Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung
durch elektronische Systeme.
wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.
© 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die
Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.
Satz: Olaf Mangold Text & Typo, Stuttgart
Besuchen Sie uns im Internet: www.wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-3746-7
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3763-4
eBook (epub): ISBN 978-3-8062-3764-1
Vorwort
1. Teil Ausbruch aus bürgerlicher Sicherheit
Eine Kindheit in Nantes (1828–1848)
Pariser Lehrjahre (1848–1856)
Vor dem Durchbruch (1857–1862)
Jules Verne und Pierre-Jules Hetzel
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
Fünf Wochen im Ballon (1863):
Der Prototyp des wissenschaftlichen Romans
Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864): Auf der Suche nach den Ursprüngen
Die Geburt der Außergewöhnlichen Reisen
20.000 Meilen unter den Meeren (1869/70): Bootsbesitzer und Erfolgsautor
Der Krieg von 1870/71 und seine Folgen: Verne und die Deutschen
In 80 Tagen um die Welt (1872):
Der Übergang in ein neues Zeitregime
Michel Verne: Sohn eines Erfolgsautors
Die geheimnisvolle Insel (1874/75):
Arbeit als menschliche Bestimmung
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
Der Alltag eines Schriftstellers:
Eine Außergewöhnliche Reise entsteht
1886: Das schreckliche Jahr
Unermüdlich bis zum Ende
Michel übernimmt: Die posthumen Romane
Der geteilte Verne: Vom Freiwild zum Heiligen
Schluss: Der glückliche Sisyphos
Anhang
Zeittafel
Werkverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenregister
Abbildungsnachweis
Danksagung
Ich habe erlebt, wie die Phosphor-Zündhölzer aufkamen, der Anknöpfkragen, die Manschette, das Briefpapier, die Briefmarken, die kurzen Hosen, der Herrenmantel, der Zylinder, der Halbstiefel, das metrische System, die Dampfschiffe der Loire … die Omnibusse, die Eisenbahn, die Straßenbahn, das Gas, die Elektrizität, der Telegraf, das Telefon, der Phonograf«, zählt Verne beinahe atemlos in seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen auf und macht damit die rasanten Veränderungen des Alltags im 19. Jahrhundert spürbar.
Kleidung, Kultur, Maßeinheiten, Mobilität, Kommunikation, das wirkt konfus und heterogen, aber es ist für Verne offenbar doch miteinander verbunden. Zusammengehalten wird all das allein schon durch das metrische System, das sich unsichtbar über alles legte und alles einheitlich beschreibbar machte. Im 19. Jahrhundert erlangen Zahlen einen bisher unbekannten Protagonismus und werden zum Maß aller Dinge, weil sich alles messen und berechnen lässt. In Vernes Romantitel rücken sie sogar so prominent in den Vordergrund – Fünf Wochen im Ballon, 20.000 Meilen unter den Meeren, In 80 Tagen um die Welt –, dass sie schon kaum mehr auffallen. Dabei steckt in ihnen ein Schlüssel zum Verständnis des Werkes und seiner Zeit: Exaktes Zählen und systematische Einheiten werden zu den Voraussetzungen des wissenschaftlichen Fortschritts und erhalten bei Verne literarische Würde, wobei die Betonung auf der Exaktheit und der Systematik liegt, die den eigentlichen Unterschied zur Vergangenheit ausmachen. Denn erst die Exaktheit machte Wissenschaft zuverlässig, und erst die Systematik machte sie international kommunizierbar.
War das 19. Jahrhundert die Wiege der heutigen Wissensgesellschaft, so ist es Verne wie kaum einem anderen gelungen, die technischen und damit verbundenen kulturellen Weichenstellungen erzählend zu begleiten. Dafür hat er eine Gattung kreiert, die als seine wichtigste innovative Leistung gilt: den wissenschaftlichen Roman. Er zeichnet sich auf der Oberfläche durch eine Fülle von geografischen, technischen, zoologischen, botanischen oder mineralogischen Details aus und führt unterschwellig wissenschaftlich gelenktes Denken und Handeln von Figuren vor, die zu modernen Helden und Vorbildern wurden. In dieser Hinsicht darf Verne als ein Schlüsselautor eines Jahrhunderts gelten, in dessen Bahnen wir uns heute noch bewegen.
Nach den ersten Erfolgen entwickelte Verne das enzyklopädische Projekt, die ganze Welt in Romanform darzustellen und in der Reihe der Außergewöhnlichen Reisen zu versammeln, eine titanische Aufgabe, in die seine Lebensenergie geflossen ist und die nach 64 Romanen und gut 43 Jahren disziplinierten Schreibens durch seinen Tod unterbrochen wurde. Diese ungeheure Menge stellt Forscher und Biografen vor keine leichte Aufgabe. Denn allen Texten gerecht zu werden, ist auf begrenztem Raum so gut wie unmöglich. Es gilt somit, eine repräsentative Auswahl der Romane zu treffen. Die vorliegende Biografie konzentriert sich daher auf Vernes produktivste und originellste Schaffenszeit zwischen 1862 und 1875.
Bei so hoher Produktivität bilden Leben und Schaffen notwendigerweise eine große Schnittmenge, denn Verne hat die meiste Zeit seines Lebens mit der Feder in der Hand verbracht. Auf den Vorschlag eines italienischen Verehrers namens Mario Turiello, doch eine Autobiografie zu verfassen, antwortete Verne 1902, dass seine Lebensgeschichte »nichts Interessantes zu bieten hätte«. Das war allzu bescheiden, denn Verne hat um sich selbst nie viel Aufheben gemacht, und bewusst untertrieben, denn seinen Sohn ermunterte er durchaus, eine biografische Studie über ihn zu verfassen. Dies ist jedoch nicht geschehen, so dass unsere wichtigste biografische Quelle Vernes umfangreiche Korrespondenz darstellt, am bedeutendsten darunter die gut 700 Briefe zwischen ihm und seinem Verleger Pierre-Jules Hetzel, die ein faszinierendes literarhistorisches Dokument darstellen und einen genauen Eindruck vom Entstehen der einzelnen Romane geben. Was Vernes Privatleben angeht, so bieten die Briefe an seinen Sohn Michel einen tiefen Einblick in das schwierige Verhältnis zwischen beiden, das sich für Verne als eine Dauerbelastung herausstellte.
