Kurt-H. Weber/Hans-Gerd Sehn
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Lektorat: Susanne Mädger, Speyer
Satz: Janß GmbH, Pfungstadt
Umschlagabbildung: Straßenbild auf Sizilien. © kite_rin – fotolia.com
Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.
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ISBN 978-3-650-40047-5
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-650-40045-1
eBook (epub): 978-3-650-40046-8
Zur Einführung
1. Von armen Leuten und großen Herren
Sizilien in der Darstellung seiner Schriftsteller
Die elementaren Dinge des Lebens
Dass alles bleibt, wie es ist
Die Männer des Südens
Tote auf Bestellung
2. Griechensehnsucht und Kaiserkult
Die Entdeckung Siziliens als Reiseland
Der heimliche Begleiter
Die Tempel in Zahlen
Die Suche nach der Urpflanze
Syrakus zu Fuß
Mit dem Salonwagen in den Süden
3. Ein Amerika des Altertums
Die Griechen auf Sizilien
Die schwarzen Schiffe
Das Spiel der Masken
Die Wohnungen der Götter
Die Stadt als Heimat
4. Das Staunen der Welt
Der deutsche Kaiser aus Sizilien
Der gestohlene Sarg
Ein Objekt der Begierde
Der Mann aus Pülle
Gesetze gegen die Umweltverschmutzung
Die Überführung des Kuckucks
5. Die Stadt auf dem Reißbrett
Das barocke Sizilien
Die unruhige Erde
Der Schauer des Unendlichen
Die Erfindung der Geschwindigkeit
Im Bann der gelben Steine
Aus dem Leben der Fürsten
6. Kultur aus dem Kochtopf
Kleiner Überblick über die cucina siciliana
7. Lauter ehrenwerte Männer
Sizilien und die Mafia
Der Tod eines Richters
Die Mauer des Schweigens
Eine Gesellschaft von Mördern
Der Aufstand der Opfer und der sizilianische Karren
Ganoven im Business Dress
Ein verhängnisvoller Pakt
Auswahlbibliografie
Namenverzeichnis
Ortsverzeichnis
Sie ist eine Quelle wie andere auch. Doch wenn man erfährt, dass die Arethusa-Quelle ihren Namen von den Griechen hat und benannt ist nach der Nymphe Arethusa, einem antiken Fabelwesen, sieht man sie mit anderen Augen an. Dann ist sie mehr als nur ein beliebter Treffpunkt auf der Insel Ortigia im alten Zentrum von Syrakus. Dann bekommt der Umstand eine besondere Bedeutung, dass es von ihr nur einige Schritte zum Meer sind, welches noch heute nach einem griechischen Volksstamm das „Ionische“ heißt. Über dieses Meer sind die Griechen nach Sizilien gekommen. Sie gründeten Syrakus und andere Städte und machten die Insel zu einem Teil des hellenischen Kulturkreises. Die hübsche Sage, die sich um die Quelle gebildet hat, will wissen, dass sie ihr Wasser direkt aus Griechenland, aus Olympia bezieht. Dies ist keineswegs nur eine phantasievolle Geschichte, denn in ihr manifestiert sich auch die Verbundenheit der antiken Sizilianer mit der alten Heimat. Sie haben Arethusa sehr verehrt, und auf einer der schönsten Münzen aus Syrakus ist deren Bild zu sehen: Es ist das Gesicht eines anmutigen Mädchens, das umrahmt ist von wallendem, langem Haar, ein wahres Wasser- und Brunnenhaupt. Platon hat an der Quelle gestanden und Archimedes und viele andere berühmte und weniger berühmte Menschen, und ohne ihr lebensspendendes Wasser wäre eine der größten und prächtigsten Metropolen der alten Welt, wäre Syrakus gar nicht erst entstanden.
Die Arethusa-Quelle ist lediglich ein Beispiel dafür, dass Orte verknüpft sind mit Ereignissen und Menschen der Vergangenheit. Was früher war, hat Spuren hinterlassen in Namen und Gebäuden, in Ruinen und Wegmarken, in Siedlungsformen und im Landschaftsbild. All das bleibt zunächst stumm. Es beginnt erst zu sprechen, wenn man den Hinweisen nachgeht. Dann erzählen die Dinge von dem, was doch Teil ihres Wesens ist, von ihrem Ursprung und ihrer Bestimmung, von den Menschen, die ihnen die Namen gaben und die sie schufen. Sie erinnern an Schicksale und Begebenheiten, sind geprägt von einem früheren Leben. Die Gegenstände gewinnen eine Dimension hinzu, die der Geschichte. Nun erst entfalten sie ihren ganzen Reichtum, ihre Eigenart tritt hervor und sie zeigen bis dahin verborgene Seiten. „Was man weiß, sieht man erst“, hat Goethe gesagt – und das gilt natürlich auch für das Reisen.
Es gibt viel zu sehen auf Sizilien. Was sich hinter den Eindrücken verbirgt, davon will dieses Buch berichten; es will empfänglich machen für die Gegebenheiten, die sich dem Besucher darbieten. Es ist kein Reiseführer im engeren Sinne, der in der Art eines Nachschlagewerkes oder Kompendiums knappe Informationen über das Reiseland bereitstellt. Vielmehr ist der vorliegende Band als Reisebuch angelegt, denn er holt weiter aus und beleuchtet kulturelle, historische, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge. Dabei ist der Ausgangspunkt stets eine Ansicht, eine Szenerie, ein Bild oder ein Name. Das ist überhaupt das Prinzip der Darstellung: Sie nimmt zunächst auf, was einem auf Streifzügen durch das Land begegnet, um daran eine Erläuterung anzuschließen, die zum Verständnis des Wahrgenommenen beitragen soll. So werden im Zusammenhang mit den Tempeln von Agrigent einige Gedanken zur griechischen Religion vorgetragen, und der Besuch des Doms von Palermo gibt Anlass dazu, der Gestalt Friedrichs II. nachzugehen. Zugegeben, man kann auch anders unterwegs sein, kann einfach losfahren, kann sich treiben und überraschen lassen, unbelastet von irgendwelchen Kenntnissen, einzig dem hingegeben, was einem zufällig vor die Augen kommt. Das wäre jedoch eine andere Art des Reisens, die natürlich ihren Reiz hat, allerdings Gefahr läuft, am Sehenswerten vorbeizugehen.
Es sind drei große Kulturen, die das Erscheinungsbild und das Leben Siziliens nachhaltig bestimmten: das antike Griechentum, die Verschmelzung byzantinischer, arabischer und normannischer Elemente im Mittelalter und das Barock. Diesen Blütezeiten widmet sich je ein Kapitel (3, 4, 5), während sich die ersten beiden mit der Literatur der Sizilianer beschäftigen und damit, worauf seit jeher die Anziehungskraft Siziliens für Reisende beruhte. Mehr der Gegenwart zugewandt sind die letzten beiden Kapitel: Eines stellt die Küche der Insel vor, das andere befasst sich mit der Mafia.
