Philip Matyszak
Aus dem Englischen von Jörg Fündling
Die englische Originalausgabe ist 2010 bei Thames & Hudson
unter dem Titel The Greek and Roman Myths. A Guide to the
Classical Stories erschienen.
© 2010 Thames & Hudson Ltd., London
Abb. S. 1: Theseus erschlägt den Minotaurus
Abb. S. 2: Athene. Römische Kopie einer griechischen Statue
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Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG.
© der deutschen Ausgabe 2015 by WBG
(Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
2. Auflage 2015, die 1. Auflage erschien 2012 im Primus Verlag.
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder
der WBG ermöglicht.
Einbandgestaltung: Christian Hahn, Frankfurt a. M.
Einbandabbildung: der Tod des Ajax. The Art Archive/Bibliothèque
des Arts Décoratifs Paris/Gianni Dagli Orti
Gestaltung & Satz: Anja Harms, Oberursel
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-2945-5
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-3097-0
eBook (epub): 978-3-8062-3098-7
1 EINLEITUNG
Warum interessieren griechische und römische Mythen?
2 IM ANFANG
Vom Chaos zum Kosmos in vier Schritten
3 PANDORAS KINDER
Die menschliche Seite
4 DIE GROßEN GÖTTER
Erste Generation
5 OLYMPIER
Die zweite Generation
6 NIEDERE GOTTHEITEN
Magische Wesen und Vorfahren von Helden
7 HEROISCH
Helden und ihre Schicksale
8 HERAKLES, ÖDIPUS UND THESEUS
Das Goldene Zeitalter der Mythologie
9 KAMPF UM TROJA:
Der Trojanische Krieg
10 DIE HEIMKEHR DER HELDEN
Odyssee und Aeneis
Anhang
Zum Weiterlesen
Index
Bildnachweis
Falls die Mythen der Griechen und Römer nichts weiter wären als eine Geschichtensammlung über magische Verwandlungen und zankende Götter, hätte es wenig Sinn, ein Buch über sie zu lesen – allein schon deshalb, weil es eine Unmenge solcher Mythen gibt, allesamt randvoll mit verwirrenden Namen und Stammbäumen. Wozu brauchen wir Wissen über diese Details und was soll uns daran schon interessieren?
Interessant wird es deshalb, weil die Mythen uns die Weltsicht der antiken Menschen beschreiben und weil die typischen Gestalten in ihnen – Heroen, ins Unglück gestürzte Frauen und mächtige, aber beängstigend selbstherrliche Götter – auch das Selbstverständnis der Griechen und Römer und ihre Beziehung zur Welt geprägt haben. Tatsächlich sind viele dieser Gestalten dermaßen kraftvoll, dass man sie heute immer noch benutzt. Wenn die Psychologen (die ihre Berufsbezeichnung mit Psyche, einer mythischen Prinzessin, gemeinsam haben) von einem Ödipuskomplex oder einem Fall von Narzissmus sprechen, greifen sie auf mythische Gestalten zurück, denn die Mythen, in denen Ödipus und Narkissos auftreten, beschreiben bestimmte Aspekte der menschlichen Existenz so treffend, dass sie nie überboten worden sind.
Und damit kommen wir zu einem weiteren Grund, die Mythen zu lesen: Diese Geschichten haben dreitausend Jahre nicht deshalb überlebt, weil sie „Kulturparadigmen“, „thematische Motifemsequenzen“ oder sonst ein Modewort darstellen, das gerade Konjunktur an den Universitäten hat, sondern weil sie letzten Endes gewaltige und ungeheuer unterhaltsame Erzählungen sind.
Außerdem ist die Welt der Mythologie gar nicht so chaotisch, wie es auf den ersten Blick scheint. Viele Geschichten kreisen jeweils um ein gemeinsames Thema. Helden werden tief gebeugt, empfangen aber zum Ausgleich Geschenke und besondere Kräfte, Jungfrauen erleiden Liebesschmerzen, doch sie werden letzten Endes belohnt. Die finstereren Erzählungen sagen uns, dass die unerbittlichen Fäden unser Geschick bestimmen, welche die Schicksalsgöttinnen weben, zumessen und abschneiden, und dass der ganze Sinn der Übung darin besteht, dieses Geschick tapfer und edelmütig zu ertragen.
Außerdem gibt es noch ein übergreifendes Thema der Mythen, eines nämlich, das uns lehrt, wie – all ihren Konflikten, Streitigkeiten und Missverständnissen zum Trotz – Götter, Halbgötter und Menschen gegen die Ungeheuer und Giganten zusammenhalten, die für die Mächte des Aufruhrs und der willkürlichen Vernichtung stehen. Während es in modernen Geschichten oft um den Sieg des Guten über das Böse geht, handelte es sich beim großen Kampf der Antike um Kultur und Vernunft im Widerstreit mit Barbarei und Chaos. Zuletzt geht es in den Mythen darum, wie humane Werte in ein wahlloses, feindseliges Universum getragen werden. Und deshalb haben – obwohl es in der Welt von heute manchmal vielleicht so scheint, als behielten blinder Hass, willkürliche Zerstörungswut und Irrationalität die Oberhand – die antiken Mythen nichts von ihrem Zauber verloren.
