Heilige Maria,
ohne Sünden empfangen,
bete für uns,
die wir uns an dich wenden.
Amen.
Für S.I.L., Carlos Eduardo Rangel und Anne Carrière, Meister der Disziplin und des Mitgefühls
Der Jünger ist nicht über
den Meister erhaben;
wenn er aber ganz
vollendet ist, so wird
er sein wie sein Meister.
Lukas 6:40
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.
Sie kommen durch euch, aber nicht aus euch.
Und auch wenn sie mit euch sind, gehören sie euch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihrem Körper eine Wohnstatt geben, aber nicht ihrer Seele,
Denn ihre Seele wächst auf im Hause der Zukunft, das ihr nicht einmal in euren Träumen besuchen könnt.
Ihr dürft danach streben, so zu sein wie sie, aber versucht nicht, sie euch gleichzumachen.
Denn das Leben geht weder rückwärts noch verweilt es in der Vergangenheit.
Ihr seid der Bogen, den eure Kinder als lebendige Pfeile verlassen.
Der Schütze visiert das Ziel auf dem Pfad des Unendlichen an, und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit Seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Lasst euch gerne von der Hand des Schützen spannen;
Denn so wie Er den fliegenden Pfeil liebt, so liebt Er auch den beständigen Bogen.
Khalil Gibran, Der Prophet
»Vom Strand östlich des Dorfes aus kann man eine Insel sehen, auf der sich eine riesige Kirche mit unzähligen Glocken erhebt«, sagte die Frau zu dem kleinen Jungen.
Er hatte sie noch nie zuvor in der Gegend gesehen; ihm fiel auf, dass sie fremdartige Kleider und über dem Haar einen Schleier trug.
»Kennst du diese Kirche?«, fragte sie ihn. »Schau sie dir an, und erzähl mir dann, wie du sie findest.«
Von der Schönheit der Frau betört, machte sich der Junge sogleich auf den Weg zum Strand. Er setzte sich in den Sand, suchte den Horizont mit den Blicken ab, sah aber nichts als das, was er immer sah: den blauen Himmel und den Ozean.
Enttäuscht lief er zum nächsten Weiler und fragte die Fischer, ob sie etwas von einer Insel und einer Kirche gehört hätten.
»Ja, vor langer Zeit wohnten meine Urgroßeltern dort«, antwortete ihm ein alter Fischer. »Aber dann kam ein Erdbeben, und die Insel ist versunken. Dennoch hören wir noch heute manchmal, obwohl wir sie nicht sehen können, die Glocken der Kirche, wenn das Wogen der Wellen sie unten auf dem Meeresgrund erklingen lässt.« Das Kind kehrte zum Strand zurück: Es wartete den ganzen Nachmittag, aber da war nichts als das Tosen der Wellen und das Kreischen der Möwen.
Bei Einbruch der Dunkelheit kamen die Eltern das Kind holen. Doch schon am nächsten Morgen kehrte es wieder zum Strand zurück. Das Bild der Frau ließ ihm keine Ruhe, und es kam ihm undenkbar vor, dass ein so schöner Mensch nicht die Wahrheit gesagt haben könnte. Wenn sie eines Tages wiederkäme, wollte es ihr sagen können, dass es die Insel zwar nicht gesehen, aber die Kirchenglocken gehört habe, die die Wellen zum Klingen brachten. So gingen die Monate ins Land: Die Frau kehrte nicht zurück, und der kleine Junge vergaß sie; aber die versunkene Kirche vergaß er nicht, denn eine Kirche birgt immer irgendwelche Reichtümer und Schätze. Wenn der Junge die Glocken hören könnte, würde er die Gewissheit haben, dass die Fischer die Wahrheit gesagt hatten, und wenn er einmal groß war, würde er so viel Geld zusammenbringen, dass er eine Expedition ausrüsten und den verborgenen Schatz heben konnte.
Der Junge verlor das Interesse an der Schule, an seinen Kameraden. Er wurde zur beliebten Zielscheibe des Spottes der anderen Kinder, die ihn verhöhnten und sagten: »Er ist nicht wie wir. Er guckt lieber aufs Meer, und mit uns spielen will er auch nicht, weil er Angst hat zu verlieren.«
Und sie lachten über den kleinen Jungen, der immer am Strand saß.
Obwohl er die alten Kirchenglocken noch immer nicht hören konnte, lernte er doch jeden Morgen etwas Neues dazu. Zuerst entdeckte er, dass er sich nicht mehr von den Wellen ablenken ließ, weil ihm ihr Rollen inzwischen ganz vertraut war. Wenig später hatte er sich auch an das Geschrei der Möwen und das tiefe Summen der Bienen gewöhnt und an das Schleifen der Palmblätter im Wind.
Sechs Monate nach seiner ersten Begegnung mit der Frau ließ sich der Junge von keinem Geräusch mehr ablenken – aber die Glocken der versunkenen Kirche hörte er immer noch nicht.
Andere Fischer gesellten sich zu ihm an den Strand. »Wir, wir hören sie!«, behaupteten sie steif und fest.
Aber der Junge hörte sie nicht.
Nach einiger Zeit aber sagten die Fischer zu ihm: »Du kümmerst dich zu sehr um das Läuten der Glocken, lass gut sein, und geh wieder mit deinen Kameraden spielen. Vielleicht sind wir Fischer die Einzigen, die sie hören können.«
Etwa ein Jahr später beschloss der Junge aufzugeben. »Die Männer haben wahrscheinlich recht. Am besten, ich werde ebenfalls Fischer, wenn ich groß bin. Dann kehre ich jeden Morgen hierher an den Strand zurück und höre die Glocken.« Und er dachte auch: »Vielleicht ist ja alles nur ein Märchen, und die Glocken sind beim Erdbeben kaputtgegangen und erklingen nie wieder.«
An jenem Nachmittag beschloss er, nach Hause zu gehen.
Als er zum Abschied an den Ozean trat, schaute er noch einmal die Natur ringsum an, und da ihn die Glocken nicht mehr kümmerten, konnte er sich über das Rufen der Möwen, das Rauschen des Meers und das Schleifen der Palmenblätter im Wind freuen. In der Ferne hörte er die Stimmen seiner Spielkameraden, mit denen er bald wieder freudig herumtollen würde. Sie hatten ihn lange verspottet, doch das würden sie bald vergessen und ihn wieder mitspielen lassen.
Und da hörte er, weil er dem Meer, den Möwen, dem Schleifen der Palmenblätter und den Stimmen seiner Spielkameraden lauschte, die erste Glocke.
Und noch eine weitere. Bis alle Glocken der versunkenen Kirche zu läuten begannen und ihn mit Freude erfüllten.
Jahre später kam er als erwachsener Mann in das Dorf seiner Kindheit zurück. Er hatte nicht vor, irgendeinen Schatz zu heben, der auf dem Meeresgrund lag, denn vermutlich war das alles nur kindliche Träumerei gewesen, und er hatte die versunkenen Glocken nie läuten hören. Trotzdem beschloss er, zum Strand hinunterzugehen, um dem Rauschen des Windes und den Rufen der Möwen zu lauschen.
»Ich habe auf dich gewartet.«
Sie reichte ihm ein blaues Heft mit leeren Seiten.
»Was ist ein Krieger des Lichts?«
Er war nie auf den Gedanken gekommen, dass er ein Krieger des Lichts sein könnte. Die Frau schien seine Gedanken zu erraten.
Er schaute auf die Seiten im Heft. Die Frau lächelte wieder.