RJ BARKER
Die Gezeitenkind-Trilogie 1
Ins Deutsche übertragen
von Kerstin Fricke
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Copyright © 2022 RJ Barker.
Inside Images © 2022 by Tom Parker
Titel der Englischen Originalausgabe: »The Bone Ships – The Tide Child Trilogy – Book 1« by R. J. Barker, published 2019 by Orbit Books, London, UK.
Deutsche Ausgabe 2022 Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Kerstin Fricke
Lektorat: Mona Gabriel
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
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ISBN 978-3-7367-9844-1
Gedruckte Ausgabe:
1. Auflage, März 2022, ISBN 978-3-8332-4181-9
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Inhalt
Der Ausgestoßene
Kind einer erbarmungslosen See
Im Schatten des schwarzen Schiffes
Einen Ort finden, an den man gehört
Jene, die an Deck stehen
Vorwärts, immer vorwärts
Knochen alter Götter
Zusammensetzen an einem Mannstag
Das Brechen der Gezeitenkind
Die Rückkehr
Gen Heimat
Alle, die dienen, ereilt der Ruf
Drachen
Eine Versammlung kalter Seelen
Ein Wiedersehen
Wenn der Stiefel passt
Ein Pfand
Auf See, abermals auf See
Alle auf See
Gut geschmiert ist halb gewonnen
Und alle schwärzesten Vögel kommen zusammen
Glimmern in der Nacht
Zum Ersten der Letzten
Ein seltener Anblick
Ich sah ein Wunder auf dem Wasser
Ein Lied von Wind und Reisen singen
Was darunter liegt
Ein Inselausflug
Vorwärts und aufwärts
Die zwei Türme
Die uns verlassen, kehren zurück
Lieber gar nicht anfangen, als die Sache nur halb zu erledigen
Die Trommeln schlagen und alle Deckkinder antworten
Der Flug in den Tod
Drei Schiffe in Sicht!
Der Schmerz der Sieger ist kein Schmerz
Das Wort der Hexe ist niemals gut
Die Hexe öffnet die Arme und Deckkinder sinken hinein
Eine wirklich nützliche Fähigkeit
Ränge in der Flotte und auf den Hundertinseln
Die Knochenschiffe
»Sie sind Gesindel! Nichts! Wir sind die Flotte! Wir sind die Hundertinseln!« Rings um Joron herum wurden Blicke ausgetauscht, ein leises Lächeln schlich sich auf gebräunte, vernarbte Gesichter, und ihre Worte wurden wiederholt und immer lauter und kräftiger, während der Pfeilhagel auf sie herabregnete. Er hielt sie für eine Verrückte, aber es hatte ganz den Anschein, als entsprächen Meas’ Worte der Wahrheit, da kein einziger Pfeil sie traf … Inzwischen schrien sämtliche Frauen und Männer lautstark: »Wir sind die Flotte! Wir sind die Hundertinseln!« Hatten sie alle den Verstand verloren? Machte das die Raserei der Schlacht mit Frauen und Männern? Meas straffte sich, reckte ihr Schwert in die Luft und blickte über die Reling. Pfeile gingen um sie herum zu Boden, prallten vom Deck ab, drangen in die Knochenreling ein, ohne sie zu verletzen.
»Kommt her!«, schrie sie jenen auf See entgegen. »Kommt und sterbt durch die Hand der Glücklichen Meas und ihrer Mannschaft!«
Zweihundert Schiffe unter vollem Segel,
An Bord harrten fünftausend Mann.
Mit dem Speer in der Hand, zu allem bereit,
Und Cassia führte die Flotte an.
Die Salzwassergischt spritzte auf,
Als sie die Bestie der Tiefe jagten.
Für die Jungfrau, die Mutter, die Umarmung der Hexe
Die vielen es nun wagten.
Aber, oh, welch Fest
Und, oh, welche Reichtümer
Und, oh, welch Ruhm galt es zu erringen.
Fünfhundert Schiffe,
Zehntausend Mann
Wollten den Arakeesianer bezwingen.
1
Der Ausgestoßene
»Gebt mir Euren Hut.«
Das sind nicht die Worte, mit denen man zu Beginn einer Legende rechnet, aber es waren die ersten, die er sie je sagen hörte.
Sie sagte sie natürlich zu ihm.
Es war früh. Fischgeruch drang ihm in die Nase und arbeitete sich bis hinab in seinen Magen, wo sich die aufsteigende Übelkeit umso deutlicher bemerkbar machte. Er hatte Kopfschmerzen, und seine Hände zitterten auf eine Art und Weise, die sich nur durch den ersten Becher Schiffswein besänftigen ließ. Danach würde der Schmerz in seinem Schädel nachlassen, während ihm das dickflüssige Getränk die Kehle herunterrann und ihm den Hals und den Bauch wärmte. Dem ersten Becher würde der zweite folgen, der auch die Benommenheit mit sich brachte, die ihm verriet, dass er auf dem besten Weg war, seinen Verstand ebenso abzutöten, wie er es längst mit seinem Körper tat oder es zumindest versuchte. Danach würde er einen dritten Becher trinken, einen vierten und einen fünften, bis der Tag vorbei war und er in der Dunkelheit versank.
Aber das schwarze Schiff würde noch immer im ruhigen Hafen ankern. Seine Knochen würden knarzen, wenn die Gezeiten daran zerrten. Die Mannschaft würde stöhnen und ächzen, während sie auf den Decks trank, und er würde in der alten Flenserhütte in der Bewusstlosigkeit versinken. Hier war er nun, nur dem Namen nach Schiffsfrau. Kommandant bloß dem Titel zufolge. Ein Versager.