Dieses Buch ist eine Art Reiseführer zum Verständnis des gemeinsamen Erbes an Geschichten und Glauben, das die griechische und die römische Welt verband. Hauptsächlich erreicht werden sollen drei Ziele.
In vielerlei Hinsicht gibt es – wenn man den Begriff im allerbreitesten Sinn verwendet – überhaupt nur einen einzigen klassischen Mythos. Dabei handelt es sich um eine Geschichte, die sich über ein Jahrtausend oder noch länger herausgebildet hat und vor 800 v. Chr. mit Volksüberlieferung und -erzählungen aus Griechenland begann, bis sie im 2. Jahrhundert n. Chr. durch römische Schriftsteller den letzten Schliff erhielt. Sie ist die größte Gemeinschaftsproduktion, die je geschrieben wurde, und wird dadurch nur noch respekteinflößender, dass sie die Gemeinschaftsleistung zweier verschiedener Kulturen ist. Das Ergebnis ist eine gewaltige, weit ausholende Geschichte mit zahlreichen Nebenhandlungen und Tausenden von Personen, die aber dennoch eine durchlaufende Haupterzählung, klar herausgearbeitete Hauptrollen sowie Anfang, Mitte und Ende hat.
Ein Ziel dieses Buches ist es deshalb, seinen Lesern einen Überblick über den Mythos als Ganzes zu vermitteln, als eine Geschichte, die jedes griechische und jedes römische Kind kannte.
Doch dieses Buch hat noch einen weiteren Zweck, denn um ein zuverlässiger Wegweiser zu sein, muss es nicht nur die Geschichten selbst erklären, sondern auch, wie die Menschen der Antike sie begriffen. Wir müssen in den Kopf der Griechen und Römer hineinblicken und dadurch ihre Welt und ihre Götter so sehen, wie sie selbst sie sahen. Dazu müssen wir den Standpunkt eines Griechen oder Römers einnehmen, der einen bestimmten Mythos gerade zum ersten Mal hört. Dabei lernen Sie den Hintergrund, die meisten Hauptfiguren und deren Eigenschaften kennen, Sie erfahren, wo eine bestimmte Geschichte in die fortlaufende Gesamterzählung passt und wie sich die Motive der Beteiligten verstehen lassen. Weil diese Mythen zugleich den Ausgangspunkt der großen Tragödien eines Euripides, Sophokles und anderer Dichter bilden, bedeutet das Verstehen des Mythos auch eine vertiefte Würdigung jener Hauptwerke der westlichen Kultur, die diese Bühnenautoren hervorgebracht haben.
Schließlich sind diese Mythen so lebendig und so tief im westlichen Bewusstsein verwurzelt, dass sie es nie verlassen haben. Sie haben zahllose Maler, Bildhauer, Komponisten und Schriftsteller angeregt, seit den Tagen der Renaissance mehr denn je, und deshalb werfen in diesem Buch spezielle Einschübe in Kastenform ein Licht auf das nachklassische Weiterleben jedes Mythos. Nicht zuletzt gebrauchen wir in der Gegenwart Ausdrücke und Gegenstände, die mit den antiken Göttern zu tun haben, und bemerken das häufig überhaupt nicht. Das Buch macht zahlreiche Anspielungen auf Mythen bewusst, die uns im heutigen Leben – oft in völlig unerwarteten Zusammenhängen – begegnen; die Hoffnung des Autors geht dahin, dass es auf diese Weise nicht nur zum Verständnis der Leser für die klassische, sondern auch für die moderne Welt beitragen wird.
Die Quellen, aus denen dieser Leitfaden zusammengestellt worden ist, reichen von den Werken Homers und Vergils bis zu den nicht ganz so geläufigen Autoren Hesiod und Ovid; sie schließen dabei Lyriker wie Bakchylides und Pindar, aber auch die Orphischen Hymnen ein. Wo im Quellenmaterial Widersprüche auftreten (besonders zur Frage „wer zeugte wen“), ist meistens diejenige Variante bevorzugt worden, die den Aufbau einer bruchlos fortlaufenden Erzählung begünstigt.
Für die Griechen und Römer begann die Welt strahlend hell, frisch und neu. Wie das oft ist, wenn man jung ist, gab es eine große Menge Unordnung, aber auch ungeheure Lebenskraft und Energie. Die späteren Menschen der klassischen Zeit waren der Überzeugung, das Goldene Zeitalter sei vorbei und ihre Welt sei nur deshalb relativ ordentlich, weil ihr der wilde Überschwang der Jugend fehlte.
Genau wie die Römer glaubten, neugeborene Bärenjunge seien ganz ohne Gestalt und würden erst von ihren Müttern in Form geleckt, so brauchte es erst die großen Erzähler der Antike von Homer bis Vergil, um die Frühstadien der Geschichten der griechisch-römischen Mythologie in ihre spätere Standardform zu bringen. Die folgenden Seiten erzählen die Erschaffung der Welt weitgehend so, wie sie von Hesiod etwa um 720 v. Chr. ausgestaltet wurde. Seine Version, bekannt als die Theogonie, wurde für Griechen und Römer die verbreitetste (aber nicht die einzige) Schöpfungsgeschichte des Universums.