Ergänzt wird die Briefliteratur durch eine stattliche Anzahl von Interviews, einer journalistischen Form, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und damit vor allem Aussagen des älteren Jules Verne gesammelt hat. Vor diesem Hintergrund hat sich seit den 1960er Jahren eine akribische biografische Forschung entwickelt, die manchmal mit detektivischem Scharfsinn Lücken geschlossen hat und heute einen relativ genauen Eindruck von der Person und dem Leben Vernes vermittelt. Daraus ergibt sich das Profil eines bürgerlichen Schriftstellers, dem es gelungen ist, sich selbst als Autor zu verwirklichen und zugleich wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Wenn einem das Leben Vernes einen genauen Einblick in die Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts erlaubt, so erschließen seine Romane auf faszinierende Weise die kulturhistorischen Kontexte der Zeit. Sich heute noch mit ihm und seinem Werk auseinanderzusetzen, heißt, in die Ursprünge unserer Gegenwart einzutauchen und erstaunt festzustellen, dass trotz aller Unterschiede viele Konstanten zu beobachten sind, die dabei helfen, uns selbst besser zu verstehen.
Die Romantitel werden im Folgenden nur dann im Original belassen, wenn es keinen etablierten deutschen Titel gibt. Alle Zitate aus dem Französischen wurden eigens für diesen Band neu übersetzt.
Der große imaginäre Reisende Jules Verne, der in der Fantasie jeden Winkel der Erde erkunden wollte, hat sein Leben in drei französischen Städten verbracht: in Nantes, wo er Kindheit und Jugend erlebte, in Paris, wo er ab 1848 Jura studierte und seine schriftstellerische Laufbahn begann, und schließlich in Amiens, wo er ab Mitte 1871 bis zu seinem Tod im Jahre 1905 wohnte. Zusammen bilden sie ein Städtedreieck im Nordwesten Frankreichs, das eng miteinander verbunden blieb, denn auch wenn Verne in Amiens lebte, so riss der Kontakt zu seiner Familie in Nantes nicht ab, und ebenso eng war er durch seinen Verleger Pierre-Jules Hetzel dauerhaft an Paris gebunden.
Nantes, die historische Hauptstadt der Bretagne, liegt an der Loire gut siebzig Kilometer vom Atlantik entfernt und war in jener Zeit eine der bedeutendsten Hafenstädte Frankreichs. Dort wurde Verne am 8. Februar 1828 als erstes Kind des Anwalts Pierre Verne und seiner Frau Sophie geboren. Der Name Verne bezeichnet den Erlenbaum, der sich dementsprechend im Familienwappen findet. Die Mutter, eine geborene Allotte de la Fuÿe, war 27 Jahre alt und stammte aus Morlaix (Bretagne). Der nur ein Jahr ältere Vater Pierre wiederum kam aus Provins, südöstlich von Paris, und war erst 1825 nach Nantes gekommen, und zwar auf Anraten seines dort ansässigen Onkels Alexandre, der ihn auf eine freie Stelle als Teilhaber in einer Kanzlei hingewiesen hatte. Pierre war Jurist in dritter Generation. Das Paar hatte sich 1826 kennengelernt und am 17. Februar 1827 geheiratet.
Nachdem sie eine kurze Zeit im Haus der Eltern Sophies in der Rue Olivier de Clisson Nr. 4 gewohnt hatten, wo Jules geboren wurde, zog die junge Familie bald darauf in das Haus vom Quai Jean Bart Nr. 2, wo sich auch die Kanzlei des Vaters befand. Sechzehn Monate später, am 29. Juni 1829, wurde dann der zweite Sohn Paul geboren, an dessen Seite Jules aufwuchs. Erst acht Jahre später sollten die Eltern ein weiteres Kind bekommen, Anna, auf die noch zwei weitere Töchter, Mathilde und Marie, folgten.
Der berufliche Erfolg des Vaters, der 1854 seine Laufbahn als einer der angesehensten Anwälte der Stadt beenden sollte, verschaffte der Familie finanziellen Wohlstand. Politisch war Pierre monarchistisch eingestellt, religiös gesehen tief katholisch. In seinem Nachlass fanden sich Notizen mit theologischen Überlegungen, die eine tiefe Frömmigkeit bezeugen. Diese sollte sich zwar nicht in dieser Form auf seinen ältesten Sohn übertragen, aber auch Jules Verne blieb zeit seines Lebens der katholischen Moral verpflichtet.
Ebenso gehörte die Kunst zum Alltag der Familie, denn Pierre war vielseitig interessiert, las begeistert Literatur und schrieb selbst Lieder, die in der Familie gesungen wurden, während Sophie Klavier spielte. Sophies Schwester Caroline wiederum war mit dem Maler François Charles Henry de la Celle de Châteaubourg verheiratet, der mit Chateaubriand verwandt war. Die Künste waren damit von Anfang an ganz selbstverständlich mit Jules Vernes Kindheit verbunden und haben dementsprechend breite Spuren hinterlassen. Denn auch wenn er Romanschriftsteller wurde, blieben Musik und Malerei stets in seinem Werk präsent.
Hinzu kam eine Reihe von Umständen, die allesamt dazu geeignet waren, die Fantasie der Kinder zu beflügeln. Ein Onkel der Mutter, den die Kinder Onkel Prudent nannten, war als Kaufmann und Reeder oft in Amerika, vor allem in Venezuela, gewesen und vermochte den Nachwuchs mit Erzählungen aus der Ferne in seinen Bann zu schlagen, wenn sie in seinem Haus in La Guerche-en-Brains bei Nantes die Sommer verbrachten. Mit den Cousins und Cousinen von Jules und Paul kamen mitunter neun Kinder zusammen, die hier unbeschwert miteinander spielen konnten. Darunter befand sich auch die hübsche Caroline Tronson, die Tochter von Sophies Schwester Lise, die Vernes Jugendschwarm werden sollte.
Überhaupt gab die Familiengeschichte der Allotte de la Fuÿes den Kindern allen Anlass dazu, sich in die Vergangenheit hineinzuträumen. Denn sie ging zurück auf einen schottischen Bogenschützen, der für seine Dienste von Ludwig XI. 1462 geadelt wurde und sich in der Nähe von Loudon (damals Anjou) niederließ. Er erhielt die Erlaubnis, einen Taubenturm (frz. fuie) zu bauen, ein Privileg, dass in doppelter Hinsicht repräsentativ für den Adelsstand war, nicht nur weil er Macht und Status bekundete, sondern auch weil Tauben eine beliebte Speise an den adligen Tafeln waren. Und so wurde aus dem einfachen Allott ein Allotte de la Fuÿe.