Stimmen von draußen, denn selbst hier auf der lange verlassenen und von Geistern heimgesuchten Flenswerft gab es kein Entkommen vor den anderen. Nicht einmal die Erinnerung an die Keyshanfäule, die Krankheit der Knochenwerften, konnte die Leute von hier fernhalten.
»Die Zerschmetterter Stein kam heute Morgen rein, hat angeblich einen Archeyex über Listholm gesichtet. Es heißt, ihr Windflüsterer wäre verrückt geworden und hätte sie beinahe kentern lassen. Sie mussten die Kreatur töten, damit sie keinen Wind herbeirief und sie an der nächsten Küste zerschmetterte.«
»Ich hab in meinem ganzen Leben noch keinen Archeyex gesehen. Das hat nichts Gutes zu bedeuten – schreib’s auf einen Felsen für die Seehexe.« Und die Stimmen wurden leiser, gingen unter im Zischen der Wellen am Strand, wurden vom Meer verschlungen, so wie es das Schicksal von allem war, während er über das nachdachte, was sie gesagt hatten – »hat nichts Gutes zu bedeuten«. Da konnte man gleich behaupten, Skeariths Auge würde am Morgen aufgehen, denn dies waren die Hundertinseln – wann geschah hier schon jemals etwas Gutes?
Die nächste Stimme, die er hörte, forderte ihn heraus. Als sie erklang, hatte er die Augen geschlossen und kämpfte gegen die Wogen der Übelkeit an, die in heißen, sauren Wellen durch seinen Magen schwappten.
»Gebt mir Euren Hut.« Eine Stimme, in der das Meer mitschwang, ein vogelkreischendes Krächzen im Befehlston. Die Art von Stimme, der man sogleich gehorchte, die einen in die Takelage flitzen ließ, um die Flügel des Schiffs zu spreizen. Vielleicht, nur vielleicht, hätte er an einem anderen Tag oder nach einem einzigen Becher Schiffswein getan, was sie verlangte, und ihr seinen Schiffsfrauenzweispitz überlassen, der ihn ebenso wie die helle Farbe in seinem Haar als Kommandanten auswies – auch wenn er das gar nicht verdient hatte.
Doch in der unruhigen Nacht hatten Gedanken an seinen Vater und an ein anderes Leben ihn im Schlaf geplagt. Kein besseres Leben, kein leichteres, aber ein nüchternes, eines ohne Schande. Eins, in dem er nicht die schleimigen Hände der Seehexe spürte, die ihn ins Verderben zu zerren versuchte. Eins mit langen Tagen am Flügel eines Flukenboots, wo er zum Meer sang und an den Seilen zog, während sein Vater stolz zusah, wie sein kleiner Fischerjunge den Wind beherrschte. Lange bevor der kräftige und starke Körper seines Vaters so leicht wie eine dünne Varisk-Ranke zerbrochen war, zermahlen zwischen der Seite seines Bootes und dem gnadenlosen Rumpf eines Knochenschiffs. Seine Hand, die aus dem schwarzen Wasser ragte, das bärtige Gesicht mit offenem Mund, als hätte er seinem Jungen in der letzten qualvollen Sekunde noch etwas zurufen wollen. So große Kraft, und doch hatte sie gar nichts bedeutet.
Möglicherweise war er gerade an diesem Tag mit der Vorstellung aufgewacht, wie wundervoll es wäre, wenn er ein wenig Stolz besäße. Und falls es je einen Tag gegeben hatte, an dem er den Schiffsfrauenzweispitz aufgegeben hätte, so war es nicht dieser Tag heute.
»Nein«, erwiderte er. Dafür musste er die Worte im Kopf zusammenkratzen, und genauso fühlte es sich auch an: Als würde er mit der gekrümmten Klinge des Curnows an der Innenseite seines Schädels entlangschaben; und die Worte kamen ihm über die schlaffen Lippen. »Ich bin Schiffsfrau der Gezeitenkind, was hieran zu erkennen ist.« Bei diesen Worten berührte er die Krempe des schwarzen Zweispitzes. »Ich bin Schiffsfrau und Ihr werdet mir diesen Hut schon mit Gewalt abnehmen müssen.«
Wie seltsam es sich anfühlte, diese Worte auszusprechen, diese Flottenworte, die er eher aus den Geschichten seines Vaters als aus eigener Erfahrung kannte. Aber es waren gute Worte, starke Worte mit Geschichte, und sie fühlten sich auf seiner Zunge richtig an. Wenn er denn sterben musste, waren dies keine schlechten letzten Worte, die an die Ohren seines Vaters drangen, der tief unter dem Meer warm und geborgen am ewigen Knochenfeuer der Hexe stand.
Er starrte die Gestalt vor sich mit zusammengekniffenen Augen an. Gedanken rangen in seinem schmerzenden Kopf miteinander: Wer hatte es auf ihn abgesehen? Seitdem er Schiffsfrau geworden war, hatte er gewusst, dass die Herausforderung kommen würde. Er befehligte wütende Frauen und Männer, böse Frauen und Männer, grausame Frauen und Männer – und es war nur eine Frage der Zeit, bis eines seiner Mannschaftsmitglieder es auf seinen Hut und die Farben abgesehen hatte. War es Barlay, die am Türloch der Schutzhütte stand? Sie war eine harte, brutale Frau. Aber nein, die Gestalt war zu klein, und ihre Silhouette ließ langes Haar erkennen und nicht etwa ganz kurz geschorenes. Also Kanvey? Er war ein Mann, der jedem alles neidete und der schnell das Messer zückte. Aber nein, die Silhouette wirkte weiblich, ganz eindeutig sogar. Unter der engen Kleidung aus Fischschuppen und Federn schien es keine geraden Linien zu geben. Dann also Cwell? Ihr war es zuzutrauen, zudem konnte sie schwimmen und somit vom Schiff runterkommen.
