4. Auflage
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4., unveränderte Auflage 2015
© 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
1. Auflage 2011
Die Herausgabe des Werkes wurde durch
die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Redaktion: Katharina Gerwens-Hummel, München
Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach
Umschlaggestaltung: schreiberVIS, Seeheim
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26777-4
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-74087-1
eBook (epub): 978-3-534-74088-8
1 Einleitung
2 Pädagogik als Wissenschaft
2.1 Die „Disziplin“ Pädagogik und Erziehungswissenschaft
2.2 Was ist eine Wissenschaft?
2.3 Pädagogische Grundbegriffe und wissenschaftliches Verstehen
2.4 Pädagogische Wissensformen
3 Der Grundbegriff Erziehung
3.1 Erziehung – erzählt
3.2 Problemgestalten von Erziehung
3.2.1 Bestimmungen von Erziehung
3.2.2 Begriffsgeschichtliche Verortungen von Erziehung
3.2.3 Anthropologische Entwürfe von Erziehung
3.2.4 Erziehung und Macht
4 Jean-Jacques Rousseau – Natürliche Erziehung
4.1 Naturrecht und Naturzustand
4.2 Grundlagen der negativen und natürlichen Erziehung
4.3 Ziele und Praktiken der Erziehung
4.4 Die Erzieher des Menschen
4.5 Die Phasen der Erziehung und ihre Aufgaben
5 Immanuel Kant – Erziehung über die Generationen
5.1 Mündigkeit
5.2 Fortschritt und Aufklärung
5.3 Die Anlage zum Guten
5.4 Erziehungsaufgaben und -praktiken
6 Johann Friedrich Herbart – Erziehung als ästhetische Darstellung der Welt
6.1 Erziehung zur Sittlichkeit
6.2 Ästhetische Notwendigkeit
6.3 Erziehender Unterricht
6.4 Pädagogik als Wissenschaft
7 Der Grundbegriff Bildung
7.1 Bildung – erzählt
7.2 Problemgestalten von Bildung
7.2.1 Bestimmungen von Bildung
7.2.2 Begriffsgeschichtliche Verortungen von Bildung
7.2.3 Bildungs- und Kompetenzbegriff
8 Platon – Bildung als Erkenntnis
8.1 Das Höhlengleichnis
8.2 Die Idee des Guten
8.3 Die Seele und die Anamnesislehre
8.4 Das Symposion: Eros als Bildungstrieb
9 Wilhelm von Humboldt – Bildung als Selbstzweck des Menschen
9.1 Proportionierliche Kräftebildung
9.2 Bildung als Wechselwirkung von Ich und Welt
9.3 Bildung und Sprache
9.4 Bildung und Staat – das Bildungswesen
10 Theodor W. Adorno – Dialektik der Bildung
10.1 Dialektik der Aufklärung
10.2 Theorie der Halbbildung
10.3 Kritik der Kulturindustrie
10.4 Bildung als kritische Selbstreflexion
11 Der Grundbegriff Sozialisation
11.1 Sozialisation – erzählt
11.2 Problemgestalten von Sozialisation
11.2.1 Bestimmungen von Sozialisation
11.2.2 Phasen und Instanzen der Sozialisation
11.2.3 Rollentheoretische Ansätze
12 Émile Durkheim – Sozialisation als Vergesellschaftung und soziale Bindung
12.1 Soziologische Tatbestände
12.2 Mechanische und organische Solidarität
12.3 Soziale Ordnung
12.4 Moralität und aufgeklärte Zustimmung
12.5 Erziehung als methodische Sozialisation
13 Pierre Bourdieu – Sozialisation und Habitus
13.1 Sozialer Raum und Macht
13.2 Kapitalformen
13.3 Geschmack und Lebensstil
13.4 Habitus
14 Ernst Cassirer – Symbolische Formen
14.1 Animal symbolicum
14.2 Symbolische Formen
14.3 Erziehung, Bildung und Sozialisation
Literatur
Personenregister
Sachregister
Wer ein Studium der Pädagogik beginnt, erwartet in der Regel praxisnahes Wissen. Jedoch spielt während des Studiums auch theoretisches Wissen, vor allem die Auseinandersetzung mit Begriffen, eine große Rolle. Das Studium an einer Universität ist zugleich Ausbildung und Bildung durch Wissenschaft. Damit ist aber nicht gesagt, dass der Bezug des Studiums zum Handlungs- und Berufsfeld nebensächlich sei. Die Berufsfeldorientierung erfolgt im Rahmen von Theorie und Wissenschaft, da sie eine distanzierte, kritische und reflektierte Sicht auf pädagogisches Handeln erlauben. Zum theoretischen Wissen gehört vor allem die Auseinandersetzung mit den Grundbegriffen eines Faches. Pädagogik als Wissenschaft organisiert ihre Theorien, ihre Forschungen sowie ihre Berufs- und Handlungsfeldorientierungen im Wesentlichen durch Grundbegriffe, die sich in ihrem Kern mit Prozessen von Erziehung, Bildung und Sozialisation befassen. Keineswegs ist damit gesagt, dass ausschließlich mit diesen drei Begriffen das Feld der Pädagogik abgesteckt ist, dennoch sind sie „grundlegend“ und spielen historisch sowie systematisch eine besonders große Rolle in der Erziehungswissenschaft.
Der Band stellt mit den genannten Grundbegriffen nicht nur den Aufbau der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin dar, sondern eröffnet über diese Begriffe zugleich zentrale Perspektiven auf das menschliche Zur-Welt-Sein. Die Pädagogik hat ihre spezielle Ausprägung über die Jahrhunderte in der Beschäftigung mit den beiden Begriffen Bildung und Erziehung erhalten. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das Fach zunehmend als Antwort auf gesellschaftliche Anforderungen und auf neue Handlungsfelder ausdifferenziert. So trat der Begriff der Sozialisation ergänzend an die Seite von Erziehung und Bildung, um pädagogische Prozesse auch aus einer Art Außenperspektive verstehbar zu machen.
