Erholung bei, während wir unsere Rucksäcke abwerfen und die Spannung langsam nachlässt.
Ich setze mich neben sie, um meine schmerzenden Beine zu schonen, lehne mich zu ihr hinüber und strecke ihr die Hand hin. »Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Wahrscheinlich hast du es noch gehört, bevor die Unannehmlichkeiten anfingen, aber ich bin Jules.« Diesmal lasse ich meinen falschen Nachnamen weg. Die Lüge darin würde sich bei einem Mädchen, das mir gerade das Leben gerettet hat, allzu schmierig anfühlen.
Irgendetwas in meiner Stimme scheint sie zu belustigen, ihre Lippen beginnen zu zucken. »Herrje, Oxford.« Sekundenlang betrachtet sie meine Hand, dann beugt sie sich vor und schüttelt sie langsam, wobei ihre Hand sich in meiner warm anfühlt. »Schön, dich kennenzulernen.«
Ich bemühe mich, meine Überraschung nicht zu zeigen – ich hätte nicht gedacht, dass sie meine Herkunft anhand meines Akzents erraten würde. »Verrätst du mir auch, wie du heißt?«
Irgendwie habe ich den Eindruck, etwas viel Persönlicheres gefragt zu haben, als es meine Absicht war – sie mustert mich gründlich und lässt sich viel Zeit, bevor sie antwortet. »Amelia«, sagt sie schließlich. Hoffentlich bedeutet das Zögern, dass sie beschlossen hat, mich nicht anzulügen. »Mia.«
»Nun, ich stehe in deiner Schuld, Amelia.« Ich frage sie nicht nach ihrem Nachnamen. Meinen erfährt sie schließlich auch nicht.
Sie zuckt mit den Schultern. »Wir können es uns leisten, ein bisschen auszuruhen. Sie werden uns wohl kaum ohne Schuhe verfolgen. Oder ohne Hosen.«
»Könnte es vielleicht sein, dass wir gerade den ersten Raubüberfall in der Geschichte Gaias verübt haben? Na ja, sie haben es als Erste versucht, aber wir waren die, die Erfolg hatten.«
Sie schüttelt nur den Kopf, während sie mich weiter ansieht, die Lippen leicht geöffnet, ihr Atem geht immer noch stoßweise, ihre Haut ist völlig verdreckt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich genauso schlimm aussehe. Die letzten Tage waren furchtbar – das Gesicht meines Vaters auf dem Display bei dem Videoanruf, als er die verschlüsselten Hinweise auf meinen Plan begriff, die Furcht, die in mir selbst aufstieg, als ich das Shuttle nach Gaia betrat, ganz zu schweigen von dem Überfall, dem wir eben knapp entkommen sind – und dennoch kann ich nicht leugnen, dass ich mich im Moment trotz allem überaus lebendig fühle.
In wenigen Augenblicken werden wir unsere Atemgeräte herausholen und unseren Lungen eine Pause gönnen müssen, und nicht zuletzt: einen Plan schmieden, um dieses Fiasko in den Griff zu bekommen. Aber im Moment stehen wir noch unter Adrenalin.
Und was diesen Planeten angeht, bin ich mir zwar noch nicht ganz sicher, aber ich weiß, dass ich dieses Mädchen mag. Keine Expedition zu haben, die auf mich wartet – diesen Schlag muss ich erst mal verdauen. Aber dass ich jemandem über den Weg gelaufen bin, der mir bei meiner Mission helfen könnte … Das ist ein solcher Glücksfall, dass ich Hoffnung schöpfe.
Das Mädchen beäugt mich und kratzt sich mit dem Knauf der Plünderer-Pistole unter dem Kinn. »Oxford?«
»Ja, Amelia?«
»Ich hoffe doch schwer, dass du bei der Schokolade nicht gelogen hast.«
Deus. Ich kann dieses Mädchen wirklich gut leiden.
