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Manfred Prescher

ES GEHT VORAN

Die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik

 

 

 

 

 

 

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Impressum

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wbg THEISS ist ein Imprint wbg.

© 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die
Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.
Layout, Satz und Prepress: satzgrafik Susanne Dalley, Aachen
Einbandgestaltung: Harald Braun, Helmstedt
Einbandabbildung: ©akg images/picture alliance/dpa/PeterSteffen
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-3776-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3777-1
eBook (epub): ISBN 978-3-8062-3778-8

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

inline1 So viel Sprachlosigkeit war nie
Nazidiktatur und Nachkriegsdeutschland

inline2 Eine feste Burg sei unser Song – Sprachfindung auf „der Waldeck“
Hannes Wader und Franz-Josef Degenhardt

inline3 Der Mey ist gekommen
Reinhard Mey

inline4 Keine Macht für niemand – Als die Rockmusik deutsch lernte
Ton Steine Scherben

Intermezzo I

Lasst den Elch an euch vorübergehen
Erstes Wiener Heimorgelorchester

inline5 Aber bitte mit Sahne
Udo Jürgens

inline6 Von bösen Onkeln und schlimmen Tanten
Was gibt es eigentlich am Deutschen Schlager auszusetzen?

inline7 Weckerleuchten – Oder genug ist nicht genug
Konstantin Wecker

inline8 Ein bisschen Spaß muss sein
Insterburg & Co., Otto Waalkes und die Erste Allgemeine Verunsicherung

inline9 Uns Udo
Udo Lindenberg

Intermezzo II

Wo san meine Hawara?
Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth

inline10 „Jugend ist etwas Unvergleichbares“ (Oscar Wilde)
Wie anders war das andere Deutschland?

inline11 Die west-östliche Diva
Nina Hagen

inline12 Von wegen Fräuleinwunder
Nena

Intermezzo III

Wenn die Moderne die Tradition umarmt
Wiener Blond

inline13 Bochum, ich komm aus Dir
Marius Müller-Westernhagen, Herbert Grönemeyer und BAP

inline14 Das Tabu geht so lange in die Ohren, bis es bricht
Rammstein

inline15 Wie einem der Schnabel gewachsen ist – Von Dialekt und Dialektik in der Popmusik –
von der Nordseeküste bis nach Bad Reichenhall

Intermezzo IV

Die Magie der Melancholie
Isolation Berlin

inline16 Man singt deutsch? – Österreich ist sowieso ganz anders
Von Helmut Qualtinger, Wolfgang Ambros und Wanda

inline17 Wir brauchen Frauenpower
Von Hildegard Knef, Annette Humpe, Judith Holofernes und LEA

inline18 Es geht voran – Neue deutsche Intelligenz
Kraftwerk, Fehlfarben, DAF, Trio und Einstürzende Neubauten

inline19 No Fun? Just Fun! – Mehr als nur Klamauk
Die Toten Hosen und Die Ärzte

inline20 Rapper, Sprachvirtuosen und Maskenmänner – Hip-Hop aus Deutschland
Die Fantastischen Vier, Beginner, Sido und Casper

Intermezzo V

Wem du’s heute kannst besorgen
Faber

inline21 Von der Hamburger Schule lernen wir
Blumfeld und Tocotronic

inline22 Finger weg von meiner Paranoia! – zwischen Witz und Schwermut
Sven Regener und Element Of Crime

inline23 Liedermacher oder neue Schlagerhelden?
Mark Forster, Tim Bendzko und Gisbert zu Knyphausen

Fazit

Blick zurück nach vorn
Von nahezu unbegrenzten Limitierungen

Playlist

Personenregister

Bildnachweis

Vorwort

Mit willkürlichen Grenzziehungen ist das so eine Sache – egal, ob es sich dabei um eine Obergrenze für Flüchtlinge, eine Frauenquote im Management oder um deutschsprachige Musik handelt. Man kann leidenschaftlich darüber diskutieren, ob solche Festlegungen „von oben herab“ gerecht sind, dem Wunsch der Menschen entsprechen oder ob sich die Realität durch eine solche Maßnahme nachhaltig lenken lässt.

Im Herbst 2004 befand sich die Musikindustrie im freien Fall. Die durch die Popkultur verwöhnte Branche setzte Jahr für Jahr weniger Tonträger ab, musste sich mit illegalen Tauschbörsen und einem veralteten Urheberrecht auseinandersetzen. Eine Folge war klar: Im öffentlich-rechtlichen wie auch im privaten Formatradio wurden hauptsächlich in englischer Sprache gesungene Titel eingesetzt. Denn diese wurden von den meist in den USA sitzenden Mutterkonzernen bevorzugt „beworben“. Schließlich waren die Kosten für ein Album von Madonna, U2 oder Robbie Williams immens, die Weltstars verschlangen ein riesiges Marketingbudget. Damit sich Werke von Madonna und Co. rechneten, mussten deren Songs logischerweise in die sogenannte „Heavy Rotation“ der Sender gelangen, dort also besonders häufig eingesetzt werden. Dieser musikalischen Globalisierung, die freilich schon wesentlich früher begann, wollten rund 500 Künstler, darunter Udo Lindenberg, Xavier Naidoo oder Heinz-Rudolf Kunze mit einer Quotenregelung begegnen – und bekamen Unterstützung durch die Politik. Im Magazin Stern wird die Kulturpolitikerin Antje Vollmer von den Grünen seinerzeit mit dem Satz „die hier lebenden Künstler müssen eine Chance haben, am Markt einfach teilhaben zu dürfen“ zitiert. Wie bei Grenzziehungen üblich, waren längst nicht alle Künstler für ein solches Reglement. So argumentierte Sven Regener, der Kopf von Element Of Crime, gegen die Quotenregelung. Mittlerweile sind einige Jahre ins Land gezogen und die Forderung wird in unregelmäßigen Abständen – jedes Mal etwas leiser im medialen Nachhall – neu formuliert. Mal sollen Helene Fischer oder Andrea Berg öfter gespielt werden, mal die Songs deutscher Rapper wie Sido oder Prinz Pi. Der Sinn einer solchen Regelung wäre heute allerdings beim besten Willen nicht wirklich mehr erkennbar: In den deutschen wie auch österreichischen Albumcharts dominieren einheimische Produktionen – deutscher Hip-Hop steigt in der Regel auf Platz eins ein, Schlagerkünstler aber auch moderne Liedermacher sind extrem erfolgreich, der „Austro-Pop“ feiert ein verdientes Comeback. Und das nicht nur in den Hitparaden, die längst den Verkauf von Tonträgern und Downloads abbilden, sondern auch im Radio und bei Streamingdiensten wie Amazon Music oder Spotify.

