Das Buch
Aus Preston ist ein Schüler der Nomendi geworden. Zusammen mit seinem Lehrmeister Amil, seinem besten Freund Trantin und weiteren Gefährten begibt er sich auf eine Reise, um sein Schicksal zu erfüllen. Gleichzeitig schickt der dunkle Herrscher seinen Diener Garthoas aus, um ein fast vergessenes Artefakt zu finden.
Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt...
Der Autor
Cedrik Ferner wurde 1990 im Ruhrgebiet geboren und verschlang schon als Kind Geschichten, wie andere ihre Süßigkeiten. Mit der Veröffentlichung seines zweiten Romans Dichter Nebel wird die Araquest Reihe mit Band II weitergeführt.
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Copyright © 2022 Cedrik Ferner
1. Auflage 2022
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Lektorat: http://www.dualect.de/
Covergestaltung: Copyright © 2022 Nadine Ferner
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7562-7745-2
Prolog
Der Reiter bewegte sich gemächlich den schmalen Kiesweg entlang, an dessen Seiten sich hohes Gras in einer sanften Brise wiegte. Schweiß lief ihm über das Gesicht und tränkte seine Kleidung. Die Sonne stand hoch am Himmel und schickte ihre erbarmungslosen Strahlen auf die Erde hinab, deren Wärme durch das dicke Leder drang, das er am Leibe trug. Sein Schild war mit einem langen Gurt an der Seite seines Tieres befestigt. Es war ein abgenutzter alter Schild aus Eichenholz mit dem Bild einer Sichel auf grünem Grund. Sein Schwert hing locker am Gürtel.
Das Pferd zeigte ebenfalls Anzeichen der Erschöpfung, die nicht nur von der Hitze kam. Schon seit Stunden hatte es ihn nach Westen getragen – vorbei an vereinsamten Gehöften und grünen Feldern, an verlassenen Häusern und alten, einsamen Bäumen, die sich teils wie Wächter in der flachen Landschaft erhoben.
Er suchte nach auffälligen Veränderungen in der Region, einem Zeichen, das ihm etwas sagen würde. Doch er fand nur Leere und Einsamkeit.
Brandir strich mit der Handfläche über den Hals des Pferdes, spürte den feuchten Schweiß auf dem Fell und entschied, dass es an der Zeit war, eine Pause einzulegen.
Am nächstgelegenen, verlassenen Gehöft machte er Halt und stieg aus dem Sattel. Das Haus musste schon seit Langem leer stehen, denn man sah bereits Anzeichen von Verfall. Einzelne Dachschindeln lagen verstreut, und hohes Gras überwucherte die Wege zum Eingang und den nahen Fenstern. Die Besitzer waren fort, geflohen vor einer Gefahr, die er selbst kaum einschätzen konnte. Er führte das Pferd in den Schatten der kühlen Steinmauer und klopfte ihm auf die Flanke. Als es anfing, in vollen Zügen das saftige Gras aus dem Boden zu reißen, lehnte er sich gegen die Wand des Bauernhauses und schaute nach Süden.
Seine Haare waren nass vom Schweiß und hingen ihm ins Gesicht. Er strich sich einige der dunklen Strähnen aus der Stirn. Die warme Luft und das Zirpen der Heuschrecken im hohen Grün machten ihn schläfrig. Weit im Süden flimmerte die Luft, und es war, als könne nichts die Stille stören, doch er wusste, dass dies ein trügerischer Eindruck war. Erst gestern hatte er zwei Orks erschlagen müssen, die sich bei einem anderen verlassenen Gehöft aufhielten. Kein Grund, Alarm zu schlagen, doch hatten Orks so nah der Grenze zwischen Foston und Tralessa nichts Gutes zu bedeuten.
Brandir seufzte schwer und fuhr sich erneut über die feuchte Stirn. Er durfte nicht müde werden, sich nicht von der Erschöpfung übermannen lassen. Trotzdem erlaubte er es sich, die Augen zu schließen. Nicht, weil er hätte schlafen wollen, sondern um einen Moment auszuruhen und die Stille in sich aufzunehmen. Die Ruhe zu genießen.
Seine Gedanken schweiften ab. Fast vier Jahre war es her, dass er an der Schlacht um Tralessa vor der Königsstadt Tesnan teilgenommen hatte – zusammen mit den kaiserlichen Truppen. An einem Kampf nicht nur gegen Orks, sondern auch gegen jene Wesen, deren Existenz in Araquest lange vergessen gewesen war. Dunkelelfen waren erneut in die Welt getreten und hatten ihre schwarze Magie gewirkt, um die Königsstadt zu zerstören und das Königreich Tralessa der Dunkelheit preiszugeben. Doch sie hatten es nicht geschafft.
Mit der Hilfe der Zwerge aus der Stadt Dahn war die Bedrohung abgewendet worden, und Tesnan und seine Bewohner hatten gerettet werden können. So sah es jedenfalls damals aus. Leider war dies ein trügerischer Sieg gewesen, wie Brandir nun wusste.
Nicht nur, dass in der Schlacht vor den Toren der Stadt der Kaiser sein Leben gelassen hatte, nein, es hatte auch nicht lange gedauert, bis die Bewohner von Tesnan eines langsamen Todes starben. Sie wurden von einer Krankheit heimgesucht, deren Ursache nie eindeutig geklärt werden konnte. Monatelang hatte der Kampf um Tesnan und ganz Tralessa angedauert, und einige von den Bewohnern waren zurückgekommen, jedoch mehr tot als lebendig.