Trotz der Schusswaffen, trotz des wütenden Gebrülls und der Drohungen in zwei verschiedenen Sprachen, die uns beim Wegrennen verfolgen, trotz der beiden fremden Sonnen, die auf uns und die dünne Atmosphäre runterknallen, bin ich mir nicht ganz sicher, ob der Typ begriffen hat, in welcher Gefahr wir schweben.
Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich es begriffen habe.
Aber als wir weit genug entfernt sind, um stehen zu bleiben und uns eine Verschnaufpause mit den Atemgeräten zu gönnen, grinst er und pfeift zwischen seinen Atemzügen vor sich hin, während er in diesem Monsterrucksack herumwühlt, den er mit sich schleppt, und ein paar Gegenstände auf Beschädigungen überprüft. Wir mussten früher pausieren, als mir lieb war, auch wenn wir weiter gekommen sind als erwartet. Unter diesen nagelneuen Khakihosen ist er besser in Form, als es den Anschein hat.
Ich ziehe meine Sichtbrille wieder herunter und stelle an der Seite eine stärkere Vergrößerung ein, dann suche ich die zerklüftete Schlucht hinter uns ab. Keine Spur von unseren Freunden, aber das muss nicht heißen, dass wir allein sind. Klar, in der Wüste, ganz ohne Deckung, würde man uns leichter sehen. Aber dort wüssten wir auch, ob uns jemand gesehen hat. Hier können wir nie ganz sicher sein, ob wir, verdeckt vom Zickzack der Schlucht, beobachtet werden.
Ich ziehe die Sichtbrille herunter, so dass sie mir um den Hals baumelt, und nehme die Atemmaske vom Gesicht. »Ich muss dann mal los.«
Jules hält inne und schaut zu mir herüber. Er inspiziert gerade eine Handvoll Kieselsteine und dreht sie in seinen Händen hin und her, wobei sein Blick so konzentriert ist, als würde er auf einem Tablet lesen. Als ihm klarwird, was ich gesagt habe, gehen seine Augenbrauen nach oben. »Ich?«, wiederholt er. »Singular?«
Er klingt wie eine Fremdsprachenlektion auf meinem alten Lernbildschirm, dem mit dem Gekritzel und den Schnitzereien der Schüler, die ihn vor mir benutzt haben. Ich blicke noch einmal zu dem Felsgrat hinüber, dann gehe ich in die Hocke, um nicht über ihm aufzuragen. »Klar, wieso nicht? Du musst zu deinen Leuten, und ich mache mein eigenes Ding. Ich bin dir dankbar für deine Hilfe«, füge ich hinzu, »aber jetzt muss ich weiter.«
Jules’ Augenbrauen ziehen sich zusammen – sein Gesicht spiegelt seine Gefühle klar und deutlich wider –, während er sich meine Worte durch den Kopf gehen lässt. »Na ja, ich weiß nicht genau, wo ich jetzt hinmuss«, sagt er. »Das war der einzige Treffpunkt, den ich hatte, und meine Expedition war eindeutig nicht da. Falls du nicht der Meinung bist, dass deine Leute etwas dagegen hätten, könnte ich dich vielleicht zu deiner Expedition begleiten und dort bleiben, bis die Station wieder über uns ist und ich neue Koordinaten anfragen kann?«
Unwillkürlich starre ich ihn an, hin- und hergerissen zwischen Gelächter über die schiere Seltsamkeit dieses höflichen, geschniegelten Typen, der viel besser in eine Bibliothek als in eine Wüste auf einem fremden Planeten passt, und dem Drang, einfach ja zu sagen, nur um noch einmal dieses Wahnsinnslächeln zu Gesicht zu bekommen. Er ist echt charmant. Auf eine Art, bei der man gleichzeitig Angst hat, dass ihm jemand die Birne wegpustet. »Du willst mitkommen, bis du zu Hause anrufen kannst?«
»Ja, wäre das okay für dich?«
Ich zögere und studiere sein Gesicht. Keinerlei Anzeichen von Arglist, und wenn er genügend Grips hätte, um mich hinters Licht zu führen, dann wäre er wohl kaum unbewaffnet in eine Pattsituation gelatscht. Zumindest nicht ohne einen besseren Plan als »den Kerl mit dem Zelt bewusstlos schlagen«.