Zum Aufbau dieses Buches:
Der Band eröffnet das Problemfeld der Grundbegriffe durch wissenschaftstheoretische Reflexionen über die Bedeutung von Theorien und Begriffen, die Rolle von pädagogischem Wissen sowie die Besonderheit wissenschaftlichen Verstehens. Daran anschließend werden die Grundbegriffe in historisch-systematischer Hinsicht entfaltet und anhand von Erzählungen illustriert. Zusätzlich zur Begegnung mit Hauptvertretern der Pädagogik werden pädagogische Problemgestalten, die jeweilige Begriffsgeschichte und zentrale Theorieansätze behandelt. Die Hauptvertreter sind zum einen nach den mit ihnen verbundenen Denkansätzen gewählt, die bis in unsere Gegenwart hinein pädagogische Diskurse bestimmen, zum anderen, um an ihnen komplexe pädagogisch-theoretische Problemgestalten exemplarisch zu entfalten – wie Fragen nach normativen Leitideen, Prämissen, Argumentationsebenen, Phasen und Dimensionen von Erziehung, Handlungsformen u.v.m. Da jeder der historisch-systematischen Bausteine auch zu gegenwärtigen Debatten in Beziehung gesetzt wird, geraten vergangene und gegenwärtige Aspekte der pädagogischen Grundbegriffe gleichermaßen in den Blick.
Ideal für Studieneinsteiger1 richtet sich das Werk an jeden, der sich einen Überblick über den begrifflichen Kern der Pädagogik als Wissenschaft verschaffen möchte. Unser besonderer Dank gilt Katharina Gerwens, Renate Geudner, Daniela Schmalz und Eva Zimmer für die Unterstützung bei der Arbeit an diesem Band.
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.
Praxisfelder der Pädagogik
Pädagogik als Wissenschaft umfasst ganz unterschiedliche Teildisziplinen, die sich einerseits mit spezifischen Fragen beschäftigen und andererseits als Antworten auf gesellschaftliche Problemlagen, Anforderungen oder Zielsetzungen gesehen werden. Zudem gliedert sich die Pädagogik in unterschiedliche Praxisfelder, aus denen heraus das Feld der Pädagogik weiter spezialisiert wird. Pädagogische Forschungs- und Arbeitsfelder umfassen die gesamte Lebenszeit des Menschen, angefangen bei Kindheit und Jugend über die Erwachsenenzeit bis ins hohe Alter. Insgesamt also ist Pädagogik ein außerordentlich komplexes, vielschichtiges und in sich ausdifferenziertes Feld. Aufgrund dieser Heterogenität führen die Grundbegriffe Erziehung, Bildung und Sozialisation zu gemeinsamen Fragestellungen, beziehungsweise geschärften Problemstellungen. Die Ausdifferenzierung selbst ist historisch gewachsen und einer zunehmenden „Pädagogisierung“ vieler Lebens- und Gesellschaftsbereiche geschuldet.
An Universitäten findet man heute sowohl den Studiengang Erziehungswissenschaft als auch Pädagogik, wobei sich hinter den unterschiedlichen Bezeichnungen keine besonderen wissenschaftlichen Programme verbergen. Nur selten betont man mit dem Terminus Erziehungswissenschaft eine eher sozialwissenschaftliche, mit dem der Pädagogik eine eher geisteswissenschaftliche Perspektive. Ungeachtet der Bezeichnung lassen sich wissenschaftstheoretisch zwei große methodische Richtungen unterscheiden, die den wissenschaftlichen Spielraum begrenzen: Zum einen die theoretische Pädagogik in philosophisch-reflexiver Orientierung, die vorrangig nach Sinn und Bedeutung von Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsphänomenen fragt, zum anderen die empirisch-positivistische Pädagogik bzw. empirische Bildungsforschung, die derartige Prozesse mit empirischen Methoden „beobachtet“. Theoretische und empirische Forschungen können so gesehen als zwei „Kulturen“, als zwei sich ergänzende Sichtweisen bezeichnet werden.
theoretisch-philosophische Perspektive
Dabei richtet die theoretisch-philosophische Perspektive ihre kritisch-analytischen, hermeneutischen oder phänomenologischen Reflexionen auf pädagogische Gegenstandsbereiche, auf Bedingungen pädagogischer Theorie und Praxis, auf konstitutive normative Grundlagen sowie auf anthropologische oder auch soziokulturelle Voraussetzungen von Bildung und Erziehung. Insgesamt geht es um den Sinn pädagogischen Denkens und Handelns. Damit verbunden ist eine Grundlagenforschung, die pädagogisches Wissen und menschliche Erfahrungen in pädagogischer Hinsicht historisch und systematisch untersucht. Die empirisch-erziehungswissenschaftliche Forschung dagegen stellt methodisches Wissen über Wirklichkeitsbereiche her, um pädagogische Zusammenhänge kausal-analytisch zu erklären. Theoretische Pädagogik und empirische Forschungen sind dabei keine Gegensätze, sondern vielmehr unterschiedlich gestaltbare Räume von allgemeinen theoretischen Vorstellungen und Deutungsmustern, Erklärungsmodellen zu Sachverhalten, Formulierungen von Gesetzen bis hin zu methodisch gelenkten Beobachtungen, Auslegungen erzählter Biografien usw. (vgl. JOAS/KNÖBL 2006, S. 13–38).