Er stemmte sich hoch und spürte das noch immer ungewohnte Gewicht des Curnows an seiner Hüfte.
»Dann kämpfen wir«, entschied die Gestalt, drehte sich um und ging hinaus in die Sonne. Ihr Haar war lang, grau und in den Befehlsfarben gestreift: leuchtenden Rot- und Blautönen. Die Sonne schimmerte auf den Fischschuppen ihrer Kleidung, die sie eng am muskulösen Körper trug und mit Riemen festgezurrt hatte. An diesen Riemen hingen Messer, kleine Armbrüste und eine zuckende, schimmernde, klimpernde Sammlung von Glücksbringern, die ein Leben im Dienst und voller Gewalt bezeugten. Um ihre Schultern lag ein kostbarer Federumhang, und wo die Fischschuppen das Sonnenlicht zerstreuten, fingen die Federn es ein, funkelten und glitzerten, schienen Lichtflecken weiterzureichen, sodass jede Farbe strahlend hervortrat.
Ich werde sterben, dachte er.
Sie schlenderte von der windschiefen Hütte weg, in der er geschlafen hatte, weg von dem kleinen, stinkenden, verlassenen Dock, und er folgte ihr. Sonst war niemand in der Nähe. Er hatte diesen Platz wegen seiner relativen Abgeschiedenheit ausgewählt und gestaunt, wie leicht er zu finden gewesen war; selbst auf einer derart geschäftigen Insel wie Schiffshulme neigten die Leute dazu, sich zusammenzurotten, Nähe zu suchen, und selbstverständlich mieden sie einen derart hexenverseuchten Ort wie diesen hier, an dem der Keyshanfluch noch immer lauerte.
Sie liefen über den Kieselstrand: sie energisch und auf der Suche nach einer passenden Stelle; er folgte ihr wie ein verlorener Kuwai – einer der flugunfähigen Vögel, die sie wegen ihres Fleisches züchteten – als würde er nach einem Schwarm Ausschau halten, dem er sich anschließen konnte. Doch ein Mann wie er fand natürlich keinen Anschluss, nur den sicheren Tod, auf den er zumarschierte.
Mit dem Rücken zu ihm blieb sie stehen, als wäre er ihre Aufmerksamkeit nicht einmal wert. Sie überprüfte den Strand zu ihren Füßen, schob die Kiesel mit den Spitzen ihrer hohen Stiefel herum, als befürchtete sie, dass sich unter den Steinen etwas erhob, um sie zu beißen. Er musste daran denken, wie er als Kind im Sand nach Jullywyrmern gesucht hatte, bevor er mit einer Gruppe imaginärer Freunde spielte. Von jeher ein Außenseiter. Ach, er hätte wissen müssen, dass es so kommen würde.
Als sie sich umdrehte, erkannte er sie, wusste, wen er vor sich hatte. Nicht weil sie einander schon begegnet waren oder sich im Kampf gegenübergestanden hatten, denn er hatte noch nie gegen jemanden gekämpft, aber er hatte ihr Gesicht schon mal gesehen – die spitze Nase, die markanten Wangenknochen, die wettergegerbte Haut, die schwarzen Muster um die Augen und die schillernden Gold- und Grüntöne auf den Wangen, die sie als wichtige Person kennzeichneten. Er erkannte sie und hatte sie schon vor Gefangenen auf und ab stolzieren sehen. Ebenso vor Kindern, die sie bei Raubzügen auf den Hageren Inseln erbeutet hatten, Kindern, die bereit gemacht wurden für die durstigen Klingen der Priester der Dreizehnbern, Kindern, die zur Hexe geschickt wurden oder als Leichenlichter auf den Knochen eines Schiffes mitfahren sollten – als fröhliche Farben, die für die Gesundheit des Schiffes sprachen. Er hatte sie am Bug ihres Schiffes Arakeesianische Furcht gesehen, das nach den Meeresdrachen benannt worden war, von denen die Knochen für die Schiffe stammten und die einst auf dem warmen Strand unter ihnen zerlegt worden waren. Nach den Meeresdrachen, die man nicht mehr sah. Nach den Meeresdrachen, die zum Mythos geworden waren, so wie eine Leiche letzten Endes auf den Meeresboden sank.
Aber, oh, dieses Schiff!
Das hatte er ebenfalls gesehen.
Die Arakeesianische Furcht war das letzte der großen Fünfripper. Achtzehn helle Leichenlichter tanzten darüber, ein riesiger, lang gezogener Arakeesianer-Schädel so lang wie ein Zweiripper krönte seinen Bug, leere Augenhöhlen starrten nach vorn, und die mit Metall ummantelte Schnauze diente als Ramme. Zwanzig riesige Schreckensbogen auf jeder Seite des Hauptdecks und viele weitere normale Bogen darunter im Unterdeck. Eine Besatzung aus über vierhundert, die jeden Knochen, aus dem das Gerüst bestand, derart polierte und wienerte, dass es sich blendend weiß vom Meer abhob.
Er hatte sie beim Trainieren mit der Mannschaft und im Kampf gesehen. Auf dem Dock, in einer Ehrensache, als jemand die Umstände ihrer Geburt erwähnt hatte. Es war kein langer Kampf gewesen, und als ihr Gegner um Gnade flehte, tja, da erwies sie ihm keine, und er glaubte auch nicht, dass sie dazu in der Lage war, denn sie war eine Frau von den Hundertinseln und durch und durch Flottenmitglied. Grausam und hart.