Als schließlich König Balduan selbst dem Tod zum Opfer gefallen war, waren auch die letzten Bewohner nach Norden in das benachbarte Bauernreich Foston geflüchtet. Dort hätten sie sicherlich keinen Schutz gefunden, wären nicht die Elfen aus Glorina gewesen. Die alten Einwohner der Elfenstadt im Königreich Fedalia hatten einen mächtigen Bann über das Reich Foston gelegt, den kein Dunkelelf jemals durchbrechen würde, so lautete das Versprechen.
Die Nomendi hatten ebenfalls alles getan, um das Volk im Norden zu schützen, und dafür gesorgt, dass die geflüchteten Bewohner der südlichen Regionen dort sichere Unterkünfte bekamen. Von vielen waren sie längst vergessen oder als Märchen abgetan worden, doch kamen sie aus Lothinar herbei, um dem Volk von Foston beizustehen. Überall wurden die Grenzen der Reiche gegen Süden hin geschützt – durch Magie und von freiwilligen Soldaten.
In Windeseile wurden an der Grenze Palisaden und kleine Wachtürme errichtet. Selbst Bauern bewaffneten sich und überwachten fortan die Grenzregion. Denn obwohl der Bann gegen das Eindringen eines jeden Dunkelelfen schützen sollte, kam es dennoch vor, dass sich einzelne Orks über die Grenze wagten. Mit den Jahren kam das jedoch immer seltener vor, sodass viele sich in Foston in Sicherheit wähnten. Nur entlang der Grenze gab es keinen Bauernhof und kein weiteres Gebäude mehr, das noch bewohnt oder bewirtschaftet wurde. In Sichtweite Tralessas wollte niemand leben, denn dort regierten nur noch Tod und Verderbnis.
Auch in Aridúr und entlang der alten Grünlandstraße wurden Patrouillen zum Schutz der Bewohner eingesetzt und Orks zurückgedrängt.
So vergingen die Tage in trügerischer Ruhe, bis sich irgendwann doch wieder vermehrt Orks nahe der Grenze in Foston zeigten und dort Palisaden zerstörten. Sie wurden rasch niedergemacht und die Patrouillen verstärkt. Doch war dies ein erstes Zeichen dafür, dass sich im Süden erneut etwas tat. Die Dunkelelfen waren nicht vollständig besiegt worden, und ihre Macht war keineswegs gebrochen.
Geschichten über wandelnde Tote wurden weit über die Grenzen getragen, und auch Brandir selbst hatte sie gesehen – seelenlose Körper, die sich noch im Tod bewegten und den Befehlen jener Kreaturen folgten, die weit im Süden im Verborgenen lebten. Weder Schwert noch Pfeil konnte diesen Wesen etwas anhaben. In die ewige Ruhe begaben sich ihre Körper nur, wenn sie vom Feuer zerstört oder ihnen der Kopf abgeschlagen wurde. Es war ein Kampf gegen den Tod selbst, den Brandir nie wieder führen wollte. Jedoch konnte keiner wissen, wozu die Dunkelelfen fähig waren, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis nicht nur Orks die Grenze und somit den magischen Bann überschritten.
Die Dämmerung war bereits angebrochen, als Brandir erwachte und sich aufsetzte. Seine Glieder fühlten sich kalt und steif an. Er fluchte leise. Wie lange musste er hier gelegen haben! Längst hätte er zu seinen Männern stoßen müssen.
Mit einem leisen Stöhnen reckte er sich, rieb sich die Augen und blickte sich misstrauisch um. Die Landschaft war immer noch dieselbe wie vor wenigen Stunden. Da waren das alte Haus, das hohe Gras … In einer verwinkelten Ecke stand sein Pferd und schaute ihn mit wachen Augen an. Die Ohren des Tieres waren kerzengerade in die Höhe gestreckt.
Dann fiel Brandir auf, was hier nicht stimmte. Es war still. Zu still. Eine unwirkliche, bedrohliche Stille lastete über allem, als hielte die Welt den Atem an. Mit einer schnellen Bewegung erhob er sich und ging zu seinem Pferd hinüber. Er musste aufbrechen – sofort. Er schwang sich in den Sattel und spornte das Pferd an, das wieherte, ehe es gehorchte und dem Pfad in westlicher Richtung folgte.
Unterwegs schaute Brandir wieder und wieder nach Süden. Das Flimmern war gänzlich verschwunden. Einzig die nahende Dunkelheit nahm von der Landschaft Besitz, als wollte sie sie für immer verschlucken. Nicht mehr lange, und er würde auf seine Männer stoßen. Sie mussten schon seit einigen Stunden in der Nähe des Wachturms 13 auf ihn warten. Wahrscheinlich fürchteten sie bereits, dass ihm etwas zugestoßen war. Er ärgerte sich selbst über seinen stundenlangen Ritt. Er hätte nicht allein losreiten dürfen – nicht hier, so nah an der Südgrenze. Natürlich war er ein passabler Schwertkämpfer, aber was brachten einem die besten Fähigkeiten, wenn der Gegner einen überraschte? Er schwor sich, dass dies sein letzter Ritt allein so nah der Grenze wäre. Das nächste Mal würde er einen oder besser zwei seiner Männer auf Patrouille mitnehmen. Er dachte dabei an Richolt oder Garulin. Beide waren ausgezeichnete Kämpfer, aber leider auch genauso gute Trinker, sodass man die beiden nur selten nüchtern antraf.