Disziplin „Pädagogik“
Das Nachdenken über Erziehung und Bildung reicht bis weit in die Antike zurück und ist dort nicht an ein Fach oder an eine Disziplin gebunden, sondern Gegenstand theoretisch-philosophischen Denkens. Die Disziplin „Pädagogik“ als spezialisiertes Universitätsfach mit wissenschaftlichem Anspruch entsteht erst 1779, also im Zeitalter der Aufklärung. In diesem Jahr wird an der Universität Halle mit Ernst Christian Trapp (1745–1818) der erste Lehrstuhl für Pädagogik besetzt. Vordem existierte das Fach nur als ein Teil der philosophischen Fächer (vgl. u.a. HORN 2008, S. 7–8). Die gesonderte Einrichtung des Faches ist im Zusammenhang mit der Entwicklung der Institution Schule zu sehen, da Entstehung und Ausbau des allgemeinen Schulwesens eine eigene Wissenschaft für die künftigen Lehrer notwendig machten.
Systematisierung des Erziehungsdenkens
Mit der sukzessiven Etablierung des Faches entsteht eine Reihe von pädagogischen Standardwerken, in denen Pädagogik als eigenständige Wissenschaft dargestellt wird. So fordert z.B. Johann Friedrich Herbart (1776–1841) im Jahre 1806 in seiner „Allgemeinen Pädagogik“ (vgl. Kap. 6) die Besinnung auf „einheimische Begriffe“ und leistet eine erste Systematisierung des Erziehungsdenkens. Weitere wichtige Schriften sind Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834) „Pädagogische Vorlesungen“ aus den Jahren 1813/1814 oder Wilhelm Diltheys (1833–1911) Auseinandersetzung „Über die Möglichkeiten einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft“ aus dem Jahre 1888.
Wissenschaft als Zugang zur Welt
Pädagogik ist als universitäre Disziplin mit eigenem Hauptfach eine noch sehr junge Wissenschaft. Aber was kennzeichnet Pädagogik als Wissenschaft überhaupt? Eine Wissenschaft ist eine an allgemeinen Aussagen orientierte Deutungsweise von Mensch und Welt, die unter Verwendung eigener, möglichst differenzierter Sprachformen einen „reflexiven Vorrang“ gegenüber anderen Zugängen zur Welt hat (vgl. CASSIRER 1944/22007, S. 315–335).
Mit „Wissenschaft“ ist die Intention verbunden, Phänomene und Zusammenhänge verstehbar und erklärbar zu machen. Sie formuliert Wissen über einen Gegenstandsbereich, wobei ihre Herangehensweise in der Regel methodisch gelenkt ist. Insgesamt orientieren sich Wissenschaften an Denkstilen, Theorierichtungen und Paradigmen; sie versuchen, Gewissheiten zu begründen und Ordnungen zu schaffen. Dabei dominiert der Eindruck, dass über Revisionsprozesse eine stetige Weiterentwicklung hin zu neuen Theorien möglich ist, die die „Wirklichkeit“ adäquater erfassen und erklären können. Wissenschaft erscheint somit als eine fortschreitende Annäherung an die so genannte Wahrheit. Dazu Karl Popper (1902–1994):
„Wenn man die Entwicklung der Wissenschaft näher betrachtet, so findet man wohl, daß wir zwar nicht wissen, wie nah oder wie weit entfernt von der Wahrheit wir sind, daß wir aber immer näher und näher an die Wahrheit herankommen können und das auch tun.“ (POPPER 1995, S. 177)
Zur Verdeutlichung greift Popper auf historische Beispiele zurück:
„Die These, daß das hier vorgeschlagene Kriterium den Fortschritt der Wissenschaft tatsächlich bestimmt, kann an Hand historischer Beispiele leicht illustriert werden. Die Theorien von Kepler und von Galilei wurden vereinigt und überholt durch Newtons logisch stärkere und besser prüfbare Theorie […].“ (Ebd., S. 160)
Wissenschaft als Prozess des Fortschritts
Wissenschaftsentwicklung ist für Popper ein Fortschrittsprozess, in dem vorhandene Theorien kontinuierlich durch solche ersetzt werden, die mehr oder andere Aspekte der Lebenswelt erklären können. Der US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn (1922–1996) findet dagegen eine andere Erklärung für das Verständnis von Wissenschaften und die Nachweise wissenschaftlicher Erkenntnisse. Mit dem Erscheinen seines Buches „The structure of Scientific Revolutions“ aus dem Jahre 1962 werden wissenschaftliche Fortschrittserzählungen im Sinne einer fortlaufenden Ergänzung von Wissen fragwürdig. Kuhn zeigt auf, dass die wissenschaftliche Darstellung von Erkenntnissen und Faktoren beeinflusst wird, die auf den ersten Blick gar nichts mit Wissenschaft zu tun haben.
Nachweise wissenschaftlicher Erkenntnisse
Er weist nach, dass Mensch und Welt in der Deutung wissenschaftlicher Konzepte und Annahmen miteinander konkurrieren und es letztendlich eine Frage von Geltungskriterien, Machtpraktiken und Anerkennung ist, welche Deutung am Ende maßgeblich sein wird.
Wenn sich ein wissenschaftlicher Ansatz durchsetzt, wird er zum so genannten Paradigma, also zu einer disziplinären Matrix der Deutungen, der fortan alle Ergebnisse und Denkansätze einer wissenschaftlichen Disziplin einverleibt werden.