Nur mal so zum Vergleich: „Neymar“, der Hit des deutsch-russischen Rappers Capital Bra bricht alle Rekorde: Allein bei Spotify wird das Lied zwischen Ende April und Ende Mai 2018 knapp 23 Millionen Mal gestreamt. Der kanadische Hip-Hop-Star Drake und sein „Nice For What“ werden im gleichen Zeitraum mit allerdings über 262 Millionen Mal angehört. Sein Welthit „God’s Plan“ kommt bislang sogar auf 775 Millionen Streaming-Klicks beim Marktführer Spotify. Bei den Followern, also den „echten“ Fans, sieht es ähnlich aus: Robbie Williams hat – Stand: Mai 2018 – pro Monat über 4,2 Millionen Follower bei Spotify, Mark Forster rund 1,6 Millionen, der Rapper Bushido immerhin fast 1,1 Millionen. Auch wenn das im Vergleich zu Ed Sheeran (39,5 Millionen), Shawn Mendes (30,5 Millionen), Taylor Swift (26,5 Millionen) oder Pink (16,5 Millionen) eher nach wenig klingen mag: Die Zahlen von Bushido, Forster oder Capital Bra werden fast ausschließlich im begrenzten heimatlichen Sprachraum erzielt.

Bleibt das Problem mit der deutschen Sprache in der Musik: Global war und ist sie – von Ausnahmen abgesehen – nicht erfolgreich zu vermarkten. Auch hierzulande war die angloamerikanische Popmusik eigentlich immer schon erfolgreicher. Die Gründe dafür werden in diesem Buch genauso angesprochen wie das Problem der Künstler, aus dem während des Dritten Reichs systematisch missbrauchten Deutsch eine gesunde Sprache neu zu entwickeln. Das gelang letztlich auf so beeindruckende Weise, dass die aktuellen Künstler daraus durchaus eine kreative Leichtigkeit schöpfen können. Natürlich schaffen die modernen Liedermacher das nicht immer und ebenso selbstverständlich versuchen sie sich öfter mal im Wiederholen des eigenen Erfolgsmodells. Das ist freilich kein deutsches, sondern ein generelles Erfolgsphänomen.

Dieses Buch widmet sich nun der Geschichte der deutschsprachigen Popmusik. In den einzelnen Kapiteln werden die richtungsweisenden Künstler genauso beleuchtet wie die wichtigen Strömungen. Liedermacher, Rapper, Punks, Rocker, Scherzbolde und Sprachvirtuosen werden in den jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext eingebunden. Das führt auch dazu, dass zweimal die Perspektive des beobachtenden und kommentierenden Autors verlassen wird. Man begreife es als Gnade der rechtzeitigen Geburt, denn das Phänomen „Udo Lindenberg“ und die Bedeutung des Künstlers für die deutsche Jugendsprache werden aus der persönlichen Sicht besonders deutlich. Die Schilderung einer Pubertät mit den Liedern Lindenbergs in den 1970er-Jahren vermag den Nachgeborenen am ehesten zu verdeutlichen, was daran seinerzeit so bahnbrechend war.

Ebenfalls auf persönlicher Ebene nähere ich mich der Musik der DDR, die Beweggründe für diesen Perspektivwechsel sind freilich andere: Wer als „Wessi“ so tut, als verstünde er dieses spezielle Kapitel der deutschsprachigen Musik nur, weil er die Interpreten und deren Werke kennt, der ignoriert, dass er das meiste vielleicht begreift, wohl aber nicht völlig durchdringt.

Mir war klar, dass ich, wäre ich vor der Wende in Ostdeutschland aufgewachsen, empfindlich auf westliche „Besserwisser-Analysen“ reagieren würde. Deshalb tue ich auch nicht so, als wisse ich alles über den DDR-Pop, als hätte ich tatsächlich alle Intentionen parat. Stattdessen führt in diesem Kapitel ein persönlicher Weg über die eigene West-Biografie zu den Fakten der Entwicklung, die unter Walter Ulbricht und Erich Honecker bemerkenswert andere Lieder hervorbrachte.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und hoffe mit einiger Zuversicht, dass Sie den einen oder anderen Song für sich (wieder) entdecken. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei den Menschen, die mir ein Quell der Inspiration waren und sind – allen voran Jost Contino, Günther Fischer, Gernot Hahn, Matthias Matuschik, Gwenna und Ilka Schöning, Tanja Specht, Richard Weize sowie Christa Wunderlich.

