Jochen Schmidt

Heinrich von Kleist

Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche

 

Impressum

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3., durchgesehene Auflage 2011

© 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

2., unveränderte Auflage 2009

1. Auflage 2003

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Einbandabbildung: Ansicht des Brandenburger Tors. Zeichnung, aquarelliert, um 1805, F. A. Calau. Berlin, Märkisches Museum. © akg-images

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

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ISBN 978-3-534-24475-1

 

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-534-72063-7

eBook (epub): 978-3-534-72064-4

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Inhaltsverzeichnis

I. Der historische Horizont

1. Kleists Lebensweg bis zum Beginn der dichterischen Arbeit

Absage an die Militärlaufbahn

Die Inszenierung der ‚Kant-Krise‘: Abwendung von den Wissenschaften und Entscheidung für das „schriftstellerische Fach“

2. Die geistige und politische Situation um 1800

Aufklärung und Romantik

Kleists aufklärerische Kritik an Kirche und Religion

3. Kleist und Rousseau: Naturkult und Zivilisationskritik

4. Patriotisches Engagement und Preußische Reformen

5. Zur Kleistforschung

II. Die Dramen

1. Die Familie Schroffenstein

Entstehung und Grundkonstellation

Vorurteil und Voreiligkeit als strukturbildende Elemente

Die Zerstörung des Menschlich-Natürlichen als zentrales Thema

Shakespeare als literarisches Muster

2. Der zerbrochne Krug

Der König Ödipus des Sophokles als dramaturgisches Muster und die klassische Komödien-Situation der ‚verkehrten Welt‘

Aristophanische Vital-Komik und Marthes komische Krug-Rede

Strukturanalyse

Der Mißerfolg der Weimarer Aufführung und die Bedeutung des ursprünglichen Schlusses für das Gesamtverständnis

3. Amphitryon

Die Dramenhandlung und ihre mythologisch-literarischen Muster. Amphitryon als Tragikomödie

Goethes Beurteilung der Amphitryon-Gestaltungen und Molières Amphitryon

Interpretationsmodelle zu Kleists Amphitryon: ein Forschungsüberblick

Jupiter als Projektion der Alkmene

Alkmenes Selbsterkenntnis

Amphitryons „Entamphitryonisierung“

Die Schlußpartie

4. Penthesilea

Normenbruch und antiklassizistische Wendung

Das Vorbild Euripides

Tragödienstruktur und szenische Darstellung

Problemgehalt und tragischer Konflikt

Penthesileas Sakralisierung des Amazonengesetzes

Kleists Definition des tragischen Heldentums

Penthesilea als Liebestragödie

5. Robert Guiskard

Entstehung

Legitimation politischer Herrschaft als Grundproblem

6. Das Käthchen von Heilbronn

Entstehungsmotive und Erfolg des ‚Ritterschauspiels‘

Romantische und märchenhafte Elemente

Käthchen und Kunigunde: Die Opposition von Natur und Zivilisation

Zum Problemgehalt der Schlußpartie

7. Die Hermannsschlacht

Entstehung und Zeitbezug

Kleists patriotisches Engagement

Arminius und die Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins

Die Gestalt Hermanns und die Idee der Freiheit

8. Prinz Friedrich von Homburg

Entstehung, Quellen und historischer Hintergrund

Die Erneuerung des stoischen Ethos

Das Wechselspiel zwischen Kurfürst und Prinz

Ein Spiel von Traum und Wirklichkeit

III. Die Erzählungen

Kleists dramatische Erzählkunst

1. Das Erdbeben in Chili. Die Erschütterung aller Gewißheiten

2. Die Marquise von O… Die Geschichte einer weiblichen Emanzipation

3. Michael Kohlhaas in der Ära der Preußischen Reformen

Inhalt und Aufbau

Der Erzähler

Die politische Dimension: Reform oder Revolution

Kritik an der lutherischen Obrigkeitslehre und ethische Problematik

Das Ende als pessimistische Scheinlösung

4. Die Verlobung in St. Domingo: Die Unentrinnbarkeit der Geschichte

5. Das Bettelweib von Locarno. Die Katastrophe einer überlebten Ordnung

6. Der Findling. Identität als aporetisches Projekt

7. Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik. Kleists entschiedenste Auseinandersetzung mit der Romantik

8. Der Zweikampf. Die Geschichte als Labyrinth des Sinnlosen

Bibliographie

Fußnoten

I. Der historische Horizont

1. Kleists Lebensweg bis zum Beginn der dichterischen Arbeit

„Mir war es zuweilen auf dieser Reise,

als ob ich meinem Abgrunde entgegen gienge.“

(Kleist an seine Braut am 21. Juli 1801)1

Kleists Lebenszeit war kurz bemessen. 1777 wurde er in Frankfurt an der Oder geboren, 1811 ging er in den Freitod. Die Schaffensperiode, in der er seine literarischen Werke und journalistischen Arbeiten verfaßte, fällt in das Jahrzehnt von 1801 bis 1811. Drei epochale Ereignisse haben sein Werk entscheidend geprägt: die Französische Revolution mit ihren politischen und kulturellen Folgen für ganz Europa, Preußens Zusammenbruch im Krieg mit Napoleon sowie die Preußischen Reformen, die nach der Niederlage in Gang kamen. Schon die Familientradition verband Kleist eng mit dem Schicksal Preußens. Zahlreiche hohe Offiziere befanden sich unter seinen Vorfahren, und auch er selbst sollte die militärische Laufbahn einschlagen. Für Angehörige verarmter Adelsfamilien gab es nur wenig Alternativen, so etwa die höhere Verwaltungslaufbahn im königlichen Dienst. Einen bürgerlichen Erwerbsberuf zu wählen, galt als nicht standesgemäß und hatte den Entzug des Adelstitels zur Folge.

