Laura Wunder hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Sie sah sich um und lauschte in die Dunkelheit. Doch es war niemand im Treppenhaus, und der Fahrstuhl stand still oben im fünften Stock.
Rasch streute Laura ein Gemisch aus feinem Sand und Tapetenkleister auf den Boden. Sie kannte die Fußabdrücke von allen Leuten im Haus. Nur die von dem neuen Bewohner noch nicht. Er hatte nicht einmal ein Namensschild an der Tür, verließ das Haus nur nachts und huschte auf dem Weg zu seiner Wohnung immer nur schnell durch den Flur. Dabei zog er den Kragen seiner Jacke so hoch, dass sein Gesicht verdeckt wurde. Er wollte offensichtlich unerkannt bleiben. Aber Laura war ihm längst auf den Fersen.
Auf ihrer Spezialmischung waren die Profile von Schuhsohlen besonders gut erkennbar. Den Weg zum Fahrstuhl und zur Treppe hatte Laura schon bestreut. Niemand konnte hier rein oder raus, ohne einen Abdruck zu hinterlassen.
Laura wollte Geheimagentin werden. In ihr Spurenbuch hatte sie nicht nur Fußabdrücke abgezeichnet, nein, darin klebten sogar Haare von den meisten Nachbarn. Außerdem Zigarettenstummel, Stoffreste und Fotos.
Mit einer Digitalkamera würde vieles leichter werden. Eine Geheimagentin ohne Digicam oder ein Smartphone mit guter Kamera war eigentlich ein Witz. Ihr altes Mobiltelefon, mit dem sie nur SMS schreiben konnte, hatte so etwas natürlich nicht. Mama sagte immer, Kinder müssten nicht auch noch den ganzen Tag mit diesen modernen Geräten herumlaufen. Das ständige Starren auf Bildschirme ging ihr schon bei Erwachsenen auf den Keks.
Fast geräuschlos öffnete sich das Flurfenster. Da stieg jemand ein!
Laura machte sich ganz klein und drückte sich gegen die Wand. Sie musste aufpassen, nicht auf ihre eigene Spezialmischung zu treten. Die Gestalt, die jetzt durch das Fenster in den Flur glitt, bewegte sich geschmeidig wie eine Schlange. Sie war nicht größer als Laura und zog etwas Langes, Dünnes hinter sich her. Vielleicht ein Seil.
Vorsichtig tastete Laura nach ihrer Taschenlampe, die sie für alle Fälle dabeihatte. Sollte sie das Licht einschalten?
Schwer atmend kam die Gestalt näher. Sie war nun keine zwei Meter mehr von Laura entfernt. Da ging unten die Haustür auf. Jemand knipste das Flurlicht an. Laura schrie auf. Sie stand vor ihrer Schwester Leonie.
Leonie trug den neuen Klettergurt, ihre Beine steckten noch in den Schlaufen. Sie ließ vor Schreck das Sicherungsseil fallen.
„Laura! Was machst du denn hier? Herrje, ich hätte mir fast in die Hose gemacht!“, schrie Leonie.
Rasch legte Laura einen Finger auf ihre Lippen: „Psst. Nicht so laut!“
Leonie zeigte auf Lauras Füße. „Du bist echt zu dämlich! Nimmst du deine eigenen Abdrücke?“
Mist, dachte Laura. Ihre Füße pappten schon am Boden fest. Sie hatte wohl zu viel Kleister genommen. Sie überlegte, ob sie zum Gegenangriff übergehen sollte. Die Eltern hatten Leonie nämlich bereits mehrmals verboten, an der Hauswand hochzuklettern. Aber seit sie im Klettercenter Freiburg am Fortgeschrittenenkurs teilgenommen hatte, war sie nicht mehr zu bremsen.
Leonie war in fast allem schneller als Laura. Sie konnte schneller laufen, schneller sprechen, schneller schwimmen und schneller essen. Sie wurde auch schneller wütend als Laura. Für ihre Hausaufgaben brauchte sie selten länger als vier Minuten. Und dabei aß sie noch ein Stück Kuchen.
„Ich sag dir was“, schlug Leonie da auch schon vor. „Ich verpetz dich nicht, wenn du auch den Mund hältst.“
Laura blieb nichts anderes übrig, sie nickte. Da hörte sie hinter sich Schritte.
Wenn Laura sich fürchtete, war es immer, als würde sie von vielen kleinen Nadeln in den Rücken gepikst. Diesmal waren die Nadeln sogar heiß.
Der unheimliche neue Mieter war offensichtlich zu Hause – angelockt von dem Lärm, ging er Richtung Tür. Laura und Leonie hörten, wie von innen der Schlüssel im Schloss gedreht wurde
Leonie rannte zuerst los. Sie erreichte das Ende vom langen Flur und sprang die Treppen hinunter.