Und nicht zuletzt bot die florierende Seehandelsstadt Nantes reichlich exotische Reize. Direkt am Elternhaus am Quai Jean Bart entlang floss die Erdre und mündete einen Steinwurf weiter in die Loire vor der bootsförmigen Stadtinsel Feydeau. In unmittelbarer Nachbarschaft lagen schwere Segelschiffe in Doppel- und Dreierreihe am Kai des Hafens. In den 1890 für ein Bostoner Jugendmagazin verfassten kurzen Kindheits- und Jugenderinnerungen erzählt Verne, wie er im Alter von acht Jahren davon träumte, in den Wanten der Schiffe herumzuklettern, und wie er sich einmal auf eines der Boote schlich, als die Wache gerade auf ein Gläschen in eine Taverne gegangen war. Aus dem Lagerraum strömten ihm Gerüche entgegen, in denen sich die Düfte exotischer Gewürze mit demjenigen des Schiffsteers vermischten. Er erkundete das Schiff weiter und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig am Steuerruder zu drehen. Alles sei so faszinierend gewesen, kommentiert er, dass er Wochen auf einem Schiff hätte verbringen können.
Mobilität, die eines der wichtigsten Themen seiner Romane werden sollte, war in jener Zeit noch kaum ausgeprägt, und Reisen war mit hohem zeitlichen und physischen Aufwand verbunden. Von den technisch hochmodernen Dampfschiffen sah man nur wenige, und die Eisenbahn steckte noch in den Anfängen. Daher reiste es sich mit der Fantasie am schnellsten, und mündliche Berichte vermochten eine Faszination zu entwickeln, die man sich im Zeitalter der visuellen Verfügbarkeit kaum mehr vorstellen kann. Was konnte es in dieser Hinsicht Faszinierenderes geben als einen Handelshafen an der Loire, an dem man das Meer spürte, auch wenn es noch knapp 70 Kilometer entfernt war?
1838 kaufte der Vater eine Sommerresidenz im wenige Kilometer entfernten und am rechten Loire-Ufer gelegenen Chantenay. Von Ostern bis Herbst verbrachte man die Zeit von jetzt ab dort, wo den Kindern zwei Gärten zum Spielen zur Verfügung standen. Von seinem Zimmer aus konnte Jules auf den Fluss schauen und beobachten, wie das Wasser zurückging und überall gelbe Sandbänke sichtbar wurden, welche die Schiffe umfahren mussten. Gemeinsam mit seinem Bruder Paul mietete er kleine Segelboote und machte erste Erfahrungen als Matrose, wobei er sich Theorie und Fachvokabular bereits aus den heute vergessenen Seeromanen James Fenimore Coopers angeeignet hatte.
In den Kindheits- und Jugenderinnerungen berichtet Verne, wie er einmal fünf Meilen westlich von Chantenay allein kenterte und sich auf eines der Inselchen retten musste. Jetzt durfte er für kurze Zeit ein kleiner Robinson sein. Den kannte er bereits von seinen Lektüren her, allerdings nicht aus Defoes Original, sondern aus dem Schweizerischen Robinson des Berner Stadtpfarrers Johann David Wyss, der in Frankreich als besonders geeignete Jugendlektüre angesehen wurde, weil dort eine ganze Familie auf der Insel strandete und der Familienvater – ebenfalls Pfarrer – reichlich Gelegenheit bekommt, seinen Söhnen die Welt zu erklären. Das kleine Abenteuer geht zwar undramatisch aus, denn bei Ebbe kann Jules das Ufer bequem zu Fuß erreichen, genügte aber, um das Erlebnis in der Fantasie so zu steigern, dass sich Verne noch über fünfzig Jahre später daran erinnern konnte. Das Meer selbst sollte er erst im Alter von zwölf Jahren sehen, als er mit seinem Bruder Paul auf einem Dampfer bis nach Saint-Nazaire fuhr.
Ab 1834, also im Alter von sechs Jahren, erhielt Jules Unterricht in der Privatschule bei Mme Sambin, die ihm lesen und schreiben beibrachte. Auch mit ihr verband sich eine Geschichte, die den Jungen geprägt haben könnte, denn Mme Sambins Ehemann, ein Marineoffizier, war seit dreißig Jahren verschollen. Dies könnte Verne als Vorbild für die zahlreichen Geschichten über Verschollene gedient haben, die von der frühen Erzählung Ein Winter im Eis, über den Roman Die Kinder des Kapitän Grant bis hin zu Mistress Branican reichen, in dem sich die Titelfigur auf die Suche nach ihrem Ehemann begibt.
Ab dem 3. Oktober 1837 mischten sich Jules und Paul unter die gut 120 Schüler des kirchlichen Pensionats Saint-Stanislas, wo sie wie üblich Latein und Griechisch lernten. Der Unterricht jener Zeit hatte nur wenig mit unseren heutigen Vorstellungen davon gemein. Schulische Erziehung bedeutete das Erlernen von Gehorsam; als didaktische Methode wendete man Strenge an, Auswendiglernen war eine beliebte Übung, und der Fächerkanon beschränkte sich auf Religion, Französisch, Rechnen, Geschichte und Geografie.
Die ersten Ansätze zu einer modernen Schulpolitik hatten gerade erst begonnen und betrafen zunächst nur die Primarstufe. Das Schulgesetz von Minister Guizot aus dem Jahre 1830 machte Grundschulen für Jungen in Gemeinden ab 500 Einwohnern mit einem Lehrer obligatorisch, Mädchenschulen hingegen blieben fakultativ. Die Grundschule wurde gratis angeboten, war aber nicht verpflichtend. Diese Maßnahme zielte vor allem auf die ländlichen Gegenden und den eher rückständigen Süden Frankreichs ab und führte zu einem deutlichen Anstieg der Schülerzahlen. Hatten diese 1815 noch bei 850.000 gelegen, so waren sie 1848 bereits auf 3,5 Millionen angewachsen. Dementsprechend stieg auch die Alphabetisierung an, die 1848 bereits 64 % erreichte und bis zum Jahrhundertende kontinuierlich gesteigert wurde. Hier wurden die intellektuellen Voraussetzungen für die enorme Bedeutung gelegt, welche die Literatur in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einnehmen sollte.
Für Jules und Paul setzte sich diese Art Unterricht fort, als sie von 1840 bis 1844 an das Priesterseminar von Saint-Donatien gingen, das auch Kinder aufnahm, die nicht Kleriker werden wollten. Es handelte sich um ein Internat, in dem die Eltern die beiden Jungen etwa zweimal pro Woche besuchten. Hier stand eine Lebensführung im Sinne christlicher Moral im Vordergrund. Neben dem Griechischen und Lateinischen, das mithilfe der Bibel erlernt wurde, unterrichtete man Mathematik, Geografie und Musik. Naturwissenschaftliche Fächer hingegen gab es nicht.