Absage an die Militärlaufbahn

Kleists Jugend liegt wie manches in seiner Biographie2 weitgehend im Dunkel. Sein Vater starb im Jahre 1788, seine Mutter im Jahre 1793, so daß er bereits mit fünfzehn Jahren elternlos war. Nach dem mehrjährigen Besuch eines Berliner Erziehungsinstituts trat er 1792 in das in Potsdam stationierte Garderegiment ein. Bereits 1793 / 94 mußte er am Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich teilnehmen. Daran schlossen sich Garnisonsjahre in Potsdam an, in denen er seine besten Freunde gewann; aber sonst war diese Zeit, trotz mancher Studien, die er treiben konnte, öde und eintönig. Der Widerwille Kleists gegen den Militärberuf wuchs, er versuchte aus der vorgezeichneten Laufbahn auszubrechen.3 Angesichts der Familientradition bedurfte es dazu erheblichen Mutes, und außerdem war die materielle Zukunft ganz ungesichert. Aber Kleist tat den Schritt mit Entschlossenheit, um der Kaserne und dem Exerzierplatz zu entkommen. An seinen ehemaligen Lehrer Martini schrieb er am 18. und 19. März 1799:

 

Die größten Wunder militairischer Disciplin […] wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerciermeister, die Soldaten für so viele Sclaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei. Dazu kam noch, daß ich den übeln Eindruck, den meine Lage auf meinen Charakter machte, lebhaft zu fühlen anfing. Ich war oft gezwungen, zu strafen, wo ich gern verziehen hätte, oder verzieh, wo ich hätte strafen sollen; und in beiden Fällen hielt ich mich selbst für strafbar. In solchen Augenblicken mußte natürlich der Wunsch in mir entstehen, einen Stand zu verlassen, in welchem ich von zwei durchaus entgegengesetzten Prinzipien unaufhörlich gemartert wurde, immer zweifelhaft war, ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte; denn die Pflichten Beider zu vereinen, halte ich bei dem jetzigen Zustande der Armeen für unmöglich.4

 

Diese Entgegensetzung von humanen und militärischen Pflichten läßt das Humanitätsdenken der Aufklärung erkennen. Die Absage an das preußische Militär als das „lebendige Monument der Tyrannei“ erinnert an Lessings Wort, Preußen sei das „sklavischste Land von Europa“ (an Nicolai, 25. August 1769), und an sein Drama Minna von Barnhelm, in dem Major von Tellheim begründet, warum er den Militärdienst quittiert.

Allerdings sollte man den großen Brief an Christian Ernst Martini nicht naiv lesen. Kleist verfolgte mit seinen Briefen oft eine bestimmte Absicht, manchmal inszenierte er sogar ein phantasiereiches Rollenspiel. Ein amüsantes Beispiel für solche Selbstinszenierungen gibt der Brief vom 1. Mai 1802 an seine Schwester Ulrike. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich in der Schweiz, am Thuner See, am Fuße der Schweizer Zentral-Alpen und glaubte offensichtlich, der im märkischen Sand zurückgebliebenen Schwester mit einer Schweizer Geschichte aufwarten zu müssen. Zuerst erzählt er von einem „Mädeli“, und dann beginnt er auszumalen: „Sonntags zieht sie ihre schöne Schwyzertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über [über den Thuner See], sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, u nach der Andacht kehren wir beide zurück“.5 Über das Schreckhorn aber, das Kleist während des Gottesdienstes bestiegen haben will, liest man im Konversationslexikon: „Kleines und großes Schreckhorn, zwei Gipfel des Finsteraarhornstocks im Kanton Bern, 3497 und 4080 m“. Auch der erwähnte Brief an Christian Ernst Martini vom 18. und 19. März 1799, der als eines der wichtigsten Zeugnisse des jungen Kleist gilt, ist nicht ohne weiteres als bare Münze zu nehmen. Die Absage an das Militär ist zwar ernstgemeint, die vorgebrachte Begründung mit ihrem auffälligen Humanitätspathos aber wohl weniger. Kleist schreibt ausführlich über seine Neigung zu den Wissenschaften, zu Physik und Mathematik vor allem; sogar dem Griechischen und dem Lateinischen will er sich widmen. Der Brief richtet sich an seinen alten Lehrer, von dem er Fürsprache bei den auf die Familientradition bedachten Verwandten erhofft. Kleist gibt einen Grund an, von dem er weiß, daß er bei dem Lehrer ‚ankommt‘: seine angebliche Neigung zu den Wissenschaften. Was der Brief außerdem enthält, ist die populäre Aufklärungsphilosophie über Tugend, Glück und Humanität. Die vorgeschützte Neigung zu den Wissenschaften hielt nicht lange, denn Kleist bewegte anderes. Zuerst aber ging er von April 1799 bis August 1800 zum Studium in seine Heimatstadt Frankfurt an der Oder. Da er sieben Jahre beim Militär verloren hatte, war er schon wesentlich älter als seine Kommilitonen. Sein eigentliches Studienfach war die Jurisprudenz, daneben widmete er sich auch der Mathematik, Physik und Philosophie; Latein verstand sich bei alledem von selbst. In dieser Zeit lernte er Wilhelmine von Zenge kennen, die Tochter des Frankfurter Regimentskommandanten, mit der er sich Anfang 1800 verlobte. Dieser Beziehung, die man nur unter Vorbehalt als Liebesbeziehung bezeichnen kann, entsprangen die schlimmsten Liebesbriefe der deutschen Literatur.6

Daß es mit der Liebe zu den Wissenschaften, die Kleist als Begründung für den Abschied vom Militär im Brief an den Lehrer Martini angegeben hatte, von Anfang an nicht zum Besten bestellt war, verrät bereits ein Brief, den er am 12. November 1799 an seine Schwester Ulrike schrieb:

 