Er hörte es, bevor er es sah. Etwas surrte an seinem rechten Ohr vorbei. Brandir fuhr mit dem Oberkörper herum, als sein Pferd wieherte und Anstalten machte, seitlich wegzubrechen. Ein Pfeilschaft ragte aus der linken Flanke des Tieres hervor. Fluchend duckte er sich über den Hals des Pferdes und spornte es an, schneller zu laufen. Das Tier stieß einen gequälten Laut aus, gehorchte aber und beschleunigte seinen Schritt. Brandir hatte den Pfeil sofort erkannt. Orks waren in der Nähe. Er wusste nicht, wie viele es sein mochten, jedoch war die Wahrscheinlichkeit groß, dass es eine der Orkgruppen war, die sich in letzter Zeit häufiger an die Grenze wagten.
Erneut surrte es, und er spürte, wie der Körper des Pferdes erbebte. Mit kolossaler Wucht stürzte es zu Boden. Brandir hörte das Wiehern und das erneute Surren von Geschossen in der Luft. Der Aufprall kam, bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, und Schmerz erfüllte seinen Körper. Er sah sein Tier am Boden liegen. Er war nicht unter, sondern neben dem Pferd auf dem Boden gelandet. Es röchelte noch einmal vor Schmerz und verstummte schließlich für immer. Ein langer, schwarzer Orkpfeil steckte in seiner Kehle, und dunkles Blut ergoss sich ins hohe Gras.
Mit einem Ruck wollte Brandir sich aufrichten, das Schwert ziehen, sich verteidigen, doch er schaffte es nicht. Ein stechender Schmerz im linken Bein ließ ihn innehalten. Mit zitternder Hand fuhr er darüber und erkannte, dass der Knochen gebrochen sein musste. Er griff nach dem Heft des Schwerts. Wie viele es auch sein mochten, er würde nicht kampflos sterben.
Sein Atem ging schnell, und sein Herz raste vor Anspannung, während er dumpfe Schritte nahen hörte. Knurrende, hässliche Geräusche einer kratzigen Sprache drangen an sein Ohr. Brandir schätzte die Anzahl der Orks auf mindestens acht oder neun. Noch nie hatte eine so große Gruppe es gewagt, die Grenze nach Foston zu überschreiten und so weit ins Innere vorzudringen. Was war hier los? Warum waren sie von keiner Patrouille aufgehalten worden? Orks waren keine Dunkelelfen, sie besaßen keine magischen Fähigkeiten oder besonderen Talente. Mit Ausnahme ihrer Vorliebe für Fleisch und das Töten hatten sie nichts vorzuweisen.
»Was haben wir denn da gefangen?«
Ein besonders großer Ork baute sich vor Brandir auf. Seine dunkle, lederartige Haut war teilweise von schmutzigen Stoffen bedeckt und von Teilen einer alten Lederrüstung geschützt. Ein unsagbar übler Gestank ging von ihm aus. Sein Gesicht war zu einer hässlichen Fratze verzogen. Der schiefe Mund grinste breit, während die Augen mit boshaftem Blick auf sein Opfer gerichtet waren. Um ihn herum standen die anderen Orks und machten allerlei seltsame Geräusche. In Brandirs Ohren klang es, als versuchten sie zu lachen.
Mit aller Kraft setzte er sich auf und hielt das Schwert schützend vor seine Brust.
»Oho. Das Menschlein will uns wohl bedrohen!«, rief der große Ork und lachte. »Warum stehst du denn nicht auf, Menschlein? Sind dir die Beine abgefallen?«
Brandir hörte, wie die anderen Orks lauter wurden. Sie fühlten sich offenbar von seiner Situation belustigt. Dass der große Ork ihn in seiner Sprache ansprach, ließ ihn vor Wut erzittern. Sie wollten ihn demütigen. Seine Finger schlossen sich fester um den Schwertgriff.
»Warum steht ihr hier herum?«, stieß er hervor. »Seid wohl doch nur ein feiges, dummes Pack!« Seine Stimme klang nicht so abschreckend, wie er es gewollt hätte, aber jedenfalls reichte es, um die Orks zumindest kurz zum Verstummen zu bringen.
»Menschlein will sterben, ja?«, fragte der große Ork. Nun klang die Stimme nicht mehr so belustigt, und auch das breite Grinsen war aus seinem Gesicht gewichen. »Dann soll Menschleins Wunsch erfüllt werden.« Mir seiner Rechten zog er ein Messer aus dem Gürtel, und die anderen taten es ihm nach.
»Ich will die Beine. Die schmecken am besten«, sagte einer der Orks.
Brandir hob seine Klinge und erwartete die Messer – erwartete den nahen Tod und hoffte inständig, dass er weder zu einer Orkmahlzeit noch zu einem willenlosen Sklaven des Todes werden würde. Im selben Moment blitzte etwas auf, und noch ehe einer der Orks einen Hieb hätte ausführen können, sah er, wie eine von der untergehenden Sonne hell angestrahlte Klinge den Leib des großen Orks durchdrang.
Schwarzes Blut strömte aus ihm heraus. Alles, was Brandir hiernach wahrnahm, war, dass um ihn herum Klingen aufeinanderprallten und menschliche Stimmen einander etwas zuriefen. Dann traf der harte Schädel des großen Orks ihn am Kopf, und einsame Schwärze umfing ihn wie ein guter Freund.
I
Grelle Blitze zuckten am schwarzen Himmel auf, der sich bedrohlich über Dongur wölbte. Starker Regen überströmte die staubige Landschaft der Ebene und verwandelte sie umgehend in einen schlammigen Sumpf. Unter einem grollenden Donnerschlag erleuchtete ein Blitz die Festung am Rand der dunklen Berge nur für einen Wimpernschlag. Ihre tatsächliche Größe war in der Dunkelheit nur zu erraten, doch schien sie mit ihren dicken, hohen Mauern und Türmen gewaltig und stark befestigt zu sein.
