Achim Peters
mit Sebastian Junge

Mythos Übergewicht

Warum dicke Menschen länger leben

C. Bertelsmann

Abb. 1: »Geburt der Venus« (Ausschnitt)
von Sandro Botticelli (1445–1510)

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1. Auflage
© 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: buxdesign, München
Bildredaktion: Dietlinde Orendi
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-09831-5
V003

www.cbertelsmann.de

Für Marie-Sabine

Inhalt

Vom gesunden Abnehmen und anderen Mythen

Leben dicke Menschen länger?

Das Gewichtsparadoxon – Haben dicke Menschen beim Herzinfarkt bessere Überlebenschancen als dünne?

Unangenehme Frage: Ist Gewichtszunahme überhaupt ein Risikofaktor für die Gesundheit?

Die Suche nach dem versteckten Fehler – welchen Einfluss hat Stress auf das Körpergewicht?

Typ A oder B? – Warum einige Menschen trotz Stress schlank bleiben und warum das aber kein Vorteil ist …

Das hungrige Gehirn

Passiv oder aktiv – ist unser Gehirn eine gute Restaurantchefin?

Zum Glück selbstsüchtig – wie das Gehirn den anderen Organen sagt, was es braucht

Eltern zuerst oder der gesunde Egoismus im Flugzeug

Energie anfordern – klingt einfach, aber wie setzt das Gehirn sich durch?

Ein neues Körperbild – ist dick werden wirklich eine Krankheit?

Fragen und Widersprüche – warum es uns so schwerfällt, dicke Menschen als das zu akzeptieren, was sie sind

Die Theorie vom egoistischen Gehirn entstand, weil ein wichtiges Detail lange übersehen wurde

Notfallplan – wie beschafft sich das Gehirn Zucker, wenn keine Nahrung da ist?

Beipackzettel für Diäten?

Risiken und Nebenwirkungen – brauchen wir eine Kennzeichnungspflicht für Diäten?

Keine Frage der Willensstärke – warum Diäten wirklich scheitern

Cortisol und Stress – was unseren Körper wirklich altern lässt

Bin ich ein gezügelter Esser?

Das Minnesota-Hunger-Experiment – was bei Radikaldiäten im Körper passiert

Abnehmen durch hungern – wie viele Kalorien Diäten konkret verweigern

Gezügelte Esser sind gestresst und hungrig – und das gleichzeitig, jeden Tag

Niemand ist eine Insel

Warum sind so viele Amerikaner dick? Oder was Ungerechtigkeit mit dem Körpergewicht zu tun hat

Raus aus dem Elend – wie ein ungewöhnliches Experiment in den USA bewies, dass Armut dick macht

Macht mich mein Job dick?

Obrigkeitswissen oder Transparenz – wie sich der Kommunikationsstil eines Unternehmens auf den Brain-Pull der Mitarbeiter auswirkt

Schlafen, wach sein und hellwach sein – die drei Stufen der Wachheit

Noch ein doppelter Espresso – oder wenn die biologische Wachheit nicht mehr ausreicht

Was ist passiert, wenn schlanke Menschen einen Bauch bekommen?

Bauch oder Körper – wozu wir zwei ganz unterschiedliche Arten von Fettgewebe brauchen

Mythos Übergewicht – warum die Waage als Indikator eines erhöhten Herz-Kreislauf-Risikos ausgedient hat

Nimm doch endlich ab!

Normal oder diskriminierend? Wie dicke Menschen zu einer unterdrückten Gruppe wurden

Die perfekte Diskriminierung? Wenn sich Opfer selbst anklagen

»Normalgewicht«? Gibt es genauso wenig wie »Übergewicht«

Wenn »Übergewicht« eine Krankheit ist, warum scheitern dann alle Therapien zur Behandlung?

Gewichtsdiskriminierung – in den USA hat sie das Ausmaß der Rassendiskriminierung erreicht

Gleichberechtigung für dicke Menschen: Das sind die Forderungen an die Gesellschaft

Wie lässt sich das komplexe Thema der Gewichtsdiskriminierung abschließend zusammenfassen?

Bariatrische Operationen: Wie ein Eingriff einen dicken Menschen in einen dünnen verwandelt

Ein Akt der Verführung? Wenn Patienten Patienten unterstützen sollen

30 Prozent weniger wiegen und Blutzucker senken – kann eine Magenverkleinerung sogar Diabetes heilen?

Aufklärung durch den Arzt? Wie Behandlungsergebnisse aufpoliert werden

Nach einer derartigen Operation hat das Gehirn noch zwei Möglichkeiten: radikal Energie sparen oder das Stresssystem überlasten

Unterschrift mit Folgen: Wie ein Formblatt aus einem dicken Menschen einen Palliativpatienten machen kann

Kinder zuerst

Je früher die Stressbiografie einsetzt, desto gravierender sind die Auswirkungen

Warum es so wichtig ist, Kindern den Stress zu nehmen, statt sie mit Diäten zu quälen

Was Kinder wirklich brauchen? Entlastung, Entlastung, Entlastung …

Das Leben im Haifischbecken

Wenn Stressoren wie Raubfische agieren, dann leben viele Menschen in einer Art Haifischbecken

Amygdala – der Ort im Gehirn, an dem das Gefühl erzeugt wird, das wir als »Stress« erleben

Gibt es einen Schalter im Gehirn, mit dem sich unsere Stressreaktion an- oder ausknipsen lässt?