Wenn man sich so lange mit ernsthaften abstrakten Dingen beschäftigt hat, wobei der Geist zwar seine Nahrung findet, aber das arme Herz leer ausgehen muß, dann ist es eine wahre Freude, sich einmal ganz seinen Ergießungen zu überlassen; ja es ist selbst nöthig, daß man es zuweilen in’s Leben zurückrufe. Bei dem ewigen Beweisen u Folgern verlernt das Herz fast zu fühlen; und doch wohnt das Glück nur im Herzen, nur im Gefühl, nicht im Kopfe, nicht im Verstande. Das Glück kann nicht, wie ein mathematischer Lehrsatz bewiesen werden, es muß empfunden werden, wenn es da sein soll. Daher ist es wohl gut, es zuweilen durch den Genuß sinnlicher Freuden von neuem zu beleben; u man müßte wenigstens täglich ein gutes Gedicht lesen, ein schönes Gemälde sehen, ein sanftes Lied hören – oder ein herzliches Wort mit einem Freunde reden, um auch den schönern, ich mögte sagen den menschlicheren Theil unseres Wesens zu bilden.7

 

Aufhorchen läßt hier, daß vor allem die Dichtung, die Kunst als Vermittlerin von Glückserfahrungen genannt wird – im Gegensatz zur Wissenschaft. Und daß Kleist von den „Ergießungen“ des „Herzens“ spricht, denen man sich einmal „ganz überlassen“ möchte, dürfte auf das literarische Gründungsmanifest der Frühromantik hindeuten: auf die von Wackenroder und Tieck im Jahre 1797 veröffentlichten Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, die auch Spuren in seinem erzählerischen Werk hinterlassen haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann man annehmen, daß Kleist bereits um 1800 nach Freiräumen suchte, in denen er sein Herzensbedürfnis nach Dichtung und Kunst stillen konnte; aber die Sorge um eine Existenz-Grundlage blieb. Bereits im Frühsommer 1800 siedelte er nach Berlin über, um eine Anstellung bei Hofe zu erhalten. Doch auch in der preußischen Metropole fand er nicht, was er suchte. Man stellte ihm einen Posten in der sogenannten ‚Technischen Deputation‘ in Aussicht, zu deren Aufgaben auch die Industrie-Spionage gehörte. Daß Kleist zur Probe sofort einen Spionage-Auftrag erhielt, dafür spricht ein Brief vom 25. November 1800 an seine Schwester Ulrike:

 

Bei mir ist es inndessen doch schon so gut, wie gewiß, bestimmt, daß ich diese Laufbahn nicht verfolge. Wenn ich aber dieses Amt ausschlage, so giebt es für mich kein besseres, wenigstens kein praktisches. Die Reise war das einzige, was mich reizen konnte, solange ich davon noch nicht genau unterrichtet war. Aber es kommt dabei hauptsächlich auf List und Verschmitztheit an, u darauf verstehe ich mich schlecht. Die Inhaber ausländischer Fabriken führen keinen Kenner in das Innere ihrer Werkstatt. Das einzige Mittel also, doch hinein zu kommen, ist Schmeichelei, Heuchelei, kurz Betrug – Ja, man hat mich in dieser Kunst zu betrügen schon unterrichtet – nein, mein liebes Ulrikchen, das ist nichts für mich.8

 

Kleists Situation spitzte sich zu: Nach der Absage an den Militärberuf stellte er auch das zivile Amt als Grundlage seiner materiellen Existenz in Frage. Daß er nun überhaupt jedes Amt ablehnte und somit den Gedanken an eine bürgerliche Existenz aufgeben wollte, dafür dürften zwei Gründe entscheidend gewesen sein. Der eine Grund ist in seiner dichterischen Neigung zu sehen, der andere in gesellschaftlichen Erfahrungen und auch in seiner Weigerung, sich den Verhältnissen anzupassen. Am 25. November 1800 schreibt er an die Schwester Ulrike, seine mit Abstand wichtigste Briefpartnerin und engste Vertraute:

 

Ich fühle mich nämlich mehr als jemals abgeneigt, ein Amt zu nehmen. Vor meiner Reise war das anders – jetzt hat sich die Sphäre für meinen Geist u für mein Herz ganz unendlich erweitert – das mußt du mir glauben, liebes Mädchen […] Als ich diesmal in Potsdam war, waren zwar die Prinzen, besonders der jüngere, sehr freundlich gegen mich, aber der König war es nicht – u wenn er meiner nicht bedarf, so bedarf ich seiner noch weit weniger. Denn mir mögte es nicht schwer werden, einen andern König zu finden, ihm aber, sich andere Unterthanen aufzusuchen.

Am Hofe theilt man die Menschen ein, wie ehemals die Chemiker die Metalle, nämlich in solche, die sich dehnen u strecken lassen, und in solche, die dies nicht thun – Die ersten, werden dann fleißig mit dem Hammer der Willkühr geklopft, die andern aber, wie die Halbmetalle, als unbrauchbar verworfen.9

 

Dieses Gleichnis von den Metallen, von denen sich die einen strecken und bearbeiten lassen, die anderen nicht, wobei Kleist keinen Zweifel daran läßt, daß er sich selbst nur mit den letzteren vergleichen will, ist eine vollkommene Definition der Nicht-Anpassung. Kleist wollte sich den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht fügen und fühlte sich von früh an ganz entschieden als Außenseiter. Das ist für viele seiner Dichtungen von grundlegender Bedeutung: Immer wieder umkreisen sie den Konflikt des einzelnen mit der Gesellschaft, in die er sich nicht zu integrieren vermag. Charakteristischerweise hat Kleist eine Vorliebe für Gestalten, die sich entweder selbst isolieren oder von der Gesellschaft in die Rolle von Außenseitern gedrängt werden. Und immer wieder analysiert er die gesellschaftlichen Gründe dafür und gibt eine Antwort im Sinne Rousseaus.