Zuerst war alles Chaos. Die Zeit, der Sternenhimmel, die Erde, die Lüfte und das Wasser waren allesamt untereinander gemischt, und in dieser Mischung steckte weder Sinn noch Ordnung. Das Chaos war endlos und düster, ein gähnender Abgrund, durch den jene durcheinandergemengten Elemente, die einmal die Welt bilden sollten, immerzu stürzten.
Bevor es die Erde gab oder das Meer oder den Himmel, der alles bedeckt, war die ganze Natur in aller Welt dieselbe: [nämlich] was man später Chaos nannte, eine rohe, formlose Masse, nichts als träge Materie, schlecht verbundene, in Zwietracht lebende Samenkörner der Dinge, alle am selben Ort miteinander vermengt.
OVID, Metamorphosen 1,5–9
So enthielt das Chaos schon alles, was jemals sein würde, obwohl noch nichts davon in geordneter Form existierte. Es war, wie die Anhänger des Orpheus es später beschrieben, „das Ei der Welt“. Hier, im unermesslichen Raum, bevor es die Zeit gab, begannen einige Kräfte Gestalt anzunehmen, die zu den ersten geordneten Mächten im Universum wurden. Es waren die großen vier: Eros, Gaia, Tartaros und Nyx/Erebos. Von den Tausenden und Abertausenden göttlicher Wesen, die in künftigen Zeitaltern erscheinen sollten, stammt jedes Einzelne von ihnen ab.
Nachleben in Kunst und Kultur: Eros
Der berühmte Amor als Sieger, den Caravaggio 1602 malte, zeigt Eros als einen liederlichen Jugendlichen mit Dauergrinsen, der spöttisch vor den Tätigkeitsfeldern des menschlichen Strebens steht (dargestellt unter anderem durch Waffen, eine Laute und einen Zirkel), die seine Macht hinwegfegt. Die bei Weitem berühmteste Statue des Eros ist seit 1893 ein fester Punkt im Londoner Stadtbild und steht am Piccadilly Circus – obwohl der Bildhauer Alfred Gilbert mit ihr eigentlich ein göttliches Pendant zu Eros darstellen wollte, nämlich Anteros oder „Gegenliebe“. Es ist eine der ersten Statuen überhaupt, die aus Aluminium gegossen sind.
Eros und sein mächtiger Bogen
Eros Als Erster ging aus dem Chaos der Urgott Eros (Liebe) hervor. Der ursprüngliche Eros war eine ungeheure Macht, vielleicht die stärkste von allen, denn ohne Eros wären die anderen Wesen, die dem Chaos entstiegen, statisch und unveränderlich geblieben, ewig zwar, aber unfruchtbar. Denn Eros verkörperte nicht nur die Liebe, sondern auch das ganze Prinzip der Fortpflanzung. In späteren Zeiten trat er viele seiner Pflichten an andere Gottheiten ab und wurde so zum knuddligen Amor oder Cupido (Begehren) der Römerzeit. Aber wenn wir zu den späteren Erzählungen kommen, grässlich, wie sie manchmal sind, tun wir gut daran, uns zu erinnern, dass das mythische Universum mit Liebe gemacht ist.
Gaia Die Erste, die dem Zauber des Eros verfiel, war Gaia, die Erde, denn nur die Erde kann allein aus sich selbst Dinge hervorbringen – ein Prinzip, das die alten Griechen ebenso wie die Moderne unter dem Namen Parthenogenese oder „Jungfrauengeburt“ kennen. Und so brachte Gaia „ohne süße Liebesvereinigung“, wie Hesiod sagt (Theogonie 132), von sich aus Uranos hervor, der der Himmel war (caelus bei den Römern), und Pontos, das Wasser.
Tartaros Er war das dunkle Gegenstück zu Gaia. Wo Gaia fruchtbar und lebendig war, da war Tartaros steril und tot. In späteren Zeiten wurde der Tartaros zum Kerker für Giganten und Ungeheuer (menschliche wie sonstige), die zu mächtig oder gefährlich waren, um die Erde zu bewohnen. Selbst Eros konnte mit Tartaros nichts anfangen, der folglich keine Nachkommen hervorbrachte.
Nyx Da hatte Eros es mit Nyx schon leichter, „der schwarzen Nacht“ (Theogonie 123f.), die schon eine gewisse Doppelnatur mitbrachte, da sie zugleich Erebos war, die Nacht im Tartaros. Und durch Vermittlung des Eros kamen Nyx und Erebos zusammen und zeugten Hemera, die der Tag wurde, und Aither, der das Himmelsgewölbe ist, die oberen Luftschichten, der Atem der Götter und die Grenze zwischen Tartaros und Gaia. (Aither war zwar eine der Urkräfte des Universums, aber keine besonders kreative, also ist es keine Überraschung, dass – als er später dann doch mit Gaia zusammenkam – ihr Nachwuchs Aergeia war, die Göttin der Trägheit.) Mit der Geburt dieser Wesenheiten waren die Grundzüge des Universums vollständig.