Dicke Menschen haben bei Stress einen robusten Hirnstoffwechsel – darin besteht ihr Überlebensvorteil

Wer zu den B-Typen gehört, wird in drei Phasen »dick«

Warum dicke Menschen länger leben als dünne – die wahren Risiken von Stressbelastungen

Von A nach B? Warum können wir Menschen nicht einfach die Seite wechseln?

Macht Kalorienbeschränkung Rhesusaffen jünger? Wie ein Tierexperiment für Aufsehen sorgt

Mehr essen heißt auch mehr zahlen – was kostet es, ein B-Typ zu sein?

Raus aus dem Haifischbecken

Gesundes Abnehmen durch Diät plus Sport? Wie eine ambitionierte Studie abgebrochen werden musste – wegen Nutzlosigkeit

Raus – einfach nur raus …

Wann wird Stress chronisch? Wenn wir gegen unsere tiefen Bedürfnisse handeln oder von ihnen abgehalten werden?

Wer wird zum Räuber, wer zur Beute? Warum in jedem von uns ein Haifisch steckt

Literaturhinweise

Leben dicke Menschen länger?

Das hungrige Gehirn

Beipackzettel für Diäten?

Bin ich ein gezügelter Esser?

Niemand ist eine Insel

Macht mich mein Job dick?

Was ist passiert, wenn schlanke Menschen einen Bauch bekommen?

Nimm doch endlich ab!

Bariatrische Operationen: Wie ein Eingriff einen dicken Menschen in einen dünnen verwandelt

Kinder zuerst

Das Leben ist ein Haifischbecken

Raus aus dem Haifischbecken

Glossar

Danksagung

Register

Bildnachweis

Das vorliegende Buch beruht auf wissenschaftlichen Arbeiten der Klinischen Forschergruppe »Selfish Brain«. Diese wurde 2004 an der Universität zu Lübeck mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingerichtet. Ihr gehören Wissenschaftler aus Hirnforschung, Psychiatrie, Neuroendokrinologie, Innerer Medizin, Pharmakologie, Biochemie, Chemie und Mathematik an. Forschungsergebnisse aus mehr als 12000 Studien wurden bisher in einem interdisziplinären Netzwerk ausgetauscht, bewertet und weitergeführt. Stellvertretend für die vielen Wissenschaftler, ohne deren Unterstützung dieses Buch nie möglich gewesen wäre, möchte ich Mary Dallman (San Francisco), Bruce McEwen (New York), Ron de Kloet (Leiden), Luc Pellerin (Lausanne), Dirk Langemann (Braunschweig), Dennis Baskin (Seattle) und Steve Woods (Cincinnati) an dieser Stelle herzlich danken.

»Die Irrtümer der Ärzte sind ohne Zahl.
Gewöhnlich sind sie zu optimistisch mit Bezug
auf die Diät des Kranken, zu pessimistisch aber,
was den Ausgang des Leidens betrifft.«

MARCEL PROUST

Vom gesunden Abnehmen und anderen Mythen

Gibt man bei einem bekannten Onlinehändler das Suchwort »Diät« ein, erscheint auf dem Bildschirm folgende Information: 17171 Ergebnisse – so der Stand vom 7. Januar 2013. Es sind, wenn man nur in der Rubrik »Bücher« sucht, allein in deutscher Sprache fast 10000 Buchtitel erhältlich, in denen es ums Abnehmen geht. Nehmen wir an, jedes dieser Werke hat einen Umfang von 200 Seiten, dann ergibt das rund 200 Regalmeter Abnehmliteratur. So viel Lesestoff für einen simplen Lösungsansatz, der in endlosen Varianten von fast allen Autoren wiederholt wird: Wer mehr isst, wird dick, wer am Essen spart, wird dünn. Auf diesen einfachen Nenner lässt sich der Inhalt der meisten Diätratgeber bringen. Egal, ob Fette, Eiweiße oder Kohlenhydrate reduziert werden sollen oder ob statt eines Kalorienrechners den Lesern ein Punktesystem als Kontrollinstrument an die Hand gegeben wird – letztlich geht es bei jedem Diätprogramm um eine künstliche Beschränkung des Angebotes an Nahrungsenergie. Klingt ja auch logisch: Wer weniger isst, bleibt länger schlank. Aber wenn die Lösung des Problems mit dem Gewicht so einfach ist, warum dann so viele Bücher zum Thema? Ganz offenbar, weil das Problem des Abnehmens trotz der vielen Diätkonzepte in etwa so unlösbar erscheint wie das des Klimawandels (wobei das Lese-Interesse an Schlankheitsthemen offenbar deutlich größer ist; zum Klimawandel hat der Online-Buchhändler nämlich lediglich rund 2700 Titel im Angebot). Anders ausgedrückt: Dass so viele Bücher übers Abnehmen geschrieben, verlegt und gekauft werden, lässt zwei Schlüsse zu: Erstens – die Sehnsucht abzunehmen ist riesig; und zweitens – Diätbücher sind dabei offenbar keine große Hilfe. Diätliteratur bedient lediglich die Sehnsucht vieler Menschen, den eigenen Körper zu verändern, mittels der Illusion, dass dies mit Hilfe des Buchs, das man gerade gekauft hat, gelingen kann. Dass Diäten und Diätbücher eine sinnvolle Strategie darstellen, um das Körpergewicht in eine gewünschte Balance zu bringen, ist einer der Mythen, die sich ums Abnehmen ranken und um die es in diesem Buch geht.