Zum Zeichen, daß er sich keiner Konvention zu beugen und das Wertesystem der höheren Gesellschaft zu ignorieren gedachte, wollte er sogar seinen Adelstitel ablegen, und über Jahre hinweg unterschrieb er seine Briefe nicht mehr mit dem Adelsprädikat „von“, sondern schlicht als „Heinrich Kleist“. Aber das ist ebenso wie die Weigerung, ein Amt zu übernehmen, nur die Oberfläche einer viel tiefer reichenden persönlichen Abneigung, sich in den gesellschaftlichen Umgang einzufügen. Kleist litt in der Wirklichkeit gerade unter dem Rollenspiel, das er später in seiner Dichtung so meisterlich gestaltete. Das wohl wichtigste Zeugnis hierfür ist der lange Brief, den er am 5. Februar 1801 an die Schwester schrieb. Darin heißt es:

 

Ach, liebe Ulrike, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; u wenn ich den Grund ohne Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht. Ich weiß wohl, daß es bei dem Menschen, wie bei dem Spiegel, eigentlich auf die eigne Beschaffenheit beider ankommt, wie die äußern Gegenstände darauf einwirken sollen; u mancher würde aufhören über die Verderbtheit der Sitten zu schelten, wenn ihm der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief u schmutzig ist. Indessen wenn ich mich in Gesellschaften nicht wohl befinde, so geschieht dies weniger, weil Andere, als vielmehr weil ich mich selbst nicht zeige, wie ich es wünsche. Die Nothwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwillen dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig, u froh kann ich nur in meiner eignen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf. Das darf man unter Menschen nicht sein, u keiner ist es – Ach, es giebt eine traurige Klarheit, mit welcher die Natur viele Menschen, die an dem Dinge nur die Oberfläche sehen, zu ihrem Glücke verschont hat. Sie nennt mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund – sie zeigt mir Alles, was mich umgiebt, u mich selbst in seiner ganzen armseeligen Blöße u dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – – Dazu kommt bei mir eine unerklärliche Verlegenheit, die unüberwindlich ist, weil sie wahrscheinlich eine ganz physische Ursache hat. Mit der größten Mühe nur kann ich sie so verstecken, daß sie nicht auffällt – o wie schmerzhaft ist es, in dem Äußern ganz stark u frei zu sein, indessen man im Innern ganz schwach ist, wie ein Kind, ganz gelähmt, als wären uns alle Glieder gebunden, wenn man sich nie zeigen kann, wie man wohl mögte, nie frei handeln kann, u selbst das Große versäumen muß, weil man vorausempfindet, daß man nicht standhalten wird, indem man von jedem äußern Eindrucke abhangt u das albernste Mädchen oder der elendeste Schuft von élégant uns durch die matteste persifflage vernichten kann. – Das Alles verstehst Du vielleicht nicht, liebe Ulrike, es ist wieder kein Gegenstand für die Mittheilung, u der Andere müßte das Alles aus sich selbst kennen, um es zu verstehen.10

Die Inszenierung der ‚Kant-Krise‘: Abwendung von den Wissenschaften und Entscheidung für das „schriftstellerische Fach“

„mir flüstert eine Ahndung zu,

daß mir mein Untergang bevorsteht –“

(Kleist an seine Braut, 9. April 1801)11

Die sogenannte Kant-Krise markiert die Schwelle zum dichterischen Schaffen und gehört zu den in der Forschung oft diskutierten Problemen. In dem berühmten Brief an seine Braut vom 22. März 1801 widerruft Kleist sein Interesse an den Wissenschaften, das er erst zwei Jahre zuvor dem Lehrer Christian Ernst Martini als Grund für die Aufgabe der militärischen Laufbahn angegeben hatte; er begründet diese Absage mit dem Hinweis auf Kants philosophische Erkenntniskritik. Durch sie habe er einsehen müssen, daß er sich nicht mehr der wissenschaftlichen Arbeit widmen könne, denn eine sinnvolle wissenschaftliche Arbeit setze die Möglichkeit voraus, sichere Erkenntnis zu gewinnen und damit Wahrheit zu erlangen.

Oft sind in der Kleistforschung die Formulierungen des Briefes über die erschütternde Wirkung der sogenannten Kant-Krise wiederholt worden, man glaubte in ihm ein Zeugnis dafür zu besitzen, wie fundamental die Beschäftigung mit Philosophie das Leben verändern könne. Eine Folge dieser Lesart war es, daß man Kleists Kant-Lektüre genau und umfassend untersuchte.12 Dieser Aufwand war indes nur begrenzt sinnvoll, denn Kleists Briefe lassen erkennen, daß er sich schon Monate vor der sogenannten Kant-Krise von den Wissenschaften abwandte, und keineswegs, weil er grundsätzlich an den Möglichkeiten sicherer Erkenntnis zweifelte, sondern weil die Beschäftigung mit den Wissenschaften ihren Reiz für ihn verloren hatte. Als Veranlassung seiner bevorstehenden Reise nach Paris meldet er seiner Braut: „Es war im Grunde nichts, als ein innerlicher Ekel vor aller wissenschaftlichen Arbeit“.13 Überdruß ist für die Abkehr von der Wissenschaft maßgebend. Nicht Wissenschaft als Erkenntnisproblem, sondern Wissenschaft als Beschäftigung und als Lebensform veranlaßte Kleist zu seiner radikalen Absage. Wenn er sich dennoch auf Kant bezieht, so versucht er damit seinen aus ganz anderen Motiven gefaßten Entschluß durch Berufung auf eine anerkannte Autorität zu legitimieren. Wenn aber die angeblich durch Kant gewonnene theoretische Einsicht nicht der wahre Grund für Kleists neue Lebenswendung ist, dann kann man auch nicht mehr von einer Kant-Krise sprechen. Es handelt sich wieder einmal um eine bloße Inszenierung, wie schon in der phantastischen Geschichte von der Ersteigung des Schreckhorns und in dem Brief an den Lehrer Martini.