Das dynamische Duo im frühen Universum waren Gaia und ihr „Sohn“ Uranos: die Erde und der Himmel. Wie ihre Urgötterkollegen hatte weder Gaias Äußeres noch ihr Denken Menschengestalt, und eine Kraft wirkte auf die andere ohne Rücksicht auf so menschliche Begriffe wie die Mutter-Sohn-Beziehung oder den Inzest. Was zählte, war nur, dass Gaia das weibliche Element war und Uranos das männliche, das jede Nacht die Erde mit seinem sternenbedeckten Glanz zudeckte. Natürlich lässt sich die Zeit nicht messen, in der das geschah, denn die Zeit musste erst noch geboren werden, und noch immer lag das Chaos, aus dem die ersten vier Kräfte entstanden waren, zwischen der Erde und dem Himmelsgewölbe. Und wie wir ja wissen, ist das Chaos niemals ganz verschwunden.
Von Gaia werde ich singen, der Mutter von allem,
der tiefwurzelnden
und ältesten, die alles, was auf Erden ist, ernährt.
Homerischer Hymnus 30,1f.
Gaia Heute kennen wir Gaia am besten aus der Gaia-Hypothese, die behauptet, dass die Erde tatsächlich ein einziger lebender Organismus ist. Infolgedessen verwendet man den Namen Gaia mittlerweile für alles Mögliche von der Regierungsinitiative bis zur vegetarischen Wurst.
Unsere Lexika kennen Gaia jedoch am besten unter ihrem Aspekt als Ge, die Erde. Das Aufzeichnen (graphē) von Ge ergibt die Geographie, und außerdem haben wir geostationäre Satelliten und die Geophysik. Wenn wir Gaias Knochen studieren, ist das Geologie, und beim Vermessen der Erde kommt es zur Geometrie. Den Bauern, die ja die Erde bearbeiten (geourgos), verdanken wir den Namen Georg, das Land Georgien und den US-Bundesstaat Georgia.
Uranos Am besten kennen wir den Uranus natürlich als siebten Planeten des Sonnensystems. Der Antike war der Planet allerdings unbekannt, denn er wurde erst 1781 entdeckt und anfangs zufälligerweise nach König George III. von England benannt, der, wie wir sahen, der Namensvetter von Uranos’ Partnerin Gaia ist. Das Metall Uran entdeckte man kurz nach dem Planeten, und seinen Namen erhielt das Element als Anerkennung für diese Entdeckung. Genau wie man Uranus für den letzten aller Planeten hielt, sah man im Uran das letzte fehlende Element.
Die Titanen Die Verbindung von Uranos und Gaia war außerordentlich fruchtbar und brachte eine ganze Horde hervor, Wesen, die unter dem Sammelnamen Titanen bekannt sind. Sie nahmen unterschiedliche Gestalten an. Viele davon waren monströs und überlebten dank ihrer Unsterblichkeit, um die Menschheit in späteren Zeiten heimzusuchen. Andere wurden in die Struktur des Universums integriert, während es Gestalt annahm, und wurden für sein Funktionieren unverzichtbar. Zu Letzteren zählten Okeanos, der den Weltfluss verkörperte, welcher sich einmal rund um Gaia schlingt – oder vielmehr um Eurasien und Nordafrika, die alles ausmachen, was die klassische Antike von der Erde kannte. Auch gab es Mnemosyne, die Mutter der Musen, und Hyperion, der seinerseits zum Vater von Helios (dem Sonnengott), Selene (der Mondgöttin) und Eos, der „rosenfingrigen Dämmerung“, wurde.
Titan heißt heute ein großer Saturnmond, „titanisch“ meint „beinahe übermenschlich“. Die Kraft der Titanen hat dem sehr robusten Metall Titan seinen Namen gegeben, ebenso der Titanic – einem Schiff, das dann nicht ganz so robust war wie gedacht. Außerdem wählte man den Namen für eine langlebige Serie US-amerikanischer Interkontinental- und Forschungsraketen.
Monströser Nachwuchs Unter den anderen Kindern von Uranos und Gaia sind das einäugige Volk der Kyklopen sowie die gigantischen, fürchterlichen Hekatoncheires („die Hunderthänder“), von denen jeder fünfzig Köpfe und hundert Arme hatte. Die Letztgenannten bildeten ein beträchtliches Unruhepotenzial, und einigen Erzählungen zufolge ließ Uranos sie in den Tartaros werfen. Andere behaupten, dass Uranos sich weigerte, die Geburt dieser Ungeheuer überhaupt zuzulassen, und sie in Gaias Schoß unter der Erde eingesperrt hielt, sodass sie niemals die Menschenwelt direkt heimsuchten.
Gaia war nicht besonders überzeugt von Uranos’ Umgang mit ihren Kindern und beschloss, es sei an der Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Bei der besagten Zeit handelte es sich um Gaias jüngsten Sohn Kronos, mit dessen Geburt die Chronologie, wie wir sie kennen, Einzug im Universum hielt. Und genau wie die Zeit die Eigenschaft hat, an Leuten unbemerkt vorbeizugehen, die sich amüsieren, so erwischte Kronos den Uranos unvorbereitet, als dieser mit Gaia schlief, und kastrierte ihn durch einen wohlgezielten Hieb mit einer adamantenen Sichel, die seine Mutter ihm vorausschauend zur Verfügung gestellt hatte. Die entsorgten Genitalien fielen ins Wasser und wurden dort zum Samen für die Geburt der Aphrodite, der ältesten jener Gottheiten, aus denen die „Olympier“ werden sollten.