Paradigma
„Ein Paradigma“ so erläutert Kuhn, „ist das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen“ (KUHN 1962/41979, S. 187). Die Wissenschaftler verbindet also eine bestimmte Sicht auf die Dinge, sie teilen bestimmte Praktiken des Forschens, haben eine verwandte Ausbildung, die sich auf die gleiche Fachliteratur stützt, pflegen eine enge Kommunikation in der Gemeinschaft, gehen von gleichen Voraussetzungen aus und haben übereinstimmende Auffassungen über eine Reihe von Themen. So gesehen ist ein Paradigma eine Art wissenschaftliche Lebensform. Am Beispiel Galileis lässt sich dies aufzeigen: Galileo Galilei (1564–1642) weist zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht, sondern die Erde um die Sonne. Zur Zeit Galileis gilt das geozentrische Weltbild als unumstößliche Tatsache. Mit der Beobachtung der Jupitermonde stellt Galilei dieses Weltbild in Frage und lässt die Vertreter der römischen Kurie durch sein Fernglas blicken, um diese Beobachtungen nachzuvollziehen. Doch diese lassen sich nicht überzeugen, weil dieser Weg, Wissen zu begründen, nicht anerkannt ist. Das geozentrische Weltbild ist zur Zeit Galileis ein Paradigma und wirkt unumstößlich, da es aufs Engste mit der Wahrnehmung und Deutung der Welt verwoben ist.
Paradigmenwechsel
Nun gibt es radikale Veränderungen in der Wissenschaft, die die Deutung von Welt und Wissenschaft auf den Kopf stellen. Solche radikalen Veränderungen bezeichnet Thomas S. Kuhn als Paradigmenwechsel:
„Es gibt Perioden – die ausgeprägtesten und am leichtesten erkennbaren Beispiele sind das Auftreten der Kopernikanischen, der Darwinschen oder der Einsteinschen Theorie –, in denen eine wissenschaftliche Gemeinschaft ein altehrwürdiges Weltbild und eine altehrwürdige Wissenschaftsform aufgibt und zu einem anderen, gewöhnlich damit unvereinbaren Ansatz übergeht. […] Im Gegensatz zu einer vorherrschenden Auffassung sind die meisten Entdeckungen und Theorien in den Wissenschaften keine bloßen Ergänzungen des bestehenden Wissensbestandes. Um sie einzubauen, muß der Wissenschaftler gewöhnlich sein bisheriges theoretisches und praktisches Rüstzeug umordnen, Teile davon aufgeben und neue Bedeutungen und Beziehungen zwischen vielen anderen erkennen. Da das Alte bei der Aufnahme des Neuen umbewertet und umgeordnet werden muß, sind Entdeckungen und Erfindungen in den Wissenschaften im allgemeinen grundsätzlich revolutionär.“ (KUHN 1978, S. 309f.)
Die Radikalität und die Unvereinbarkeit neuer wissenschaftlicher Orientierungen führen zu anderen Sichtweisen; nicht nur, dass das Dargestellte in der Wahrnehmung unvereinbar ist, es wird auch grundsätzlich Verschiedenes wahrgenommen (vgl. KUHN 1962/41979, S. 125–127). Wissenschaften produzieren also nicht nur Wissen, sondern deuten das Verhältnis von Mensch und Welt; sie stiften Sinn, sie entscheiden, was wahr oder falsch ist, was in den Blick gerät und was nicht, was sichtbar wird und was unsichtbar bleibt.
Formen von Wahrheitserzeugungen
Akademische Gewissheiten und Ordnungen ruhen nicht von selbst in der Welt, sondern werden nach den jeweils geltenden wissenschaftlichen Regeln gebildet um sinnvolle Deutungen zu ermöglichen. Allerdings sind diese Deutungen an ihre Zeit und Kultur, an die Weise, wie Menschen zusammenleben und an die Formen ihrer Wahrheitserzeugungen gebunden. Wissenschaften arbeiten also auf Grundlage von Voraussetzungen, Lebensformen und Weltbildern, die nicht einholbar sind. Das alles muss bedacht sein, damit sich das Denken und Forschen nicht in einer selbstverständlichen Naivität der Gewissheiten verfängt. Auch für die Pädagogik lassen sich solche zentralen Deutungen sowie Paradigmenwechsel nachweisen. Es ist ein großer Unterschied, ob der Mensch als „Gottesknecht“ oder „Selbstliebhaber“ (vgl. RUHLOFF 1993) betrachtet wird, ob die Welt und ihre Ordnung als von Gott geschaffen gelten oder durch den Menschen geordnet oder gar konstruiert.
Begriffe als Teile einer Ordnung
Mit Begriffen binden wir unterschiedliche Überlegungen und Vorstellungen zusammen. Zum Beispiel ist der Begriff des Menschen eine Bestimmung, in der unterschiedliche Merkmale durch Abstraktion vom konkreten Einzelmenschen zu einem Begriff zusammengefasst werden. Begriffe haben die Funktion, etwas als etwas zu bestimmen, gleichwohl manchmal auch ihre Unbestimmtheit und Offenheit dazugehören. Dennoch sollte ein Begriff möglichst präzise ein Phänomen beschreiben und sich darin von anderen Begriffen mit anderen Inhalten abgrenzen. Begriffe sind daher immer auch Teile einer Ordnung, weshalb die Einheit „Begriff“ – losgelöst von Theorien und Ordnungen – nicht zu denken ist. Doch wie unterscheiden sich nun Grundbegriffe von „bloßen“ Begriffen?