Bereits im Brief vom 5. Februar 1801 an Ulrike heißt es: „Selbst die Säule, an welcher ich mich sonst in dem Strudel des Lebens hielt, wankt – – Ich meine, die Liebe zu den Wissenschaften. […] Wissen kann unmöglich das Höchste sein […]“: „Mir ist es unmöglich, mich wie ein Maulwurf in ein Loch zu graben u Alles Andere zu vergessen“ (200). Ein ähnliches Bild verwendet Kleist im Hinblick auf die drohende Verbeamtung: „Indessen sehe ich doch immer von Tage zu Tage mehr ein, daß ich ganz unfähig bin, ein Amt zu führen. […] Diese Menschen sitzen sämmtlich wie die Raupe auf einem Blatte, jeder glaubt seines sei das Beßte, u um den Baum bekümmern sie sich nicht“ (197f.). Schon Monate vorher äußert sich Kleist wiederholt voller Abneigung zu der bevorstehenden Verbeamtung. Nichts von Erkenntniszweifel, nichts von philosophischen Erwägungen, die der Kantbrief dann als die angeblich entscheidenden darzustellen versucht, sondern eine existentielle Unmöglichkeit, sich mit dem Los des beschränkten Spezialisten und der entsprechenden Lebensform abzufinden.

Das eigentliche Motiv für die einschneidende Entscheidung gegen Amt und Wissenschaft, wobei man „Wissenschaft“ hier nur als die Aneignung der für die Ausübung eines praktischen Berufs erforderlichen Grundkenntnisse zu verstehen hat, ist demnach die Abneigung gegen einengende und fixierende Spezialisierungszwänge. Die sogenannte „Wissenschaft“14 – das Erlernen der theoretischen Voraussetzungen für die berufliche Praxis – erscheint lediglich als Unterfunktion des Amtes und deshalb auch nur unter dem Aspekt unerwünschter Beschränkung. Die früher immer wieder zum höchsten Ziel der Wissenschaft erklärte „Wahrheit“ wird im selben Brief vom 5. Februar 1801, sechs Wochen vor der sogenannten Kantkrise, gerade nicht in den Bedingungen der Möglichkeit zu ihrer Erkenntnis, nicht transzendentalphilosophisch angezweifelt, vielmehr bezeichnenderweise als Ziel und pragmatisch vollständig abgewertet: „Aber auch selbst dann“, schreibt Kleist, „wenn bloß [!] Wahrheit mein Ziel [!] wäre, – ach, es ist so traurig, weiter nichts, als gelehrt zu sein“ (200). Daraus geht hervor, wie der zu Unrecht berühmt gewordene Zentralsatz der angeblichen Kant-Krise zu bewerten ist: „Mein einziges, mein höchstes Ziel [!] ist gesunken, und ich habe nun keines mehr – Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt“.15 Wenn schon vorher davon die Rede ist, daß es ja „bloß“ um Wahrheit gehe und diese ihm an sich schon als wenig erstrebenswertes „Ziel“ erscheine, dann ist es ganz unglaubwürdig, daß Kleist nun von der „Wahrheit“ als seinem bisher angeblich „höchsten Ziel“ spricht. Die schon gefallene Entscheidung erhält nachträglich eine philosophische Scheinlegitimation. Das zeugt durchaus von innerer Konsequenz, denn wenn die Liebe zu den „Wissenschaften“ und zur „Wahrheit“ kein ernstzunehmender, sondern nur ein vorgeschobener Grund für den Abschied von der militärischen Laufbahn war, dann mußte diese Fassade über kurz oder lang einstürzen – auch ohne die angebliche Kant-Krise. Sie ist ebenso eine inszenierte Scheinkrise wie es sich früher um eine inszenierte Scheinliebe zu den „Wissenschaften“ und zur „Wahrheit“ handelte. Kleist wollte Dichter werden, wagte es aber noch nicht offen zu sagen, denn das galt in Preußen nicht als ehrenhaft. Verächtlich sagte der königliche Flügeladjutant von Köckeritz später zu ihm, er sei ja einer, der „Verschen mache“.16

Kleist selbst war sich der inneren und äußeren Schwellensituation des Jahres 1801 bewußt. Zug um Zug hatte er die gesellschaftlichen Zwänge abgeschüttelt, um sich als Dichter frei entfalten zu können. Unmißverständlich geht das aus einem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800 hervor. Den Tenor bilden Aussagen wie: „Ich will kein Amt nehmen“, „ich passe mich für kein Amt“, „ich darf kein Amt wählen“ (150 ff.). Die Entscheidung, eine gesicherte Existenz aufzugeben und auf eine gemeinsame Zukunft mit seiner Braut zu verzichten, der er diesen Brief schreibt, könnte nicht radikaler sein:

 

„[…] das Herkommen will, daß wir ein Haus bilden sollen u unsere Geburt, daß wir mit Anstand leben sollen – o über die unglückseeligen Vorurtheile! Wie viele Menschen genießen mit Wenigem, vielleicht mit einem paar hundert Thalern das Glück der Liebe – u wir sollten es entbehren, weil wir von Adel sind? Da dachte ich, weg mit allen Vorurtheilen, weg mit dem Adel, weg mit dem Stande – gute Menschen wollen wir sein u uns mit der Freude begnügen, die die Natur uns schenkt. Lieben wollen wir uns, u bilden u dazu gehört nicht viel Geld – aber“, so fährt er dann doch etwas bedenklich fort, „aber doch etwas, doch etwas – u ist das, was wir haben, wohl hinreichend? Ja, das ist eben die große Frage“.17