Botticellis Geburt der Venus
Nachleben in Kunst und Kultur: Aphrodite
Die Legende von der Geburt der Aphrodite (die den Römern als Venus bekannt war) gab in den 1480er-Jahren den Anstoß zu einem der bekanntesten Kunstwerke der Renaissance – Sandro Botticellis Geburt der Venus, einer Darstellung der Gottheit, wie sie den Wassern entsteigt. Die Venusgestalt ist vielleicht der schönen Kurtisane Simonetta nachgebildet – besonders da die Muschel im Italien der Renaissance eine Metapher für jenen Körperteil war, den die Venus auf dem Bild bedeckt.
Der geflügelte Schlaf und der Tod tragen einen tödlich verwundeten Krieger davon (attische Vase, um 510 v. Chr.).
Sie wird Aphrodite genannt, weil sie aus Schaum (aphros) geboren wurde … und Eros folgte ihrer Geburt zusammen mit dem schönen Liebesverlangen. Diesen vorbestimmten Ehrenplatz und Herrschaftsanteil aber empfing sie bei den Menschen und den unsterblichen Göttern: im Flüstern der Mädchen, im Lächeln, den Betrügereien, dem Vergnügen, der lockenden Zärtlichkeit des Liebesspiels.
HESIOD, Theogonie 195f.; 201–206
Die Kinder der Nacht Wenn sich jemand fragt, woher das „süße Verlangen“ gekommen war, das bei Aphrodites Geburt Hebammendienste leistete: Auch Nyx hatte sich inzwischen fleißig betätigt. Das Verlangen (Pothos) war noch eines der angenehmeren Elemente in der ziemlich durchwachsenen Gesellschaft der Kinder der Nyx, zu denen Geras (Greisenalter), Hypnos (Schlaf), Thanatos (Tod), Eris (Zwietracht) und Nemesis (Vergeltung) zählten, dazu die schrecklichen Moirai, die drei Schicksalsgöttinnen, die das Geschick von Menschen und Göttern gleichermaßen weben.
Das Neoptolemos-Prinzip besagt, dass das Leid, das ein Mensch verursacht, ihm seinerseits angetan werden wird. Die Griechen betrachteten dies beinahe als Naturgesetz und nannten es nach einem Sohn des Achilleus, der ebenso grausam getötet wurde, wie er viele andere erschlagen hatte. Obwohl Neoptolemos selbst erst viel später lebte, können wir das Prinzip bereits in dieser frühen Phase beim Angriff auf Uranos wirken sehen. Gaia und Uranos lebten weiter zusammen, aber der kastrierte Uranos hörte auf, eine sinnvolle Wechselwirkung mit dem Universum zu entfalten, und verschwand bald von der Bildfläche. Auch Gaia trat in den Hintergrund. Genau gesagt wurde sie zum Hinter- respektive Untergrund und bleibt es bis heute.
Kronos und Rhea Kronos führte eine neue Göttergeneration an und nahm seine Schwester Rhea zur Gattin. Rhea spielt im griechischen Mythos nur eine kleine Rolle, erlebte aber in der römischen Religion ein starkes Comeback als Magna Mater, die Große Mutter, war sie doch Mutter und Großmutter der olympischen Götter. In der heutigen Welt ist Rhea der größte Saturnmond. Das ist nur angemessen, denn bei den Römern entsprach Kronos (mit einer Prise Hades) dem Saturnus, einem Landwirtschaftsgott, der sich im Samstag, lateinisch dies Saturni, erhalten hat.
Gleich mehrere wichtige Frauen im römischen Mythos trugen den Namen Rhea. Rhea Silvia war die Mutter von Romulus und Remus, und eine weitere Rhea war (mit Herakles/Hercules) die Mutter des Aventinus, nach dem der Aventinhügel in Rom benannt ist.
Zu Gaias Kummer entschied Kronos, dass es nach reiflicher Überlegung besser wäre, ihren monströsen Nachwuchs im Tartaros eingesperrt zu lassen. Sobald er einmal diesen restriktiven Stil eingeführt hatte, blieb Kronos sich treu. Er wusste genau, dass Nemesis seinen Fall wegen der Kastration seines Vaters bereits in Bearbeitung hatte und dass das Neoptolemos-Prinzip bedeutete, er werde seinerseits wahrscheinlich unter einem seiner Kinder zu leiden haben.