»Ich habe keine Expedition«, sage ich schließlich. »Ich bin allein.«
»Du bist alleine hier?«
»Allein komme ich schneller vorwärts.« Ich merke selbst, wie unwirsch ich klinge, wie sehr man mir den Ärger über den Umweg anhört, kann aber nichts daran ändern.
Jules blickt wieder zu meinem Rucksack. »Ich verstehe. Fällt dir vielleicht ein Grund ein, weshalb meine Expedition ohne mich losgegangen sein könnte?«
Ja, ungefähr ein Dutzend Gründe, Oxford.
Ich unterdrücke den Impuls und bemühe mich um einen zivilisierten Tonfall. Ich habe dutzendweise Plünderer ausgebootet, um den Job von Mink zu bekommen, mich achtzehn Stunden lang in eine Frachtkiste gequetscht, um mich vor dem Sicherheitsdienst der IA auf dem Shuttle zu verstecken, ich teile mir meine Vorräte an Essen, Wasser, Zeit und Luft sorgfältig ein und hoffe und bete – und dieser Klugscheißer landet hier, obwohl er von nichts eine Ahnung hat. »Zeit ist Geld«, sage ich schließlich. »Und Zeit ist außerdem Sauerstoff. Wahrscheinlich warst du zu spät dran, und sie dachten, du hättest kalte Füße bekommen oder wärst nicht von der Station runtergekommen.«
»Ich war ein bisschen spät dran, aber nur eine Stunde oder so. Eigentlich hätten sie auf mich warten müssen.« Er scheint sich da ziemlich sicher zu sein. »Vielleicht treffe ich sie ja, wenn ich wieder zurückgehe.«
»Wenn sie aufgebrochen sind, kommen sie nicht mehr zurück. Bei dem Wettrennen hier unten zählt eine Stunde gegen die anderen Gruppen mehr als irgendein Engländer mit nagelneuen Stiefeln, ganz egal, wie viel er zahlt.«
Das verdaut er erst mal schweigend, wobei er die fraglichen Stiefel betrachtet. Ich habe keinen Schimmer, wie sich so einer hierher verirrt. Vielleicht ist er ein reicher Privatschüler, der es seinen Eltern mit einer idiotischen – wenn auch mutigen – Spritztour auf die andere Seite der Galaxis mal so richtig zeigen will. Vielleicht hat er sich einen Platz in einer der Plünderergruppen erkauft, und die haben ihm sein Geld abgeknöpft und ihn dann sitzenlassen, damit ihn eine der Patrouillen der IA aufsammelt. Natürlich hat so einer nicht viel zu verlieren. Die Rechtsanwälte, die er sich leisten könnte, würden ihn in Nullkommanichts aus einem Gefängnis der Internationalen Allianz herausholen.
Anstatt aufzubrausen, wie ich es erwartet hätte, oder zu verlangen, dass ich ihm helfe, bleibt er sitzen und mustert den Inhalt seines Rucksacks. Dann hebt er den Kopf und wirft einen Blick über die Schulter, hinunter zur Schlucht, und ganz kurz sehe ich seine Miene – etwas Scharfes liegt darin, etwas Bitteres und zugleich Unerwartetes.
Etwas, das ich aus dem Spiegel kenne: Verzweiflung.
Ich schlucke. »Hey, du wirst schon klarkommen. Du scheinst ja Kohle zu haben. Wenn die Station morgen wieder über uns ist, schickst du einfach ein Signal rauf und buchst den Heimflug.«
»Nein, ich …« Er hält inne und sieht auf. Das leichte, unbeschwerte Lächeln ist aus seinem Gesicht verschwunden. »Ich kann noch nicht weg. Es wird schon irgendwie gehen. Wenn die Expedition weg ist, ziehe ich eben auf eigene Faust los.« Seine Stimme klingt zwar ruhig und entschlossen, aber die Bewegungen, mit denen er seine Sachen wieder in den Rucksack stopft, sind ruppig und abgehackt.