 

Kleist will dem Brief zufolge diese Frage lösen, indem er sich auf das Schreiben verlegt. Es stehe ihm für die Zukunft das ganze schriftstellerische Fach offen, behauptet er. „Darin fühle ich, daß ich sehr gern arbeiten würde“ (ebd.). Ein paar Seiten später wird er noch deutlicher. Nun spricht er schon nicht mehr vom „schriftstellerischen Fach“, sondern entschieden vom Dichtertum, und nicht mehr nur um das bißchen Geld geht es nun, sondern um Ehre und Ruhm. „Lächle nicht“, schreibt er der Braut, „u bemühe Dich nur ja, alle Vorurtheile zu bekämpfen. Ich bin sehr fest entschlossen, den ganzen Adel von mir abzuwerfen. Viele Männer haben geringfügig angefangen u königlich ihre Laufbahn beschlossen. Shakespeare war ein Pferdejunge u jetzt ist er die Bewunderung der Nachwelt. Wenn Dir auch die eine Art von Ehre entgeht, so wird Dir doch vielleicht einst eine andere zu Theil werden, die höher ist – Wilhelmine, warte zehen Jahre u Du wirst mich nicht ohne Stolz umarmen“.18

Schon ein halbes Jahr vor der sogenannten Kant-Krise also war Kleist entschlossen, Dichter zu werden, die Berufung auf „Wissenschaft“ und „Bildung“ hat nur noch Deck- und Tarnfunktion. Obwohl der eben zitierte Brief mit einem Bekenntnis zu den „Wissenschaften“, ja zu den „geliebten Wissenschaften“ beginnt, ist in seinem weiteren Verlauf nicht mehr von ihnen die Rede, sondern vom Schriftstellerberuf und dem Wunsch, ein bedeutender Dichter wie Shakespeare zu werden. Auch die Liebesbindung, wenn es überhaupt eine war, beginnt er nun abzuschütteln. Nachdem er der Braut mitgeteilt hat, daß er sich mit ihr zunächst in eine bescheidene, ja arme Existenz zurückziehen möchte, um dort in Abgeschiedenheit seine schriftstellerische Laufbahn zu begründen, fährt er fort, immer noch im selben Brief vom 13. November 1800: „Ist das Alles nicht ausführbar, so bleibt uns, bis zum Tode, Eins gewiß, nämlich meine Liebe Dir, u Deine Liebe mir. Ich wenigstens gebe nie einem andern Mädchen meine Hand, als Dir“ (156). Mit einer Liebesversicherung und dem Versprechen, sich nie einem anderen Mädchen zu verbinden, fängt er an, sich aus der bestehenden Bindung zu lösen! Die letzte Konsequenz aus diesem Streben nach Unabhängigkeit ist der im Kantbrief vom 22. März 1801 geäußerte Wunsch: „Liebe Wilhelmine, laß mich reisen“ (206).

Die dichterische Produktion setzt in dem Augenblick ein, in dem er sich auf „Reisen“ begibt: Die Schritt für Schritt vorangetriebene Lösung aus allen Fixierungen ist eine elementare Bedingung seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Kleists Dichtung selbst ist eine Dichtung der experimentellen Offenheit, in ihr gibt es keine Sicherheit, weder die Sicherheit einer anerkannten Gesellschaftsordnung, noch die innere Heimat einer fraglos akzeptierten Religion; noch weniger die Sicherheit gültiger Traditionen, und schon gar nicht die Sicherheit einer ihrer selbst gewissen Subjektivität, einer existentialistischen Gefühlssicherheit, wie die ältere Kleistforschung immer wieder behauptete.

2. Die geistige und politische Situation um 1800

„Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen,

und wir werden davon nichts,

als bloß den Umsturz der alten erleben“.

(Kleist an Rühle von Lilienstern, Dezember 1805)19

Aufklärung und Romantik

Kleist schrieb in einer historischen Situation, die geprägt ist von der Erschütterung der alteuropäischen Gesellschafts- und Staatenordnung. Das Jahrhundert der Aufklärung und der krisenhafte Umbruch, der seit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen Europa erfaßte, bestimmt seine Fragestellungen. In den Jahren, in denen er seine Werke schuf, brach das Heilige Römische Reich deutscher Nation zusammen, Preußen wurde vernichtend geschlagen und geriet an den Rand seiner staatlichen Existenz20 , und dies nicht nur, weil Napoleon die Übermacht hatte, sondern auch, weil die Ordnung im Innern, die gesellschaftliche, militärische, wirtschaftliche und staatliche Verfassung des alten Preußen, rückständig und kraftlos war.

Immer wieder setzt sich Kleist mit der Französischen Revolution und ihren enormen Auswirkungen auseinander. Angesichts des Zerfalls der alten Ordnung stellt er sich auch die Frage, wie eine neue Ordnung aussehen könnte. Seit dem Jahre 1807 gerät er in den Bannkreis der preußischen Reformer21 , die eine solche neue Ordnung ohne Revolution, ja zur Vermeidung einer Revolution verwirklichen wollten, und natürlich auch, um die innere Stärke zu gewinnen, die zur Abwehr des äußeren Feindes nötig war.