Wie die Sizilianer ihr Land sehen, wie sie ihre Geschichte deuten, wie sie sich selbst einschätzen, das erfährt man am besten von ihren Schriftstellern. Deshalb nähert sich das erste Kapitel der größten Insel Italiens über deren Literatur. Sie erzählt vom Leben der Menschen dort, beschreibt ihre Daseinsbedingungen, ihre Denk- und Verhaltensweisen, sie geht ein auf die Natur und die Geschichte des Landes. Das Kapitel folgt den großen Themen der sizilianischen Literatur: Es geht um die Lage und das Leben der armen Landbevölkerung, um die Umbrüche in den Zeiten des sogenannten „Risorgimento“, der Einigung Italiens, um die spezifisch sizilianische Vorstellung von Männlichkeit und nicht zuletzt um die sozialen Folgen des organisierten Verbrechens.
Nach diesem über die Literatur vermittelten Blick auf Sizilien aus der Sicht der Einheimischen, geht es im zweiten Kapitel darum, was die Fremden auf Sizilien suchten. Italien war schon früh ein Reiseland. Seine Kunstschätze und seine Kultur zogen Fremde an. Davon ausgenommen war zunächst Sizilien. Es wurde als eine abgelegene Insel angesehen, die zu besuchen, sich kaum lohnte. Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nun erschien Sizilien als ein attraktives Reiseziel. Gefördert wurde diese Entwicklung durch berühmte Besucher – einer von ihnen war Goethe. Insbesondere die Deutschen suchten nach den Zeugnissen einer glanzvollen Vergangenheit, nach den Hinterlassenschaften der Griechen und der deutschen Kaiser. Die Begegnung mit dem Süden ist zugleich ein exemplarisches Stück aus der Geschichte des Reisens.
Ihre Tempel stehen auf den Hügeln, in Agrigent und anderswo. Von den antiken Völkerschaften, die nach Sizilien kamen und es beherrschten, waren die Griechen diejenigen, die das Land am stärksten prägten. Ihnen ist das dritte Kapitel gewidmet. Zu ihren Gründungen zählte Syrakus, zeitweilig die größte und mächtigste Metropole der alten Welt. Dichter und Philosophen kamen hierher, der Philosoph Platon und der Dramatiker Aischylos. Doch hat Sizilien auch selbst berühmte Männer hervorgebracht, etwa den Philosophen, Arzt und Staatsmann Empedokles. Die Redekunst (Rhetorik) und die Hirtendichtung (Bukolik), Inventionen des europäischen Geistes von bleibender Bedeutung, haben ihren Ursprung auf Sizilien. Das Kapitel sucht die antiken Stätten auf und erläutert an ihrem Beispiel verschiedene Seiten der griechischen Kultur: am Theater von Syrakus das Schauspielwesen, an den Tempeln von Agrigent die Religion, an der Stadtanlage von Selinunt die Ordnung der Polis.
Er wurde bewundert und gehasst. Dass er ein ungewöhnlicher Mann war, eine herausragende Gestalt der mittelalterlichen Geschichte, darüber besteht kein Zweifel. Die Rede ist von dem Stauferkaiser Friedrich II., dem sich das vierte Kapitel widmet. Friedrich wuchs in Palermo auf und trug als Erbe der normannischen Eroberer auch die Krone des Königs von Sizilien. Er war vielseitig begabt, war ein weitblickender Staatsmann, ein Wissenschaftler und Dichter. Vieles von dem, was er anstrebte, hat er jedoch nicht erreicht, und so gestaltete sich sein Leben als eine einzigartige, große Tragödie. Auf Sizilien schuf der Stauferkaiser eine für das damalige Europa neuartige und den Feudalismus überwindende Staatsverfassung. Doch Friedrich wird man nicht gerecht, ohne auch die Zeit der arabischen und normannischen Herrschaft über die Insel in den Blick zu nehmen.
Im fünften Kapitel muss zunächst von einer gewaltigen Katastrophe berichtet werden. Sie machte aus einem Teil Siziliens ein Trümmerfeld und forderte unzählige Opfer. Was aber danach entstand, war eine Region, die in Europa ihresgleichen sucht. Sie steht ganz im Zeichen des Barock. Es wurden Städte von beeindruckender Einheitlichkeit errichtet, Städte, die wie Gesamtkunstwerke wirken. Aber der Barock war eine gesamteuropäische Erscheinung. Wie die Entwicklung auf Sizilien im europäischen Zusammenhang zu sehen ist, soll hier beleuchtet werden.
Auch das Essen ist ein Teil der Kultur, und auf Sizilien kamen die Köche aus ganz verschiedenen Kulturen. Was sie angerichtet haben, ist eingegangen in die Kochkunst der Insel. Sie hat also Einflüsse sehr unterschiedlicher Art in sich aufgenommen. Appetit machen auf die sizilianische Küche will das sechste Kapitel.
Der Name Sizilien ist eine unglückselige Verbindung eingegangen mit dem der Mafia. Ein Buch über Sizilien muss zwangsläufig auch auf diese dunkle Seite des Landes eingehen. Eine Flut von Veröffentlichungen gibt es darüber. Die Geschichte des organisierten Verbrechens auf Sizilien soll daher nur gestreift werden. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt darauf, wie sich die aktuelle Situation darstellt und wie diese im Zusammenhang der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung zu beurteilen ist. Dazu wurden Recherchen vor Ort angestellt und Zeitzeugen, Opfer und Betroffene befragt. Der für dieses Thema wichtige Begriff des „identitären Verbrechens“ verdankt sich einem Gespräch mit Leoluca Orlando, dem Bürgermeister von Palermo.
Einen Mord begeht er, heimtückisch und kaltblütig. Hinter einer Opuntienhecke lauert er seinem Opfer auf und erschießt es. Der, den er umbringt, ist nicht etwa ein Widersacher, ist kein Konkurrent oder Nebenbuhler. Das Opfer ist ein ihm sehr ergebener Knecht. Dieser habe ihn betrogen, glaubt der Herr, betrogen mit seiner Frau; nein, nicht die des Herrn ist gemeint, sondern die des Knechts. Und als sei das nicht schon vertrackt genug, fühlt sich der Herr auch noch im Recht, denn dass der Knecht eine sexuelle Beziehung zur eigenen Ehefrau aufnahm, ist ein Verrat am Herrn – dabei ist noch nicht einmal ausgemacht, ob er das wirklich getan hat. Mit dieser Bluttat beginnt der Roman Der Marchese von Roccaverdina des Luigi Capuana (1839–1915).