War die Primarstufe quasi allen zugänglich, so endete mit ihr allerdings auch die Meritokratie, da die Sekundarstufe einer kleinen Elite vorbehalten blieb. Die königlichen Collèges waren kostenpflichtig, das Abitur absolvierten ca. 3000 bis 4.000 Schüler pro Jahr. Auch die beiden Vernes gehörten der privilegierten Minderheit an, die nach acht Jahren noch eine weiterführende Schule besuchen konnte. So zog Jules 1844 wieder nach Hause und ging auf das königliche Gymnasium mit seinen ca. 300 Jungen, auf dem die humanistischen Bildungsinhalte fortgesetzt wurden. Verne war ein eher unauffälliger Schüler. Am 29. Juli 1846 bestand er das Abitur mit der Gesamtnote befriedigend.
Seit 1840 wohnte die Familie mit zwei Hausangestellten in dem geräumigen Appartement im 3. Stock der Rue Jean-Jacques Rousseau Nr. 6, genau gegenüber von Onkel und Tante Châteaubourg. Im Büro des Vaters gab es für Jules einiges zu entdecken, allem voran ein Teleskop, einen Bücherschrank mit englischer Literatur in Übersetzung und einen Sekretär mit technischen Geräten. Inspiration kam auch von den damals beliebten Familienzeitschriften, von denen die Vernes mit dem Journal des enfants, dem Magasin pittoresque und dem Musée des familles gleich drei abonniert hatten. Bald begann Jules mit ersten Schreibversuchen, und zwar mit Gedichten, »schrecklichen Gedichten«, wie er später in einem Interview urteilte. Die Familie sah das anders, denn eines seiner Geburtstagsgedichte für den Vater hatte beim Vortrag großen Zuspruch gefunden.
Die privilegierten Bedingungen Vernes, seine Jugendlektüren und -erfahrungen lassen sich durchaus im Lichte seines späteren Werks interpretieren, würden aber an sich nichts Außergewöhnliches darstellen, wenn nicht noch eine Begeisterung für Technik hinzugekommen wäre. Neben den Geräten auf dem Sekretär des Vaters faszinierte ihn auch die staatliche Fabrik von Indret bei Chantenay, deren Maschinen er unermüdlich zusehen konnte, genauso wie später Lokomotiven und Dampfmaschinen.
Konsequenterweise konnte der fantasiebegabte Junge sich auch leidenschaftlich romantischen Träumereien hingeben. Da die Gesellschaft jener Zeit eine strikte Geschlechtertrennung lebte, war der soziale Umgang mit Mädchen stark eingeschränkt, und es verwundert wenig, dass Jules sich als Heranwachsender zunächst heftig in eine Cousine verliebte, in die bereits erwähnte hübsche Caroline. Abgesehen davon, dass sie anderthalb Jahre älter war und sich die Verbindung nicht schickte, zog sie ihm den Kaufmann Émile Dézaunay vor, den sie 1847 heiratete. Der Stolz des jungen Verne war gekränkt, und er nahm, wie es sich für einen angehenden Dichter gehört, literarisch Rache mit einem Spottgedicht an die Neuvermählte Caroline. Dieses Urerlebnis hat Spuren hinterlassen. Noch in dem vierzig Jahre später erschienenen Roman Familie ohne Namen, lässt Verne ein Liebespaar in einem Boot namens Caroline die Niagarafälle hinunter in den Tod stürzen. Man sollte daraus allerdings nicht gleich schließen, dass Verne seine Liebe zu Caroline niemals überwunden habe, wie einige Biografen mutmaßen, denn er war immer auch zu ironischen Späßen aufgelegt. Außerdem hatte er sich bald schon wieder neu verliebt, und zwar in Herminie Arnault-Grossetière, der er zwischen April 1847 und Sommer 1848 einige Gedichte widmete. Herminie hielt ihn offenbar hin und machte ihm Hoffnungen, um ihn dann aber doch abzuweisen und einen Gutsbesitzer namens Terrien de la Haye zu heiraten, eine gewiss schmerzhafte Wiederholung. Jules tilgte alle Widmungen seiner Gedichte an Herminie. Die Frustration scheint er auf seine Heimatstadt übertragen zu haben, die er nun möglichst bald verlassen wollte und der er zu jener Zeit ein Schmähgedicht widmete:
Frankreichs sechstgrößte Stadt
Ein Viertel ist zwar neu und gut in Stand,
doch die anderen sind verschlissen;
wer dumm ist, baut auf Sand,
hat in Geschäften kein Gewissen.
Für die Wissenschaft verlorene Tröpfe
an einem Orte voller Schmutz,
ein paar Tausend leere Köpfe,
denn Dummheit wird nicht abgeputzt.
Reis und Zucker, Leute fürs Geschäftemachen,
verstehen sich bloß auf Geldsachen,
die sie Tag und Nacht bedrängen.
Die Frauen ziemlich unansehnlich,
der Klerus taugt nichts, der Präfekt ist dämlich.
Das ist Nantes – die Stadt ohne Fontänen.
Dass die Nantaiser kein Gewissen hätten, kann als Anspielung auf den lukrativen Sklavenhandel verstanden werden, dem die Stadt einen großen Teil ihres Wohlstands verdankte. Von Nantes aus starteten seit Mitte des 17. Jahrhunderts Expeditionen an die afrikanischen Küsten, wo die Gefangenen geladen und nach Übersee gebracht wurden. Anfang des 18. Jahrhunderts kontrollierte Nantes ganze 75 % des französischen Sklavenhandels. Mitunter wurden während der zweimonatigen Überfahrt bis zu 650 Menschen auf engstem Raum im Zwischendeck transportiert. Insgesamt dürften von Nantaiser Reedern gut eine halbe Million Personen nach Amerika verschifft worden sein. Der Handel förderte in Nantes zugleich eine ganze Zulieferindustrie, denn Sklaven wurden nicht allein mit Geld, sondern auch mit bedruckten Stoffen bezahlt, die zum Teil in eigenen Manufakturen hergestellt wurden. Nachdem erste Verbote von 1818 und 1827 nicht eingehalten wurden, schaffte erst das Gesetz von 1831 den Sklavenhandel endgültig ab. Im letzten Jahrzehnt hatte dieses Geschäft in Nantes nochmals eine Hochphase erlebt, denn zwischen 1818 und 1831 brachen von dort noch über 300 Schiffe auf.