Das wenige Licht am Himmel verdunkelte sich, als hätte Skearith, der Gottesvogel, sein Auge geschlossen, um sein Schicksal nicht mit ansehen zu müssen, und die unbarmherzige Hitze in der Luft ergriff ebenso die Flucht wie der Hoffnungsschimmer, der in seiner Brust aufgekeimt war – die flatterhafte Möglichkeit, dass er das hier überleben könnte. Er würde gegen Meas Gilbryn kämpfen, die »Glückliche« Meas, die am höchsten ausgezeichnete, tapferste und wildeste Schiffsfrau, die die Hundertinseln je gesehen hatten.
Das würde er ganz sicher nicht überleben.
Aber wieso verlangte die Glückliche Meas nach seinem Hut? Selbst während er sich für seinen Tod wappnete, drehten sich seine Gedanken allein darum. Sie konnte jedes Schiff befehligen, das sie wollte. Es gab nur einen einzigen Grund dafür, weshalb sie seins begehren konnte …
Und das war undenkbar.
Unmöglich.
Meas Gilbryn war auf die schwarzen Schiffe verbannt worden? Zum Tode verdammt? Eher würde man eine Insel aufstehen und davongehen sehen, als dass so etwas passierte.
Hatte man sie hergeschickt, um ihn zu töten?
Durchaus denkbar. Es gab einige, die sein fortwährendes Weiterleben als Beleidigung ansahen. Vielleicht waren sie des Wartens leid geworden?
»Wie lautet Euer Name?« Sie stieß die Worte krächzend hervor wie ein Wesen, das Hunger auf Aas hatte.
Er versuchte, ihr zu antworten, hatte jedoch einen staubtrockenen Mund, und das nicht nur von der Trinkerei der letzten Nacht. Zwar ging es ihm schon seit sechs Monaten so, doch das machte die Sache nicht erträglicher.
»Mein Name ist Joron«, antwortete er, nachdem er einmal geschluckt und sich die Lippen geleckt hatte. »Joron Twiner.«
»Sagt mir nichts.« Sie wirkte abweisend und desinteressiert. »Hab ihn nie auf einer der Ehrenlisten gelesen oder in einem Kampfbericht gehört.«
»Ich habe nie gedient, bevor ich auf die schwarzen Schiffe geschickt wurde«, sagte er. Sie zog ihr Schwert. »Ich war einst Fischer.« Hatte er da ein Aufblitzen in ihren Augen gesehen, und falls ja, was bedeutete es? Verärgerung, Langeweile?
»Und?« Sie machte einen Übungsschwung mit der schweren Klinge, nahm ihn kaum zur Kenntnis, warf ihm nur einen Seitenblick zu. »Wie kommt es, dass ein Fischer auf ein Schiff der Toten verbannt wird? Noch dazu als Schiffsfrau?« Ein weiterer Probehieb in die unschuldige Luft vor ihr.
»Ich habe einen Mann getötet.«
Sie starrte ihn an.
»Im Kampf«, fügte er hinzu und musste abermals schlucken, den Klumpen aus eiskalter Furcht wieder seine Kehle hinabschieben.
»Dann könnt Ihr also kämpfen.« Sie hielt ihre Waffe bereit. Licht blitzte entlang der Klinge auf. Etwas stand darauf geschrieben; dies war kein billiges Curnow aus Schlackeeisen, wie er es führte.
»Er war betrunken, und mir war das Glück hold«, erklärte er.
»Tja, Joron Twiner, auf mich trifft trotz meines Namens keins von beidem zu.« Sie musterte ihn mit kalten grauen Augen. »Bringen wir’s hinter uns, ja?«
Er zog sein Curnow und ging sofort zum Angriff über. Ohne Vorwarnung oder freundliche Worte. Er war kein Narr und auch nicht verweichlicht. Sonst hätte er auf den Hundertinseln nicht so lange überlebt. Seine einzige Chance, die Glückliche Meas zu besiegen, bestand darin, sie zu überraschen. Seine Klinge schoss vor, ein direkter Stoß in Richtung Bauch. Eine einfache, präzise Bewegung, die er im Laufe seines Lebens unzählige Male ausgeführt hatte – denn jede Frau und jeder Mann auf den Hundertinseln träumt davon, der Flotte anzugehören und die Kinder der Insel mit dem Schwert beschützen zu können. Ihm gelang die perfekte Bewegung, trotz seiner Erschöpfung und seines vom Sehnen nach Alkohol gelähmten Körpers.
Sie schlug seine Waffe mit einem kaum merklichen Schnalzen des Handgelenks zur Seite und das schwere Ende der geschwungenen Curnowklinge ließ sein Schwert an ihrer Seite vorbeischnellen. Er taumelte nach vorn und verlor unverhofft das Gleichgewicht. Schon bewegte sie die andere Hand um den Körper herum, und er erhaschte einen Blick auf das Schimmern eines Steinrings an ihren Knöcheln, er wusste, dass sie eine Felsfaust trug, doch dann traf sie ihn auch schon damit an der Schläfe.
Er lag am Boden. Blickte in den weiten, klaren blauen Himmel hinauf und fragte sich, wohin die Wolken verschwunden waren. Wartete auf den Stoß, der ihm den Garaus machte.
Ihre Schwertspitze erschien in seinem Blickfeld.
Berührte ihn an der Stirn.
Zog eine schmerzhafte Linie hinauf zum Haaransatz und schob ihm den Hut vom Kopf. Dann ließ sie seinen Hut mit der Schwertspitze in die Luft fliegen, fing ihn und setzte ihn sich auf. Dabei lächelte sie nicht, schien nicht zu triumphieren, sondern sah ihn nur an, während ihm das Blut über das Gesicht strömte und er auf sein Ende wartete.