Obwohl in der Zeit, in der Kleists Dichtungen entstehen, schon die Romantik floriert, ist Preußen bis um das Jahr 1810 noch von der Spätaufklärung geprägt. Tiefer und weiter als sonst irgendwo in Deutschland hatte in Preußen durch Friedrich den Großen die Aufklärung gewirkt, und obwohl unter seinem Nachfolger eine Reaktion eingesetzt hatte22 , war Preußen und speziell Berlin doch ein Zentrum aufgeklärter Geistigkeit geblieben. In seinem kritischen Engagement wandte sich Kleist besonders den französischen Aufklärern zu. Das lag nahe, gehörte doch die französische Aufklärung durch Friedrich den Großen, der sich selbst als Aufklärer verstand, bereits zum Grundbestand des preußischen und insbesondere des Berliner Kulturlebens. Friedrich der Große holte Voltaire als Exponenten der französischen Aufklärung an seinen Hof, ebenso eine Reihe anderer französischer Gelehrter und Philosophen; die Berliner Akademie der Wissenschaften stellte er unter die Leitung eines Franzosen. Mit dem Mittelpunkt Berlin entfaltete sich über Jahrzehnte hinweg eine aufklärerische preußische Kultur, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrang. Die bedeutendste Aufklärungszeitschrift, die Berlinische Monatsschrift, erschien in der preußischen Hauptstadt, der größte Aufklärungsphilosoph, Immanuel Kant, wirkte im ostpreußischen Königsberg. Zahlreiche populäre Aufklärungsschriftsteller sorgten dafür, daß die geistige Haltung der Aufklärung auch zu allgemeiner Breitenwirkung gelangte. Zusammen mit Lessing und Moses Mendelssohn initiierte der Hauptmatador der Berliner Aufklärung, Friedrich Nicolai, eine Reihe einflußreicher publizistischer Unternehmungen.23 Die drei wichtigsten sind die Bibliothek der schönen Wissenschaften, die Briefe, die neueste Literatur betreffend und schließlich die Allgemeine Deutsche Bibliothek. Auch als Verlagsbuchhändler stellte sich Nicolai ganz in den Dienst seines aufklärerischen Engagements. So gedieh seine große Buchhandlung, die er in Berlin führte, zu einem Mittelpunkt des geistigen Lebens. Die preußische Aufklärung mit Kant als geistiger Autorität und mit Publizisten wie Nicolai wirkte nach dem Tod Friedrichs des Großen im Jahre 1786 und trotz des unter seinem Nachfolger eingeleiteten Richtungswechsels in der Kulturpolitik noch jahrzehntelang außerordentlich intensiv – bis in die Zeit von Kleists geistiger Bildung und bis in die Periode seines literarischen Schaffens.

Die Prägung der preußischen Aufklärung durch die französische Literatur und Philosophie machte es zur Selbstverständlichkeit für den jungen Kleist, gerade nach den Leitfiguren der französischen Aufklärung zu greifen. In seinen Briefen nennt er Voltaire, Helvétius und Rousseau. Der tiefe Eindruck ihrer Schriften läßt sich in einer ganzen Anzahl seiner Werke feststellen. Das gilt vorab für den religiösen Bereich: Auch bei Kleist ist Religions- und Kirchenkritik ein wichtiges Thema. Hinzu kommt die Problematisierung der alten Gesellschaftsordnung, insbesondere ihres ausgeprägten Privilegienwesens. Eine schon bestehende aufklärerische Tradition Preußens, die Justizkritik, die sich in weitreichenden Versuchen zur Reform des korrupten Justizwesens niederschlug, ist Kleists Thema im Michael Kohlhaas. Nicht zuletzt richtet sich sein aufklärerisches Interesse auf die Familie, so wenn er die Rückständigkeit der Gesellschaft am Beispiel der patriarchalisch-autoritär geprägten Familienstruktur thematisiert, wie in der Familie Schroffenstein und in der Erzählung Die Marquise von O… Doch setzt Kleist mit seiner kritischen Durchleuchtung von Familienstruktur, Gesellschaft, Staat, Kirche und Religion nicht einfach die alte Aufklärung fort. Im Bann der Romantik erhält sein Engagement eine neue Tiefendimension, es gerät aber auch in eine Verwerfungszone. Durch die Brechungen von Aufklärung und Romantik, von Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft und vaterländischer Identifikation infolge der Napoleonischen Bedrohung verstärkte sich die schon durch die persönliche Situation gegebene Orientierungsproblematik. Die Verweigerung der gesellschaftlichen Anpassung, die krisenhafte Bindungslosigkeit, die nur im Kampf gegen die Familientradition und den allgemeinen Wertungskodex durchzusetzende Selbstverwirklichung – all das ließ ihn persönlich eine zunächst beinahe anarchistische Position gegenüber den überindividuellen gesellschaftlichen Ordnungen einnehmen. So verbindet sich bei Kleist das aufklärerische preußische Erbe mit dem Bewußtsein der akuten politischen Krise und der radikalen eigenen Ablösung von Autoritäten, Institutionen und Normen. Erst aus dieser Verbindung entstehen die erstaunlichen und oft leidenschaftlichen Intensitäten seiner kritischen Analyse, und erst daraus ergibt sich auch deren komplexe Mehrdimensionalität.

Ein für Kleists ganzes Werk zentrales aufklärerisches Thema fällt schon in den frühen Briefen mehrfach auf, wenn auch meistens auf die persönlichen Probleme bezogen: das Vorurteil.24 „– o über die unglückseeligen Vorurtheile! […] Da dachte ich, weg mit allen Vorurtheilen, weg mit dem Adel, weg mit dem Stande […]“ heißt es in dem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800 geradezu programmatisch.25 Immer wieder spricht Kleist von der Notwendigkeit einer entschiedenen Absage an alle Vorurteile. Unter Vorurteilen versteht er konventionelle Wertungen und Haltungen, die vom Standpunkt natürlichen menschlichen Empfindens und individueller Selbstverwirklichung nicht zu legitimieren sind. Vorurteile bestimmen viele von Kleists Gestalten in ihren religiösen, gesellschaftlichen und sonstigen Anschauungen und Wertungen; ganze Geschehenszusammenhänge, wie sich bereits in seinem Erstlingswerk Die Familie Schroffenstein zeigt, unterliegen vorurteilshaften Verhaltensweisen.26 Und diese Vorurteile resultieren mehr aus der strukturbildenden Kraft der äußeren Verhältnisse als aus individuellen Defiziten. Kleist analysiert nicht bloß bestehende äußere Mißstände, sondern dringt weiter vor, indem er die im Menschen verhängnisvoll wirkende Macht solcher Mißstände zeigt. Mit psychologischem Scharfsinn sondiert er die Herausbildung von falschen Bewußtseinsstrukturen und zerstörerischen Verhaltensmustern.