So eine Mordgeschichte kann sich nur unter besonderen Bedingungen zutragen. Wir befinden uns im ländlichen Sizilien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Mag der Feudalismus nach dem Gesetz auch abgeschafft sein, in den Köpfen lebt er weiter, in denen der Herren und in denen der Knechte. Es wird billigend hingenommen, dass ein „großer Herr“ sich eine junge Magd – sie ist sechzehn – ins Haus holt und sie zu seiner Geliebten macht. Dass die Magd ihrem Gebieter gefügig ist, gehört ebenso zu den üblichen Verhaltensweisen; etwas anderes erwartet man gar nicht. Dass die beiden nach den Lehren der Kirche „in Sünde leben“, wissen alle, ebenso, dass selbst für weltliche Moralvorstellungen eine solche Beziehung verwerflich ist. Deswegen wird aber ein mächtiger und vermögender Mann nicht etwa geächtet oder angefeindet, für ihn gelten besondere Konditionen. So war es schließlich schon immer.
Der Marchese ist ein Landedelmann, eine Art Bauernbaron. Das junge Mädchen, das er sich zur Mätresse nimmt, ist ebenso schön wie unterwürfig. Ohne viel Aufhebens zu machen übernimmt sie auch noch die Pflichten der Hausfrau. Dieses Verhältnis hat seine Annehmlichkeiten; zehn Jahre lässt sich der Marchese das Leben mit seiner „Sklavin“ gefallen. Was ihn indessen stört, sind die religiösen und moralischen Bedenken, die er als gehorsamer Sohn der Kirche durchaus teilt. Hinzu kommt noch, dass ihm die Mätresse keinen Erben schenken kann, der könnte nur in einer Ehe gezeugt werden. Also beschließt der Marchese, sich der Frau zu entledigen. Das geschieht am reibungslosesten dadurch, dass er sie verheiratet. Er gibt sie einem seiner Knechte zur Ehefrau. Weder dieser noch das Mädchen widersetzen sich dem Willen, oder besser dem Befehl ihres Herrn.
Aber so einfach ist die Trennung nicht, denn noch immer ist der Marchese empfänglich für die Reize der Schönen, und der Gedanke, dass ein anderer sie besitzen soll, ist ihm unerträglich. Er sinnt auf einen Ausweg: Vor dem Kruzifix müssen sie ihm schwören, dass sie nur eine Scheinehe führen. Als der Marchese zu bemerken glaubt, dass sie den Eid gebrochen haben, tötet er den Knecht. Für den Mord wird er vorerst nicht zur Rechenschaft gezogen. Doch verfolgt die Tat den Marchese und das ist der eigentliche Inhalt des Buches: Qualvoll und nicht enden wollend kreisen seine Gedanken darum. Mit analytischer Schärfe und minutiös beschreibt Capuana diesen inneren Konflikt. Wie die Geschichte ausgeht, soll hier nicht verraten werden, denn man kann sie auch wie einen Krimi lesen. Der wäre dann von der Sorte, bei der der Täter von vornherein feststeht, sodass es nur darum geht, ob und wie er überführt wird.
Es sind vor allem die kleinen Gesten und die Redewendungen, die etwas aufscheinen lassen von der eigentümlichen Atmosphäre Siziliens gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Mit „voscenza benedica“ begrüßen die Bauern ihren Grundherrn, was ungefähr „Euer Exzellenz segne mich“ heißt. Und selbst bei dem Mädchen, das der Baron zu seiner Geliebten macht, bleibt die Distanz erhalten, auch sie redet ihn mit „voscenza“, also „Euer Exzellenz“ an. Doch auch unter den harten klimatischen Bedingungen leiden die Menschen. Eindringlich schildert Capuana das Ausbleiben des Regens, selbst im Herbst will er nicht fallen. Und als es endlich doch regnet, geschieht ein sizilianisches Wunder. Das ausgedörrte, von der Sonne versengte Land, trostlos und öde, verwandelt sich in einen üppig blühenden Garten.
Es war Luigi Capuana, der das literarische Programm des „Verismo“, der italienischen Spielart des Naturalismus, entwickelte. Anregungen holte er sich bei den Franzosen, bei Émile Zola und Paul Bourget. Der Verismus wendete sich der Gegenwart zu, er wollte das Alltagsleben wiedergeben, vor allem das der unteren Volksschichten. Nicht zufällig entstand er in Sizilien, im Süden, denn der konnte von der italienischen Vereinigung wirtschaftlich nicht profitieren. Er blieb ein strukturschwaches Agrarland, das gekennzeichnet war von Armut und Abwanderung. Der Naturalismus wurde jedoch keineswegs einfach auf italienische Verhältnisse übertragen, ebenso wenig wollte die Literatur nur soziale Missstände anprangern. Was die sizilianischen Schriftsteller entdeckten, ist die Eigenart ihrer Heimat, sind die Unterschiede zu anderen Regionen Italiens. Ihre Werke sind auch Akte der Selbstbesinnung. Damit zusammen geht die Erkenntnis, dass das Leben der einfachen Leute auf Sizilien – der Bauern, Hirten und Fischer – literaturfähig ist, das heißt, dass sich in ihm Exemplarisches vollzieht. Es stellt sich dar als eine besondere Modifikation der allgemeinen menschlichen Daseinsbedingungen; es hat seine eigene Schönheit und Tragik, hat seine Passionen und Obsessionen und bringt seine Mythen und Weltsichten hervor. Die neuere sizilianische Literatur entsteht in der geschichtlichen Stunde, in der die Insel den Anschluss an Italien gewinnt und ihre Rolle in dem neu formierten Nationalstaat finden muss.
Dieser Prozess spiegelt sich wider in der Biografie des aus Catania stammenden Giovanni Verga (1840–1922), des wichtigsten Vertreters des Verismus im 19. Jahrhundert. Er teilte das Schicksal nahezu aller sizilianischen Künstler und Intellektuellen. Wie vor ihm sein Freund Capuana und der Komponist Vincenzo Bellini (1801–1835), wie nach ihm der Dramatiker Luigi Pirandello (1867–1936) und der Maler Renato Guttuso (1911–1987) wechselte Verga als junger Mann auf das Festland. Nur so glaubte er Anschluss zu finden an die geistige Entwicklung der Epoche. Er ging nach Florenz, dann nach Mailand. Zunächst befasste er sich mit erotischen und mondänen Themen. Geltung als Schriftsteller erlangte Verga erst, nachdem er begonnen hatte, von seinem Herkunftsland zu erzählen. Später kehrte er zurück nach Sizilien; auch Capuana hatte sich dazu entschlossen.