In einem der besonders hohen Türme stand eine in einem schwarzen Umhang gehüllte Gestalt und schaute aus einem kleinen Fenster nach Norden. In weiter Ferne, in der Dunkelheit nur zu erahnen, lag das schwarze Gebirge und dahinter das weite, fruchtbare Land der Königreiche von Araquest. Worte zu sprechen, war nicht nötig, um das auszuführen, was er wollte. Es bedurfte, wie einst, in alten Zeiten, lediglich eines Gedankens, um die Magie in ihm zum Fließen zu bringen. Aus reiner Gewohnheit schloss Emros die Augen, und ihm erschien sofort der ferne Lendamwald, der sterbend hinter dem schwarzen Gebirge lag. Genüsslich sog er den unermesslichen Hass, die Trauer, die Wut und den Schmerz in sich auf, die er unmittelbar hinter dem Königreich Tralessa und dessen vernichtetem Wald spürte. Bei dem Gedanken an die verzweifelte Angst hinter den Grenzen Tralessas lief ihm ein Schauer des Ergötzens über den Rücken.
Ein besonders heller Blitz zuckte über den dunklen Himmel und erleuchtete für einen kurzen Augenblick die silberne Maske, die sein Gesicht völlig verbarg.
Durch das grelle Licht aus seinen Gedanken gerissen, öffnete er die Augen, die rot in die vom Platzregen verursachte Dunkelheit hinaus funkelten. Seine Hände fuhren andächtig über das Silber vor seinem Gesicht. Er hatte sich noch immer nicht an diesen neuen Körper gewöhnt, der Zeit brauchte, um gänzlich sein eigener zu werden.
Fast vier lange Jahre waren vergangen, seitdem seine getreuen Diener Tralessa angegriffen und den Tod gebracht hatten. Er selbst war in jener denkwürdigen Stunde aus den dunklen Gefilden des Vergessens auferstanden – durch die alte Macht seines Amuletts und des göttlichen Blutes. Er erinnerte sich, wie seine Getreuen unter Zuhilfenahme des Todes versucht hatten, die Stadt des Südreiches Tesnan einzunehmen und dessen König zu töten, doch waren sie an jenem Tag gescheitert. Zu schwach waren ihre Truppen gewesen – zu wenige, um die Streitkräfte des Kaisers und des Königs gleichermaßen zu besiegen. Jedoch sollte dies keine Niederlage bedeuten.
Es hatte einige Monde gedauert, aber schlussendlich hatten es seine Diener geschafft, ihren Bann über ganz Tralessa zu werfen. Menschen und Zwerge waren gefallen und das Land dem Fluch der Verderbnis erlegen. Allein die Magie der nördlichen Elfen hielt dem Bann, den die Menschen im Norden Seuche nannten, stand.
Bald schon wäre er bereit. Bereit, auch die anderen Länder von Araquest in tiefe Dunkelheit zu stürzen. Zuvor musste er sich jedoch ganz sicher sein, dass ihn nichts mehr aufhalten würde. Besonders die alten Elfen aus dem Norden konnten ihm noch gefährlich werden, aber auch die Nomendi durfte er nicht unterschätzen. Noch hatte er zu wenige der dunklen Kreaturen auf seiner Seite. Viele von ihnen waren in den endlosen Tiefen dieser Welt vergangen. Ewige Finsternis und Trauer lassen Hass und Wut gleichermaßen wachsen wie Verzweiflung, und so waren viele seiner einst so zahlreichen, geliebten Dunkelelfen entschwunden. Nun musste er sich ebenso auf die Orks verlassen. Orks mochten dumm sein, mit einer Waffe in der Hand waren sie aber nicht weniger grausam. Und nicht nur Orks und seine Dunklen würden für ihn kämpfen.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, ein boshaftes und kaltes, von der silbernen Maske vor der Welt verborgen. Er hatte die vergangene Schlacht nicht vergessen, die letzte Schlacht in der Ebene von Duhn. Die Schlacht, in der so viele ihr Leben gelassen hatten. Doch da war noch ein Gedanke an etwas, das ihn beschäftigte. Die Welt, die er heute vor sich sah, war nicht mehr die, die er einst verlassen hatte. Auch die Elfen waren nicht mehr zahlreich und ihre Kampfkraft nach den langen Jahren des Friedens nicht mehr dieselbe wie in der alten Zeit. Und doch waren sie die Einzigen, die das Wissen der längst vergangenen Tage hatten bewahren können – das Wissen um Fanir und darüber, ob es überhaupt existierte, das Gegenstück zu seinem Amulett – Fanirs Amulett.
Seine Hände glitten wie von selbst unter das lange Gewand. Seine Haut fühlte sich schuppig und trocken an wie altes, raues Papier, als er sich mit beiden Händen über die nackte Brust fuhr. Dort spürte er die Narben, die das Amulett in das Fleisch seines neuen Körpers gebrannt hatte.
Natürlich war es möglich, dass es für immer zerstört war. Er hatte nie erfahren, was genau mit Fanirs Amulett geschehen war. Er selbst konnte tief in seinem Bewusstsein spüren, dass Fanir diese Welt schon vor langer Zeit verlassen hatte. Niemand konnte wirklich wissen, wo das Amulett sich heute befand, wenn es denn noch existierte. Nur der heilige Baum war geblieben, den Fanir, um seinen Verrat an ihm noch zu steigern, mitten in das Elfenreich gepflanzt hatte.