Die Verwurzelung Kleists im aufklärerischen Denken, die ihn sowohl objektive, geschichtlich gewordene Strukturen in Staat und Kirche, Gesellschaft und Religion, wie auch subjektive Dispositionen im Mentalitäts- und Gefühlshaushalt der Menschen kritisch insbesondere auf ihre Vorurteilsbedingtheit hin hinterfragen läßt, schließt irrationale Absolutsetzungen aus. Jede Absolutsetzung relativiert er, alles scheinbar Fraglose hinterfragt er. Abgesehen von seiner aufklärerischen Intellektualität aber, die kein irrationales Apriori gelten läßt, lag für Kleist doch offensichtlich eine große Faszination in der Frage nach den Möglichkeiten und Qualitäten des Irrationalen – die Faszination der jungen romantischen Generation, die im „Gefühl“, im „Gemüt“ und im Unbewußten entscheidende Werte entdeckte. Zwar ist die Romantik keineswegs auf einen Gefühlskult zu reduzieren, aber die Wendung nach Innen, zur poetischen Innerlichkeit, zum Unbewußten, zum Traum, zur Gemütstiefe ist doch charakteristisch für sie. Kleist hat diese wie andere romantische Faszinationen, so diejenige durch die Musik und die katholische Religion, die bis zu den aufsehenerregenden Konversionen einiger Romantiker führte (Reflexe davon finden sich in seiner hintergründigen Erzählung Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik), nachweisbar an sich selbst erfahren. Wesentlich für seine geistige Physiognomie ist es aber, daß er dieser Faszination durch das Irrationale nicht nachgegeben hat, wie es manche Romantiker taten. Kleist setzte sich mit der romantischen Faszination, gerade weil sie auch ihn selbst ergriff, kritisch auseinander. Er analysierte sie psychologisch und historisch aus aufgeklärtem Geist und kam zu dem Ergebnis, daß sie zwar schön, aber trügerisch und deshalb gefährlich sei. Sie führt zur Verfehlung der Wirklichkeit und damit auch der eigenen Situation.

Das prominente Beispiel für eine solche romantische Befangenheit in der eigenen Gefühlssphäre, die Kleist dennoch nicht vom Standpunkt eines pragmatisch-vordergründigen Realismus abwertet, ist der Prinz von Homburg, der durch seinen Traum an den Rand des Grabes gerät, weil er die Ordre für die Schlacht verpaßt, also nicht mehr in der Lage ist, die Wirklichkeit richtig einzuschätzen. Bereits dieses Beispiel zeigt, daß Kleists aufklärerisch desillusionierende Analysen, mit denen er auch gegen seine eigene Illusionsbereitschaft ankämpft, keineswegs epigonale Züge tragen. Weil die Aufklärung durch die Herausforderung der Romantik neue Impulse erhält, ist sie aktuelle Aufklärung und historisch notwendige Aufklärung, nicht bloß ein letzter Ausläufer des 18. Jahrhunderts.

Kleist reflektiert, weshalb gerade der Aufklärung des 18. Jahrhunderts eine romantische Reaktion folgen mußte. In seinen kritisch-psychologischen Sondierungen greift er auf das in der Epoche der Aufklärung ausgebildete Instrumentarium zurück, etwa auf die schon genannte Methode der Vorurteilskritik oder auf die systematische Reduktion von scheinbar Übernatürlichem auf Natürliches, auf die Desillusionierung von Illusionen; aber die von ihm entworfenen Problemkonstellationen sind nun insofern komplexer, als sie nicht mehr bloß der Aufklärung traditioneller, der Vergangenheit verhafteter Vorstellungen gelten, sondern der neuen romantischen Strömung, die sich trotz der historischen Leistung der Aufklärung und zum Teil auch gegen diese Leistung durchsetzte. Das erforderte eine differenziertere Strategie. Sie konnte sich nicht damit begnügen, historisch und kritisch reflektierend Vergangenheitsbestände aufzulösen, vielmehr hatte sie auch den in der Gegenwart virulenten Entstehungsbedingungen solcher Vorstellungen nachzufragen.

Traditionell ordnet man Kleist wie Hölderlin und Jean Paul unter dem nichtssagenden Etikett „zwischen Klassik und Romantik“ literaturgeschichtlich ein. Das ist aber eine bloße Verlegenheitsformel für diese Dichter, die obendrein nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. Für Kleist trifft am besten eine andere Formel zu: „Aufklärung und Romantik“. Sie bezeichnet nicht ein zeitliches Dazwischenstehen, vielmehr ein dialektisches Verhältnis von romantischer und aufklärerischer Geistesverfassung. Es macht Kleists Größe und Besonderheit aus, daß er in den Jahren romantischer und idealistischer Spekulation, in denen man Märchen und Legenden kultivierte, das Mittelalter wieder in Mode brachte, sich mit Vorliebe auf Traum und Gemüt berief, die Kindheit und das Unbewußte zu höchsten Werten erhob, in denen man nach der großen Entzauberung durch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts das Dasein wieder poetisch und religiös, vor allem aber phantastisch zu verzaubern suchte – daß er in diesen Jahren mit Entschiedenheit und preußischer Nüchternheit sich selbst und anderen eine zweite, noch weiterreichende Aufklärung27 zumutete, ohne die romantischen Bedürfnisse des menschlichen Herzens zu verkennen oder gar zu mißachten.