»Mit einem Curnow stößt man nicht zu, Joron Twiner«, sagte sie leise. »Hat man Euch denn gar nichts beigebracht? Damit schlitzt man auf. Nur dafür ist es gedacht.«
»Was für armselige letzte Worte für mich«, erwiderte er. »Mit dem Ratschlag einer Gegnerin im Ohr zu sterben.« Huschte bei diesen Worten etwas über ihr Gesicht, eine tief vergrabene Erinnerung daran, wie es war zu lachen? Oder empfand sie schlichtweg Mitleid mit ihm?
»Warum hat man Euch zur Schiffsfrau gemacht?«, verlangte sie zu erfahren. »Im Kampf habt Ihr den Rang eindeutig nicht gewonnen.«
»Ich …«, setzte er an.
»Die Schiffe der Toten kann man in zwei Kategorien einteilen.« Sie beugte sich vor und ließ die Schwertspitze vor seinem Gesicht tanzen. »Es gibt die, die von der Mannschaft geführt werden, weil die schwache Schiffsfrau zulässt, dass sie sich am Ankerstein zu Tode saufen. Und dann gibt es die, die von einer starken Schiffsfrau geführt werden, ihre Flügel bei Ärger erheben und alle Frauen und Männer darauf ehrenvoll sterben lassen.« Er konnte den Blick nicht von der Waffe abwenden und die Glückliche Meas schien dahinter zu verschwimmen. »Sieht fast so aus, als hätte die Gezeitenkind zur ersten Kategorie gehört, aber nun werdet Ihr mich zu ihr geleiten, und das Schiff wird sein Bestes geben, um sich in die zweite zu gesellen.«
Joron klappte den Mund auf, um ihr zu sagen, dass sie sich in Bezug auf ihn irrte, doch das tat er nicht, weil sie im Grunde genommen recht hatte.
»Steht auf, Joron Twiner«, verlangte sie. »Ihr werdet heute nicht auf diesen heißen und längst blutgetränkten Kieseln sterben. Stattdessen lebt Ihr weiter und vergießt Euer Blut im Dienst der Hundertinseln zusammen mit jedem anderen auf diesem Schiff. Und jetzt kommt, wir haben zu tun.« Sie drehte sich um, steckte ihr Schwert in die Scheide, war sich so sicher, dass er tun würde, was sie verlangt hatte, wie sie wusste, dass Skeariths Auge am Morgen auf- und am Abend wieder untergehen würde.
Die Kieselsteine knirschten, als er sich aufrappelte, und etwas regte sich in seinem Inneren. Wut auf diese Frau, die ihm das Kommando abgenommen hatte. Die ihn als schwach bezeichnet und voller Verachtung behandelt hatte. Sie war genau wie alle anderen, die das Glück gehabt hatten, mit unversehrtem Körper und stark geboren worden zu sein. Sich ihres Platzes gewiss, gesegnet von der Seehexe, der Jungfrau und der Mutter und bereit, jeden niederzuwalzen, um sich zu verschaffen, was immer sie haben wollten. Die Verbrecher der Besatzung der Gezeitenkind verstand er wenigstens. Diese Leute waren rau, grimmig und hatten im Leben keine andere Wahl gehabt, als auf sich selbst aufzupassen. Aber sie und ihresgleichen? Sie trampelten zum Spaß auf anderen herum.
Sie hatte ihm den Hut des Befehlshabers abgenommen, und obwohl er ihn zuvor gar nicht hatte haben wollen, bedeutete er ihm auf einmal etwas. Ihr Diebstahl hatte etwas in ihm ausgelöst.
Und er würde ihn sich zurückholen.
Die Tide wich so weit zurück,
Dass das Schiff auf dem Trockenen lag.
Ihr dürft das Kind nicht opfern,
rief das Meer mit dem Wellenschlag.
Doch die Hexenpriester wollten nicht hören:
»Das Mädchen stirbt am heutigen Tag.«
Aus »Das Lied der Glücklichen Meas«
2
Kind einer erbarmungslosen See
Vom Hügel über der Keyshanblutbucht konnte Joron sein Schiff – ihr Schiff –, die Gezeitenkind, sehen. Das Schiff lag am Ankerstein, und wie es sich für ein Schiff der Toten gehörte, waren die Knochen schwarz bemalt, und keine Leichenlichter tanzten darüber. Die ebenfalls schwarzen Flügel, die plump angelegt waren, ragten über die schiefergrauen Decks hinaus. Eigentlich hätte jeder Zentimeter des Schiffes schwarz sein müssen, doch die Besatzung und die Schiffsfrau – und er – waren nachlässig gewesen, sodass es eher aussah, als wäre ein sanfter Ascheregen auf das Schiff herabgegangen und hätte es mit weißen Flecken übersät, da an vielen Stellen das Weiß der Knochen hervorschimmerte. Der Bug war abgeschrägt, und die glatten Hüftknochen eines kleinen Arakeesianers, eines lange toten Meeresdrachen, schnitten geschmeidig durch das Wasser. Auf Wasserhöhe ragte der Schnabel des Keyshanschädels aus den Hüftknochen hervor, während sich von den Rippen vier lange Knochen nach hinten über die gesamte Länge des Schiffes erstreckten und das Gleiten durchs Wasser erleichterten. Über den Rippen befanden sich die Knochen des Schiffes, die die Rumpfseiten ausmachten, und sie waren scharf und zackig, glichen einem Gewirr aus seltsamen Winkeln und spitzen Knochen, die Enterer abhalten sollten, da der Rumpf ob der scherenartigen Ecken und Zacken schwer zu erklimmen war.