Seine Hände zuckten zum Fenstersims zurück. Er war so wütend, er hasste die Elfen und alles, was sie taten, aus tiefster Seele. Doch noch mehr hasste er die Nomendi, die Blutschande Fanirs. Verrat, der niemals wiedergutzumachen war. Er konnte Fanirs Blut in den Nomendi pulsieren hören.
Dennoch musste er sich eingestehen, dass er ohne die unfreiwillige Hilfe der Nomendi nie zurück in die Welt gefunden hätte, denn ohne das heilige Blut, das durch ihre Adern floss, hätte sein Geist den Weg nicht beschreiten können. Nur durch ihr Blut und seine Macht konnte es vollbracht werden. Doch wäre er auf eine solche Schmach nie wieder angewiesen. Nur noch wenige von den Nomendi waren am Leben, und er musste sie alle finden und auslöschen. Er würde sie vernichten, so wie er einst vernichtet worden war.
Er war schlau genug, sich nicht nur auf seine eigenen Truppen zu verlassen. Es gab noch andere dunkle Dinge in dieser Welt. Geheime Dinge, die in Vergessenheit geraten waren und die man besser ruhen ließ.
Er allein konnte die Vergangenheit aus ihrem tiefen Schlaf befreien. Jedoch brauchte er dazu etwas. Seine geistige Macht mochte die eines Gottes sein, doch hatte er über die lange Zeit zu viel Energie an irdische Dinge verloren. Er musste diese Sache an sich bringen.
In der Schlacht von Duhn war er von Fanirs Geist, den verhassten Nomendi und dem großen Fluch des Magiers Xaduran vernichtet worden. Fanir wäre allein nicht dazu in der Lage gewesen. Als Bruder war er ihm stets ebenbürtig gewesen. Nur seine Gedanken waren ihm fremd geworden.
Die Nomendi waren zwar schon damals starke Krieger gewesen, doch hatten ihm seine Orks und Dunklen zur Seite gestanden. Ohne die Magier aus der Stadt Duhn wäre das Schicksal dieser Welt vielleicht anders verlaufen. Ihre Magie hatte seiner Armee sehr zugesetzt. Als schließlich der unaussprechliche Fluch die Stadt Duhn und ihr Reich vollkommen auslöschte, waren auch er und sein Gefolge davon getroffen worden. Die magische Energie des Fluchs war so enorm gewesen, dass die Welt einen bleibenden Schaden davongetragen hatte.
Nun beherbergte die Stadt Duhn nur noch die verlorenen Geister ihrer ehemaligen Bewohner, und sämtliche Magie, die einst im Lande gesprochen worden war, war für immer verhallt. Fanir und der Fluch – auf ihn und seine Getreuen gerichtet – hatten dafür gesorgt, dass er diese Welt verlassen musste und seine Diener in die Finsternis gestoßen wurden.
Niemals würde er jenen Augenblick vergessen. Und niemals würde er die Schmerzen überwinden, die er hatte erleiden müssen.
Er spürte, wie diese Gedanken den Hass in seinem Innern nährten, der immer weiter anwuchs. Er fühlte, wie seine Magie durch den Hass getragen wurde. Er war mächtig, mächtiger als jede lebende oder tote Kreatur dieser Welt. Er allein war als letzter der alten Götter in dieser Welt. Seiner Welt.
Bedächtig atmete er die kalte Nachtluft ein. Er musste ihn haben. Er brauchte ihn. Wenn er ihn nicht hatte, konnte kein letzter Sieg errungen werden. Die Gefahr durch die Elfen war zu groß, als dass er ohne ihn in einen Krieg ziehen könnte.
Aber wo konnte er sein? Nach jener verhängnisvollen Schlacht vor unzähligen Jahren war er verschwunden und in der Zeit seiner Abwesenheit gänzlich verschollen. Selbst Garthoas wusste nicht, wo er zu finden war. Da es keine Magier mehr gab, hatten sicher die Elfen ihn an sich genommen und mit ihrem Bann vor seinen Blicken verborgen. Sie waren schon immer gierig nach Magie gewesen. Doch Garthoas hätte es erfahren, wenn sie ihn heute noch besäßen. Er hatte es stets verstanden, unter ihnen zu leben, ohne dass es ihnen aufgefallen wäre, als einer seiner Dunklen inmitten all dieser nutzlosen Elfen. Er spürte, wie es wieder um seine Lippen zuckte. Ja, Garthoas war immer sein treuester Diener gewesen.
Er musste versteckt worden sein. Mit Magie oder Kraft war er nicht zu zerstören. Nur ein Gott vermochte das zu tun.
Unvermittelt ließ ihn ein Gedanke aufmerken. Vielleicht gab es jemanden, der wusste, wo er sich befand. Die Möglichkeit war zwar gering, jedoch war sie gegenwärtig, und er musste sie nutzen. Dazu würde er Hilfe brauchen, jemanden, auf den er sich verlassen konnte. Jemanden, der bereit wäre, für ihn in den Tod zu gehen.
Er löste den Blick von der Dunkelheit seines Reiches und drehte sich um. Mit langen Schritten durchquerte er den düsteren Raum, beinahe, als schwebe er über den Boden. Seine silberne Maske reflektierte das trübe Licht der wenigen Kerzen wie ein matter Spiegel in einer dämmrigen Kammer.
»Garthoas!«, hallte seine mächtige Bassstimme durch den Raum. Er spürte, wie der Boden leicht bebte, und wusste, dass man ihn in der ganzen Festung gehört hatte.
Es dauerte nur einen Augenblick, bis die Tür geöffnet wurde.
Der Ankömmling war von mittlerer Größe. Seine spitzen Ohren und das lange, schwarze Haar betonten die längliche Form seines Gesichts. Der Dunkelelf war gänzlich in einen finsteren Umhang gehüllt, der in der Bewegung den Blick auf das Schwert an seiner Seite freigab.