In Nantes gab es keine Perspektive für literarische Ambitionen, wer hierin reüssieren wollte, musste in die Hauptstadt. Das hatte die Fiktion in Figuren wie Rastignac aus Balzacs Vater Goriot oder D’Artagnan aus Dumas’ Drei Musketieren bereits ebenso vorgemacht wie die Wirklichkeit selbst. Auch Jules Verne träumte davon, sich einen literarischen Namen zu machen, sein Vater jedoch hatte andere Pläne mit ihm. Als ältester Sohn war er dazu bestimmt, die Anwaltskanzlei zu übernehmen, während sein jüngerer Bruder Paul im Dezember 1847 auf eine längere Reise als Steuermannsjunge nach La Réunion fahren durfte. Bei aller Freundschaft zwischen den Brüdern scheint sich in jenen Jahren auch etwas Eifersucht in die Beziehung der beiden gemischt zu haben. Denn Paul war nicht nur der bessere Schüler gewesen, sondern durfte nun einen Weg einschlagen, von dem auch sein älterer Bruder einstmals geträumt hatte. In einem Brief Jules Vernes an die Mutter vom 14.März 1853 findet sich eine Aussage, die auf ein ambivalentes Verhältnis zu Paul hindeutet: »Der Brief von Paul ist bezaubernd, er ist wirklich ein guter Junge, und niemals habe ich Buffons Ausspruch Im Stil steckt der Mensch stärker nachempfunden. Ach ja! O ihr Kinder, die ihr in der Jugend nicht fleißig gelernt habt! Aber es ist doch glücklicherweise stets so, dass die fleißigen Kinder in der Jugend dumm und erwachsen zu Schwachköpfen werden.« Das klingt nicht nach ungetrübter Harmonie, sondern eher nach einer Mischung aus Rivalität und Achtung, wie sie bei fast gleichaltrigen Brüdern nicht ungewöhnlich ist.
Aus Angst vor den Versuchungen der Hauptstadt hatte Vater Pierre entschieden, dass Jules zunächst in der Provinz bleiben sollte, um dort unter seiner Anleitung das Jurastudium zu beginnen und nur zu den Prüfungen nach Paris zu fahren. So büffelte der Sohn ein Jahr lang, um im April 1847 die ersten und im Juni 1848 die zweiten Prüfungen abzulegen und damit den akademischen Grad des Bakkalaureus zu erlangen. Gewiss, Jules war nicht ganz auf sich allein gestellt, denn sein Vater stand ihm dabei zur Seite, aber die Erfahrung, dass man sich ohne institutionellen Rahmen in ein Wissensgebiet einarbeiten konnte, dürfte doch etwas Neues gewesen sein. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil darin eine Schlüsselkompetenz für sein späteres Schreiben lag, bei dem er sich für jeden Roman neues Wissen systematisch anzueignen hatte.
Zugleich arbeitete Verne auch schon fleißig an literarischen Texten. In der Nachfolge Victor Hugos, des Oberhaupts der romantischen Schule Frankreichs, versuchte er sich neben Poesie auch in Bühnenwerken und einem Schauerroman mit dem Titel Un prêtre de 1839 (Ein Priester von 1839). Schon als 17-jähriger hatte er mit dem romantischen Versdrama Un drame sous Louis XV begonnen, und noch vom Schulunterricht inspiriert war das 1846 begonnene Stück La Conspiration des poudres (Die Pulververschwörung), das sich dem gescheiterten Sprengstoffanschlag von Guy Fawkes auf das englische Parlament aus dem Jahre 1605 widmete. Zusammen mit der fünfaktigen Tragödie Alexandre VI über den Papst Rodrigo Borgia lagen seine Anfänge somit in drei Versdramen, die formal ambitioniert historische Stoffe verarbeiteten, in denen nach dem Vorbild Hugos historische Personen mit fiktionalen Figuren verbunden wurden. Keines der Stücke wurde je aufgeführt. Auch wenn sie literarhistorisch lediglich als Beispiele einer epigonalen Nachfolge Hugos zu bewerten sind, stellen sie beeindruckende Talentproben dar und weisen auf eine für einen jungen Menschen ungewöhnliche Leistungsfähigkeit hin. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Verne mit seinem Fleiß und seiner Zielstrebigkeit zwischen zwei Instanzen vermittelte: Er blieb vorerst ein gehorsamer Sohn, der sich den Plänen seines Vaters beugte, leugnete aber nicht seine innere Berufung zum Schriftsteller. Diese musste er jedoch erst unter Beweis stellen, und zwar zuallererst dem Vater selbst, unter dessen Vormundschaft er rechtlich bis zu seinem 21. Lebensjahr stand.
Mit den politischen Unruhen vom Februar 1848 brach die zweite und letzte Revolution in Jules Vernes Leben aus. Bei der ersten, 1830, war er zwar gerade zwei Jahre alt gewesen, wollte sich aber noch an die Schüsse in den Straßen Nantes erinnern. Auch damals waren Missernten der Ursprung des Umschwungs gewesen, aus dem die Julimonarchie hervorging, unter der Verne politisch aufgewachsen war und die nun achtzehn Jahre später aufgelöst wurde. Sie war eine konstitutionelle Monarchie gewesen, in welcher der König und seine Minister vom Parlament weitgehend unabhängig regierten. Im öffentlichen Auftreten gab sich Bürgerkönig Louis Philippe als Vertreter des Bürgertums und erkannte damit an, dass er seine Regierung einem Volksaufstand verdankte. Wählen durfte jedoch nur der Anteil der männlichen Bevölkerung, der die meisten Steuern zahlte. Die zentrale politische Richtlinie der Julimonarchie lag in dem so genannten juste milieu, darunter verstand man eine Doktrin der politischen Mitte, die nur aus den spezifischen historischen Kontexten der 1830er Jahre heraus zu verstehen ist. Die in Rouen erschienene anonyme und undatierte Schrift Qu’est-ce qu’un homme du juste milieu? (Was ist ein Mann des juste milieu?) definiert den Vertreter des juste milieu politisch als jemanden, »der die Rückkehr sowohl zu den monströsen Auswüchsen des Ancien Régime, als auch die blutige Anarchie der Ersten Republik, den Despotismus des Kaiserreichs und die Heuchelei der Restauration ablehnt; und vielmehr davon überzeugt ist, dass das einzige Mittel, die Freiheiten der Revolution von 1830 zu bewahren, darin liegt, sie in vernünftigen Grenzen zu halten.« Diese Überzeugungen wurden vor allem vom Bürgertum verinnerlicht und haben auch Jules Verne tief geprägt, wie sich immer wieder zeigen sollte. Auch wenn die Bezeichnung juste milieu selbst weder in den Briefen noch in den Romanen fällt, bleiben seine Haltungen in der Regel innerhalb der von dieser Doktrin gesetzten Rahmen.