Wenn Sie mir schreiben möchten:
MPrescher@email.de

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1

So viel Sprachlosigkeit war nie

Nazidiktatur und Nachkriegsdeutschland

„Ein Rekrut, ein äußerst dummer/Musste auch zum Kriege mit/
Und er lernt in der Etappe/Mühsam den Paradeschritt/
Endlich kann er die Parade/Da wird wieder abgerüst’t/
Seh’n Sie, darum ist es schade/dass der Krieg zu Ende ist“

Aus: „Seh’n Sie, darum ist es schade,
dass der Krieg zu Ende ist“
von Otto Reutter

Wie singt der moderne Barde Tim Bendzko so schön und doch irgendwie unlogisch? „Wenn Worte meine Sprache wären/Ich hätt’ dir schon gesagt/In all den schönen Worten/Wie viel mir an dir lag“ heißt es in einem Erfolgstitel des Berliners. Er stammt aus dem Jahr 2011 und passt doch auch als Überschrift über das Dilemma, das deutsche Popkünstler seit dem Kriegsende mit ihrer eigenen Muttersprache und natürlich ihrem Vaterland haben.

Beide Begriffe werden während der eigentlich sehr kurzen Zeitspanne von nur zwölf Jahren negativ besetzt. Für die Sprache, die noch in der Weimarer Republik das bunte und vielfältige Leben abbilden kann, gilt das allemal: Nach 1945 herrscht speziell unter Jugendlichen eine umfassende Sprachlosigkeit, während zeitgleich im angloamerikanischen Sprachraum die Altersgenossen die Welt für sich entdecken und eigene Ausdrucksformen finden. Bereits in den 1930er- und 1940er-Jahren schöpfen moderne Sounds speziell in den USA aus einem riesigen Fundus an musikalischer Tradition, und die Lieder der Hillbillys und Blues-Sänger finden auch dank der zunehmenden Verbreitung von Rundfunkgeräten, Plattenspielern und Jukeboxes Eingang in die Populärkultur. Man kann das, zum Beispiel bei den legendären „Bristol Sessions“ nachhören: Ralph Peer nimmt 1927, mit damals hochmoderner Technik mitten im ländlichen Tennessee, die „Hinterwäldlermusik“ der Carter Family oder von Jimmie Rodgers auf und legt so einen Grundstein für spätere Songwriter – von Bob Dylan über Johnny Cash bis zur aktuellen Generation um Ryan Adams oder Jack White. Die Wurzeln der modernen Popmusik sind noch heute – vereinfacht gesagt – auch auf der erstmals 1952 erschienenen „Anthology Of American Folk Music“ zu finden, wo Harry Smith Liedgut der Jahre 1926 bis 1933 zusammensammelt, zum Beispiel Blind Willie Johnsons Blues-Song „John The Revelator“, der 2005 von Depeche Mode auf moderne Weise gecovert wird.

Es gibt das „Great American Songbook“ und wir wissen, dass Blues, Swing und Hillbilly dann auch, über Louis Jordan oder Wynonie Harris, zu Rock’n’Roll werden. Wie sich die US-Musik aus diesen Wurzeln nach dem Zweiten Weltkrieg weiterentwickelt, ist bekannt. Man kann diese trotzdem spannende Geschichte detailliert nachlesen, etwa in „Nichts als Krach“, der 1985 erschienenen und immer noch antiquarisch erhältlichen Dissertation des Entertainers und Musik-Enthusiasten Götz Alsmann.

Um zu verstehen, was in Deutschland passiert, ist ein Blick in die 1920er-Jahre nötig. Schon damals gibt es so etwas wie einen Blick über den „Großen Teich“, die Welt rückt näher zusammen, US-amerikanische Populärkultur erobert auch die vom Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der alten Ordnung, von Arbeitslosigkeit und Inflation gebeutelte Weimarer Republik. Das beschreibt der damals überaus erfolgreiche Sänger, Komiker und Schauspieler Otto Reutter 1927 in seinem Couplet „Der Michel wird nicht klüger durch den Krieg“ so: „Jazzband-Kapellen gibt’s jetzt überall/So’n Brumm’n und Summ’n und Knall’n ist nicht mein Fall/Die Herren Neger machen uns was weiß/Warum tönt nicht ein Walzer, zart und leis’?/Wie herrlich klingt von Strauß doch die Musik!/Der Michel wird nicht klüger durch den Krieg!“ Der deutsche Michel steht aber nicht nur auf die Musik, welche über die deutschen Lizenznehmer der US-Konzerne Victor, Columbia oder RCA oder dank einer stetig wachsenden Zahl von Importen immer populärer wird.

Auch, wenn der Begriff gerade aktuell ist und damals natürlich nicht die Runde macht: Bedingt durch den technischen Fortschritt und die rasant wachsende Mobilität befindet sich die westliche Welt schon in den 1920er-Jahren inmitten einer Phase der Globalisierung. So kommt neben Zeichentrickfilmen von Walt Disney oder den Meisterwerken von Charlie Chaplin und Buster Keaton auch der Swing – und mit ihm die ersten Superstars einer US-amerikanischen Popkultur – in Deutschland an. Duke Ellington, Louis Armstrong, Cab Calloway oder Bix Beiderbecke liegen im Trend und das bleibt auch dann noch so, als nach 1933 und nach inoffizieller Staatsdoktrin „Swing tanzen verboten“ wird. Im von Bernd Polster herausgegebenen und sehr lesenswerten Buch Swing Heil – Jazz im Nationalsozialismus wird beschrieben, wie Jugendliche in geheimen Clubs in Hamburg oder Berlin ihre Musik hörten, dazu tanzten, wie sie an neue Schallplatten herankommen und wie sie ihr Anderssein in puncto Kleidungsstil oder Frisuren zeigen. Dass die Swing-Fans oft im Netz der Gestapo landen und sanktioniert werden, ist klar. Dass sich auch SS-Offiziere und Geheimpolizisten in den Clubs zur „Negermusik“ vergnügen, mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, zeigt aber nur die Doppelmoral vieler Nationalsozialisten.