Es ist die Welt der Bauern und Landarbeiter, der Hirten und Fischer, der Pächter und Fuhrleute, der „Leute, die nicht im Wagen fahren“, von der Verga in seinen Erzählungen ein Bild entwirft. Manche der oft kurzen Novellen sind von einer archaischen Wucht. Sie zeigen Menschen, die von elementaren Leidenschaften, von Liebe, Eifersucht, Habgier und Hass angetrieben werden, mit einer Ausschließlichkeit, die keine anderen Regungen zulässt. Starrköpfig folgen sie einem vorgegebenen Schicksal, unbeirrt noch im sicheren Wissen um das Verhängnis, in das sie verstrickt sind. So handelt das Prosastück Die Wölfin von einer reifen, kraftvollen Frau, die in zerstörerischer Liebe einem jüngeren Mann verfallen ist. Beherrscht wird diese Welt von stummen Weisungen, von althergebrachten Bräuchen, deren Forderungen fraglos und ohne zu zögern nachgekommen wird. Die bekannteste Geschichte von Verga ist zweifellos Cavalleria rusticana (Dörfliche Ehre), bekannt vor allem deswegen, weil sie für Mascagnis gleichnamige Oper die Vorlage abgab. Auch dieses Eifersuchtsdrama hat die für viele von Vergas Novellen charakteristische lakonische Unvermitteltheit. Ohne viele Worte zu verlieren, stechen sich die Nebenbuhler mit dem Messer nieder, beide davon überzeugt, dass dies unausweichlich ist. Vergas bäuerliche Gesellschaft ist in einer archaischen Weise gewalttätig: Gewalt wird nicht als Mittel verwendet, überhaupt hat sie nichts Kalkuliertes – sie wird nicht eingesetzt, um andere zu etwas zu zwingen, um sie zu quälen oder um Macht über sie auszuüben. Die Antwort auf eine bestimmte Handlung, etwa auf eheliche Untreue, kann nur eine Bluttat sein und zwar mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es nicht einmal der Rede wert ist.
Von urtümlicher Strenge ist auch die Natur, in der diese Menschen leben. Sie lastet auf den Menschen ebenso wie auf dem Vieh. Zwar kennt auch Verga „die schönen Apriltage, wenn der Wind das Gras zu Wellen aufbläst“, kennt die Ölbaumhaine und Orangenpflanzungen, aber seine Landschaft sieht doch anders aus. Da ist die „Ebene von Catania, die unbeweglich bleibt, als laste der Staub auf ihr“, da sind die „verbrannten Stoppeln der endlosen Äcker, die sich in der Schwüle verlieren, fern gegen den dunstigen Ätna hin, wo der Himmel über dem Horizont brütet“. „Endlose weiße Straßen“ durchziehen das Land, über dem „die Sonne kocht“. „Vereinzelt ein paar magere Olivenbäume, hier und da eine verstaubte Kaktee“, das macht die Verlassenheit dieses Landes noch fühlbarer. Es ist die Gegend südwestlich von Vergas Vaterstadt Catania, die den Schauplatz vieler seiner Novellen und des Romans Mastro-Don Gesualdo bildet.
Er ist mit dem Linienbus von Catania aus zu erreichen. Aci Trezza heißt der Ort einige Kilometer nördlich der Provinzhauptstadt. In ihm spielt Vergas erster sizilianischer Roman Die Malavoglia (I Malavoglia). Man nennt diesen Landstrich nach Homers einäugigem Monster, das dort gehaust haben soll, auch die Zyklopenküste. Sie ist wild zerklüftet, schwarz vom Vulkangestein, das sich zu Riffen und Klippen auftürmt und von der Flut glattgewaschene Felsplatten bildet. Dazwischen lässt es kleine Sandbuchten frei. Vor der Küste steigen bizarre Felsformationen aus dem Wasser, und überragt wird die Szenerie vom mächtigen Massiv des Ätna. Von den hier ansässigen Fischern erzählt Verga. Einige gibt es noch, aber die wirken fast verloren an dieser Küste, die mittlerweile von Ausflugslokalen und touristischen Einrichtungen beherrscht wird. Von dem ehemaligen Fischerdorf Aci Trezza ist kaum etwas geblieben. Eine Ahnung davon stellt sich allenfalls ein, wenn man die am Meer entlangführende Straße verlässt und eine der engen steilen Gassen hinaufsteigt. Schwarz gekleidete Fischerfrauen, die in einem Film von Luchino Visconti (1906–1976) ausdruckvoll nach den Booten Ausschau halten, ersetzen dort die Bikinischönheiten, die nichts anderes im Sinn haben, als sich rösten zu lassen. Unter dem Titel La terra trema (Die Erde bebt) hat Visconti Motive von Verga für das Kino umgesetzt. Der Vorgang zeigt, welche Bedeutung Verga für die italienische Kunst hat. Sein Einfluss macht sich auch noch auf die „Neoverismo“ oder Neorealismus genannte Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts geltend.
Doch von der grandiosen Landschaft erscheint nichts in Vergas Werk. Wie sollte es auch, denn der Roman nimmt nicht die Sicht der Touristen ein, sondern die der Fischer. Für sie ist das Meer der Arbeitsplatz, und zwar einer, der nicht geheuer ist. Das Meer ist launisch und gefährlich, es ist eine Naturgewalt, der die Fischer ausgeliefert sind. Von ihm beziehen sie ihren Lebensunterhalt und zugleich ist ihr Leben von ihm bedroht. Sie betrachten es nicht nach seiner Schönheit, vielmehr versuchen sie, seine Sprache zu verstehen, so sagen ihnen die unterschiedlichen Farben, die es annimmt, etwas darüber, „wann sie ohne Furcht aufs Wasser gehen können und wann lieber nicht“.
Die Hauptpersonen des Romans sind die Mitglieder einer Fischerfamilie. Sie werden nur „die Malavoglia“ gerufen, nach der Gewohnheit der Sizilianer, allen einen Spitznamen zu geben. Der Name heißt übersetzt „die schlechten Willens sind“ und steht im Widerspruch dazu, dass die Malavoglia angesehene, tüchtige Leute sind, die eines der schönsten Häuser im Dorf bewohnen. Der Niedergang dieser Familie ist der Inhalt des Romans. Aber eigentlich ist das ganze Dorf hineingezogen in die Handlung, denn Vergas Personen haben kein ausgeprägtes Eigenleben. Was sie bewegt in ihrem Denken und Handeln, ist vorgegeben durch die Gemeinschaft, durch die der Familie und die des Dorfes. Und von einem zu reden, heißt immer auch, von den anderen zu reden, von den Angehörigen und von den Nachbarn. Sie sind es, die die Ansichten und Entscheidungen des Einzelnen bestimmen, sodass die Ereignisse des Romans nicht aus der Sicht eines oder mehrerer Helden erscheinen, sondern sich vielmehr in den Reaktionen der Dorfgemeinschaft spiegeln. Neben den Malavoglia selbst führt die dem Roman vorangestellte Liste über vierzig Personen auf, was natürlich auf den Leser zunächst verwirrend wirkt. Es sind also nicht Einzelstimmen zu vernehmen, sondern zu hören ist eine orchestrale Vielstimmigkeit. Darin besteht zu einem guten Teil die Kunst Vergas; sie will das kollektive Leben der einfachen Leute in einem ärmlichen Fischerdorf wiedergeben.