Im Sinne des juste milieu gab es in der Julimonarchie von allem etwas: etwas Revolution in ihrem Ursprung, etwas Monarchie in ihrer Form und etwas Demokratie im Gewand ihrer Verfassung. Während die Präsenz des Adels in politischen Ämtern spürbar zurückging, die Wirtschaftspolitik weitgehend liberal war und mit ihrer Finanzierung des Eisenbahnbaus einen ersten kapitalistischen Schub lieferte, war das Regime in Sachen Pressefreiheit und Ausweitung des Wahlkörpers hingegen eindeutig repressiv. Dieses Konstrukt war von vornherein wackelig, wie unter anderem ganze sieben Attentate auf Louis Philippe und ein gescheiterter Putsch von Louis Napoléon Bonaparte bezeugen.
Einer der Köpfe dieses Systems war der Minister François Guizot, ein Gegner der Volkssouveränität, der Klientelpolitik betrieb und die Öffentlichkeit und die Abgeordneten massiv beeinflusste. Dies führte zwar zu der gewünschten Konsolidierung der königlichen Macht, brachte die Regierung aber zugleich auch in Misskredit. Hatte Louis Philippe die Hungersnöte von 1846 und 1847 noch überstanden, so wurden der Vorwurf der Korruption und der Protest gegen seinen Immobilismus immer heftiger. Nachdem der König ein Bankett zur Reform des Wahlrechts verboten hatte, kam es am 21. Februar 1848 zu ersten Aufständen in Paris. Nach vergeblichen Versuchen, sich doch noch zu halten, dankte Louis Philippe am 24. Februar 1848 ab und ging wie sein Vorgänger Karl X. ins Exil nach Großbritannien. Unter dem Dichter Alphonse de Lamartine wurde eine Übergangsregierung gebildet und die zweite Republik ausgerufen. In diesen Zeiten des Wandels begann auch für Verne ein neuer Lebensabschnitt, als er im Revolutionsjahr 1848 nach Paris ging.
Im August 1848 bestand Verne die Prüfungen des zweiten Studienjahrs. Bisher war er für die Aufenthalte in Paris im Haus seiner Großtante untergekommen, am 10. November dann ging er dauerhaft in die Hauptstadt, um sein Studium abzuschließen. Danach sollte er den Vorstellungen seines Vaters gemäß wieder in die Heimat zurückkehren und dort als Anwalt arbeiten. Tatsächlich erwies sich der Abschied von Nantes jedoch als endgültig.
Die stark ausgeprägte Regionalidentität der Bretonen führte dazu, dass Verne in Paris zunächst von Landsleuten umgeben war, als er mit seinem Studienkollegen Édouard Bonamy aus Nantes eine Wohnung in der Rue de l’Ancienne-Comédie Nr. 24 im Quartier Latin bezog. Zu seinen engsten Studienfreunden gehörte auch der Nantaiser Reedersohn Aristide Hignard, der sich in Paris als Komponist etablieren wollte und mit dem Verne schon bald gemeinsam Lieder und Opern verfasste.
Noch war allerdings nicht entschieden, welchen Weg Verne genau einschlagen würde. Die folgenden Jahre war er daher ganz damit beschäftigt, zu sich selbst zu finden. Die politischen Unruhen des Jahres 1848 waren keineswegs mit der Februarrevolution beendet worden. Eine der Maßnahmen der provisorischen Regierung hatte darin bestanden, mit der Errichtung von Nationalwerkstätten das Recht auf Arbeit umzusetzen. Die neu geschaffene Institution stellte im großen Stil Arbeitssuchende ein, um sie in öffentlichen Großprojekten wie dem Bau der Bahnhöfe Montparnasse und St. Lazare einzusetzen. Das volkswirtschaftliche Experiment wurde allerdings schon wenige Monate später wieder abgebrochen, was die betroffenen Arbeiter am 22. Juni auf die Straßen trieb. Die Regierung reagierte mit aller Härte. Unter der militärischen Führung von Louis-Eugène Cavaignac wurde der so genannte Juniaufstand in einem Blutbad ertränkt, dem über 6.000 Menschen zum Opfer fielen. Im Rückblick sind diese Vorkommnisse deshalb von hoher historischer Bedeutung für das 19. Jahrhundert, weil sich das revolutionäre Proletariat hier eindeutig vom Bürgertum abspaltete. Der Klassenkampf, den sozialistische Theoretiker bereits vorausgesagt hatten, war damit eröffnet und sollte den weiteren Verlauf des Jahrhunderts politisch prägen.
Der junge Verne gehörte dem Bürgertum an und war viel zu sehr damit beschäftigt, sich eine Existenz aufzubauen, als an diesen Ereignissen teilzunehmen. »Was mich betrifft, so schließe ich, klick klack, meine Tür und bleibe Zuhause, um zu arbeiten, solange man mich in Ruhe lässt«, schreibt er am 12. Dezember 1848 an seinen Vater. Als er im August die Möglichkeit hat, die Abgeordnetenkammer zu besuchen, interessiert er sich dementsprechend nicht für die politischen Debatten, sondern für die dort versammelten Dichter, neben Lamartine vor allem für seinen verehrten Victor Hugo, der eine dreißigminütige Rede hielt. Verne war so aufgeregt, dass er »eine Dame umgeworfen und einem Unbekannten die Operngläser aus der Hand gerissen« haben will, um sein Idol zu sehen, wie er dem Vater berichtete.
Vernes Selbstfindung verläuft einerseits über die Kontakte, die er zu literarischen Zirkeln in der Hauptstadt knüpft, und andererseits über die Auseinandersetzung mit seinem Vater. Seine langen Briefe jener Jahre und sein wiederholtes Klagen darüber, dass er trotz der vielen Verwandten so wenig Post erhalte, bezeugen, wie eng der Familienzusammenhalt war. Noch als 28-jähriger sollte Verne sich nicht scheuen, der Mutter sein Liebesleid zu klagen. Als Familienoberhaupt und Vormund spielte allerdings Vater Pierre die zentrale Rolle, denn der finanziell abhängige Verne brauchte dessen Förderung, um sich emanzipieren zu können. Ein radikaler Bruch hätte zwar sowieso nicht zu dem tiefen Respekt gepasst, den er vor dem Vater hatte, er hätte ihn sich auch gar nicht erlauben können. Eine literarische Karriere erforderte Hartnäckigkeit und Geduld, und für diese möglicherweise lange Wartezeit benötigte er finanzielle Unterstützung. Verne musste also nicht nur standhaft bleiben, sondern auch den Vater von seiner Berufung überzeugen.