Geschmack ändert sich nicht von heute auf morgen, er geht in den Untergrund oder wandert aus. Dass sich das Deutsche Reich anlässlich der Olympischen Spiele in Berlin 1936 vermeintlich weltoffen mit der vom Schweizer Swing-Star Teddy Stauffer aufgenommenen Hymne „Goody Goody“ präsentiert, ändert nichts daran, dass Musikfans verfolgt werden: „Vom Schulverweis bis zur Einweisung ins Konzentrationslager“ reicht die Bandbreite an Repressalien, erklärt der Historiker und Journalist Volker Ullrich 2016 im Deutschlandfunk. Ullrich beschreibt die Swing-Szene in Nazi-Deutschland so: „Man sprach sich gern mit englischen Vornamen an wie ‚Bobby‘ oder ‚Teddy‘, grüßte nicht mit ‚Heil Hitler‘, sondern mit ‚swing high, swing low’, hörte Musiksendungen der BBC, kurzum: Man schuf sich eine jugendliche Gegenwelt, die sich dem totalen Herrschaftsanspruch der braunen Diktatur entzog. Den Parteigängern des Regimes galten die unangepassten Jugendlichen als renitente Lotterbuben, die schräge Musik aus Übersee als schrilles Signal der ‚Überfremdung‘. Mehr noch als durch die heißen Rhythmen fühlten sie sich durch den ausgelassenen Tanzstil herausgefordert. So berichtete der HJ-Streifendienst über eine Tanzveranstaltung im Kaiserhof in Altona Anfang Februar 1940: ‚Der Anblick der etwa 300 tanzenden Personen war verheerend. In Hysterie geratene Neger bei Kriegstänzen sind mit dem zu vergleichen, was sich dort abspielte.‘“

Viele Künstler sind Mitte der 1930er-Jahre ohnehin außer Landes geflohen – weil sie jüdischer Abstammung, homosexuell sind oder politisch Links denken. Oder weil sie gerade noch rechtzeitig merken, dass ihre Kunst mit Begriffen wie „entartet“ oder „undeutsch“ belegt und aus dem öffentlichen Leben verbannt wird. Die Liste derjenigen, die gehen, ist lang und der Aderlass riesig: Sie beinhaltet den Komponist Friedrich Hollaender, die Schauspielerin und Sängerin Marlene Dietrich, den Autor und Regisseur Bertolt Brecht und seinen „Hauskomponisten“ Kurt Weill, den UFA-Regisseur Fritz Lang oder Teile der überaus erfolgreichen Comedian Harmonists. Die Vokaltruppe wird wegen ihrer jüdischen Mitglieder frühzeitig mit einem Auftrittsbann belegt. Drei der sechs Mitglieder der Comedian Harmonists werden zwar in die Reichsmusikkammer aufgenommen, dürfen aber nicht mehr mit den „Nichtariern“ zusammenarbeiten. Ihre letzte legale Aufnahme stammt vom 1. März 1935 und trägt den bezeichnenden Titel „Morgen muss ich fort von hier“.

Dass mit den Harmonists auch ein riesiges Stück Unbeschwertheit geht, kann man an den Aufnahmen des aus den Resten der Gruppe neugegründeten Meistersextetts hören. Es fehlt der Schwung, und das Freche wird zugunsten von erwünschter Heimat-Glückseligkeit fallengelassen. 1937 wird zudem der Verkauf der Hits der Comedian Harmonists, also „Mein kleiner grüner Kaktus“ oder das frivole „Veronika, der Lenz ist da“, verboten. Lieder wie Otto Stranskys „Ich fahr mit meiner Klara in die Sahara“ von 1927 oder „Ich lass mir meinen Körper schwarz bepinseln“, den Ufa-Star Willy Fritsch 1930 im Film Einbrecher singt, sind plötzlich zwangsweise aus der Zeit gefallen – und das nicht nur, weil der Komponist Friedrich Hollaender Jude ist.

Politische Äußerungen, wie etwa noch 1930 in Ernst Buschs „Lied der Arbeitslosen (Stempellied)“ populär, sind erst recht nicht mehr erwünscht. Es ist wohl nicht so, dass viele Verbote ausgesprochen werden müssen. Die Mehrzahl der Künstler ist eingeschüchtert, sie denken – wie Willy Fritsch, Lilian Harvey oder Heinz Rühmann – an ihre Karrieren und lassen sich rasch auf Linie bringen. Für die Gleichschaltung der Künste sorgen ab 1933 sieben Kammern, unter anderem die Reichsmusikkammer, die Reichsfilmkammer, die Reichsschrifttumskammer oder auch die Reichskammer der bildenden Künste – allesamt unter dem Dach der Reichskulturkammer. Sie unterstehen direkt dem Reichsminister für Volksaufk lärung und Propaganda: Joseph Goebbels.