»Ihr habt mich gerufen, Herr?«, fragte Garthoas und verbeugte sich tief.
»Wie geht es voran?«
»Unsere Schmieden sind Tag und Nacht in Betrieb. Wir können in wenigen Wochen bereit sein«, gab Garthoas in ruhigem Tonfall zurück, ohne seinem Meister dabei in die Augen zu sehen, denn seinem Blick hätte er niemals standhalten können, dessen konnte er gewiss sein.
»Sehr gut. Bevor wir die nördlichen Reiche und die Kaiserstadt angreifen, habe ich noch einen besonderen Auftrag für dich«, verkündete Emros mit tiefer Stimme.
»Was kann ich für Euch tun?«
»Ich bin auf der Suche nach etwas Besonderem. Ich begehre es sehr und wünsche, es im Kampf gegen die Nomendi und die schändlichen Elfen zu nutzen. Du sollst es für mich finden und mir wiederbringen.«
»Was soll ich finden?«, fragte Garthoas, und seine Stimme zitterte vor Furcht. Er ahnte, wonach es seinen Meister verlangte. Schon vor einiger Zeit hatte Emros ihn danach gefragt. Da er selbst aber nicht wusste, wo das Artefakt sich befand, hatte sein Meister es dabei belassen und nicht weiter nachgefragt. Er konnte sich gut vorstellen, was er mit ihm tun würde, wenn er diesen Auftrag ablehnte oder daran scheiterte.
»Du wirst zum Dhawar gehen und dort Erkundigungen um den Verbleib des mit Blut gefüllten roten Steines einholen, jenes Artefaktes, das die Macht besitzt, einen alten Verbündeten in die Welt zurückzuführen. Ich bin mir sicher, dass er etwas weiß.«
Garthoas schluckte. Der Dhawar war ein uraltes, düsteres Wesen, das im Nebel der Sümpfe tief unter der Erde hauste. Der Legende nach war es ein Geschöpf, das vor langer Zeit aus der Kreuzung zwischen einem der längst vergessenen Götter und einem der ersten Menschen hervorging. Der Dhawar konnte nicht sterben, lebte jedoch auch kein wirkliches Leben. Von seiner Existenz in der Welt wussten nicht viele, und diejenigen, die davon wussten, versuchten es zu vergessen.
Dieses Wesen aber besaß die Fähigkeit, in die Zeiten zu schauen und Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges dieser Welt zu erblicken. Ob es Magie war oder nicht, war schwer zu ergründen, denn der Dhawar hatte bereits auf dieser Welt gelebt, bevor die erste Magie in Duhn aufgekommen war und die ersten Magier lernten, sie anzuwenden.
»Tu, was nötig ist, um den Stein zu finden«, sagte Emros mit Nachdruck und entließ Garthoas mit einem Wink seiner schuppig aussehenden Hand.
Mit einem wissenden Lächeln wandte er sich danach wieder dem Fenster zu und strich mit der Linken über die kalten, metallenen Narben auf seiner Brust. Wenn er den Stein erst zurückhätte, könnte ihn nichts mehr aufhalten. Dessen unheilige Energie würde genügen, um einen alten, treuen Freund erneut in die Welt führen zu können. Und Garthoas würde seinen Auftrag erfolgreich ausführen, dessen war er sich sicher. Bisher hatte er kein einziges Mal versagt.
Vielleicht wäre es gut, seinen übrigen Dunkelelfen später einen kleinen Besuch abzustatten, nur um sich selbst davon zu überzeugen, wie gut die Rüstungsproduktion vorankam. Zu gern wäre er allein hinausgeritten, um den roten Stein selbst zu suchen, aber warum sich in Gefahr begeben, wenn man doch Diener hatte, die für eine solche Aufgabe geeignet waren? Und der Dhawar …
Einmal hatte er ihn gesehen, ihm als Gott gegenübergestanden und ihm Macht angeboten. Aber das Wesen – selbst ein Halbgott und voller Verzweiflung und Hass – war in seine Aura eingedrungen. Das konnte er kein zweites Mal zulassen. Die Gefahr, geschwächt zu werden, war zu groß. Der Dhawar wollte keine Freunde, keine Helfer oder Verbündete. Diese Gewissheit war ihm für alle Zeit eingeprägt geblieben. Nein, er würde kein Risiko eingehen, sondern seine Kräfte in diesen alten Mauern erstarken lassen.
Gedankenverloren blickte er zum schwarzen Himmel empor. Blitze zuckten über seine silberne Maske, die ihr grelles Licht reflektierte. Der grollende Donner verlor an Stärke, während das Unwetter langsam, aber stetig weiter nach Norden zog.
Garthoas stieg schnellen Schrittes die vielen Stufen des hohen Turms hinab. Er musste sich beeilen. Einen kurzen Augenblick hatte er sich weigern wollen. Zum Dhawar zu gehen, kam einem Todesurteil gleich, das war ihm nur allzu klar, doch was hätte er tun können? Einen Auftrag des Meisters abzulehnen, wäre undenkbar, und war es nicht ein bedeutender Vertrauensbeweis, wenn sein Herr ihn mit dem vielleicht wichtigsten Auftrag von allen betraute? Kein anderer seines Volkes genoss ein derart großes Vertrauen des dunklen Meisters. Darauf konnte und musste er stolz sein.