»Hör mal, Oxford, du willst wirklich nicht …«
»Ich kann schon selbst beurteilen, was ich will, vielen Dank.« Die Erwiderung kommt schnell und scharf und zeugt von einem Temperament, das er sich nicht mal hinter vorgehaltener Waffe hat anmerken lassen.
Jetzt werde auch ich sauer und stehe auf. »Na schön. Mach, was du willst.« Ich drehe mich um, stapfe die wenigen Schritte zu meinem eigenen Rucksack hinüber und schwinge ihn mir auf den Rücken. Aber mein Zorn flammt immer nur kurz auf und kühlt schon wieder ab. Als ich mich umsehe, kauert Jules nach wie vor neben seinem riesigen Rucksack und ruft auf einem Gerät, das er am Handgelenk trägt, gerade eine holographische Karte des Geländes auf.
Der Typ wird draufgehen.
Und nicht mal meinem schlimmsten Feind würde ich wünschen, eine Milliarde Lichtjahre von zu Hause entfernt zu sterben, nicht mal den Arschlöchern, die mir meine Sachen klauen und mich dem sicheren Tod überlassen wollten.
»He, Oxford.« Ich hole tief Luft. Ich habe sowieso schon angehalten und Zeit verloren – da kann ich genauso gut meine Mittagspause daraus machen. »Hast du Hunger?«
Jules blinzelt und blickt auf. »Was?«
»Ich habe noch Bohnenkonserven. Also, hast du Hunger?«
Wenn mir ein Fremder etwas anbieten würde, würde ich wahrscheinlich ablehnen, ohne groß nachzudenken. Es würden irgendwelche Bedingungen daran hängen, oder es wäre eine Falle oder ein Spiel, das ich nicht durchschaue. Aber er nickt. »Ja, schon.«
Ich nicke ebenfalls und setze meinen Rucksack ab, um an die Dosen ganz unten heranzukommen. Die müssen sowieso zuerst weg. Sie wiegen viel mehr als das Trockenzeug, aber mit ihnen kann ich den Tag, ab dem alles, was ich esse, an eingeweichtes Hundefutter erinnert, zumindest ein bisschen hinauszögern. Ich krame zwei Dosen heraus und werfe eine davon Jules zu, wobei mir gleich darauf einfällt, dass der Typ vermutlich nicht die besten Reflexe hat. Ich hebe den Kopf, um ihn zu warnen – aber er fängt die Dose geschickt auf, dreht sie um und studiert neugierig das Etikett.
Ich lasse mich auf einen Felsbrocken sinken, beuge mich vor und hole mein Multitool aus der Tasche. Mit ein paar Klicks verstelle ich es etwas nach rechts, betätige dann mit dem Daumen den Auslöser, und ein gezacktes Messer springt hervor. Ich ramme es in die Dose, hebe den Deckel an und löse ihn ab.
»Reich an Proteinen«, bemerkt Jules, der sich doch tatsächlich die Nährwerttabelle durchliest, die auf dem Etikett abgedruckt ist. »Nicht schlecht, wenn auch ein bisschen fad. Fünf Gramm Eiweiß auf hundert Gramm, und die empfohlene Tagesmenge beträgt etwas weniger als ein Gramm pro Kilo Körpergewicht, das wären dann also …« Stirnrunzelnd unterbricht er sich und rechnet nach.
»Ungefähr zehn Prozent meines Tagesbedarfs«, sage ich ohne nachzudenken. »Für dich weniger.«
Er blinzelt, zweifellos überrascht, dass ich rechnen kann, ganz zu schweigen von allen Fähigkeiten, die darüber hinausgehen – seine Miene versetzt mir einen Stich. »Ja«, stimmt er nach kurzem Schweigen zu. »Zehn Prozent. Und was die Wirkung auf den Blutzucker und die darin enthaltenen Vitaminkomplexe betrifft, so …« Er bricht ab, weil ich ihn anstarre.