Letztlich wird Deutschland durch die rigide Gleichschaltung von der kulturellen Außenwelt weitgehend abgeschnitten. Das führt nach 1945 – in Verbindung mit dem Trauma des verlorenen Krieges, des zerstörten Großdeutschen Reiches und dem in Trümmern liegenden kollektiven Selbstbewusstsein – zu einer gewaltigen Sprachlosigkeit und zur etwas unerwarteten Restauration. Man will, vereinfacht gesagt, die Wiederherstellung der „guten alten“ bürgerlichen Ordnung. Musikalisch wirkt sich das so aus: Neben ein paar Oasen moderner Popkultur, die von den amerikanischen und britischen Soldaten ins Land gebracht werden, dominiert flächendeckend der Schlager mit all seiner Glückseligkeit, mit der kitschigen Umschreibung einer heilen Heimat. Der Begriff wird im Prinzip so weiterverwendet wie im Dritten Reich – etwa in sehnsuchtsvollen Seemannsliedern, besonders erfolgreich vorgetragen vom Österreicher Franz Eugen Helmuth Manfred Nidl alias Freddy Quinn. Oder man flieht in den romantisch verklärten Süden, speziell nach Italien. Ein Lied sei stellvertretend für die Restauration des Schlagers erwähnt: „Die Capri-Fischer“, ein Stück heile Welt, das 1947 in der Version mit dem Sänger Kurt Reimann zu einem Erfolg in der Sowjetischen Besatzungszone und dann 1949/50 durch den gebürtigen Brandenburger Rudi Schuricke zum internationalen Hit wird. Allerdings schreiben Gerhard Winkler und Ralph Maria Siegel das Lied bereits 1943 für Magda Hein. Die Version der Sängerin mit der auffälligen Sopranstimme ist während der letzten Kriegsjahre durchaus beliebt und bedient einen verständlichen Reflex: Je mehr das bisherige Leben zerstört wird, desto stärker wird die Sehnsucht nach einer heilen Welt.

Speziell in den USA wächst derweil eine in wachsendem Wohlstand lebende Generation heran, die nun ihrerseits nach eigenen Ausdrucksformen sucht. Da in Nordamerika die kulturelle Entwicklung kontinuierlich voranschreitet und auch nicht mit dem Makel der Schuld versehen ist, kann das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit mit der Entstehung einer ersten Jugendkultur einhergehen: Bereits in den späten 1940er-Jahren entwickelte sich der Rock’n’Roll, der sehr musikalisch ist und auf populären Elementen basiert. Aber er wird, vereinfacht ausgedrückt, eingebettet in einen neuen Dresscode, in eine eigene Frisurenmode und in eine für Erwachsene kaum dekodierbare Jugendsprache.

Der Rock’n’Roll kommt schließlich, wie viele andere US-amerikanische Kultur- und Konsumgüter auch, in Deutschland an. Philip Jost Janssen fasst das in seiner für das Kölner Zentrum für Historische Sozialforschung geschriebenen Arbeit mit dem Titel „Jugend und Jugendbilder in der frühen Bundesrepublik“ 2010 so zusammen: „Für das in mehrerlei Hinsicht unsouveräne Westdeutschland der 1950er-Jahre war der exogene Einfluss der Besatzungsmächte, vor allem der Amerikaner (…) von katalysatorischer Bedeutung.“ Janssen verweist darauf, dass speziell die zwischen 1938 und 1940 geborenen Jugendlichen, die 1955 gerade 15 bis 17 Jahre alt sind, schon 1957 als „skeptische Generation“ bezeichnet werden. Dieser Begriff gilt, so Jannsen, erst recht für die Menschen, die unmittelbar nach Kriegsende, also zwischen 1945 und 1949 geboren werden.

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Die Comedian Harmonists – Deutschlands erste Boygroup

Wer um Anfang der 1960er-Jahre Teenager ist, hat viele Fragen, aber erst mal keine Sprache, um sie zu stellen. Denn die Sprache und die Begriffe der Väter und Mütter sind negativ belegt und so ist zunächst einmal auch das von den Nazis okkupierte deutsche Volkslied oder die flirrende Musik der Weimarer Republik Lichtjahre entfernt von den Jugendlichen, die sich zwangsläufig dem Rock’n’Roll, dem Rockabilly oder auch dem Beat zuwenden. Deren Gestus, ihre Wut und die inhärente Abgrenzung versteht man – aber die englische Sprache bleibt fremd.

Dementsprechend unbeholfen klingen die Gesänge der frühen deutschen Beatbands aus den Sixties, man höre nur „Gloryland“ oder „Poor Boy“ von den Lords oder „Pretty Liza“ von den Petards. Man muss sowohl sprachlich als auch musikalisch eigene Ausdrucksformen finden. Aber auf welcher Basis? Die englische Sprache bietet sich als Geheimcode an – vor allem zur Abgrenzung von den Generationen der Altvorderen. Aber je komplexer die Rockmusik und ihre Texte werden, desto schwieriger ist es, ihre Inhalte wirklich zu verstehen.

Was die Jugend anzieht, gerade, weil es fremd und „undeutsch“ ist, bleibt in der Tiefe auch fremd. Dieses Phänomen beschreibt Frank Apunkt Schneider nicht nur in seinem Buch Deutsch-Pop halt’s Maul, sondern auch im Zündfunk-Feature „Wie deutsch kann Pop sein? Musik und nationale Identität“ von Markus Metz und Georg Seeßlen auf Bayern 2:

„Die Anfänge der Popkultur in Deutschland liegen natürlich in diesem Kulturimport, der im Rahmen der Besatzungskultur der Besatzungsmächte nach Deutschland reinkommt. Und auf diese Weise auch auf die deutschen Kids abstrahlt, die sich schnell begeistern für die fremde Kultur: Erstens weil sie fremd ist und allem widerspricht, mit dem sie wenige Jahre zuvor noch erzogen worden waren; zweitens weil diese fremde Kultur der Besatzungsmächte Gegenpart zu der beschädigten eignen Identität ist, das ist erst mal ein Bedürfnis nach einer anderen unbeschädigter Identität.“ Diese bietet das Englische.