Man kann im Zusammenhang mit Diäten und der dazugehörigen Literatur durchaus auch von einer Art Konditionierung sprechen: Kaum annonciert ein Autor eine neue, interessant und vielversprechend klingende Diät, greifen wir reflexartig zu, in der Hoffnung, dieses Mal die richtige Methode zu bekommen. In diesem Dickicht der Diäten und Ratgeber haben die meisten Menschen – so scheint es – längst den Durchblick verloren. Statt nach Ursachen fürs Dickwerden zu forschen, wollen alle das schnelle Patentrezept. Statt die richtigen Fragen überhaupt erst zu stellen, zählt offenbar nur eines: Antworten – und die möglichst schnell und einfach.

Wahrscheinlich ist spätestens nach diesen einleitenden Sätzen allen Lesern klar, dass dieses Buch kein Diät-Ratgeber ist. Wer darauf hofft, hier die eine schnelle, gesunde und nachhaltige Abnehmstrategie zu finden, den muss ich enttäuschen. Denn die Wahrheit ist – so betrüblich das sein mag –, einen schnellen und einfachen, gesunden und somit ungefährlichen Weg zum Dünnerwerden und Dünnerbleiben gibt es nicht, und wer ihn dennoch verspricht, verschweigt die Wahrheit.

Lohnt es sich jetzt überhaupt weiterzulesen? Ja – jedenfalls für jeden, der seinen Blick weiten und wissen möchte, was dahintersteckt, wenn sich das eigene Körpergewicht verändert, warum manche dick werden und andere schlank bleiben. Wer weiterliest, wird neue und durch aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung untermauerte Antworten auf diese Fragen finden.

Die Antworten sind allerdings nicht nur erhellend, sondern auch unbequem: Sie zerstören die Vorstellung, dass Abnehmen nur eine Frage von Disziplin und Willensanstrengung ist. Sie machen deutlich, dass Ärzte jeden Tag Patienten aufgrund ihres Gewichts falsch behandeln – und dass diese Patienten millionenfach unsinnige Medikamente einnehmen, die nicht nur teuer sind, sondern auch der Gesundheit schaden können. Sie verdeutlichen, dass Diäten und Diätprodukte ein Milliardengeschäft sind – fragwürdig, gesundheitsschädlich und gefährlich. Wer diese Abnehmhilfen anwendet, nimmt – unwissentlich – Risiken in Kauf, die so lebensverkürzend sein können wie Rauchen oder exzessiver Alkoholkonsum.

Es gilt allerdings auch endlich die Frage zu klären, wer die weltweit epidemische Gewichtsproblematik zu verantworten hat. Welche Rolle Ernährungsindustrie und Pharmakonzerne spielen, welche das Gesundheitswesen und inwiefern wir alle Verantwortung tragen. Denn, auch das zeigen neue wissenschaftliche Studien, Gewichtszunahme ist vor allem ein gesellschaftliches Problem. Menschen werden dick, weil sie arm sind oder sich vor Armut fürchten, weil sie Angst um ihre Jobs haben oder weil ihnen das Familienleben, die Kindererziehung mit endlosen Kämpfen über den Kopf wächst. Weil sie einsam und isoliert leben oder weil sie sich von ihren Kollegen gemobbt fühlen; weil Partnerschaften zerbrechen, Mütter mit Kindern allein zurückbleiben und weil niemand da ist, der diese Mütter auffängt, die nicht wissen, wie man den täglichen Konflikt zwischen elterlicher Fürsorge und der Verpflichtung, Geld zu verdienen, lösen soll. Weil im Beruf immer mehr verlangt wird und man sich überlastet fühlt, aber Angst hat, nein zu sagen, aus Sorge, den Job zu verlieren, oder weil in der Familie eine schwere Erkrankung auftritt – wie Alzheimer, Depression oder eine Alkoholabhängigkeit. Ein chronisch krankes Familienmitglied belastet die ganze Familie stark – seelisch und körperlich.

All diese Faktoren und Lebensumstände, so verschieden sie auch sein mögen, haben etwas gemeinsam: Sie erzeugen psychosozialen Stress – und das ist neben traumatischen Erlebnissen die schwerste Form von Belastung für unser Stresssystem. Psychosozial stressig wird es immer dann, wenn uns der Umgang mit anderen Menschen in ein emotionales Krisengebiet führt. Das können ungelöste Konflikte in Partnerschaften sein, zwischen Kindern und Eltern; oder die Erfahrung, plötzlich vom Partner verlassen zu werden, Probleme am Arbeitsplatz zu haben, mit Kollegen, mit Vorgesetzten. Diese psychosozialen Stressoren können jedem von uns begegnen, jeden Tag. Und oft wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen. Was wir tun können, um diesen bedrängenden und belastenden Kräften entgegenzuwirken. Ein wesentlicher, aber bisher kaum beachteter Aspekt in diesem Zusammenhang ist der Einfluss psychosozialer Stressoren auf die Energieversorgung unseres Gehirns, auf unser Essverhalten und unser Gewicht.