Das Alltag spielt sich hauptsächlich in der Öffentlichkeit ab, am Strand, wo die Boote liegen, die Ausrüstung repariert und der Fang angelandet wird; vor den Häusern, wo die Frauen sich zusammensetzen zu ihren Arbeiten. Hergebrachte Bräuche bestimmen das Dasein der Dorfbewohner. So wird ein Mädchen, wenn es heiratet, von den Frauen des Dorfes „gescheitelt“, das heißt, sie frisieren die Braut in der Art der verheirateten Frauen und nehmen sie damit auf in ihre Gemeinschaft. Auch die Armut kennt soziale Unterschiede. Bei den Fischern haben die Bootsbesitzer den höchsten Rang. Einer, der nur einen Esel hat, um Transporte durchzuführen, ist nur ein Kärrner. Mehr gilt ein Fuhrmann, denn der besitzt wenigstens ein Maultiergespann. Die Armut hat bei Verga nichts Malerisches, sie wird nicht zur folkloristischen Inszenierung. Auch der gerade gegründete Staat Italien verbessert die Lage der kleinen Leute nicht. Er tritt nur dadurch in Erscheinung, dass er als ungerecht empfundene Steuern erhebt und die jungen Männer zum Militärdienst einzieht, den es vorher in Sizilien nicht gab.
Geplant hatte Verga einen fünf Teile umfassenden Romanzyklus, der alle Aspekte des sizilianischen Lebens und alle Schichten erfassen sollte; es sollte „ein phantastischer Reigen des Lebenskampfes“ werden. Als Titel war I Vinti („Die Besiegten“, „Die Geschlagenen“) vorgesehen. Darin spricht sich eine pessimistische Grundhaltung aus, die kennzeichnend ist für die sizilianische Literatur. Aber sein Projekt hat Verga nur teilweise ausgeführt. Ein Buch über den Adel blieb Fragment. Nur der Band über die Armen, Die Malavoglia, liegt vor und das Porträt eines Mannes aus der Klasse der Besitzenden, Mastro-Don Gesualdo.
„Mastro-Don“ ist eine etwas ungewöhnliche Titulierung. Mit „Mastro“, Meister, redete man einen Handwerker an, mit „Don“ einen Herrn oder einen, den man für einen Herrn ausgeben wollte. Die Zusammenziehung der beiden Titel deutet darauf hin, dass der so Angesprochene zwischen den Klassen steht. Das Werk ist allerdings kein Roman über die „Bürgerschicht“. Anders als im übrigen Europa hatte sich ein selbstbewusstes, gebildetes Bürgertum, das der Motor der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung hätte sein können, auf Sizilien kaum formiert; sehr zum Nachteil des Landes, das den überkommenen feudalen Strukturen verhaftet blieb. Verga entwirft das Lebensbild eines Emporkömmlings, eines sehr sizilianischen Neureichen. Gesualdo Motta hat sich hochgearbeitet vom ländlichen Handwerker zum Geschäftsmann und Großgrundbesitzer. Rücksichtslos setzt er seine Interessen durch, er ist besessen vom Streben nach Besitz. Für ihn ist „alles Geschäft“, selbst noch die Hochzeit mit einer Frau aus einem alten, verarmten Adelsgeschlecht. Das verschafft ihm Zutritt zur besseren Gesellschaft. Dem Aufstieg opfert er auch die Geliebte, die Magd Diodata, mit der er zwei Söhne hat. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt den zeitlichen Hintergrund der Geschichte ab. Einen entscheidenden Einschnitt für das Leben der Romanfiguren bedeutet die große Choleraepidemie von 1837. Vor ihr flüchten sie in abgeschiedene ländliche Regionen. Zudem sind die Akteure hineingezogen in die verschiedenen Revolten, die in dem genannten Zeitraum auf Sizilien ausbrechen, in den Jahren 1820/21, 1837 und 1848. Der äußere Anlass ist vor allem das Elend der Landbevölkerung. Mit bissiger Ironie schildert Verga die Aktionen der sizilianischen Revolutionäre, deren Erfolglosigkeit nur durch ihre Theatralik überboten wird. Die Großgrundbesitzer, die hauptsächlich verantwortlich sind für die Misere, verstehen es, die Schuld dem bourbonischen König in Neapel zuzuschieben. Härter als sie trifft der Hass der aufständischen Landarbeiter den Aufsteiger Mastro-Don Gesualdo. Letztlich bleibt er jedoch ungeschoren, denn das Bündnis der Besitzenden schützt auch ihn. Das Ende seines Lebens wird verdüstert durch die Frage, ob sich der entbehrungsreiche Kampf um Besitz und Ansehen ausgezahlt hat.
In den Dreißiger- und Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich gegenüber Vergas Zeiten nicht viel verändert auf dem Land. Die Landarbeiter führen ein karges Leben, schon die Kinder müssen arbeiten. Früh werden sie aus der Schule genommen. Die Familie, die ein Stück Land bearbeitet, kann davon vertrieben werden, wenn es dem Gutsherrn so passt oder seinem Verwalter. Der eigene Grund, selbst eine kleine Parzelle, erscheint schon als Paradies, ein sehr bescheidenes, sehr irdisches Paradies, aber doch ein Garten, der die Lebensmittel liefert, Korn, Gemüse, Obst. Und wenn man daran zurückdenkt und davon erzählt, werden die Früchte „prall und süß wie sonst nirgends auf der Welt“. Für denjenigen, der diesen Ort verlassen muss, ist das die Vertreibung aus dem Paradies, und wenn er daran selbst Schuld hat, teilt er das Schicksal Adams wie der Vater des Ich-Erzählers – bekanntlich wurde auch Adam vertrieben, weil er sich schuldig gemacht hatte. Wenn man also anfängt zu erzählen, auch vom eigenen kleinen Leben, kommt man unversehens auf die großen Gestalten aus der Bibel oder aus der antiken Sage, kommt auf Hiob, Odysseus oder eben auf Adam zu sprechen.
Der so im Roman Mein Vater Adam von seiner Kindheit und Jugend berichtet, ist der aus Butera stammende Fortunato Pasqualino (1923–2008). Dabei werden nicht irgendwelche Bildungsbrocken bemüht, sondern es wird so erzählt, wie sich einfache Leute ihre Welt erklären: Sie nehmen Bezug auf die exemplarischen Figuren, von denen sie in der Kirche oder bei einem der damals auf Sizilien noch umherziehenden Geschichtenerzähler gehört haben. Pasqualino beschönigt nichts, das Elend, in dem er aufgewachsen ist, wird auch benannt. Er schreibt aus der Sicht der Betroffenen und so kann eine Figur finden, dass es ihr so übel geht wie Hiob. Und dann geschieht etwas Merkwürdiges: Durch die Erzählweise erhält das Düstere etwas Leichtes, fast Heiteres. Man versteht, dass dieses auf die einfachen Dinge reduzierte Dasein seine eigentümliche Poesie hat.