Zum Weiterhören

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Verschiedene: „Schlager im Spiegel der Zeit – 1929 bis 1933“ (fünf Einzel-CDs, Bear Family Records,2010)

Verschiedene: „Die deutschen Beat Bands“ (Doppel-CD, Green Tree, 2002)

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2

Eine feste Burg sei unser Song – Sprachfindung auf „der Waldeck“

Hannes Wader und Franz-Josef Degenhardt

„Ja, auch Dich haben sie schon genauso belogen/
So wie sie es mit uns heute immer noch tun/
Und du hast ihnen alles gegeben/
Deine Kraft, Deine Jugend, Dein Leben“

Aus: „Es ist an der Zeit“ von Hannes Wader

Irgendwo im Vorderhunsrück, unweit der Mosel, dort, wo sich auch heute noch kaum Touristen hin verirren, steht eine Ruine mit wechselhafter Geschichte. Die Burg Waldeck ist alles Mögliche, bevor aus den mittelalterlichen Überresten im 18. Jahrhundert ein Schloss entsteht, das nur wenige Jahrzehnte später schon wieder zur Ruine verfällt. Für die deutsche Jugend wird das Ensemble aber dennoch oder gerade wegen der pittoresken Anmutung inmitten einer herrlich urwüchsigen Landschaft zum geschichtsträchtigen Ort: Von 1910 bis 1933 treffen sich dort die Nerother Wandervögel, eine der letzten Gruppen der Wandervogel-Bewegung. Bis zu ihrem Verbot im Dritten Reich arbeiten ihre Mitglieder nicht nur an der Wiederentdeckung und der Pflege des Deutschen Liedgutes, sondern auch an der Renovierung der Burg Waldeck und einer Siedlung drum herum. Die „Rheinische Jugendburg“ wird allerdings nie fertig, denn bereits im Juni 1933 besetzen SA, SS und Hitlerjugend das Areal.

Die Nerother Wandervögel werden verboten, Mitgründer Robert Oelbermann stirbt im KZ Dachau und die unpolitischere Nachfolgeorganisation „Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck“ muss sich 1935 ebenfalls auflösen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und einer kurzen Renaissance der Wandervögel übernimmt ein neuer Verein das Areal: Die Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e.V. streitet zwar ab 1957 zwei Jahrzehnte lang mit den Resten der Wandervögel um die Besitzrechte, aber unbeeindruckt von einem möglichen Ausgang des Prozesses plant man die Zukunft – nicht mit einer umfassenden Sanierung der Ruine, sondern mit Hütten und Festivalgelände. Heute sind Wandervögel und Arbeitsgemeinschaft immer noch Nachbarn, nur die Musik spielt längst woanders.

Aber: Die Burg Waldeck ist für die deutschsprachige Musik extrem wichtig: Die Festivals der 1960er-Jahre werden als eine Art „Bauhaus des Liedes“ konzipiert, wie es der weitgereiste Waldeck-Sänger und Musikforscher Peter Rohland formuliert. Man orientiert sich am Folkboom, der unter anderem Dank Pete Seeger die USA erfasst hat. Veranstaltungen wie das National Folk Festival, das seit 1937 in unterschiedlichen Städten stattfindet und in den besten Zeiten 175.000 Besucher anzieht, oder das American Folk Blues Festival stehen Pate. Dass sich in New York zudem eine Szene junger Liedermacher um Joan Baez, Dave van Ronk und besonders um Bob Dylan findet, beeinflusst die Macher im Hunsrück ebenfalls. Es gilt, eine Sprache zu entwickeln und diese mit der Jugend und den Künstlern der Welt zu teilen. Oder, um es mit Franz-Josef Degenhardt zu sagen, der beim ersten Festival im Mai 1964 im Alter von auch schon 33 Jahren seinen ersten öffentlichen Auftritt hat: „Tot sind unsre Lieder, unsre alten Lieder/Lehrer haben sie zerbissen/Kurzbehoste sie verklampft /Braune Horden totgeschrien/Stiefel in den Dreck gestampft “ besingt er auf „der Waldeck“ die Gründe für die Sprachlosigkeit seiner Generation. Sein „Die alten Lieder“ beschreibt die Ruinen, aus der sich wieder etwas erheben möge, etwas, das die braune Zeit und auch die ersten, dumpfen Jahre der Bundesrepublik, ihre gedankliche Enge und die Restauration samt Wirtschaftswunder hinter sich lassen möge.

Ebenfalls 1964 tritt Reinhard Mey, damals wirklich erst 22 Jahre jung, auf der Waldeck vor das Publikum. Seine Chansons im Stile von Jacques Brel oder Georges Brassens kommen an und Mey startet eine unvergleichliche Karriere – sowohl in Frankreich als auch in Deutschland. Im Gespräch mit der taz und auch dem Autor erinnert er sich an das Festival. Einen Dresscode wie etwa in Woodstock gibt es nicht: Die Klamotten waren zusammengewürfelt, Mey trägt – zeittypisch – ein Nylonhemd: „Ich habe wenig Energie darauf verwendet, einen speziellen Kleidungsstil zu pflegen. Es sollte einfach sein, problemlos, billig.“ Dafür ist das Festival für ihn eine echte Herzensangelegenheit, wie er in der taz betont: „Vor der Waldeck gab es eine Sehnsucht, die Waldeck selbst war das Versprechen, etwas anderes zu machen als das, was an Schlagern und Tanzmusik aus dem Radio quoll.“