Dass Stress Einfluss auf das Körpergewicht ausübt, ist grundsätzlich keine neue Erkenntnis. Neu ist aber das Wissen, dass sich unsere menschliche Erscheinungsform wandeln kann, sobald wir in eine stressvoll-unsichere und gefährliche Umgebung geraten, und dass es sich dabei um ein grundlegendes biologisches Prinzip handelt, welches sich nicht nur beim Menschen, sondern im gesamten Tierreich – vom Wasserfloh bis zum Elefanten – wiederfindet. Und neu ist damit, dass es sich bei Stress nicht um eine, sondern um d i e Ursache für Gewichtszunahme handelt. Bis auf ganz wenige klinische Ausnahmen gilt: Jeder Mensch, der dick wird, ist stressbelastet – sei es psychosozial oder durch eine Erkrankung, die den Körper belastet. Und frage ich einen dicken Menschen nach seiner Last, die er zu tragen hat, so wissen die meisten diese zu benennen oder ahnen zumindest, was sie drückt. Physiologisch betrachtet bedeutet dies: Das Stresssystem dieses Menschen ist von normal aktiv in den Zustand hochaktiv geraten, entweder kurzandauernd-traumatisch oder langandauernd-zermürbend – für Monate oder sogar Jahre. Die Gewichtszunahme ist nichts anderes als eine Folge dieser Überbeanspruchung des Stresssystems.

Es bedarf aber keines großen Lebensdramas, um das Stresssystem eines Menschen so zu überlasten, dass daraus ein hohes Körpergewicht entsteht. Vermeintlich kleinere (oder verborgene) Konfliktherde können eine ebenso verheerende Wirkung haben wie große, dramatische Stressereignisse. Tatsache ist: Psychosozialer Stress birgt das Risiko, dick zu machen – das konnte in den Studien der Selfish-Brain-Forschung, um die es hier in diesem Buch gehen wird, nachgewiesen werden. Anders gesagt: Dick wird niemand von alleine. Gewichtszunahme hat damit zu tun, dass sich unser soziales Ich verstrickt hat. Wie bei einem Knäuel verknüpfen, verheddern und verwirren sich manchmal unsere Lebensfäden mit denen der Menschen, die uns nahestehen. Eine Reaktionsmöglichkeit besteht darin, diesen Zustand zu verdrängen, eine andere, sich damit abzufinden, dass es ist, wie es ist. Doch weder Verdrängung noch stoisches Aushalten rühren am Kern des Problems, und wir können sicher sein, dass unser Stresssystem uns immer wieder daran erinnern wird. Ungelöste Konflikte lösen sich nicht von allein auf.

Unser Stressmanagement und unser Körpergewicht hängen also zusammen, jede Veränderung im einen Bereich wird sich auch auf den anderen auswirken – im positiven wie im negativen Sinne. Diese Erkenntnis ist von elementarer Wichtigkeit; sie ist nicht veränderbar oder relativierbar. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Jeder Versuch, mein Körpergewicht zu verändern, jede Diät, jedes Abnehmprogramm und jede Magenoperation nimmt auch Einfluss auf mein Stresssystem.

Wenn wir einen Menschen fragen, warum er unbedingt abnehmen will, wird er wahrscheinlich ästhetische oder gesundheitliche Gründe anführen oder beides. Mit dem Wunsch nach Schlankheit folgen wir also einerseits den Empfehlungen von Gesundheitsexperten und andererseits einem modischen Schönheitsideal. Interessanterweise gibt es kaum jemanden, der weder das eine noch das andere in Frage stellt. Warum eigentlich?

Leben dicke Menschen länger?

Wer die schönste Frau der Renaissance besuchen möchte, muss nach Florenz reisen, begibt sich am besten direkt in die Via della Ninna 5. Hinter dieser Adresse verbirgt sich die Galeria degli Uffizi – eines der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. Die dritte Etage des Gebäudes ist Werken der italienischen Renaissance-Malerei vorbehalten. Dort befindet sich eines der anmutigsten Frauenbildnisse, das je gemalt wurde: Im Format 172,5 cm mal 278,8 cm wird der Betrachter Augenzeuge der Geburt der Venus. Sandro Botticelli hielt diesen Moment 1485 für die folgenden Jahrhunderte fest und schuf mit seinem Gemälde eine der bedeutendsten Ikonen weiblicher Schönheit in der Kunstgeschichte des Abendlandes: In einer Muschel stehend, lässt sich Venus von göttlichem Atem ans Ufer wehen, um dort in Empfang genommen zu werden. Botticelli stellt die Grazie einer Göttin in Gestalt des nackten Körpers einer jungen Frau dar. Ohne Zweifel, diese Venus spiegelt das Ideal weiblicher Schönheit in der Renaissance wider; aber mehr noch, sie prägte ein Schönheitsideal weit über die Epoche hinaus.