Er erreichte das Ende der Treppe und schritt durch eine von zwei Dunkelelfen in schwarzer Rüstung bewachte schwere Holztür in eine geräumige Halle. Diese war von einigen an den Wänden befestigten Fackeln erleuchtet, sodass das spärliche, abgenutzte Mobiliar deutlich zu erkennen war. Einige Orks waren an einem großen hölzernen Tisch damit beschäftigt, sich gegenseitig durch Glücksspiele um ihren Sold und ihre wenigen Habseligkeiten zu bringen.
Garthoas fluchte. Er mochte keine Orks, und das durften ruhig alle erfahren. Es war klar, dass niemand auf die Idee käme, ihn herauszufordern. Er war der Ranghöchste aller Dunkelelfen und besaß bei den Truppen das höchste Ansehen gleich nach dem dunklen Meister selbst.
Sein Weg führte ihn durch die Halle in weitere Gänge, die ebenfalls von Fackellicht erhellt wurden. Unterwegs traf er hin und wieder auf einen Ork oder einen Dunkelelfen, der geschäftig durch die engen Korridore huschte.
Es dauerte einige Zeit, bis er zu einem der großen Tore kam, die aus der Festung hinausführten. Kurz bevor er durch das halb offene Tor ins Freie trat, zog er sich mit beiden Händen die dunkle Kapuze über den Kopf und spürte, wie die spitz geformten Ohren unter der Last des Stoffs litten. Er schaute durch das Tor. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, doch noch immer tobte das Unwetter mit seinen vielen grellen Blitzen über dem nun sumpfähnlichen Land. Er konnte nicht verhindern, dass der Regen ihn durchnässte, und entschloss sich daher, so schnell wie nur möglich zu laufen. Er mochte es überhaupt nicht, wenn Wasser seinen Körper besudelte. Dies war eine der vielen Kleinigkeiten, die sein Volk deutlich von dem der Elfen unterschied.
Sein Weg führte links an der Festung entlang und hinein in den dunklen Wald am Rande der Berge. Dort hatte sein Volk schon vor ewigen Zeiten gelebt und war nun dabei, dem Ort neues Leben einzuhauchen. Zu lange hatten sie unter den benachbarten Bergen in einer nahezu endlosen Tiefe ihre Zeit verbracht. Nun würden sie ihr altes Reich wiederherstellen. Schon bald würde es in seiner vergangenen Pracht erstrahlen und das der Elfen an Kraft weit in den Schatten stellen, denn sein Volk war noch immer voller alter Magie.
Durch den Regen war der Boden durchweicht, und Schlamm haftete an seinen Stiefeln, doch er kümmerte sich nicht darum. Mit seinen durch Magie geschärften Augen sah er den Weg auch in tiefster Dunkelheit. Ab und zu drang ein Strahl goldenen Lichts aus einem der vielen Fenster der Festung zu ihm herab, allerdings lag der größte Teil seines Weges in tiefster Finsternis.
Endlich, nach einiger Zeit in der triefenden Nässe, erreichte er das Blätterdach des dichten Waldes. Hier fielen nur einige wenige Tropfen von den hohen Kronen der alten Bäume zu ihm herab.
Violette Lichter, die an den Stämmen angebracht waren, beleuchteten den Weg. Er folgte den Markierungen tiefer in den Wald und konnte schon bald den leisen Klang von Liedern vernehmen. Sie waren zwar ein altes und verschlagenes Volk, das dem dunklen Herrn treu ergeben war, doch waren auch sie elfischen Geschlechts.
Der Klang der alten Lieder durchfuhr seinen Körper, und ihm schien, als erwärmten die Stimmen seine nasse Haut. Die Musik schien mehr zu sein als nur Töne, sie legte sich wie eine warme Decke über ihn.
Er bog ab und betrat eine große Lichtung, die von einem dichten Baumkreis umschlossen war. Dieser Platz war die Mitte des Waldes. In Zentrum der großen Fläche standen die größten und ältesten Bäume, die mit ihren dicken Stämmen einen eigenen Kreis bildeten. In und unter diesen Bäumen lebte sein Volk, und viele Lichter drangen aus dem Geäst zu ihm herab.
Ein bewaffneter Dunkelelf trat unvermittelt hervor, um zu schauen, wer da gekommen war.
»Ich bin es nur, Kretis«, sagte Garthoas schnell und ließ den Aufpasser ohne weitere Erklärungen stehen. Die Bewachung ihrer Lichtung war – zumal hier, direkt an der alten Festung – eigentlich nicht vonnöten, doch mieden die Dunkelelfen die Orks, wenn sie es denn vermochten. Orks waren für sie bloß hässliche Tiere, die es nicht wert waren, ihrem Meister zu dienen. Doch konnten sie zugegebenermaßen auch recht nützlich sein.
Garthoas erreichte die in der Mitte stehende Baumgruppe, trat in einen der hohlen Stämme und stieg eine schmale Treppe empor, bis in die mächtige Krone des Baumes. Die Treppe mündete in eine stabile Holzkonstruktion, auf der eine schlichte Holzhütte stand. Diese war, wie schon der Gang, in violettes Licht getaucht. In ihrer Mitte brannte ein niedriges Feuer in einer großen Metallschale, die die Flammen vom Baum fernhielt.
Am Feuer saß eine kleine, in dunkelgrüne Gewänder gehüllte Gestalt, die aufblickte und lächelte, als er in die Hütte eintrat.
»Grüße, Garthoas. Wie kann ich Euch helfen?«
»Guten Abend, Rosana. Wie ich sehe, genießt Ihr die Nacht?«, sagte er mit bewusst neutralem Ton.