Ebenfalls in der taz beschreibt Reinhard Mey den Wesensunterschied zwischen den Stücken der Liedermacher und dem deutschen Schlager, der damals sein goldenes Zeitalter erlebt, so: „Ganz einfach: Das Lied erzählt eine Geschichte, die authentisch ist, die aus dem Leben schöpft. Es schildert Befindlichkeiten dessen, was um uns herum ist. Schlager liefern Klischees oder bringen einfach nur dümmliche Aneinanderreihungen von Abzählversen.“

Insgesamt sechs Festivals finden zwischen 1964 und 1969 statt. Die ersten drei tragen den Titel „Chanson Folklore International“, die späteren heißen „Das engagierte Lied“, „Lied ’68“ und „Waldeck ’69 – Gegenkultur“. Dann gehen die Macher im erbitterten Streit um politische Ziele und die daraus resultierende künstlerische Ausrichtung auseinander.

„Die Waldeck“ wird aber nicht nur zum Sprungbrett für Mey und Degenhardt, sondern zum Beispiel auch für die Barden Schobert und Black, für Hannes Wader oder für den Kabarettisten Hanns-Dieter Hüsch, der 1966 im Hunsrück auftritt und dabei vom linken Publikum so gestört wird, dass er seinen Auftritt völlig entnervt abbricht.

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Waldeck vor der Revolution (im Uhrzeigersinn): Wader zu Pferde, Fanmassen, Hüsch und Degenhardt beim Diskurs

Dem Südwestfunk gegenüber äußert sich der Künstler seinerzeit kritisch – wie Die Zeit 1968 berichtet: Hüsch bedauert, dass „die linken Gruppen sich kaum auf einer nüchternen und sachlichen Ebene auseinandersetzen könnten, der Künstler werde von solchen Gruppen nur als Mittel benutzt, damit sie zur Provokation kämen.“ Degenhardt stellt wütend seine Gitarre ins Eck, laut Reinhard Meys Einschätzung in der Frankfurter Rundschau ist aber nur Degenhardt den linken Hardlinern wirklich gewachsen.

Die späteren Festivals sind eher Diskurs- und Streitzirkel für 6.000 Leute als Musikveranstaltungen – und laut Die Zeit schon Ende der 1960er-Jahre „von der Geschichte überholt“. Da mag schon was dran sein, das Drumherum um die Festivals im Hunsrück mutet uns heute sehr seltsam an, was aber bleibt, ist der prägende Einfluss, den die Musik von dort bis heute hat. Denn auf der Burg Waldeck emanzipiert sich die deutsche Sprache von ihrer Vergangenheit, in dem sie sich damit auseinandersetzt. Hier wird der Grundstein für nachfolgende Epochen gelegt, auch, weil viele der beteiligten Künstler nahe der Ruine ihre einflussreichen Karrieren starten. Sie finden zu ihrer Sprache.

Zum Weiterhören

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Verschiedene: „Waldeck Festivals 1964–1969“ (10 CDs, Bear Family, 2008)

Verschiedene: „American Folk Blues Festival ’63-’67“ (CD, Bellaphon, 1987)

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3

Der Mey ist gekommen

Reinhard Mey

„Ich bin aus jenem Holze geschnitzt/
In das man ein Herz und zwei Namen ritzt/
Nicht nobel genug für Schachfiguren/
Und viel zu knorrig für Kuckucksuhren/
Zu störrisch, als dass man Holz auf mir hackt/
Grade recht für ein Männchen, das Nüsse knackt“

Aus: „Ich bin aus jenem Holze“ von Reinhard Mey

Auf der Burg Waldeck beginnt sie, die bis heute andauernde Karriere des Reinhard Friedrich Mey. Der Lehrersohn, der 1942 in Berlin geboren wird, lernt im Hunsrück aber auch einen Freund und musikalischen Wegbegleiter kennen – den fast gleichaltrigen Hannes Eckard Wader aus Bethel. Mit dem Westfalen verbindet ihn zudem die Liebe zur Grande Nation: Mey macht auf der französischen Schule in Berlin nicht nur das deutsche Abitur, sondern auch das Baccalauréat. Klassenkameraden sind damals übrigens die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan und der spätere Liedermacherkollege Ulrich Roski.

Seine frankophile Neigung führt dazu, dass Mey 1967 unter seinem zweiten Vornamen Friedrich – Frédérik – einen ersten Plattenvertrag bei den westlichen Nachbarn bekommt. Er muss dazu den Umweg über das schon damals renommierte belgische Knokke Festival gehen, wo er Deutschland vertritt.