Anhand der Farben der Gezeitenkind konnte man erkennen, dass es sich um ein Schiff der letzten Chance handelte, dessen Besatzung zum Tode verurteilt war. Die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, um wieder ins Leben zurückzukehren, war irgendeine Heldentat, etwas unbestreitbar Bedeutsames, das genug Begeisterung hervorrief, um ihre Vergehen zu tilgen und ihnen ihr Leben zurückzugeben. Eine derartige Hoffnung machte die Deckkinder verzweifelt und verzweifelte Deckkinder waren kämpferisch. Doch falls die Toten jemals Vergebung erhalten hatten, so war das weder zu Jorons Lebzeiten noch zu jenen seines Vaters vor ihm geschehen.
Die Gezeitenkind hätte ein Schrecken sein und sich durch das Wasser des Zerschmetterten Archipels pflügen können, doch statt über das graue Meer zu fahren, lag sie am Ankerstein, umwuchert von Seegras, das sich an den Knochen auf der Unterseite festgesetzt hatte, während das Wasser rings um das schwarze Schiff vom Müll der Menschen verdreckt wurde: von Abwasser, verrottenden Lebensmitteln und all dem anderen Treibgut, das ständig auf einem Schiff anfiel. Auf den Flügelspieren saßen Skeer, schlanke weiße Vögel, aus dieser Entfernung lediglich als Punkte zu erkennen, aber er kannte ihre roten Augen und rasiermesserscharfen Schnäbel und wusste, dass sie stets hungrig waren.
»Daran erkennt man ein nachlässiges Schiff«, flüsterte Meas neben ihm.
»Woran?«
»An den Skeer. Wenn ein Deckkind einschläft, nehmen sie sich ein Auge oder eine Zunge – das habe ich schon öfter gesehen. Jemand sollte sich mit einer Schlinge um sie kümmern. Man muss die Vögel nicht sehen, um zu wissen, dass das Schiff nicht gut geführt wird; man kann es riechen.«
Er schnüffelte. Selbst hier oben auf dem Hügel war das Schiff zu riechen wie ein Fischdock unter dem Brennen von Skeariths Auge, wenn die Hitze von oben darauf knallte und es keinen Schatten, keinen Unterschlupf, keine Erlösung gab.
»Gezeitenkind«, sagte er.
»Ein schwacher Name.« Sie marschierte los und verschwand im Blattwerk, das hinter dem alten Flensdock dick und kräftig wucherte. Ihr dunkler Körper wurde von den unzähligen leuchtend lilafarbenen Gionblättern verschluckt, die sich dicht und weit ausfächerten und Schutz vor dem langsam aufsteigenden Skearith boten. Dazwischen wanden sich helle rosafarbene Varisk mit Reben, so dick und kräftig wie die Schenkel einer Frau, und mit Blättern fast so groß wie die des Gion, mit denen sie um das Licht wetteiferten.
Auf dem Weg durch den Wald stieg Ärger in ihm auf, nicht nur, weil sie ihn dazu zwang, sich den Weg durch die Pflanzen zu bahnen, statt den längeren, freien Pfad, den die Dorfbewohner benutzten, zu nehmen. Er ärgerte sich auch wegen des Schiffes und seines Kommandos. In den sechs Monaten seit seiner Verbannung hatte dieses Schiff sein Leben bestimmt; er hatte sich ausgemalt, damit zu Ruhm zu gelangen oder zu entkommen, und blieb demzufolge in einem Strudel der Unentschlossenheit gefangen. Dieses Schiff mochte nicht viel sein, doch es war das seine gewesen, und wenn sie es beleidigte, beleidigte sie auch ihn. Möge der Hexenfluch dich treffen, Glückliche Meas. Er zweifelte nicht daran, dass sie ihm alles andere als Glück bringen würde, ebenso wie dem Schiff und allen an Bord, wobei er sich in Wahrheit gar nicht um die anderen scherte, sollten die Keyshan sie doch holen. Während ihn sein trockener Mund plagte und sich sein Körper zitternd nach dem Inhalt der Kalebasse an seiner Hüfte sehnte, stolperte er ihr hinterher, und als er endlich stehen blieb, um das Gefäß abzunehmen und einen Schluck zu trinken, war sie auch schon stehen geblieben und hatte sich umgedreht.
»Wir werden im Gionwald Wasser finden«, sagte sie, »oder wir zapfen einen Varisk-Strunk an. Meine Offiziere sind keine Trunkenbolde.«
Ihre Offiziere? Was meinte sie denn damit? Schon hatte er der Liste der Dinge, über die er sich ärgerte, einen weiteren Punkt hinzugefügt.
Die riesigen Gion- und Varisk-Pflanzen waren jetzt so hoch wie sie; jeder Weg, der durch diesen Teil des Waldes geführt haben mochte, war rasch von den bunten Schlingpflanzen überwuchert worden, und ihre widerlichen Farben verstärkten seine Kopfschmerzen. Sein Curnow machte mit den Gewächsen kurzen Prozess, und ihn überkam eine schleichende Klaustrophobie, das Gefühl, gefangen zu sein, das sein auf mehreren Gründen beruhendes Unbehagen intensivierte, weil er den Eindruck hatte, der Pfad hinter ihnen würde sich sofort wieder schließen und von den gnadenlos wuchernden Ranken, Strünken und Blättern verdeckt. Die Waldvögel stimmten eine Kakofonie an, wann immer die Klinge zuschlug, einige riefen Warnungen, andere trällerten Drohungen, und er legte die Finger so fest um den Griff seiner hin- und herschwingenden Klinge, dass seine Knöchel weiß anliefen. Dies war die Jahreszeit, in der die Firash die meisten Opfer fanden, die Riesenvögel, die aus dem Hinterhalt hervorschossen, mit ihren Krallen Kehlen aufrissen und ihre sterbende Beute ins Unterholz zerrten, um sie bei lebendigem Leib zu verschlingen. Er fragte sich, ob die Glückliche Meas wohl einem von ihnen zum Opfer fallen würde. Aber nein, irgendwo tief in seinem Inneren wusste er, dass es nicht das Schicksal der Glücklichen Meas war, in einem Wald durch die Krallen eines Riesenvogels zu sterben.