»Diese Nacht ist düster«, entgegnete Rosana nur. Ihre zarte Stimme schwebte wie ein sanfter Nebel im Raum. »Was führt Euch zu dieser Stunde zu mir? Sicher seid Ihr nicht gekommen, um mich nach dieser Nacht zu fragen, da Ihr gewiss in der Festung mit der Truppenaushebung beschäftigt seid.«
»Ich komme direkt vom schwarzen Herrn«, antwortete Garthoas und bemühte sich um einen geschäftlichen Tonfall. »Er hat einen Auftrag für uns, der so schnell wie möglich erfüllt werden muss.«
»Und was genau wünscht unser Herr?«, fragte Rosana, wobei sie neugierig den Kopf ein wenig nach vorn neigte, sodass ihr dunkelrotes Haar ihr weich über die Schultern fiel.
»Unser Herr sucht etwas. Einen roten Stein aus alter Zeit. Wir sollen ihn finden, noch bevor er seinen Krieg in den Norden treibt.« Garthoas zögerte. Er hatte die Befürchtung, dass Rosana es ablehnen würde, mit ihm zu kommen, wenn er ihr sagte, wohin der Weg sie führen würde. Dennoch musste er damit herausrücken. Ihm blieb keine Wahl. »Der dunkle Herr vermutet, dass der Dhawar über den Verbleib des Artefakts kundig ist.«
Rosana runzelte die Stirn. »Der Dhawar also?« Sie wartete einen Moment, ehe sie fortfuhr: »Ja, das wäre möglich. Und Ihr wollt, dass ich Euch dorthin begleite? Ihr seid Euch wohl bewusst, dass der Dhawar kein sehr freundliches Wesen ist?«
»Ich gedenke noch zwei weitere Begleiter mitzunehmen. Wenn wir im Auftrag des Dunklen Herrn kommen, wird der Dhawar uns sicher helfen. Schließlich war er nie auf der Seite der Elfen.«
»Aber auch auf der unseren nicht«, ergänzte Rosana listig und grinste breit. »Andererseits wäre es für Euch nicht ratsam, ohne meine Begleitung dorthin zu gehen. Das könnte ich kaum zulassen. Ich werde natürlich mit Euch ziehen und Euch helfen, wo ich kann.«
Garthoas wagte nun seinerseits ein Lächeln. »Gut. Ich gedenke, noch vor Tagesbeginn aufzubrechen. Wenn Ihr also bereit seid, trefft Ihr mich später vor dem nördlichen Tor der Festung.«
Rosanas Augen funkelten kurz rötlich, als sie sich erhob. »Ich werde mich eilen und dort auf Euch warten.«
Garthoas verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und wandte sich wieder der Treppe zu, die hinunter und zurück auf die Lichtung führte. Bis zum Tagesanbruch blieb ihm etwa eine Stunde Zeit. Bis dahin sollte er es schaffen, seine weiteren Begleiter zu wählen.
Er brauchte Orks. Der Dhawar war nicht leicht zu überzeugen, so viel wusste er. Doch wenn er ihm mit den Orks etwas Beschäftigung oder gar eine gute Mahlzeit brachte … Natürlich hätte er auch aus seinem eigenen Volk Gefährten zur Unterstützung mitnehmen können, sicher. Aber dann müsste er den Ruhm teilen, und das wollte er nicht. Rosana allein sollte ihm zur Seite stehen. Sie war stark und erfahren, und sie würde ihm tapfer zur Seite stehen. Schon in den vergangenen Kriegen hatte Rosana zu den fähigsten Dunkelelfen gehört. Sie verstand nicht nur ausgezeichnet mit dem Bogen umzugehen, sondern beherrschte jede ihm bekannte Nahkampfwaffe nahezu perfekt. Und noch dazu war sie die schönste Dunkelelfe, die er kannte. Er hoffte, nach dem Auftrag würde er endlich den Mut aufbringen, ihr seine Gefühle für sie zu gestehen.
Er ging, dem Gesang und dem stetigen Tropfen des Regens lauschend, den Weg zur Festung zurück. Als er den Wald verließ, spürte er, dass der Regen nachgelassen hatte. Offenbar zog das Unwetter nach Norden ab.
Er fand das Tor unverschlossen vor und trat ein. Sein Weg führte durch einige schlecht beleuchtete Gänge hinunter in den unteren Bereich der Festungsanlage, tief in die alten Berge. Es dauerte nicht lange, bis das Geräusch von Hämmern auf Ambossen an seine Ohren drang. Er bog um eine Ecke und fand sich in einer großen Halle wieder, in der viele Hundert Orks damit beschäftigt waren, Rüstungen und Waffen für den kommenden Krieg zu schmieden. Der Gestank war unerträglich, und die Hitze ließ ihn unter seinem Gewand schwitzen. Er wandte sich nach links und folgte einem Weg, der in einer Nebenhalle endete. Dort hielten sich die derzeitigen Orkhäuptlinge auf.
Bei den Orks wurden die Häuptlinge nicht von ihren Truppen frei gewählt, sondern mussten sich durch einen Zweikampf qualifizieren. Jeder Ork konnte den führenden Häuptling seiner Truppe zum Kampf fordern und somit die eigene Stärke unter Beweis stellen. Wurde das Oberhaupt getötet, so kürte man den Herausforderer zu dessen Nachfolger. Das hatte zur Folge, dass die Häuptlinge annähernd wöchentlich wechselten, aber auch stets die stärksten Orks an der Spitze aller Truppen standen. Das war der Grund, weshalb er hier nach weiteren Begleitern für seine Mission suchte.
Garthoas sah fünf Orkhäuptlinge an einem Tisch sitzen, wo sie sich wie üblich dem Glückspiel und dem Alkohol hingaben. Er räusperte sich und trat zu ihnen.