Dabei war Pierre Verne den Künsten gegenüber durchaus aufgeschlossen und hielt literarische Fähigkeiten grundsätzlich für eine Schlüsselqualifikation. Nicht zuletzt deshalb korrigierte er die Briefe seines Sohnes orthografisch und stilistisch und diskutierte dessen literarische Werke mit ihm. Allerdings lehnte er die Schriftstellerei als hauptberufliche Tätigkeit ab. Anwalt zu sein, versprach ein gutes Auskommen, die Kunst hingegen war prekär. Das sah sein Sohn anders: »Mein Ziel ist es, Geld zu verdienen, und nicht, mir eine andere Zukunft aufzubauen. Lieber Papa, du sagst, dass Dumas und andere keinen roten Heller besäßen. Aber das liegt daran, dass es ihnen an Ordnung, nicht aber an Geld fehlt. A. Dumas verdient seine 300.000 Francs im Jahr. Dumas jr. locker 12 bis 15.000 Francs, Eugène Sue ist Millionär, Scribe vierfacher Millionär, Hugo hat 25.000 Rente, Féval, alle und jeder sind ganz und gar wohlhabend und bereuen es nicht, diesen Weg eingeschlagen zu haben!«
Ebenso gewichtig war allerdings auch, dass der Vater die Literaturszene für moralisch bedenklich einschätzte und Künstler für »exzentrisch« hielt. Und das bedeutete eine scharfe Verurteilung, denn exzentrisch hieß vor allem, mit der katholisch-moralischen Norm zu brechen. Jules musste ihn in dieser Hinsicht immer wieder beruhigen und beschwichtigte, dass die Bürger aus Nantes in Wirklichkeit nicht weniger exzentrisch seien als die Pariser Künstlerszene. Und die wichtigste Botschaft an den Vater war dabei, dass der Lebensstil nicht vom Beruf abhänge und man auch als Künstler ein ruhiges und zufriedenes, und das heißt bürgerlich-katholisches Leben führen könne.
Trotz aller Meinungsverschiedenheiten blieb der Ton der Korrespondenz stets ruhig und höflich. Verne zollte dem Vater immer die Ehre, die diesem in der katholischen Familienkultur kraft seiner Rolle zustand und unterzeichnete oft mit »dein dich respektierender Sohn«. Dementsprechend ging er grundsätzlich auf die Ratschläge des Vaters ein, egal wie wenig er mit ihnen einverstanden war. Als der Sohn sich in einem Brief einmal beiläufig auf ein Goethezitat – »nichts, was uns glücklich macht, ist eine Illusion« – beruft, reagiert der Vater empört, weil er darin einen Freibrief zu unmoralischem Verhalten liest. Sofort stellt Verne klar, dass mit Glück keineswegs Vergnügen gemeint sei. Noch deutlicher wurden die Meinungsverschiedenheiten, als Verne dem Vater im Oktober 1851 die einaktige Charakterkomödie De Charybde en Scylla (Von Charybdis nach Skylla) schickte. Darin karikierte er eine Gruppe von fünfzigjährigen Heiratswilligen, die sich nicht einig werden, weil die Ehe letztlich eine Einschränkung der Rechte für die Frau mit sich bringt, die dementsprechend versucht, den Mann auf ihre Weise zu unterjochen. Pierre ging es definitiv zu weit, dass sein Sohn das heilige Sakrament der Ehe als fragwürdige Institution hinstellte. Im Briefwechsel darauf folgten erneut beschwichtigende Hinweise des Sohnes und das Versprechen, dass er dies überarbeiten werde. Tatsächlich hat Verne den Text jedoch nicht mehr geändert.
Der Sohn suchte somit zwar das Mentorat des Vaters und band ihn geschickt mit ein, ging keiner Diskussion aus dem Weg und versuchte, es dem Vater recht zu machen. Aber das bedeutete nicht automatisch, dass er es immer gänzlich ernst meinte. Verne gestand solche Kommunikationsstrategien in einem anderen Zusammenhang sogar selbst ein. Als er dem Vater Ende Dezember 1848 von seinen ersten Erfahrungen in den literarischen Zirkeln berichtet, stellt er selbstironisch fest, dass er bei allen gut angekommen sei, denn: »Ich rede das nach, was man mir vorsagt, und so mochten mich alle Leute! Wie sollte man gerade mich auch nicht charmant finden, wenn ich mich immer auf die Seite desjenigen schlage, der gerade das Wort führt!«
Sollte das etwa auf jugendlichen Mangel an Selbstvertrauen oder gar Mangel an Charakter hinweisen? Ich meine, dass darin vielmehr eine zentrale Eigenschaft Vernes zum Ausdruck kommt, die ihn zugleich als Mensch und als Künstler beschreibt: nämlich sein sensibles Gespür dafür, welche Erwartungen sein jeweiliges Gegenüber hat. Im menschlichen Umgang zeigte sich dies daran, dass Verne tatsächlich sein ganzes Leben lang in keine schweren persönlichen Konflikte verwickelt wurde. Andererseits führte dies dazu, dass Verne allen gegenüber meist eine höfliche Distanz beibehielt, die von Ironie und Humor geprägt war. Das zeichnet zwar grundsätzlich den Kommunikationsstil des französischen Bürgertums aus, gilt für Verne aber in besonderem Maße. Zu Konflikten konnte es demnach nur dann kommen, wenn diese Distanz nicht aufrecht erhalten werden konnte wie später im Falle der Beziehung zu seinem Sohn Michel. Dem Schriftsteller Verne wiederum schenkte dies die Fähigkeit, sich in verschiedene Rollen und Figuren einfühlen und sich auf unterschiedliche Publika einstellen zu können. Ausdruck dafür ist die erstaunliche Breite seiner schriftstellerischen Anfänge in den 1850er Jahren.
Anders als heute, wo ein breites Netz aus Literaturpreisen und Förderinstrumenten reichliche Sprungbretter für Nachwuchstalente bieten, verlief der Weg in die Literaturszene zu Vernes Zeiten unter anderem noch durch den Salon. Dieses kulturelle Erbe des Ancien Régime bestand aus Treffen geladener Gäste im Haus einer einflussreichen Gastgeberin, bei der man Konversation pflegte sowie kleine Aufführungen von Musik, Tanz oder Theater darbot. Junge Talente, die wichtige Kontakte knüpfen wollten, musste es gelingen, in einen solchen Salon eingeladen zu werden, um eine Chance zu erhalten, sich über geistvoll-witzige Unterhaltung oder den Vortrag aus eigenen Werken zu empfehlen. Verne frequentierte diese Kreise schon ab Ende 1848, und zwar zunächst den Zirkel von Mme Barrère, einer Bekannten seiner Mutter. Schon bald freundete er sich mit Personen an, die seine Entwicklung maßgeblich beeinflussen sollten.