Laura wollte auch loslaufen, fiel aber der Länge nach hin. Als sie sich aufraffen wollte, spürte sie die Anwesenheit des Mannes ganz nah. Sie konnte seinen Atem riechen. Eine Mischung aus Pfefferminz und Menthol. Seine Stimme klang rau. Seine Augen waren glasig. Er beugte sich zu ihr runter.
„Bist du hingefallen? Hast du dir wehgetan?“
Laura stieß ihn weg. „Nein!“, schrie sie. „Hab ich nicht!“ Dann stürmte sie Leonie hinterher. Gemeinsam flüchteten sie ein Stockwerk tiefer, in die Wohnung ihrer Eltern.
Lauras und Leonies Zimmer lagen direkt nebeneinander. Obwohl die Bezeichnung Zimmer für Leonies Reich nicht ganz passend war. Es handelte sich eher um eine Art Kletterburg mit einem Kleiderschrank in der Ecke. Auf einen Kleiderschrank hatte Mama bestanden.
Dass Leonie nicht in einem Bett schlief, sondern abwechselnd im Schlafsack auf dem Boden oder in ihrer Hängematte, verstand sich von allein.
Die meiste Zeit hing Leonie an ihren bunten Klettergriffen. Wie ein Leguan klebte sie an der Wand, fand Laura. Neuerdings krabbelte sie sogar an der Decke entlang, denn auch dort gab es jetzt Griffe. Papa hatte sie mit extra langen Sicherheitsdübeln angebracht.
Mama hatte gejammert: „Wenn wir hier irgendwann ausziehen, bekommen wir Ärger mit den Nachmietern. Wir werden sooolche Löcher in den Wänden hinterlassen!“ Dabei hatte sie mit den Händen ein Loch von der Größe eines Fußballs gezeigt. Manchmal übertrieb Mama ein bisschen.
In der Mitte des Zimmers stand Leonies Zelt. Darin machte sie ihre Hausaufgaben. Wenn sie Hausaufgaben machte …
Lauras Zimmer sah ganz anders aus. Es gab Regale mit gut zweihundert Büchern. Die meisten hatte Laura gelesen. Einige mehrfach, weil sie so spannend waren. Die anderen waren Geschenke von Tante Mia. Tante Mia fand, sie seien besonders wertvoll, und Laura müsste sie unbedingt lesen.
Ob die Bücher wertvoll waren, wusste Laura nicht. Alt waren sie auf jeden Fall. Tante Mia hatte sie in ihrer Jugend gelesen, und das musste mindestens fünfzig Jahre her sein.
Natürlich brauchte eine richtige Geheimagentin ein Labor. Laura hatte alles, was dafür notwendig war, auf einem Tisch aufgebaut. Zwei Mikroskope. Eins für die Untersuchung von winzigen Spuren wie Wollfusseln, Staubkörnchen oder Haaren. Das andere für die Vergrößerung von noch viel kleineren Dingen. Sie war nicht nur Verbrechern auf der Spur. Oh nein. Sie sammelte auch Bakterien und Schimmelpilze. Um diese genau bestimmen zu können, benutzte Laura ihren Chemiebaukasten und ließ sie in einer Nährlösung in kleinen Reagenzgläsern wachsen. Die versteckte sie vorsichtshalber unter ihrem Bett, denn sie ahnte schon, wie Mama das finden würde: „Ekelhaft!“
Laura wollte unter dem Bett nachsehen, wie sich die Proben entwickelt hatten. Aber heute war nicht gerade ihr Glückstag. Unter ihrem Bett lagen keine Proben mehr.
Einbrecher!, dachte Laura.
Das Fenster in ihrem Zimmer war geschlossen. Der Eindringling musste also durch die Tür gekommen sein. Ob er noch da war und sich irgendwo versteckte? Wieso hatte Mama nichts bemerkt?
Laura kroch unter dem Bett hervor. Da stand Mama mit vorwurfsvollem Blick im Türrahmen. Sie hielt ein Gläschen in der Hand und schüttelte den Schimmelpilz darin durch.
„Suchst du vielleicht das hier?“, fragte Mama mit einem unheilvollen Ton in der Stimme.
Laura nickte.
„Wie kommst du darauf, solche Schweinereien unter deinem Bett aufzubewahren?“
Laura wünschte sich wieder einmal, sie wäre so schlagfertig wie Leonie. Aber das war sie leider nicht. Laura musste lange an ihren Sätzen basteln. Sie wollte nichts Falsches sagen und sortierte die Worte sorgfältig im Kopf, bevor sie sie aussprach. Leonie dagegen plapperte meist einfach drauflos.