Die (Nicht-)Geburt der Olympier Die Vergeltung von der Hand seiner Kinder versuchte Kronos abzuwenden, aber weil die Götter unsterblich sind, war es keine Option, seine Nachkommen zu töten. Das Beispiel Uranos deutete an, dass es nicht funktionierte, wenn man sie wieder in ihre Mutter zurückstopfte, also nahm Kronos die Sache in die eigene Hand – vielmehr in den eigenen Magen – und verschluckte seine Kinder, sobald sie geboren waren; ein metaphysisches Spiegelbild der Tatsache, dass die Zeit auf lange Sicht ja wirklich all ihre Kinder verschlingt. Doch während er sich bemühte, das Vorbild seines Vaters zu umgehen, beging Kronos genau denselben Fehler wie dieser und dachte nicht an die Mutterinstinkte seiner Frau. Wie Gaia war Rhea aufgebracht über das Schicksal ihrer Kinder, und wie Gaia war sie bereit, etwas zu unternehmen.
Die Geburt des Zeus Genau wie jedes brave griechische Mädchen späterer Zeiten fragte Rhea ihre Mutter um Rat. Gaia gab Rhea den Rat, wieder zu Hause einzuziehen. Und so kehrte sie, als Rheas Schwangerschaft mit ihrem jüngsten Sohn dem Ende zuging, auf die Erde zurück. Hier nun wurde Zeus geboren, vielleicht in Lyktos oder am Berg Ida oder auch im Diktegebirge, aber jedenfalls auf Kreta. Als Kronos prompt erschien, um den Neugeborenen zu verschlingen, bekam er stattdessen einen dicken Brocken kretisches Gestein, in Windeln gewickelt. Und so ging Kronos in der Überzeugung davon, das Letzte seiner Kinder verzehrt zu haben, während Gaia ihren Enkel Zeus wegbrachte, damit er heimlich großgezogen wurde, genährt vom Honig wilder Bienen und gestillt mit der Milch von Amaltheia, einer der ersten Ziegen.
Nachleben in Kunst und Kultur: Die Geburt des Zeus
Der große flämische Künstler Rubens nahm mythologische Themen zur Grundlage vieler seiner Gemälde. Nach der römischen Mythologie war es Saturn, der Zeus (Jupiter) hervorbrachte und seine übrigen Kinder verzehrte, und Rubens’ Saturn (1636) ist das grauenvolle Bild eines Mannes, der ein lebendiges Kind mit seinen Zähnen in Stücke reißt. Zu Beginn der 1820er-Jahre entwickelte sich dieses Sujet in ein Bild nackten Wahnsinns – auf Goyas Bild Saturn verschlingt einen seiner Söhne. Ganz im Gegensatz dazu stellte der barocke Meister Gian Lorenzo Bernini die Flucht des Zeus in einer reizenden Kleinplastik aus Marmor dar, genannt Die Ziege Amalthea mit dem Jupiterknaben und einem Faun (ca. 1609).
Goyas albtraumhafte Vision des Kronos
Kampf im Himmel. Fresko des Giulio Romano
Nachleben in Kunst und Kultur: Krieg mit den Titanen und Giganten
Die Kriege der Götter gegen Titanen und Giganten waren ein wichtiges Thema für die Renaissance und später für die Zeit der Aufklärung; die Künstler nutzten dabei die Allegorie, die im Gegensatz zwischen aufgeklärtem Denken und unwissender Barbarei lag, für die propagandistischen Zwecke ihrer Auftraggeber. Zu den Beispielen hierfür zählen Giulio Romanos Der Sturz der Giganten vom Olymp (1530–32), Joachim Wtewaels Schlacht der Götter und Titanen (1600) und Francisco Bayeu y Subias’ Olymp: Der Sturz der Giganten (1764).
Der Kampf der Titanen Obwohl Zeus fern von den wachsamen Augen seines Vaters in aller Stille zu voller Macht heranwuchs, war Kronos so mächtig wie listig; wenn Zeus ihn stürzen wollte, würde er Verbündete brauchen. Und so verleitete Gaia Kronos dazu, Zeus’ Brüder und Schwestern wieder hochzuwürgen, vom Letzten bis zum Ersten – und sobald Kronos den Stein erbrach, den er für Zeus gehalten hatte, war die Sache klar. Zeus befreite die gefangenen Söhne der Gaia aus dem Tartaros und Kronos rief seine eigenen Brüder und Schwestern, die Titanen, zu Hilfe, um seine Herrschaft zu verteidigen. So begann ein Krieg im Himmel, und gewaltig war der Kampf, der laut Hesiod zehn Jahre dauerte.
Furchtbar stöhnten die grenzenlosen Meere, laut dröhnte die Erde auf, das weite Himmelsgewölbe ächzte erschüttert, der hohe Olymp erbebte bis in seine Grundfesten, und ein schweres Beben schüttelte den nebligen Tartaros.
Zuletzt aber war Kronos besiegt, und die Titanen, die an seiner Seite gekämpft hatten, wurden in den Tartaros gesperrt.
Krieg mit den Giganten Noch bevor Zeus jedoch der unangefochtene Herr über das Universum sein konnte, sah er sich großen Herausforderungen gegenüber, von denen die erste in den Giganten bestand, die in der Erde aus dem Blut des Uranos entstanden waren, so wie Aphrodite aus dem Meer. Unter Führung des Atlas türmten die Giganten die Berge aufeinander in ihrem letztendlich erfolglosen Versuch, den Olymp zu erreichen und zu erstürmen – das mächtige Gebirge in Nordgriechenland, das Zeus und seine Geschwister zu ihrer Wohnung und Festung gemacht hatten.