Die Grundbegriffe der Pädagogik sind zentrale ordnungs- und sinnstiftende Kategorien der Theoriebildung und gelten als semantische Einheiten. Sie sind Begriffe, die in der Wissenschaft selbst nicht mehr abgeleitet werden und bilden also einen Grund, von dem nachfolgend ausgegangen wird. So gibt es eine Reihe von pädagogischen Begriffen, deren Sinn z.B. auf Bildung zurückgeführt werden kann. Grundbegriffe sind einer Achse vergleichbar, um die sich eine Wissenschaft dreht, ohne dass die Achse fixiert würde. Vielmehr bestimmen die Bewegungen um diese Achse, diese als feststehend (vgl. auch WITTGENSTEIN 1971, S. 48). Pädagogische Theorien, Modelle und Forschungen kreisen um diese Grundbegriffe, deuten sie, beziehen sie auf die Praxis oder machen sie zum Gegenstand neuer Untersuchungen. Die Grundbegriffe ordnen ein Fach und lassen in ihrer Unabschließbarkeit Raum für offene Fragen.
Grundbegriff und Theorie
Grundbegriffe werden in Theorien ausgelegt und erörtert. Theorien sind schöpferische Leistungen und machen den Kern der Wissenschaften als sinnvolle Deutungen von Zusammenhängen aus. Die großen Wissenschaftler der Geschichte haben allesamt nicht nur Fakten gesammelt, sondern theoretisch, also konstruktiv gearbeitet (vgl. CASSIRER 1944/22007, S. 334f.).
Begriff der Theorie
Wie viele Begriffe, ist auch der Begriff der Theorie griechischen Ursprungs. Theoria heißt, etwas aus der reflexiven Distanz zu betrachten und zu erkennen. Theorien erlauben uns einen kritischen Abstand und ermöglichen uns eine neue Sicht. Es gibt keine theorielose Welt, denn „was wir ein Faktum nennen, muß immer schon in irgendeiner Weise theoretisch orientiert“ (CASSIRER 1929/21954, S. 47) sein. Die Welt wird also mit Begriffen und Vorstellungen geordnet und interpretiert, kurzum: Mit Theorien deuten und erkennen wir unsere Welt, stiften Sinn und Zusammenhänge.
Meinen, Glauben, Wissen
Theoretisch fundiertes Wissen muss stets intersubjektiv sein. Um das zu verdeutlichen gilt es, Meinen, Glauben und Wissen voneinander zu unterscheiden. Welchen Anspruch stellen wir, wenn wir meinen, etwas sei wahr? Wir sind uns in diesem Falle nicht ganz sicher, ob etwas so ist, wie wir annehmen und erwarten auch nicht vom anderen, dass er unserer Überzeugung zustimmt. Wenn wir fest daran glauben, dass etwas sich so und nicht anders verhält, sind wir subjektiv von unserer Wahrheit überzeugt, können aber nicht den Anspruch stellen, dass jedermann unsere Überzeugung teilt. Sobald wir dagegen behaupten, etwas zu wissen, sind wir nicht nur subjektiv gewiss, sondern stellen den Anspruch, dass jeder andere es genauso sehen sollte.
Die Unterscheidung von Meinen, Glauben und Wissen stammt von Immanuel Kant (1724–1804), und zwar aus seinem Werk „Kritik der reinen Vernunft“ (1781/1787):
„Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt), hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen. Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen. Die subjektive Zulänglichkeit heißt Überzeugung (für mich selbst), die objektive, Gewißheit (für jedermann).“ (KANT 1781/62005, S. 852)
Wir haben es in der Pädagogik mit einem Wissen zu tun, das den Anspruch stellt, in einem „space of reasons“ (SELLARS 1963, S. 169) begründet zu werden. Die Pädagogik als Wissenschaft baut also nicht auf Meinen oder gar Glauben, sondern auf begründbare Einsichten und Urteile auf.
Erst das in Theorien erworbene wissenschaftliche Wissen schafft die Distanz, die eine reflektierte Sicht der Praxis möglich macht, denn sie unterscheiden das Denken, das Tun und das Urteilen des Pädagogen von dem alltagstalentierten Laien. Das Spiel der Wissenschaft folgt anderen Regeln als das Spiel der beruflichen Praxis oder des Alltags. Die Regeln der Wissenschaft erlernt man im Studium der Pädagogik, die Regeln der Praxis in den berufsorientierenden Seminaren und Praktika. In diesem Zusammenhang lassen sich drei Formen und Arten von Wissen mit pädagogischem Anspruch unterscheiden: Alltagswissen, Professionswissen und wissenschaftliches Wissen (vgl. zum Folgenden bes. VOGEL 1999).
Pädagogisches Alltagswissen der Laien
Das pädagogische Alltagswissen der Laien soll Alltagsprobleme lösen und wird in der Regel durch die eigene Sozialisation, durch Familie, Medien, Freunde usw. erworben. Bewährte Erziehungspraktiken halten sich über Generationen. Daher wird professioneller Rat erst dann gesucht, wenn das praktische Alltagswissen scheitert. Solange bewährte Praktiken funktionieren, werden sie tradiert oder ausgeübt. Selbst wenn das pädagogische Alltagswissen in sich völlig widersprüchlich ist, hat es Geltung, da es zur Bewältigung des Alltags beiträgt.
Pädagogisches Professionswissen
Anders sieht es bei Pädagogen aus, die in pädagogischen Berufen arbeiten und über Professionswissen verfügen müssen. Sie haben im Laufe der Zeit und im Austausch mit Kollegen Erfahrungen gesammelt, die sich vor dem Hintergrund eines wissenschaftlich ausgerichteten Studiums zu einem Professionswissen formieren, um berufliche Situationen im Lichte wissenschaftlich begründeter und kritisch geprüfter Konzepte zu behandeln.