Schauen wir uns dieses Idealbild einmal etwas genauer an: Die Venus des Sandro Botticelli ist nicht dick, verfügt aber auch nicht über das, was wir im 21. Jahrhundert unter einer gertenschlanken Figur verstehen würden. Ihre Hüften sind zu rundlich und ausladend, ihr Bauch wölbt sich, Oberarme und Oberschenkel würde man heute, freundlich formuliert, als etwas »moppelig« bezeichnen. Botticelli und seine Zeitgenossen hätten diese Kritik wahrscheinlich anmaßend und unverständlich gefunden. Für sie verkörperte dieses Traumbild einer Frau überirdische Schönheit – ganz sicher aber auch Sinnlichkeit und Gesundheit. Eine deutlich schlankere Frau wäre den Menschen der Renaissance wohl abgehärmt und ausgehungert, also in ihrer Vorstellung eher ungesund erschienen.

Lassen Sie uns an dieser Stelle gemeinsam ein Gedankenspiel versuchen: Was wäre, wenn sich Botticellis Venus – ins Jahr 2013 katapultiert und durch ein Wunder zum Leben erweckt – als junge Frau bei einer Model-Agentur bewerben würde? Die Agenten würden sich ihre Figur kritisch anschauen und der Venus in etwa sagen: »Du hast eine ganz tolle Ausstrahlung, aber du musst mindestens 10 Kilo abnehmen, dann hast du beim nächsten Casting eine reelle Chance …« Nehmen wir weiterhin an, die Venus ist 19 Jahre alt und 1,75 Meter groß (um den Mindestanforderungen fürs Modeln zu entsprechen) – dann hätte sie bei ihrer Statur ein Körpergewicht von geschätzt 77 Kilo. Wenn wir jetzt also anhand dieser Masse den Body Mass Index (BMI)1 von Botticellis Venus berechnen, kämen wir auf einen Wert von 25.

Der BMI ist heute medizinisch die relevante Größe, um Körpergewicht in ein Verhältnis zu Gesundheitsrisiken zu stellen; zu hohe oder zu niedrige BMI-Werte werden als gefährlich eingestuft. Für eine 19-jährige Frau gilt nach der heutigen »Klassifikation« ein BMI von 20 bis 25 als normal gesund. Der BMI der Venus liegt nach dieser Einstufung also genau auf der Grenze zwischen »normal« und »krank«. BMI 25, das ist zwar noch keine Adipositas (BMI größer als 30), aber immerhin würden manche Ärzte schon von leichtem »Übergewicht« sprechen. Da die Venus noch sehr jung ist, würden sie Bedenken äußern, dass sie in späteren Jahren an Gewicht zunehmen könnte. Spätestens dann würde auch der Hausarzt ihr empfehlen, etwas abzunehmen. Denn dick zu sein, gilt nicht nur als wenig attraktiv, sondern auch als gesundheitsgefährdend. Doch stimmt das überhaupt? In der Intensivmedizin haben viele Ärzte an dieser Art der Risikobewertung schon lange erhebliche Zweifel.

Das Gewichtsparadoxon – Haben dicke Menschen beim Herzinfarkt bessere Überlebenschancen als dünne?

Jörg P. hat einen Body Mass Index von 23, bei einer Körpergröße von 1,81 Meter wiegt er 75 Kilogramm. Sein Gewicht hat er seit Jahren gehalten, obwohl sein Bauch etwas gewachsen ist. Dafür sind seine Arme und Beine weniger muskulös als früher. Auch fühlt sich die Haut dünner an. Doch insgesamt wirkt seine äußere Erscheinung schlank, und der Hausarzt bescheinigt ihm eine gute körperliche Verfassung. Erst vor Kurzem wurden P.’s Blutwerte im Rahmen einer ärztlichen Routine-Untersuchung bestimmt. Alle sind unauffällig: Leber, Blutzucker, Entzündungsmarker – alles im grünen Bereich. Lediglich das Cholesterin ist leicht erhöht, aber nicht bedenklich. Sein leicht erhöhter Blutdruck ist mit einem medikamentösen Blutdrucksenker sehr gut eingestellt. P. raucht nicht, trinkt nur mäßig Alkohol und absolviert dreimal pro Woche sein Lauftraining. Das ist ihm als Ausgleich wichtig, weil er in seinem Job als Leiter einer Berufsschule sehr eingespannt ist und auch das Familienleben mit zwei Kindern im Jugendlichenalter ihn viel Energie kostet. Müsste Jörg P. ein Protokoll seines täglichen Befindens anfertigen, würden darin Sätze stehen wie: »Ich habe das Gefühl, den ganzen Tag unter Strom zu stehen. Abends fühle ich mich müde und erschöpft. Ich grüble viel und wälze Probleme, deren Lösung mir schwer vorstellbar erscheint.« Vor drei Wochen wurde Jörg P. 51 Jahre alt – jetzt befindet er sich auf einer Trage in einem Notarztwagen. Verdacht auf Herzinfarkt. Es ist sein erster, doch der wird von den behandelnden Ärzten in der Notaufnahme der Uniklinik gleich als besonders schwer erkannt. P. wird auf die Intensivstation verlegt und sofort mit einem Herzkatheter-Eingriff behandelt. Er liegt in einem Zimmer mit Sven Z., der am Morgen desselben Tages eingeliefert worden ist – ebenfalls mit einem Herzinfarkt. Auch Z. ist 51, doch sein Body Mass Index beträgt 32. Er ist 1,76 Meter groß, wiegt 99 Kilo. Sein Arzt hatte ihn bereits mit 35 Jahren vor den Folgerisiken seines Körpergewichts für Herz und Gefäße gewarnt. Z. ist aber dick geblieben. Jetzt fürchtet er um sein Leben. Doch bereits Stunden später können die Ärzte Entwarnung geben, und fünf Tage später kann Sven Z. die Intensivstation verlassen. Er beginnt bald danach eine Reha-Maßnahme. Sein Herz hat sich vom Infarkt einigermaßen erholt und ist stabil. Jörg P., der schlanke Mann, der am gleichen Tag wie Sven Z. ins Krankenhaus kam, hat es hingegen nicht geschafft. Er ist noch in derselben Nacht auf der Intensivstation gestorben.