Die Götter ziehen in den Kampf gegen die Giganten. Ausschnitt einer griechischen Vase des Nikosthenes
Der Terror des Typhon Als letzter und furchtbarster Herausforderer von Zeus’ Herrschaft erschien Typhon, der Hundertköpfige, der Wirbelsturm, der Feuerspeier. Er war der jüngste Sohn Gaias und kam von allen dem Ziel am nächsten, die Mächte der Unordnung und Dunkelheit auf Erden siegen zu lassen. Zeus aber entdeckte seine Meisterschaft im Umgang mit den Donnerkeilen, die die Kyklopen für ihn geschmiedet hatten; mit ihnen schmetterte er Typhon nieder und trieb ihn in die Erde unter dem Ätna auf Sizilien, von wo aus Typhon in ohnmächtigem Zorn ab und zu immer noch Feuer speit.
Zeus’ Donnerkeil trifft Typhon (Ausschnitt).
Nachdem Zeus, der Inbegriff der Ordnung, nun sicher auf seinem Thron hoch auf dem Olymp saß, begann die Welt ihre endgültige Gestalt anzunehmen. Es war eine Welt, die von großen und kleinen Göttern wimmelte, und ihnen allen fiel die Aufgabe zu, alles auszufüllen, was noch an Schöpfung übrig blieb.
Die Aspekte der Götter Eine Gottheit konnte die ihr oder ihm zugewiesenen Rollen auf zwei verschiedene Arten übernehmen. Die erste bestand in Aspekten – in verschiedenen Facetten des Gottes, von denen jede eine spezielle Rolle spiegelte, die der Gott übernommen hatte. So war Zeus der König der Götter, aber auch der Träger der Blitze und der Wolkensammler, der Gott der Stürme, und in anderer Hinsicht ein Gott der Weissagung und Heilung sowie der Beschützer der Fremden. Ein Sterblicher, der göttliche Gunst suchte, wandte sich an jenen Aspekt der Gottheit, den er benötigte, und falls seine Gebete gründlich erhört wurden, baute er eventuell sogar einen eigenen Tempel für den betreffenden Aspekt des Gottes.
Die Kinder der Götter Ebenso konnten die Götter einige ihrer Zuständigkeiten an ihre Nachkommen weitergeben. So kann man sich die Welt des Mythos als eine Götterkaskade vorstellen, die sich in jeden Teil der Welt ergoss und in welcher sich jeder Gott eine Nische schuf und diese besetzte, worauf er Kinder hervorbrachte, die wiederum die Unterabteilungen dieser Nische ausfüllten. Zum Beispiel wurde Tethys, Tochter der Gaia, die Gattin des Okeanos, und aus ihrer Verbindung entsprangen die großen Flüsse der Ge, und aus diesen wiederum Tausende von Nymphen, von denen eine jede ihre Grotte oder ihren Weiher bewohnte.
Pontos, das Wasser, erzeugte Nereus, den „Alten Mann vom Meer“ (der auch als Proteus bekannt ist und dessen Fähigkeit, jeder Aufgabe gerecht zu werden und jede Form anzunehmen, sprichwörtlich wurde). Nereus wieder bevölkerte jede große und kleine Bucht mit seinen Töchtern, den Nereiden, die auch im tiefen Meer leben und mit den Delphinen spielen. Und so, wie die großen Meeresgötter kleinere Götter hervorbrachten und diese ihrerseits noch mehr und immer mehr spezialisierte, ortsgebundene Gottheiten, so zeugten auch die anderen Götter Hunderte von Nachkommen, bis es von den Winden bis zu den Jahreszeiten keine Macht im Universum gab, die nicht ihren Gott oder ihre Göttin hatte. Jede abstrakte Vorstellung hatte – nein, war – eine Gottheit, und jede Grotte hatte ihre Nymphe, jeder Hain seine Dryade.
Nachleben in Kunst und Kultur: Gaia und Pontos
Die Verbindung von Gaia und Pontos brachte die göttlichen Wesen Nereus, Thaumas, Phorkys, Keto und Eurybia hervor. Sie war auch der Ursprung des berühmten Bündnisses der Erde mit dem Wasser, das Rubens etwa um 1618 malte. Darin verwendete er den Mythos als Symbol für die niederländische Sperre der Scheldemündung, die der Handelsstadt Antwerpen ihren lebenswichtigen Zugang zur Nordsee abschnitt. Auch der finnische Komponist Sibelius erweiterte die Nachkommenschaft von Tethys und Okeanos mit seinen Okeaniden, einer 1913/14 geschriebenen symphonischen Dichtung.
Welt der Götter, Welt der Menschen Die nun fertig erschaffene Welt war ebenso menschlich wie numinos. Menschlich, weil die neuen Götter ein Teil der natürlichen Welt waren: Sie waren göttlich, nicht aber allmächtig und gewiss nicht immer weise. Sie teilten die Werte, Ziele und Schwächen der Menschen. Obwohl ihre Nahrung Ambrosia und ihr Blut Ichor war, mussten die Götter essen, spürten Schmerz, Eifersucht und Zorn und bluteten auch, wenn man sie verletzte. Anders als die Menschen zählten die großen Götter jedoch zu jenen Mächten, die die Griechen Daimonen nannten – sie waren normalerweise unsichtbar, aber allgegenwärtig oder dazu fähig, ohne Zeitverlust weite Strecken zurückzulegen. Die Motive ihres Handelns hingegen sind menschlich nachvollziehbar und häufig alles andere als löblich.