Der Roman gewährt Einblicke in das bäuerliche Jahr. So erfährt man etwas über die Bewässerung der Apfelsinenhaine und darüber, wie der Bursche, der dazu abgestellt ist, den Sommer draußen unter den Bäumen zubringt, abseits der Behausungen. Aufschluss erhält man, wie es zuging bei den Pflückerkolonnen, die von einer Orangenplantage zur nächsten zogen. Der Erzähler beschreibt, wie „Olivenernte, Apfelsinenernte, Mahd und Bewässerung“ seine Jahre als junger Mann kennzeichneten. Und wieder fällt auf, dass zum sizilianischen Leben die Gewalt gehört. Sie hat jetzt einen Namen: Mafia. Wer Zeuge eines ihrer Verbrechen wird, heißt „ein Schmerzhafter“ und muss ihren Zugriff fürchten. Grausam sind ihre Strafen für die, die sich gegen sie stellen. „Er schnitt ihm die Genitalien ab und stopfte sie ihm in den Mund.“
Catanias große Prachtstraße, die Via Etnea wird von der Porta Uceda gegen das Hafengelände abgeschlossen. Das Tor ist ein wuchtiger Barockbau. Etwas düster wirkt es, das kommt von den dunklen Steinen, aus denen die Fassade besteht. Nicht weit davon trifft man noch einmal auf den Namen, da heißt ein Platz nach Uceda. Gemeint ist Juan Francisco Pacheco, Herzog von Uceda. Er war Spanier und vertrat am Ende des 17. Jahrhunderts als Vizekönig seinen König auf Sizilien. Jahrhundertelang, von 1302 bis 1713, gehörte die Insel zu Spanien. Auch die von 1735 bis 1860 herrschenden Bourbonen waren Spanier. Am Platz der Vier Ecken (Quattro canti) in Palermo haben sie ihre Herrschaft in Stein hauen lassen. Dort grüßen gleich vier spanische Könige vom Sockel, darunter Karl V., der aber nur als deutscher Kaiser so hieß, als Carlos I. war er spanischer, als Carlo I. neapolitanisch-sizilianischer König.
Nur eine winzige Veränderung hat der Schriftsteller Federico De Roberto (1861–1927) vorgenommen: Uzeda nennt er ein in Catania ansässiges Adelsgeschlecht. Nicht, dass sein Buch ein Schlüsselroman wäre, aber die Namensgebung verweist doch auf die geschichtliche Wirklichkeit. Die Uzedas der Fiktion gehören zur sizilianischen Hocharistokratie, stammen aus Spanien und rühmen sich, dass ihre Vorfahren enge Vertraute der spanischen Könige waren. Sie sind „die Familie der Vizekönige“, der Roman hat denn auch den Titel Die Vizekönige (I Vicerè). Den Umstand, dass sie gewissermaßen Zugewanderte sind, nehmen sie als Ausweis ihrer Vornehmheit, ein bezeichnender Zug des sizilianischen Adels, glaubt man einer Szene des Romans. Da muss die Familie desjenigen, der etwas gelten will, mit den Normannen, den Staufern oder eben den Spaniern auf die Insel gekommen sein. De Robertos Werk ist zwar eine Familienchronik, aber es ist vor allem ein historischer Roman, der zwischen 1855 und 1882 spielt. Es sind dies entscheidende Jahre für Sizilien, turbulente Jahre, Jahre der politischen, staatlichen und sozialen Neuorientierung. Was die Zeit prägt, ist die italienische Einigungsbewegung, das Risorgimento. Am Beispiel des Hauses Uzeda will De Roberto zeigen, wie sich die alte sizilianische Machtelite zu den Herausforderungen der Epoche stellte.
Der Anschluss an Italien ist ein großes Thema der sizilianischen Literatur, was nicht weiter verwundert, denn schließlich handelt es sich um das mit Abstand bedeutendste Ereignis in der jüngeren Geschichte des Landes. Gleich vier Romane befassen sich damit, neben De Robertos Die Vizekönige sind das Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard, Das Lächeln des unbekannten Matrosen von Vincenzo Consolo und Die Alten und die Jungen von Luigi Pirandello. Immer wieder nehmen sie Bezug auf als bekannt vorausgesetzte historische Daten. Um im Folgenden ständige Wiederholungen zu vermeiden, sollen hier die wichtigsten dieser historischen Ereignisse aufgeführt werden.
Nach dem Wiener Kongress (1815) war die Apenninhalbinsel aufgeteilt in mehrere Staaten und Herrschaftsgebiete. Der Norden, die Lombardei und Venetien, war in der Hand der Österreicher; den Nordwesten mit Turin als Hauptstadt nahm das Königreich Sardinien-Piemont ein; die Mitte einschließlich der Stadt Rom gehörte zum Kirchenstaat; der Süden, das Königreich Neapel, auch „Königreich der beiden Sizilien“ genannt, wurde beherrscht von den Bourbonen; daneben gab es noch einige unabhängige Herzogtümer, darunter das der Toskana. Wie in anderen Teilen Europas entstand auch in Italien eine Bewegung, die die nationale Einheit herstellen wollte. Deren Hauptakteure sind: Giuseppe Mazzini (1805–1872), er war der Theoretiker und vertrat demokratisch-republikanische Ideen mit sozialrevolutionärem Einschlag; Giuseppe Garibaldi (1807–1882), die wohl populärste Figur, er war ein Berufsrevolutionär und setzte als einer der ersten erfolgreich eine Guerillataktik ein, er versuchte, die Vorstellungen Mazzinis umzusetzen; Graf Camillo di Cavour (1810–1861), so etwas wie ein italienischer Bismarck, war ein liberal-konservativer Staatsmann, erster Minister des Königs von Sardinien-Piemont, und sorgte für die machtpolitischen und diplomatischen Voraussetzungen des Zusammenschlusses; Viktor Emanuel II. (1820–1878), König von Sardinien-Piemont, war eine Art Symbolfigur, er verschaffte der patriotischen Bewegung das Ansehen legitimer Herrschaft und wurde erster König der konstitutionellen Monarchie Italien.