Joron war derart in seine Gedanken versunken, dass er Meas kaum hörte, als sie abermals das Wort ergriff.
»Ist Eure Mannschaft an Bord?«
Er stolperte über eine dicke Wurzel, in der blauer Saft pulsierte.
»Alle bis auf den Windflüsterer.«
Sie blieb stehen, drehte sich um und starrte ihn an. »Auf schwarzen Schiffen gibt es keine Windflüsterer.«
»Auf unserem schon, aber die Besatzung will ihn nicht an Bord haben, wenn das Schiff ankert – angeblich bringt das Unglück.«
Sie beäugte ihn, als würde sie auf mehr warten, aber er hatte keine Ahnung, wieso sie das tat – das wusste doch jeder, oder nicht? Allein der Gedanke an den Gullaime bescherte ihm eine Gänsehaut, als wären das Zittern und die Übelkeit, weil ihn so sehr nach etwas zu trinken verlangte, nicht schon schlimm genug.
»Wo ist er denn?«
»Was?«
»Ich werde die Frage nicht wiederholen. Seid Ihr vom Alkohol derart wirr im Kopf, dass Ihr keine einfache Frage mehr beantworten könnt?«
Es gelang ihm nicht, ihr in die Augen zu sehen.
»Auf der Glockenboje am Eingang der Bucht. Wir haben ihn dort abgesetzt.«
»Und wann war er zum letzten Mal an Land? Wann hat man ihn das letzte Mal zu einem Windturm gebracht?«
»Ich …« Sein Kopf wollte einfach nicht klarer werden; die Welt verschwamm vor seinen Augen in tausend schillernden Farben, die sich ebenso drehten wie seine schmerzenden Innereien.
»Bei Nordsturms geflüsterten Flüchen, Mann, nun trinkt endlich, wenn Ihr Euch derart danach verzehrt, und betet zur Seehexe, dass sie Euch wenigstens Verstand, wenn schon nicht Nüchternheit bringt. Ich frage den Windflüsterer selbst, wenn er an Bord kommt.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und marschierte weiter durch den lichten Wald. Er hob die Flasche an den Mund und trank einen Schluck vom dickflüssigen, suppenartigen Alkohol. Etwas, das von den Gion und Varisk um ihn herum verborgen wurde, stieß einen Todesschrei aus, als die Natur das endlose Spiel von Opfer und Beute ein weiteres Mal aufführte.
Je näher sie dem Strand kamen, desto intensiver wurde der Geruch des Schiffes. Das war ihm zuvor noch nie aufgefallen, und er hatte auch nie darüber nachgedacht, aber heute drehte sich ihm der Magen um. Es war nicht der Geruch des Todes, der da vom schwarzen Schiff über die Bucht herüberwaberte, sondern der Gestank des Lebens – unbeschwert, chaotisch und sorglos. Sie hatten diese ruhige Bucht, in der sie wahrscheinlich kein Befehl ereilen würde, vor einem Monat gefunden und dort angelegt. Im an der Bucht gelegenen Fischerdorf wollte man nichts mit der Besatzung zu tun haben, daher hatte Joron geglaubt, das Schiff problemlos verlassen zu können. Nur wenige Mannschaftsmitglieder der Gezeitenkind konnten schwimmen, daher stellten sie für die hier lebenden Männer und Frauen keine Gefahr dar. Seine heruntergekommene Hütte lag weit genug entfernt, dass ihn das zerklüftete Land vor dem Schiff verbarg, und er fragte sich, was es über ihn aussagte, dass er einen Ort ausgewählt hatte, von dem aus er seine Untergebenen nicht einmal sehen konnte.
Nichts Gutes vermutlich.
Das Flukenboot lag an der Stelle, an der er es zurückgelassen und schief auf den blassrosafarbenen Strand gezogen hatte. Der Sand sah einladend und entspannend aus, doch jedes Korn war eine Lüge, weil es sich um einen Strand aus Trussickmuscheln handelte. Die meisten waren zertrümmert, doch dazwischen befanden sich auch noch zahlreiche ganze, die unter einem Fuß zerbrechen und die Sohle aufschneiden konnten, daher wählte er seinen Weg über den Strand mit Bedacht, wohingegen die Glückliche Meas in ihren Stiefeln unbesorgt weiterlief.
Das Flukenboot erinnerte an einen Kokon. Es war aus Gionblättern gebaut, die getrocknet und behandelt wurden, bis sie weich und biegsam wie Vogelleder waren, um sie dann um ein Gerüst aus im Feuer gehärteten Varisk-Strünken zu wickeln und das ganze Gebilde so lange in der Sonne liegen zu lassen, bis es knochenhart geworden war. Flukenboote waren anfangs braun, bis sie von ihren Besitzern bunt angemalt wurden: mit Symbolen der Seehexe, der Jungfrau oder der Mutter, den Augen der Stürme oder dem Flüstern der vier Winde. Dieses Flukenboot war kaum mehr als ein Ruderboot, groß genug für zehn Personen, aber trotzdem so leicht, dass notfalls nur einer rudern musste. Manche Flukenboote waren so groß, dass sie zwanzig, zuweilen sogar dreißig oder mehr Passagieren Platz boten, und hatten große Gionblätter, die getrocknet und behandelt wurden, damit sie als Flügel dienen, den Wind einfangen und die Boote über das Meer tragen konnten.