Und da die Götter ein Teil der Natur waren, bildeten sie einen Teil eines Kontinuums, auf dem es einen gleitenden Übergang zwischen Mensch und Tier gibt; so war die Trennlinie zwischen Göttlichem und Menschlichem nicht so eindeutig wie heute.
Zwischen Göttern und Menschen (wie und warum die Menschen erschaffen wurden, ist ein Thema für das nächste Kapitel) stand eine Fülle von Wesen, von denen manche wie die Satyrn göttliche Züge besaßen und dabei zugleich weniger als menschlich waren. Nicht nur niedrige Gottheiten, sondern selbst die großen Götter und Göttinnen waren in der Lage, Nachkommen mit Menschen hervorzubringen, und taten das auch mit großer Begeisterung.
Die Menschen der Antike waren Teil einer mit göttlichen Wesen randvollen Welt, in der ständig neue Gottheiten auftauchten – sogar große Götter wie Dionysos. Faune und Satyrn tummelten sich in den Tälern der Wälder und grausige Geschöpfe wie die vampirartige Lamia streiften durch die Nacht. Sogar scheinbare Menschen konnten Götter sein, die inkognito unterwegs waren, oder aber Halbgötter oder auch Götterkinder, denn die Menschen und ihre Götter konnten auf jeder Ebene in jeder Art in Beziehung zueinander treten, die auch den Menschen für ihre Beziehungen untereinander möglich war. Zwischen Natürlichem und Übernatürlichem gab es keine Grenze – das Übernatürliche war ja natürlich. Die Welt des Mythos war immer noch im Begriff, Gestalt anzunehmen, und an dieser Gestaltung waren, wie sich zeigen wird, die Menschen intensiv beteiligt. Die Ordnung der Welt jedoch war abgeschlossen; sie war ein einheitliches, organisiertes Ganzes geworden oder, wie die Griechen sagen würden, ein „Kosmos“.
Weil die Welt des Mythos ganzheitlich ist und alles in ihr zugleich ein Teil von allem anderen, gibt es keine schlichte Erzählung, die einfach alle Entwicklungen in der Reihenfolge nachzeichnen kann, wie sie eintraten. Der Mensch erscheint schon früh während der Erschaffung des Kosmos, und die Geschichte der Menschen ist mit jener der Götter zu einem komplizierten Gewebe verflochten. Die Fäden dieses Gewebes zu entwirren, ist schwierig, aber unumgänglich, wenn wir das Wechselspiel des Menschlichen mit dem Göttlichen verstehen wollen.
Die Menschheit war älter als einige Götter, und darum erscheint es angemessen, dass ihre Stellung im Kosmos schon hier erklärt wird, ehe wir im nächsten Schritt einzelne Götter und ihre jeweiligen Geschichten betrachten – nicht zuletzt, weil Menschen ein wichtiges Element in den meisten dieser Geschichten bilden.
Nicht alle Titanen kämpften gegen Zeus. Einer, der ihm beistand, war Prometheus, dessen Name mit den Vorstellungen von „rechtzeitig nachdenken“ und „Voraussicht“ verknüpft ist. In der Zeit, als noch Kronos den Himmel regierte, hatte Prometheus ein Wesen namens Mensch geformt, das auf Erden wandeln sollte. So erklärt es Ovid:
Er nahm Regenwasser und mischte es mit der Erde, die damals noch etwas vom Himmelsgewölbe in sich trug, formte es nach dem Bild der Götter, die alles regieren. Während andere Tiere gebückt zum Boden schauen, gab er dem Menschen ein hoch erhobenes Gesicht, gebot ihm, den Himmel zu sehen und seinen freien Blick zu den Sternen zu wenden./Metamorphosen (1,80–86)
Und dabei handelte es sich nicht nur um eine körperliche Ähnlichkeit mit den Göttern, wie sich später zeigen wird.
Das Goldene Zeitalter Die ersten Menschen waren durchweg Männer. Und im „Goldenen Zeitalter“, wie Hesiod es beschreibt, führten sie ein ausgesprochenes Junggesellenleben:
Sie lebten wie Götter, ohne Sorgen und Unruhe … freuten sich an ihren Gastmählern, waren frei vom Bösen … und alle guten Dinge gehörten ihnen./HESIOD, Werke und Tage 112–117
Welches Ereignis diesem Idyll ein Ende setzte, ist schwer zu sagen, und die vielen verschiedenen Versionen der Geschichte lassen sich unmöglich alle in Einklang miteinander bringen. Es scheint jedenfalls, dass ein Konflikt göttlicher Absichten das Ende des Goldenen Zeitalters und – nicht zufällig – zugleich die Erschaffung der Frau nach sich zog.
Betrug an Zeus