Nach einigen erfolglosen Aufständen unter Beteiligung Mazzinis und Garibaldis gelang 1859 ein Sieg gegen Österreich. Dieses musste die Lombardei räumen, die sich Sardinien-Piemont anschloss. Am 4. Mai 1860 schiffte sich Garibaldi mit etwas über 1000 Freiheitskämpfern in Genua ein. Am 11. Mai landete das Expeditionskorps in Marsala auf Sizilien. Es begann der legendäre „Zug der Tausend“. In der Schlacht von Calatafimi gelang den „Rothemden“ – so bezeichnet nach ihrer Bekleidung – ein Sieg gegen eine Übermacht bourbonischer Truppen. Bis zum August 1860 nahmen sie die ganze Insel ein. Allerdings kamen ihnen dabei lokale Erhebungen zu Hilfe. Die Aufständischen schlossen sich Garibaldi an, der eine Diktatur auf Sizilien errichtete. Noch im gleichen Sommer setzte er aufs Festland über und schlug mit seinen Revolutionsverbänden in der Schlacht am Volturno das bourbonische Heer; das bedeutete das Ende des Königreichs der beiden Sizilien. Bereits im Oktober 1860 entschied sich das Volk von Sizilien in einer Abstimmung mit 99,5 Prozent für den Anschluss an das Italien Viktor Emanuels. Garibaldi trat als Diktator zurück. Im März 1861 erfolgte die Proklamation des Königreichs Italien. 1866 wurde Venetien in den neuen Staat eingegliedert. Mit der Eroberung des Rumpfkirchenstaates 1870 war die Vereinigung Italiens abgeschlossen, und Rom wurde zur Hauptstadt des vereinigten Italien. Garibaldi, der an revolutionären Ideen festhielt und sich gegen den von Cavour konservativ ausgerichteten Staat stellte, wurde bereits 1862 am Aspromonte von königlich-italienischen Truppen besiegt. Er wurde verwundet, gefangen gesetzt und verurteilt, später jedoch begnadigt.
Doch zurück zu De Robertos Roman Die Vizekönige: Die Uzedas stehen als Teil der alten Ordnung auf der Seite des bourbonischen absolutistischen Regimes. Sie sind, wie könnte es anders sein, erzkonservativ eingestellt – wenn man bei ihnen von einer Einstellung überhaupt reden kann, denn eigentlich treten sie für gar nichts ein, es sei denn für ihren eigenen Vorteil. Insbesondere die männlichen Vertreter dieser Sippschaft sind gesinnungs- und gewissenlos, korrupt, herrschsüchtig und besitzgierig. Vorgeführt wird eine drei Generationen umfassende Galerie ausgemachter Schufte. Sie haben sich seit Jahrhunderten komfortabel eingerichtet im Land: Der Palast, in dem sie residieren, ist so geräumig, dass eine größere Versammlung bequem in einen Nebenflügel Platz findet, und zu ihrem Besitz gehört die bescheidene Anzahl von sechzehn Landgütern. Natürlich haben sie die allerfeinsten Umgangsformen. Über einen Landedelmann, der sich von seinen Töchtern duzen lässt, können sie nur die Nase rümpfen. Wie jemand anzureden ist, der Vater, der Onkel, der Cousin, ist streng geregelt. Aufgewachsen in einem schier unermesslichen Reichtum und gewohnt, dass ihren Wünschen und Launen nachgekommen wird, fühlen sie sich anderen Menschen weit überlegen und behandeln diese mit einer schon beleidigenden Herablassung, wenn sie nicht gerade etwas von ihnen brauchen.
Ehernes Gesetz ist, dass der Besitz zusammengehalten wird. Er bleibt, von den nicht unbeträchtlichen Deputaten für die übrigen Familienmitglieder abgesehen, in der Hand des ältesten Sohnes. Dafür sorgt der „Fideikommiss“, eine alte, vor allem in europäischen Adelshäusern geltende Satzung privaten Rechts, die die Erbschaft festlegt. Diese Maßnahme dient natürlich auch dem Erhalt von Einfluss und Macht. Gleichwohl gibt es unter den Familienmitgliedern um die Besitzansprüche erbitterten Streit. Eintracht ist ohnehin nicht ihre Sache, vielmehr herrschen Neid, Missgunst, Untreue, Verrat, Intrige und Betrug, hinzukommen noch skandalöse Liebesaffären, kurz: Der Roman hat alle Zutaten, die die Nachrichten aus dem Leben der Reichen und Vornehmen für das gemeine Publikum so aufregend machen. Dass die Clanmitglieder unschönen Trieben verfallen sind, führt De Roberto – er zählt wie Verga und Capuana zur Gruppe der Veristen – in gut naturalistischer Manier auf Erbfaktoren zurück. Die „Vizekönige“ sind „degeneriert“, ihr Blut ist „dünn“ geworden. „Diese alte spanische Rasse, halb mit griechischen, halb mit sarazenischen Elementen vermischt, hatte schon längst ihre ursprüngliche Reinheit und ihren Wesensadel verloren.“
Seinen Reichtum und seinen sozialen Rang verdankt dieses korrumpierte Geschlecht einem despotischen System, das die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausplündert und in die Armut treibt. Man sollte meinen, dass mit der Beseitigung der bourbonischen Herrschaft auch der Niedergang der Uzedas besiegelt ist. Aber gerade das geschieht nicht. Sie, die doch die eigentlichen Stützen des alten feudalen Machtgefüges waren, behaupten sich auch in dem neuen Staat, in einem Staat, der früheres Unrecht beseitigen will und seinen Bürgern Freiheit und soziale Reformen versprochen hat. Wie es dazu kam, warum es in Sizilien keinen wirklichen Fortschritt gab, welche Machenschaften dazu führten, das versucht De Roberto zu entlarven. Der Machterhalt gelingt den Uzedas gerade durch ihre Charakterlosigkeit, gelingt dadurch, dass sie sich hemmungslos opportunistisch verhalten.