1849 lernte er den nur vier Jahre älteren Alexandre Dumas jr. kennen und baute ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm auf, das so weit ging, dass sie 1850 gemeinsam das Theaterstück Les Pailles rompues verfassten, auch wenn der Anteil von Dumas daran offenbar eher gering war. Die Verbindung zu Dumas gab Vernes Karriere einen kräftigen Schub. Seit 1848 hatte sich Dumas mit dem anhaltenden Erfolg seines melodramatischen Romans Die Kameliendame einen Namen gemacht, der den noch völlig unbekannten Verne mit sich riss. Les Pailles rompues wurde gedruckt und am 12. Juni 1850 in das Vorprogramm des Théâtre historique aufgenommen. Mitte der 1850er und 1871/72 sollte es jeweils weitere vierzig Aufführungen erleben. Damit hatte sich Verne erstaunlich schnell aktiv in die Autorenszene lancieren können. Die eigentliche Herausforderung bestand jedoch darin, sich dort auch zu etablieren, und in dieser Hinsicht sollte er noch einige Geduld aufbringen müssen.
Sein Ziel bestand zunächst darin, als Bühnendichter erfolgreich zu werden. In den folgenden Jahren legte Verne Werke aus ganz unterschiedlichen Bühnengattungen vor: das Vaudeville Une promenade en mer, die von der commedia dell’arte geprägte Komödie Quiridine et Quidinerit, die er Vater und Sohn Dumas vorlas, das Künstlerdrama La Guimard über die Beziehung des Malers Jacques-Louis David zu der Tänzerin Marie-Madeleine Guimard sowie die bereits erwähnte Charakterkomödie De Charybde en Scylla, um nur einige zu nennen.
Die positive Aufnahme seines Talents, der Aufbau eines Netzwerkes und die ersten greifbaren Erfolge bewirkten, dass Verne nun eine klare Haltung gegenüber seinem Vater einnehmen konnte. Als dieser ihm im März 1851 eine Stelle als Anwalt in Nantes anbot, legte der Sohn die Karten offen auf den Tisch: »Die Literatur geht vor, nur dort kann ich erfolgreich sein, denn mein Geist ist ganz auf sie fixiert!« Beide Laufbahnen parallel zu fahren, hielt er für unmöglich, außerdem würde eine Rückkehr nach Nantes alle Kontakte wieder zunichte machen. Aber so schnell gab der Vater nicht auf. Anfang 1852 unternahm er einen weiteren Versuch und bot dem Sohn an, seine eigene Kanzlei zu übernehmen. Das war natürlich verlockend, denn Pierre Verne war höchst angesehen in Nantes, und bedeutete Wohlstand und Sicherheit, wenn man sich nicht ganz ungeschickt anstellte. Aber in der Zwischenzeit war Vernes künstlerisches Selbstbewusstsein ebenfalls weiter angestiegen. Mittlerweile hatte er verstanden, dass er nicht an Mangel an Talent, sondern vielmehr an Mangel an Geduld oder an Entmutigung scheitern würde. Das musste man dem Vater allerdings schonend beibringen, denn Verne war wohl bewusst, dass dieser ihm sein berufliches Lebenswerk anbot und damit alles in die Waagschale warf, was er besaß. Einfühlsam wie er war, versuchte er in einem Brief vom 17. Januar 1852 aus der Sicht des Vaters zu argumentieren: »Dadurch, dass ich weiß, wer ich bin, verstehe ich, was eines Tages aus mir werden würde. Wie sollte ich die Verantwortung für eine Kanzlei übernehmen, die du zur Blüte geführt hast? Da sie unter meinen Händen nichts gewinnen könnte, könnte sie nur zugrunde gehen.« Das musste den Vater überzeugt haben, denn ab jetzt insistierte er nicht weiter.
Bei all dem Aufwind einerseits hatte Verne andererseits ab seiner Studienzeit auch mit schweren gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen. Über die Jahre hinweg machten ihm erhebliche Verdauungsprobleme zu schaffen, die mit Erbrechen und Durchfall einhergingen. Im Oktober 1854 klagte er, dass er fast nichts mehr essen könne, ohne schwere Koliken zu bekommen. Am 25. November 1854 dann schrieb er seiner Mutter »einen jener unklassifizierbaren Briefe, die man, sich die Nase zuhaltend, auf der Toilette lesen muss!« Es kostete ihn spürbare Überwindung, ihr verständlich zu machen, dass er Probleme mit Inkontinenz hatte, weil sein Rektum heraustrat und daher nicht mehr richtig schloss. Doch damit nicht genug. Offenbar als Folge einer Mittelohrentzündung kam noch eine Gesichtsmuskellähmung hinzu. Vor allem das Jahr 1855 erwies sich gesundheitlich als so schwierig, dass er im Januar und Februar knapp drei Wochen das Haus nicht verließ. Da blieb nichts als Galgenhumor: Wenn er nicht lache, schreibt er in einem Brief, nicht zwinkere oder die Stirn runzele, dann merke man gar nichts von der Lähmung. Also dürfe er nur noch Gesellschaften frequentieren, in denen nicht gelacht werde. Diese Lähmungen sollten ihn auch in Zukunft nicht in Ruhe lassen. Zum vierten Anfall kam es 1864. Verne beschreibt ihn anschaulich in einem Brief vom 8. August dieses Jahres: »Die eine Seite meines Gesichts ist lebendig, die andere tot. Die eine bewegt sich, die andere rührt sich nicht mehr! Eine schöne Lage ist das! Von der einen Seite sehe ich intelligent (bitte erlauben Sie mir das Wort um der Antithese willen), von der anderen wie ein Idiot aus.«
Was die politische Geschichte anging, so erlebte Verne 1851 im Alter von 23 Jahren bereits seinen dritten Umsturz, mischte sich aber erneut nicht in die Auseinandersetzungen ein. 1848 war Louis Napoléon Bonaparte zum Staatspräsidenten gewählt worden, der sich gleich daran machte, einen Staatsstreich vorzubereiten, den er am 2. Dezember 1851 umsetzte. Ganz nach den Regeln Machiavellis zog Louis Napoléon seine grausamen Säuberungsmaßnahmen gleich in den ersten Wochen durch. So baute er als Napoléon III. auf Festnahmen, Deportation und Exil ein Regime auf, das wegen seines wirtschaftlichen Erfolgs und seiner erstaunlichen kulturellen Blüte gut zwanzig Jahre andauerte und als Zweites Kaiserreich in die Geschichte einging.
Le Colin-MaillardLes Compagnons de la Marjolaine