Fallgeschichten wie diese ereignen sich täglich in deutschen Kliniken. Immerhin erleiden in Deutschland jährlich etwa 280000 Menschen einen Herzinfarkt – Frauen und Männer, dicke Menschen und dünne. Und doch wirken die Verläufe der Erkrankungen bei Jörg P. und bei Sven Z. irritierend. Dass Sven Z. wahrscheinlich eines Tages einen Infarkt erleiden würde, hat ihm der Arzt lange vorher angekündigt. Doch Jörg P.? Schlank und sportlich, zählte er eigentlich gar nicht zur Risikogruppe – und doch hat er nicht nur im gleichen Alter wie Sven Z. einen Infarkt erlitten, sondern ist sogar daran gestorben. Und das ist keineswegs ein ungewöhnlicher Einzelfall.

Unangenehme Frage: Ist Gewichtszunahme überhaupt ein Risikofaktor für die Gesundheit?

Um die Jahrtausendwende begannen Nierenspezialisten, weltweit über ein Phänomen zu diskutieren, dem sie die Bezeichnung »Gewichtsparadoxon« gaben. Ihnen war aufgefallen, dass – wider Erwarten – dicke Patienten, die mit Hilfe der »künstlichen Niere« (Dialyse) dauerhaft behandelt wurden, deutlich bessere Überlebenschancen haben als dünne. Schnell stellte sich heraus, dass diese Beobachtung nicht nur für Erkrankungen wie Nierenversagen gilt, sondern auch für Schlaganfälle oder Hirnblutungen, Herzinfarkte, Herzschwäche, Lungenversagen, Leberversagen, Blutvergiftungen und Typ 2 Diabetes mellitus. Bis heute wurde das Phänomen in zahlreichen Studien untersucht, die die Vermutung der Nierenspezialisten bestätigten: Unabhängig von der Erkrankung, sei es Herzinfarkt oder Schlaganfall, haben dicke Patienten im akuten Fall ein deutlich niedrigeres Sterberisiko als dünne. Aber warum?

Eine plausible Antwort wurde zunächst nicht gefunden. Anfängliche Vermutungen, unerkannte Krebserkrankungen, Rauchen oder der Schweregrad der Erkrankung könnten eine Rolle spielen und die Statistik gewissermaßen »verfälschen«, bestätigten sich nicht. Der Verdacht, dass Patienten mit einem unauffälligen Gewicht im Fall einer akuten Herzerkrankung wesentlich gefährdeter sind, erhärtete sich – und grundlegende medizinische Lehrsätze waren plötzlich in Frage gestellt:

Haben dicke Menschen tatsächlich ein erhöhtes Infarktrisiko – oder ist ein hohes Körpergewicht unter bestimmten Umständen sogar ein Schutz vor dieser Erkrankung?

Werden bei Routine-Untersuchungen die richtigen Werte bestimmt, um ein aussagekräftiges Profil der Herzgesundheit zu erstellen, oder wird ein entscheidender Risikofaktor übersehen?

Was ist mit der Empfehlung, abzunehmen, um die Gefahr von Herz- und Gefäßverkalkungen zu senken – oder verschärfen Diäten sogar das Risiko, ernsthaft zu erkranken?

Ich werde im Folgenden detailliert auf diese Kernfragen eingehen. Zunächst möchte ich aber noch einmal verdeutlichen, wie bis heute im Gesundheitswesen dicke Menschen häufig beurteilt und behandelt werden: Die anerkannte medizinische Lehrmeinung stuft so genanntes »Übergewicht« als Risikofaktor für unter anderem folgende Erkrankungen ein:

Als therapeutische Empfehlung der ersten Wahl gilt: Gewichtsreduktion – das heißt in der Praxis für den Patienten, er ist angehalten, sich einer Ernährungsumstellung, Sport oder einer kalorienreduzierenden Diät zu unterziehen. Durchs Abnehmen soll ein starkgewichtiger Körper nicht nur schlanker, sondern auch gesünder werden. Das wird von vielen Ärzten und Ernährungswissenschaftlern als wissenschaftlich gesicherte Tatsache ausgegeben. Doch die Faktenlage ist keineswegs so eindeutig, wie behauptet wird. Im Gegenteil. Es handelt sich lediglich um eine Vermutung, für die es keinen Beweis in der wissenschaftlichen Literatur gibt. Auf dieser Vermutung basieren aber seit Jahrzehnten Diagnosen und Therapien für Menschen mit einem hohen Body Mass Index, denen Ärzte dringend raten, ihr Gewicht zu reduzieren. Doch das Bild vom »kranken« Dicken und seinem Gegenbild, dem »gesunden« Schlanken, passt nicht zu den Beobachtungen des Gewichtsparadoxons. Und mit jeder weiteren Studie, die die Relevanz des Gewichtsparadoxons bekräftigt, verstärkt sich der Verdacht, dass hier etwas grundsätzlich nicht stimmen kann.