Professionswissen versus Alltagswissen
Das wissenschaftliche Wissen wird ausschließlich in der Auseinandersetzung mit der Pädagogik als Wissenschaft erlangt. Erst das im Studium erworbene wissenschaftlich-theoretische Wissen unterscheidet das spätere Professionswissen vom Alltagswissen. Ohne Anteile des kritisch-analytischen wissenschaftlichen Wissens bliebe das Professionswissen auf dem Niveau des Alltagswissens. Die Funktion des wissenschaftlichen Wissens ist es also, „die professionellen Standards, Beurteilungsschemata, Relevanzkriterien als nicht-selbstverständliche beurteilen und diskutieren zu können, vereinfacht ausgedrückt: eine Folie herzustellen, auf der Professionswissen bewertet und weiter entwickelt werden kann“ (VOGEL 1999, S. 39).
Erziehung in der Öffentlichkeit
Vorstellungen von Erziehung sind vielfältig. Gemeinhin gilt jemand als „erzogen“, wenn er gute Manieren hat, weiß, was sich gehört oder schlichtweg gehorcht. Die gelungene Integration in Gesellschaft und Kultur ist in der Regel der Maßstab der Beurteilung. In der Öffentlichkeit wird Erziehung oft erst dann thematisiert, wenn sie scheitert. In diesen Fällen wird Erziehung primär mit dem Ausgleich von Defiziten verbunden. Von hier aus speisen sich die wiederkehrenden Diskussionen um mehr „Mut zur Erziehung“ (s.a. BREZINKA/PETERMANN/SCHNEIDER 1994). Medien halten das Erziehungsthema durch Elternratgeber und Unterhaltungsformate aktuell. So vermittelt die „Super-Nanny“ den Eltern, wie „richtig“ erzogen wird, so dass der Eindruck entsteht, Erziehung sei da, um möglichst schnell Schieflagen auszugleichen. Dabei bleibt offen, was Erziehung eigentlich ausmacht, was ihre pädagogischen Leitgedanken sind und welches Bild eine Gesellschaft von der nachwachsenden Generation überhaupt hat. Um sich diesen Fragen zu nähern, wenden wir uns zu Beginn unserer Überlegungen einer Erzählung von Franz Kafka zu, die eindrücklich beschreibt, was mit dem Begriff von Erziehung in den Blick gerät.
In seiner Erzählung „Brief an den Vater“ verdeutlicht Franz Kafka (1883–1924) dem Vater seine Sicht auf das gemeinsame Erziehungsverhältnis. Kafka schreibt den Brief an den Vater vermutlich im November des Jahres 1919. Er hat ihn nie versendet.
„Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil überhaupt die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht. […] Ich sage ja natürlich nicht, daß ich das, was ich bin, nur durch Deine Einwirkung geworden bin. Das wäre sehr übertrieben (und ich neige sogar zu dieser Übertreibung). Es ist sehr leicht möglich, daß ich, selbst wenn ich ganz frei von Deinem Einfluß aufgewachsen wäre, doch kein Mensch nach Deinem Herzen hätte werden können. […] Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst (wenn auch schon zögernder) als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich, besonders da meine Brüder klein starben, die Schwestern erst lange nachher kamen, ich also den ersten Stoß ganz allein aushalten mußte, dazu war ich viel zu schwach. […] Jedenfalls waren wir so verschieden und in dieser Verschiedenheit einander so gefährlich, daß, wenn man es hätte etwa im voraus ausrechnen wollen, wie ich, das langsam sich entwickelnde Kind, und Du, der fertige Mann, sich zu einander verhalten werden, man hätte annehmen können, daß Du mich einfach niederstampfen wirst, daß nichts von mir übrigbleibt. Das ist nun nicht geschehn, das Lebendige läßt sich nicht ausrechnen, aber vielleicht ist Ärgeres geschehn. Wobei ich Dich aber immerfort bitte, nicht zu vergessen, daß ich niemals im entferntesten an eine Schuld Deinerseits glaube. Du wirktest so auf mich, wie Du wirken mußtest, nur sollst Du aufhören, es für eine besondere Bosheit meinerseits zu halten, daß ich dieser Wirkung erlegen bin. […] Es ist überhaupt ein merkwürdiger Irrtum, wenn Du glaubst, ich hätte mich Dir nie gefügt. ‚Immer alles contra‘ ist wirklich nicht mein Lebensgrundsatz Dir gegenüber gewesen, wie Du glaubst und mir vorwirfst. Im Gegenteil: hätte ich Dir weniger gefolgt, Du wärest sicher viel zufriedener mit mir. Vielmehr haben alle Deine Erziehungsmaßnahmen genau getroffen; keinem Griff bin ich ausgewichen; so wie ich bin, bin ich (von den Grundlagen und der Einwirkung des Lebens natürlich abgesehen) das Ergebnis Deiner Erziehung und meiner Folgsamkeit. Daß dieses Ergebnis Dir trotzdem peinlich ist, ja daß Du Dich unbewußt weigerst, es als Dein Erziehungsergebnis anzuerkennen, liegt eben daran, daß Deine Hand und mein Material einander so fremd gewesen sind. Du sagtest: ‚Kein Wort der Widerrede!‘ und wolltest damit die Dir unangenehmen Gegenkräfte in mir zum Schweigen bringen, diese Einwirkung war aber für mich zu stark, ich war zu folgsam, ich verstummte gänzlich, verkroch mich vor Dir, und wagte mich erst zu regen, wenn ich so weit von Dir entfernt war, daß Deine Macht, wenigstens direkt, nicht mehr hinreichte.“ (KAFKA 1919/1992, S. 143–160)
asymmetrisches Erziehungsverhältnis