Federico De Roberto wurde zwar in Neapel geboren, ist aber in Catania aufgewachsen, von wo seine Mutter stammte. Die Schauplätze seines Romans kannte er also sehr genau. Vor Augen hatte er auch einen gewaltigen Gebäudekomplex, der oberhalb der Stadt thront, das Benediktinerkloster San Nicola. Die Lage ist fast schon symbolisch, denn der Konvent war ungeheuer reich und mächtig. Er gehörte zu den größten Grundbesitzern Ostsiziliens. Den Mönchen fehlte es an nichts; an ein Luxusleben waren sie ohnehin gewöhnt, denn sie stammten aus den ersten Familien des Landes. Die unheilige Allianz von klerikalen Kreisen und Feudaladel ist ein Bestandteil von De Robertos Sittengemälde. Das Fazit des Buches ist bitter: „Siehst du, früher als es noch Vizekönige gab, waren die Uzedas Vizekönige; heute gibt es Abgeordnete, und da zieht unser Onkel ins Parlament ein […] Früher kam die Macht unserer Familie von den Königen; heute kommt sie vom Volk. Es hat sich gar nicht so viel verändert: nur die Vorzeichen sind vertauscht“, lässt De Roberto einen der Uzedas sagen. Das mündet schließlich in einen Geschichtspessimismus: „Die Geschichte ist nichts anderes als eine ewige Wiederholung; denn die Menschen waren und sind stets die gleichen. Nur die äußeren Bedingungen verändern sich.“
Auch Fabrizio Corbera Fürst von Salina, ist ein großer Herr, ein Fürst, einer, der mit dem König in Neapel von gleich zu gleich verkehrt. Er ist ebenso herrisch, ein Tyrann, vor dessen Zornesausbrüchen die Familie und die Dienerschaft zittern. Sie fügen sich ihm, dem Gebieter über Menschen, Land und Schlösser. Groß, kräftig und blond – das Erbe seiner deutschen Mutter –, ist er auch eine imposante Erscheinung, ein Mann, der seine Umgebung überragt. Kurz, er ähnelt dem Tier, das er in seinem Wappen trägt, er ist Der Leopard, den Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896–1957) mit seinem Romantitel verewigte. In Fabrizio Corbera Fürst von Salina, wirken noch die gewalttätigen Instinkte seiner Vorfahren. Auch ihre Allüren pflegt er. Er liebt Hunde, Pferde und die Jagd. Und doch nimmt er für sich ein, ja, er weiß diejenigen, die mit ihm umgehen, zu bezaubern, auch den Leser. Er hat nämlich Geist, und das unterscheidet ihn von seinen bornierten Standesgenossen, deren Wissen zumeist nicht über einige, die Familie betreffende genealogische Kenntnisse hinausreicht und die trotz des Raffinements der Lebensführung die Interessen von Pferdeknechten teilen. Dabei hat Don Fabrizio keinen einfachen Charakter; in ihm bekämpfen sich zwei Regungen, die eine, seine deutsche Mitgift, besteht in der Neigung zu abstrakten Ideen und zu einem gewissen moralischen Rigorismus. Die andere, die auf seinen sizilianischen Vater zurückzuführen ist, beruht auf einer starken Sinnlichkeit und einer Trägheit, die den Dingen ihren Lauf lässt und die die Sizilianer gern als Hinterlassenschaft der Araber ausgeben. Ungewöhnlich für einen Mann seiner Gesellschaftsschicht ist die Beschäftigung mit Astronomie, mit mathematischen Berechnungen der Sternenbahnen. Sie hat ihm internationale Anerkennung und Ehrungen eingebracht, und in seinem Palast in Palermo hat er sich ein Observatorium eingerichtet. Dass er sich keinen Illusionen über die politische und gesellschaftliche Entwicklung hingibt, dazu verhilft ihm sein scharfer Intellekt. Und es sind seine geistigen Fähigkeiten, die ihn in die Lage versetzen, Verständnis aufzubringen für Ansichten, die nicht die seinen sind. Er besitzt eben nicht die Engstirnigkeit seiner Kaste; die hochfahrende Art des Grandseigneurs ist gemildert, und es zeigt sich die Gutherzigkeit, die den Grund seines Wesens ausmacht. Der Zauber, der von ihm ausgeht, kommt zu einem guten Teil von seinen tadellosen Manieren. Sie bewahren ihn vor unbedachten Ausbrüchen seines heftigen Temperaments. Aber die guten Manieren bewirken weit mehr, sie verleihen dem Leben, selbst den gewöhnlichen Verrichtungen, Schönheit und Glanz. Durch sie wird aus einer „gemeinsamen Mahlzeit nicht notwendig ein Orkan von Kaugeräuschen und Fettflecken“, wie ein zum Gutsbesitzer aufgestiegener Bauer erstaunt feststellt. Und die Sorgfalt, die man auf seine Kleidung verwendet, findet nicht unbedingt ihren Grund in eitler Gefallsucht und in einem Hang zu Äußerlichkeiten. Es kann sich darin auch der Respekt und die Rücksichtnahme für das Gegenüber ausdrücken, ein Eingehen auf den Mitmenschen, den man nicht abstoßen, beleidigen, beschämen oder übertrumpfen will. So wird vom Fürsten berichtet: „Er zog nicht den Abendanzug an, um die Gäste, die offensichtlich keinen besaßen, nicht in Verlegenheit zu bringen.“ Wahre Höflichkeit und gefällige Umgangsformen beruhen auf Feingefühl, beruhen auf dem Takt, der aus der Aufmerksamkeit für den Anderen hervorgeht. Natürlich fällt etwas davon auf den zurück, der darüber verfügt, er zieht die Sympathien auf sich. Der Autor sagt das mit einem Bonmot: Ein Mensch mit guten Manieren übe „eine Art vorteilhaften Altruismus“ aus. Don Fabrizio führt das Leben eines sizilianischen Magnaten von altem Adel. Er und seine Familie bewohnen einen prunkvollen Palazzo in Palermo. Und im Sommer, wenn sie aufs Land ziehen, residieren sie in einem nicht weniger imposanten Schloss. Dass diese Welt in die Brüche gehen wird, darüber kann sich der Fürst nicht hinwegtäuschen. Die Vorboten der Veränderung sieht er auf den Bergen vor Palermo, da brennen schon die Wachtfeuer garibaldinischer Aufständischer. Damit setzt die Romanhandlung ein. Es ist der Abend des 12. Mai 1860. Am Tag zuvor ist Garibaldi auf Sizilien gelandet, am 27. Mai wird er Palermo einnehmen.
Schon durch seine Herkunft ist das Weltbild des Fürsten von Salina konservativ geprägt. Das monarchische Prinzip hält er für den Garanten der Ordnung, des Rechts, des Glaubens, der Ehre und des Eigentums. Freilich weiß auch er, dass diese Idee von Herrschaft die richtigen Repräsentanten benötigt, denn die Idee selbst nimmt Schaden, wenn sich keine Personen finden, die sie überzeugend verkörpern. Dass die bourbonischen Könige dazu nicht geeignet sind, davon ist er überzeugt. Sie sind nur schwache Figuren, deren Regime längst morsch geworden ist. Eine Erneuerung ist also unausweichlich. In Garibaldi nun sieht er weniger den Patrioten, als vielmehr den Vollstrecker der politischen Programmatik Mazzinis. Wenn sich dessen demokratische Vorstellungen durchsetzen, argwöhnt er, so wäre er nicht mehr der „Fürst von Salina“, sondern nur noch der „Herr Corbera“. Seine Überlegungen nehmen eine bestimmte Wendung durch seinen Neffen Tancredi. Tancredi ist gewandt, charmant, liebenswert und – gerissen, aber vor allem ist er jung und voller Tatkraft. Auch er ist ein Fürst, aber völlig mittellos. Bei ihm, dem verwaisten Sohn der Schwester, vertritt Don Fabrizio die Vaterstelle, und zwischen beiden, zwischen Onkel und Neffen herrscht ein herzliches Einvernehmen. Tancredi hat beschlossen, sich den Garibaldinern anzuschließen und zum Abschied sagt er seinem Onkel einen Satz, der diesen ins Nachdenken bringt und der wie ein Schlüssel für das Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Siziliens wirkt: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.“