Die Suche nach dem versteckten Fehler – welchen Einfluss hat Stress auf das Körpergewicht?

Während es in der Wissenschaft jede neue Theorie schwer hat, sich durchzusetzen, und peinlich genau auf etwaige Fehler in der Beweisführung untersucht wird, verhält es sich bei etablierten Erkenntnissen konträr: Etwas, das sich anscheinend bewährt hat und allgemein anerkannt ist, erscheint zunächst über jeden Zweifel erhaben. Dennoch ist es natürlich nie ausgeschlossen, dass sich innerhalb eines vermeintlich funktionierenden Systems ein Rechenfehler eingeschlichen hat, der das Ergebnis maßgeblich beeinflusst, ohne sofort erkannt zu werden. Und es ist charakteristisch für einen derartigen Fehler, dass er zunächst kaum auffällt und immer schwieriger zu finden ist, je weiter die Sache fortschreitet. Bauingenieure wissen um die Tücke von Rechenfehlern und fürchten sie. Aus diesem Grund werden statische Berechnungen immer wieder überprüft. Erweist sich dabei eine komplexe Berechnung, wie zum Beispiel die Statik einer Brückenkonstruktion, als fehlerhaft, stehen die Ingenieure vor zwei Problemen:

  1. Jeder noch so kleine Rechenfehler wird in seinen Auswirkungen immer gravierender, je mehr Berechnungen erfolgen. Denn Fehler schreiben sich fort, wenn sie nicht korrigiert werden.
  2. Die Suche mach dem Ursprungsfehler ist oft langwierig und kann dazu führen, dass die gesamte Berechnung in Frage gestellt und komplett neu gemacht werden muss.

Nehmen wir also an, dass die Schwierigkeiten beim Verständnis des Gewichtsparadoxon auf einem bisher unbekannten »Rechenfehler« beziehungsweise einer falschen Annahme beruhen, macht es dann nicht Sinn, alles, was wir über die Veränderungen von Körpergewicht beim Menschen zu wissen glauben, in Frage zu stellen und neu zu untersuchen?

Genau diesen Ansatz verfolgen Stressforscher schon seit einigen Jahren. Seltsamerweise finden Ergebnisse aus der Stressforschung aber nur sehr langsam Berücksichtigung in der Humanmedizin, obwohl immer deutlicher wird, dass der Zustand unseres Stresssystems eine wichtige Rolle für die Gesundheit spielt. Stressforscher wie Bruce McEwen von der Rockefeller University New York beschäftigen sich in diesem Zusammenhang seit vielen Jahren intensiv mit dem Botenstoff Cortisol. Dieses Hormon wird umso mehr aus den Nebennieren ins Blut freigesetzt, je mehr unser Stresssystem aktiviert ist. Cortisol entfaltet zahlreiche Wirkungen im Körper; eine seiner Hauptaufgaben ist es jedoch, auf das Gehirn dämpfend zu wirken, wenn wir unter Stress stehen. Sein Bestreben geht dahin, das hochaktive Stresssystem – etwa nach einem Streit, einer Prüfungssituation oder anderen belastenden Situation – abzubremsen und wieder in seine Ruhelage zu bringen. Normalerweise gelingt das auch. Bei Menschen, deren Stresssystem aber ständig beansprucht wird – das können zum Beispiel ungelöste Konflikte am Arbeitsplatz oder in der Partnerschaft sein (Forscher sprechen von psychosozialem Stress) –, steht das Cortisol permanent auf der Bremse wie der Fahrer eines Autos, das über einen langen Gebirgspass bergab rollt. Er hat keine andere Wahl, als zu bremsen, aber er muss befürchten, dass die Bremse dabei heiß läuft und er das wachsende Tempo der Talfahrt nicht mehr kontrollieren kann. Wenn also über einen längeren Zeitraum die Cortisolwerte eines Menschen erhöht sind (eine Reihe von Blutuntersuchungen würden hierüber Aufschluss geben), lautet die medizinische Diagnose: chronischer Stress; und der hat Folgen. Permanent erhöhte Cortisolwerte wirken wie ein durchgetretenes Bremspedal auf das Stresssystem, und dieser zermürbende, nicht kontrollierbare Stresszustand führt zu Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen, beschleunigt die Alterung des Körpergewebes – also den Verschleiß. In der Stressforschung ist dieser Zusammenhang schon seit Längerem bekannt und gut untersucht. Ungeklärt war bisher aber die Frage, wie stark sich der Verschleiß durch ein langandauernd überaktives Stresssystem auf unser gesamtes Leben und unsere Gesundheit auswirken kann. Anders gefragt: Wie tödlich kann der Langzeitzustand mit hohem Cortisol sein? Vor Kurzem wurde in einer britischen und einer niederländischen Langzeitstudie erstmals gezeigt, dass erhöhtes Cortisol tatsächlich das Risiko einer verkürzten Lebensdauer anzeigt. Schon länger nahmen Wissenschaftler an, dass Menschen, die ständig unter Stress stehen, früher sterben – jetzt ist diese Vermutung mit entscheidenden Belegen bestätigt geworden.