Kafka hebt das radikal asymmetrische Erziehungsverhältnis und die damit verbundenen gänzlich unterschiedlichen Perspektiven auf Erziehung hervor: das ursächliche Einwirken des Erziehers und die zu erleidende Wirkung auf Seiten des zu Erziehenden. Der Vater geht davon aus, dass seine erzieherischen Einwirkungen die von ihm beabsichtigten Folgen haben. Kafka beschreibt damit einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang von Erziehung. Es sind erzieherisch machtvolle Einwirkungen, die den Heranwachsenden treffen und prägen. Allerdings wird gerade dieser kausale Zusammenhang durch das „Lebendige“, das sich einer solchen Reduktion entzieht, gebrochen. Der Mensch kann eben nicht erzieherisch nach Plan hergestellt werden, weil die Erfahrungen von Erziehung aus Sicht des Erziehenden und des zu Erziehenden einander fremd bleiben müssen. Kafka fährt fort:
„Ich war ein ängstliches Kind, trotzdem war ich gewiß auch störrisch, wie Kinder sind, gewiß verwöhnte mich die Mutter auch, aber ich kann nicht glauben, daß ich besonders schwer lenkbar war, ich kann nicht glauben, daß ein freundliches Wort, ein stilles Bei-der-Hand-nehmen, ein guter Blick mir nicht alles hätten abfordern können, was man wollte. Nun bist Du ja im Grunde ein gütiger und weicher Mensch (das Folgende wird dem nicht widersprechen, ich rede ja nur von der Erscheinung, in der Du auf das Kind wirktest) aber nicht jedes Kind hat die Ausdauer und Unerschrockenheit, solange zu suchen, bis es zu der Güte kommt. Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie Du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn und in diesem Fall schien Dir das auch noch überdies deshalb sehr gut geeignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufziehen wolltest. […] Direkt erinnere ich mich nur an einen Vorfall aus den ersten Jahren, Du erinnerst Dich vielleicht auch daran. Ich winselte einmal in der Nacht immerfort um Wasser, gewiß nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich zu unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen nicht geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche und ließest mich dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn. Ich will nicht sagen, daß das unrichtig war, vielleicht war damals die Nachtruhe auf andere Weise wirklich nicht zu verschaffen, ich will aber damit Deine Erziehungsmittel und ihre Wirkung auf mich charakterisieren. Ich war damals nachher wohl schon folgsam, aber ich hatte einen inneren Schaden davon. Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Ums-Wasser-bittens und das außerordentlich Schreckliche des Hinausgetragen-werdens konnte ich meiner Natur nach niemals in die richtige Verbindung bringen. Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war. […] Damals und damals überall hätte ich die Aufmunterung gebraucht. Ich war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit. Ich erinnere mich z.B. daran, wie wir uns öfters zusammen in einer Kabine auszogen. Ich mager, schwach, schmal, Du stark, groß, breit. Schon in der Kabine kam ich mir jämmerlich vor, und zwar nicht nur vor Dir, sondern vor der ganzen Welt, denn Du warst für mich das Maß aller Dinge. Traten wir dann aber aus der Kabine vor die Leute hinaus, ich an Deiner Hand, ein kleines Gerippe, unsicher bloßfüßig auf den Planken, in Angst vor dem Wasser, unfähig Deine Schwimmbewegungen nachzumachen, die Du mir in guter Absicht, aber tatsächlich zu meiner tiefen Beschämung immerfort vormachtest, dann war ich sehr verzweifelt und alle meine schlimmen Erfahrungen auf allen Gebieten stimmten in solchen Augenblicken großartig zusammen. Am wohlsten war mir noch, wenn Du Dich manchmal zuerst auszogst und ich allein in der Kabine bleiben und die Schande des öffentlichen Auftretens solange hinauszögern konnte, bis Du endlich nachschauen kamst und mich aus der Kabine triebst. Dankbar war ich Dir dafür, daß Du meine Not nicht zu bemerken schienest, auch war ich stolz auf den Körper meines Vaters. Übrigens besteht zwischen uns dieser Unterschied heute noch ähnlich.“ (Ebd., S. 148–151)
Erziehungsverhältnis als Machtverhältnis
Während sich der Erzähler einen Erziehungsstil wünscht, der von Anerkennung geprägt ist, wird das Erziehungsverhältnis ausschließlich als Machtverhältnis erfahren. Es herrscht Willkür. Die Erziehungsmaßnahmen des Vaters treffen das Kind ohne Grund und ohne erkennbaren Maßstab.
„Dadurch wurde die Welt für mich in drei Teile geteilt, in einen, wo ich, der Sklave lebte, unter Gesetzen, die nur für mich erfunden waren und denen ich überdies, ich wußte nicht warum, niemals völlig entsprechen konnte, dann in eine zweite Welt, die unendlich von meiner entfernt war, in der Du lebtest, beschäftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben der Befehle und mit dem Ärger wegen deren Nichtbefolgung, und schließlich in eine dritte Welt, wo die übrigen Leute glücklich und frei von Befehlen und Gehorchen lebten.“ (Ebd., S. 156)
Die Welt erscheint dem zu Erziehenden nicht als ein sinnvolles Ganzes, dessen Teil er ist. Vielmehr lebt er in einer eigenen Welt des Beherrschtwerdens, in der Regeln der Unterdrückung für ihn und nicht für andere gelten, ja, in der Regeln und Befehle erzieherisch geradezu ausschließlich für ihn gemacht zu sein scheinen.