Das waren Schiffe für die töricht Dummen, meinten viele, denn sie waren zerbrechlich und nicht mit den Knochenschiffen zu vergleichen, die harte Rümpfe besaßen. Ein Flukenboot konnte mit einem gut platzierten Schuss aus einem Schreckensbogen zerstört werden. Joron kannte hingegen auch ihre Vorteile, da er in seiner Jugend seinem Vater auf einem dieser Boote geholfen hatte; nur sie beide gegen das Meer in einem hellblauen Boot mit dem Namen Seufzender Osten, benannt nach dem Sturm, der ein Deckkind liebte. Es war schnell gewesen, schneller als fast alles andere, selbst die Crisk oder die Vareen, und wenn diese großen Meeresbestien den Kopf auf der Suche nach Beute erhoben, hatten sie die Seufzender Osten nie bemerkt. Das kleine Boot war mit dem Wind gesegelt, und die salzige Gischt hatte Jorons Haare steif werden lassen, wenn er am Bug stand, der Gefahr ins Gesicht lachte und sich sicher war, dass sein Vater sie mit stetiger Hand an ihr Ziel brachte. Er lenkte das Boot immer geschickt, spürte immer Fische auf, beschützte immer seinen singenden Jungen. Bis zum letzten Tag, an dem er es nicht mehr konnte. Manchmal war es schwer zu glauben, dass Jorons Leben so ausgesehen hatte, dass er noch vor wenigen Monaten dieser narbenlose, sorglose, lachende Junge am Bug eines Flukenboots gewesen war.
Wie war es nur dazu gekommen?
Wie war er hier gelandet?
Neunzehn Jahre auf See und zum Tode verurteilt. Die Welt pulsierte, der blaue Himmel verdunkelte sich an den Rändern.
Er wusste, dass diese Gedanken ein Nachhall des Trinkens waren, und der dadurch aufsteigenden Melancholie hatte er nur durch noch mehr Alkohol entrinnen können, bis er vergessen und vor sich selbst fliehen konnte. Aber jetzt vermochte er nicht zu trinken. Nicht in ihrer Gegenwart. Er würde durchhalten, und sei es auch nur, um ihr zu trotzen. Wenn sie ihm auftrug, den Dreck aus den Bilgen zu beseitigen, würde er es tun, sich dabei Zeit lassen und auf eine günstige Gelegenheit warten.
Meas erreichte das Flukenboot und richtete es auf, sodass der dünne Kiel sich in den Sand bohrte und sie es ins an den Strand schwappende Wasser ziehen konnte. Dieses Boot zierten keine fröhlichen Farben; es trug keinen Namen, war schwarz bemalt und hatte nur ein Auge am Bug, das es durchs Meer leiten sollte. Sie ging ganz nach vorn, hatte einen Fuß auf dem Rumpf, den anderen erhöht auf der Spitze, und sah durch und durch wie eine Schiffsfrau aus. Dabei drehte sie sich nicht um, sagte keinen Ton, und das musste sie auch nicht. Er wusste, was von ihm erwartet wurde.
Er gehörte jetzt zur Mannschaft.
Sie stand dort, wo er hätte stehen sollen, es jedoch nie getan hatte; kein Mannschaftsmitglied der Gezeitenkind hätte ihn je irgendwohin gerudert, vielmehr wäre er ausgelacht worden, wenn er das verlangt hätte. Als er sich den Weg über den gefährlichen Strand gebahnt hatte, trieb das Boot schon in der ruhigen Bucht, und er musste hinüberwaten, wobei das Salzwasser in den hundert winzigen Schnitten an seinen Fußsohlen brannte. Er zog sich tropfnass ins Boot und empfand die Nässe als Demütigung, während ihm die Gluthitze die Kleidung trocknete. Dann griff er nach den beiden Rudern und legte sie in die Kerben.
»Es war töricht, das Boot hierzulassen«, meinte sie.
»Wer würde ein Boot stehlen, das für die Toten gedacht ist?«
»Die Toten«, antwortete sie und deutete auf die Gezeitenkind weit vor ihnen, die schwer im Wasser lag. Das Schiff schwankte weder, noch bewegte es sich mit dem Wellengang, sondern es sah so ruhig und unbeweglich aus wie ein Stein, ein Stein, auf dem man eine Seele zertrümmern konnte.
»Ich habe es ans Ufer gebracht, damit sie es sich nicht holen können.« Er sprach die Worte aus, obwohl er sie am liebsten geschrien hätte. Wusste sie denn wirklich nicht, dass die Besatzung das Boot zur Flucht nutzen würde, wenn er es dort gelassen hätte?
»Tja, wenn sie nicht ganz und gar ungewöhnlich sind, können doch bestimmt ein paar von ihnen schwimmen, oder nicht?« Sie drehte sich nicht um, damit sie sehen konnte, ob er ihre Worte zur Kenntnis genommen hatte, und das war auch nicht nötig, weil sie beide wussten, dass sie recht hatte. Das Boot war nur aus einem einzigen Grund noch da: Weil die Besatzung der Gezeitenkind derart betrunken war, dass sie nicht weiter gedacht hatte als er. Abermals fühlten sich die nassen Kleidungsstücke auf seiner Haut wie ein Zeichen der Schande an. »Und es mag Eurer Aufmerksamkeit entgangen sein …« Sie deutete auf die Gezeitenkind. »… aber sie haben bereits ein Schiff.« Er starrte sie an und kam sich nun erst recht wie ein Narr vor. »Rudert!«, verlangte sie ungeduldig und ohne sich umzudrehen. »Ich möchte wissen, was für eine armselige Besatzung ein Mann wie Ihr als Schiffsfrau anführt.«
Warme, feuchte Kleidung auf seiner Haut.