In Frankreich kommt der Künstler recht gut an, seine Debüt-LP „Frédérik Mey, Volume 1“ wird mit dem „Prix International“ der „Académie de la Chanson Française“ ausgezeichnet. Deutsche Stücke hat er zu diesem Zeitpunkt noch nicht so viele in petto. Denn das erste eigene Lied in Muttersprache – „Ich wollte wie Orpheus singen“ – ist anno 1967 gerade erst mal drei Jahre alt. Zuvor spielte er unter anderem in der Gruppe Les Trois Affamés zusammen mit Wolfgang Schulz, dem „Schobert“ im Duo Schobert & Black. Alles eine Mischpoke? Das kann man so sehen. Denn mit dem auch frankophilen und mit eigenen Texten ebenfalls noch nicht ausreichend gesegneten Wader geht es zweisprachig auf Tour. Dass sich Mey mit Wader und Schobert nicht nur auf künstlerischem Terrain versteht, ist verbrieft. In dem seiner ehemaligen Vermieterin Emma Pohl gewidmeten Dreiteiler „Trilogie auf Frau Pohl: Gespräch mit Frau Pohl“ heißt es unter anderem: „Herr Schobert habe, wie Sie sagen/Die letzten Dielen aus meinem Zimmer getragen/Und damit, als es kühl ward zur Nacht/Ein Feuerchen auf Ihrem Teppich gemacht … Beim Abschied schließlich, im Morgengraun/Erlegte Herr Wader den Gartenzaun/Und die anderen seien auch erst gewichen/ Nachdem sie Ihre Katze grün angestrichen!“ Das turbulente Stück stammt vom dritten, 1970 erschienenen Studioalbum Meys, von „Aus meinem Tagebuch“, wird aber erst mit dem Durchbruch des Künstlers 1971 richtig bekannt.

Die ersten drei LPs des Liedermachers, das 1967er-Debüt „Ich wollte wie Orpheus singen“, „Ankomme Freitag, den 13.“ – mit dem furiosen Titelstück – und eben jenes „Tagebuch“ sind in gut unterrichteten, aufgeklärten Kreisen durchaus beliebt. Aber die Verkäufe bleiben erst einmal so schlecht, dass Der Spiegel 1971 rückwirkend formuliert, es „schien (…) freilich, als würde die Karriere des Liedermachers im kommerziellen Abseits enden. Denn der Beamtensohn (…) tingelte (…) durch Studenten-Pinten, Keller-Kneipen und Provinz-Turnhallen – ohne nennenswerte Resonanz.“

Linke halten Mey für einen reaktionären Schlagersänger, die Mehrzahl der Deutschen – so sie den Künstler überhaupt kennen – für einen harmlosen Spinner. Dabei ist schon der frühe Reinhard Mey ein hervorragender Musiker und Gitarrist sowie ein besonderer Texter. Dessen Lieder sind sicher von Jacques Brel, Boris Vian und George Brassens beeinflusst – aber eben auch von Erich Kästner, Gottfried Benn oder Bertolt Brecht. Und er ist ein Entertainer, der mit pointierten Worten sein Publikum in den Bann zieht, was bei Meys Durchbruch 1971 endlich eine ebenso breite wie bereite Öffentlichkeit wahrnimmt: Denn fast zeitgleich mit dem vierten Album „Ich bin aus jenem Holze“ und der auch ohne Chartplatzierung populären Moritat „Der Mörder ist immer der Gärtner“ kommt das am 12. Dezember 1970 in Meys Heimatstadt Berlin aufgenommene Konzert-Doppelalbum „Reinhard Mey Live“ auf dem Markt. Es ist bis heute nahezu unerreicht, er zeigt einen Liedermacher in Bestform – und auch in Zeiten von Spotify und Co. wirkt dieser Mitschnitt zeitlos und modern. Knapp zwei Stunden und 25 Lieder lang ist das Werk, zwei seiner französischen Chansons gehören ebenso zum Programm wie seltene Stücke, etwa „Der Schuttabladeplatz der Zeit“ oder „Fast ein Liebeslied“ – oder Mey-Standards wie „Freitag, der 13.“, „Diplomatenjagd“ und eben die „Trilogie auf Frau Pohl“. Stolze fünf Monate hält sich „Reinhard Mey Live“ in den Albumcharts – und im Schlepptau mit der damals aktuellen Studioplatte „Ich bin aus jenem Holze“ werden dann spät aber doch auch die ersten drei LPs vergoldet.

Mey ist angekommen und kommt an. Er ist nie der linke Bänkelsänger, wie etwa Freund Wader oder Franz-Josef Degenhardt, aber als „unpolitisch“ kann man den Liedermacher auch nicht bezeichnen. Oft prangert er, etwa in „Bevor ich mit den Wölfen heule“ oder „Annabell, ach Annabelle“, beide vom ersten Nummer-Eins-Album „Mein achtel Lorbeerblatt“, das stumpfe Mitläufertum innerhalb von Massenbewegungen an oder hinterfragte gesellschaftliche Veränderungen. So wurde seine erfolgreichste Single „Annabelle, ach Annabelle“ als Kritik an der Frauenbewegung und dem Feminismus fehlinterpretiert. Eigentlich aber rückte der Text einen Mann in den Mittelpunkt, der aus seinem vertrauten Rollenmuster herausgerissen und dadurch erst mal haltlos wird. Das Ergebnis dieser Identitätssuche ist dann der „Softie“, ein Begriff, der in den Jahren nach „Annabelle“ zum Inbegriff des weichen, oft angepassten Mannes wird.

Mey selbst erzählt in späteren Jahren immer wieder, dass ihm das Lied „jede Menge Ärger, aber auch jede Menge Spaß“ eingebracht habe. 1998 bringt er – spät – eine anerkennende Entschuldigung heraus und zollt „Annabelle“ im Song „Der Biker“ den verdienten Respekt. Die Kritik an Mey und seiner Haltung bringt der österreichische Literaturwissenschaftler Thomas Rothschild in seinem Buch Liedermacher. 23 Porträts auf den Punkt und unterstellt dem Künstler, er betreibe mit „Anabelle“ sogar „Hexenjagd in Chansonform“: „Mit dieser Karikatur einer linken Studentin … entpuppte sich Reinhard Mey endgültig als einer, der seinen kleinbürgerlichen Zuhörern, die sich ihre heile Welt nicht rauben lassen wollen, nach dem Mund singt.“