Typ A oder B? – Warum einige Menschen trotz Stress schlank bleiben und warum das aber kein Vorteil ist …

Wenn also ein Dauerzustand mit hohem Cortisol eine derartige Belastung für den Körper ist, wie geht dieser damit um? Auch dieser Frage sind Stressforscher nachgegangen und auf eine interessante Antwort gestoßen. Es gibt nämlich zwei Wege, auf dauerhafte Stressbelastungen zu reagieren; Stressforscher sprechen von Typen, die sich in ihrer genetischen Veranlagung unterscheiden: Der eine Typ – wir nennen ihn »A« – hat eine geringe Plastizität seines Stresssystems – es ist nur sehr eingeschränkt anpassungsfähig. Sein Stresssystem ist in sicherer übersichtlicher Umgebung hochreaktiv und spricht auf psychosoziale Stressoren sehr empfindlich an, und es bleibt immerfort hochreaktiv, auch beim Wechsel in eine stressvoll-gefährliche Umgebung – was dazu führt, dass unter solchen schlecht vorhersehbaren Lebensumständen das Cortisol im Blut anhaltend erhöht ist. Menschen vom Typ A stehen also immer dann »unter Strom«, wenn ihnen viel abverlangt wird. Sie können ihren Stress nicht dämpfen oder kanalisieren. Ihr Stresssystem versetzt sie in Unruhe und Angst. Jörg P., der schlanke Mann, der am Infarkt starb, ist ein klassischer Vertreter des Typs A.

Typ B hat dagegen ein Stresssystem mit ausgeprägter Plastizität – so wie Sven Z. Solange diese Menschen sich in sicherer Umgebung befinden, geht es ihnen wie Typ A – sie sind hochreaktiv. In stressvoller Umgebung zeigen Menschen vom Typ B zunächst auch erhöhtes Cortisol im Blut. Aber nach einiger Zeit – nach Monaten oder wenigen Jahren – tritt bei ihnen ein Anpassungsprozess ein. Sie finden einen Weg, das Stresssystem zu dämpfen; es wird also niedrigreaktiv. Selbst bei einem langandauernden Aufenthalt in stressvoller Umgebung normalisiert sich bei Menschen dieses Typs der Cortisolspiegel. Einen Haken hat die Sache: Menschen vom Typ B können unter chronischem Stress zwar ihren Cortisolwert absenken, nehmen aber an Gewicht zu – während die gestressten A-Typen schlank bleiben. Warum?

Abb. 2: Die Gabelung des Lebens
Unabhängig zu welchem Stresstyp man gehört – der Body Mass Index (BMI) bleibt stabil, so lange der Mensch sich in einer sicheren Umgebung befindet. Gerät er in eine stressvolle Umgebung, hängt sein weiterer BMI-Verlauf von seiner genetischen Veranlagung ab. Typ-A-Menschen nehmen ab, Typ-B-Menschen nehmen an Gewicht zu. Die in diesem Diagramm dargestellte Verzweigung nennt man in der Mathematik »Bifurkation«, was frei übersetzt »Gabel mit zwei Zinken« bedeutet

BMI

Kehren wir noch einmal zu Botticellis Venus zurück. Wie gesagt: Nach der derzeit gültigen medizinischen Beurteilung befindet sie sich an der Grenze zum riskanten »Übergewicht«. Doch die Einsichten der Hirn- und Stressforschung zum Gewichtsparadoxon – die sich auf den unterschiedlichen Wandlungsfähigkeiten der A- und B-Typen beim Wechsel von einer stressfreien in eine stressvolle Umgebung begründen – zeigen uns, dass Botticelli und seine Zeitgenossen recht hatten: Als Bewohnerin himmlischer Sphären – also frei von irdischen Sorgen – hätte die Venus mit einem BMI von 25 optimale Aussichten auf ein langes und gesundes Lebens – ganz so, wie es einer Göttin gebührt, die uns Sterblichen ein Beispiel an Schönheit, Anmut und Gesundheit sein will.

Diesem Ideal des natürlich geformten Körpers, das noch in der Renaissance als schön galt, stellen wir heute den künstlich verschlankten Körper als Schönheitsmaßstab entgegen. Bei diesen diametral entgegengesetzten Schönheitskonzepten geht es aber nicht nur um einen Wettstreit der Ideale. Sie beinhalten auch eine Umkehrung des Verursacherprinzips: Während das so genannte »Body Shaping« mit Willensanstrengungen, Diäten und anderen Hilfsstrategien den Körper auf schlank trimmt, feiert das Schönheitsideal der Körperrundungen das Aussehen, das den Bedürfnissen von Körper und Geist entspricht. Und das ist nicht nur so dahingesagt. Tatsächlich ist es das Gehirn, das mit seinen Ansprüchen unseren Körper formt und dessen Bedürfnisse wir unterlaufen, wenn wir uns dazu entschließen, dünner werden zu wollen. Um diese Bedürfnisse und was damit zusammenhängt, besser zu verstehen (und es ist für unsere Gesundheit enorm wichtig, dass wir sie besser verstehen), sollten wir uns direkt an den Ort des Geschehens begeben – ins Gehirn.

1 Formel zur Berechnung:
Body Mass Index = Körpermasse in Kilogramm/(Körpergröße in Metern)2