Der Erziehung wird seit jeher eine große Bedeutung für Mensch, Kultur sowie Gesellschaft beigemessen und sie gilt – abgesehen von antiautoritären Kompensationsformen – als unverzichtbar. Einige exemplarische Argumentationsfiguren auf einer normativen Theorieebene seien zur Verdeutlichung des möglichen Spektrums von Erziehungskonzeptionen genannt:
Paradoxon der Erziehung
Immanuel Kant formuliert das Problem und Paradoxon der Erziehung: Wie sei es möglich, die Freiheit bei dem Zwange zu kultivieren (vgl. KANT 1803/1983, S. 711)? Erziehung soll einerseits einen selbständigen Menschen und Neues „hervorbringen“, andererseits Grenzen aufzeigen, das Befolgen von Regeln einüben, Unterordnung lehren und bestehende Strukturen vermitteln.
Für Siegfried Bernfeld (1892–1953) ist pädagogisches Handeln die Reproduktion von Gesellschafts- und Machtstrukturen. Erziehung bestimmt er als „die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ (BERNFELD 1925/82000, S. 51) des Menschen.
Anders Hannah Arendt (1906–1975): Sie beschreibt die Welt, und mit ihr Gesellschaft und Kultur, als ein ständiges Werden und Vergehen. Nur durch Erziehung – im Sinne einer permanenten Erneuerung der Welt – kann sie fortbestehen. Dabei droht die Gefahr, das überlebenswichtige Neue, das mit einem Kind in die Welt kommt, zu zerstören. Eine „konservative“ Erziehung schützt das Alte vor dem Neuen und umgekehrt (vgl. ARENDT 1958, S. 20).
Der besondere Anspruch an Erziehung wird in einem Beitrag Theodor W. Adornos (1903–1969) deutlich. „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ (ADORNO 1971, S. 88) Für Adorno hat Erziehung die Aufgabe, kritische Selbstreflexion und Autonomie zu fördern. Er möchte das Wort „Erziehen“ möglichst vermeiden und es durch: „zur Mündigkeit bewegen“ (vgl. ebd., S. 147) ersetzen.
Absichtsbegriff
Auf einer analytischen Theorieebene wird zwischen intentionaler und funktionaler Erziehung unterschieden. Während die intentionale Erziehung auf einem absichtsvollen Tun ruht, zielt der funktionale Erziehungsbegriff auf alle nicht intendierten Erziehungseinflüsse, beispielsweise durch Gesellschaft, Medien, Freundeskreis usw. Aber ist Erziehung das, was ein Erziehender beabsichtigt oder das, was er erzieherisch bewirkt? Nach einem Absichtsbegriff wäre nur dann von Erziehung die Rede, wenn dem erzieherischen Tun eine konkrete Absicht unterläge, die sich in einer Zweck-Mittel-Relation zeigt. Der intentionale Erziehungsprozess ist der Versuch planmäßiger Einwirkung, wobei die tatsächlichen Wirkungen untergeordnet sind. Daraus ergibt sich zum einen die Frage, was mit jenen Absichten ist, die in der Ausführung keinerlei Wirkung haben, zum anderen ist nach den nicht intendierten Folgen zu fragen. Ist auch hier sinnvoll von Erziehung zu sprechen?
Wirkungsbegriff
Der Wirkungsbegriff sucht das Kriterium von Erziehung in den Wirkungen, die als erzieherisch bedeutsam bestimmt werden. Ihm zufolge wird nur das, was in einer Ursache-Wirkungs-Relation als Wirkung zu beobachten ist, Erziehung genannt. Dieses Prinzip aber schließt Erziehung als planvolles Unternehmen aus. Zudem gibt es möglicherweise unerwünschte Wirkungen, die geplant zu verhindern sind. Auch stellt sich die Frage, wie Gewünschtes legitimiert werden soll. Eine Konsequenz könnte sein:
„Von Erziehung im Sinne eines rationalen, planbaren und verantwortbaren Handelns kann aber erst dann gesprochen werden, wenn aufgrund nomologischen Wissens die Wahrscheinlichkeit bestimmt werden kann, mit der von erzieherisch intendiertem Handeln eine der Absicht entsprechende ‚Wirkung‘ erwartet werden kann. Erst unter dieser Voraussetzung wird Erziehung zu einer planbaren und verantwortbaren Handlung.“ (HEID 2000, S. 57)
Sowohl in der Differenz von intentionaler und funktionaler Erziehung als auch im Absichts- und Wirkungsbegriff wird von einer Unterscheidung nach Subjekt und Objekt ausgegangen, die in dieser Weise nicht begründbar ist. Ferner bleibt unberücksichtigt, dass es sich nicht um zwei Erziehungsbegriffe handelt, sondern – wissenschaftstheoretisch – um zwei unterschiedliche Perspektiven auf den Erziehungsbegriff. Am Ende ist vielleicht gerade die intersubjektive Nichttrennbarkeit dieser Sphären das komplexe Feld der Erziehung als Austragungsort des mündigen Streits um Erziehung im Spannungsfeld von Freiheit und Zwang, Selbst- und Fremdbestimmung.
Der Begriff Erziehung gilt als ein Grundbegriff der Erziehungswissenschaft, gleichwohl sein Spezifikum gegenüber dem Begriff „Bildung“ oft schwer zu benennen ist. Während der Bildungsbegriff auf eine mündige Lebensführung und Selbstgestaltung zielt, ist der Begriff Erziehung als zeitlich abgeschlossener Prozess mit Zucht, Disziplin, Unter- bzw. Einordnung, Eingewöhnung, Kultivierung, Zivilisierung oder Anpassung verbunden. Bis in das 18. und 19. Jahrhundert hinein erfolgte keine klare Abgrenzung der Worte Bildung und Erziehung; auch heute wird oft von Bildung und Erziehung als Konglomerat gesprochen. Eine differenziertere Betrachtung sieht Erziehung als machtstrukturiertes Verhältnis unter der Maßgabe der Förderung.
Entstehung des Erziehungsbegriffes
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