Die Silberkammer in der Chancery Lane

Ben Aaronovitch

Die Silberkammer
in der Chancery Lane

Roman

Deutsch von Christine Blum

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Ben Aaronovitch

Ben Aaronovitch wuchs in einer politisch engagierten, diskussionsfreudigen Familie in Nordlondon auf. Er hat Drehbücher für viele TV-Serien, darunter ›Doctor Who‹, geschrieben und als Buchhändler gearbeitet. Inzwischen widmet er sich ganz dem Schreiben. Er lebt nach wie vor in London.

Über das Buch

In den London Silver Vaults in der Chancery Lane hat es einen merkwürdigen Todesfall gegeben. Der Tote weist eine große Wunde im Brustkorb auf – als hätte man ihm das Herz herausgerissen. In den unterirdischen Silberkammern gibt es meterdicke Mauern und mehr Schlösser und Riegel als in der Bank von England, von den Kameras ganz zu schweigen. Eigentlich unmöglich, dass hier ein Eindringling einen Mord begehen und dann spurlos verschwinden kann. Aber genau das ist geschehen. Logische Schlussfolgerung: übernatürliche Kräfte müssen am Werk gewesen sein. Eindeutig ein Fall für Peter Grant, seines Zeichens Polizist und Zauberlehrling (sowie neuerdings Magie-Praktikantinnenausbilder). Seine Ermittlungen führen ihn zunehmend weiter über London hinaus – in völlig unerwartete räumliche, zeitliche und extradimensionale Gefilde. Dabei hat er eigentlich schon mehr als genug damit zu tun, sich auf ein ganz bestimmtes freudiges Ereignis vorzubereiten, das allmählich die Züge eines hochmagischen und illustren Großevents annimmt …

Impressum

Deutsche Erstausgabe

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2022 Ben Aaronovitch

Titel der englischen Originalausgabe: ›Amongst Our Weapons‹ (Gollancz, London 2022)

© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Lisa Höfner | buxdesign, München

Umschlagmotive: shutterstock.com

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Funktionalität der Web-Links wurde zum Zeitpunkt der Drucklegung (E-Book-Erstellung) geprüft. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbar.

 

eBook-Herstellung: Greiner & Reichel, Köln (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-44573-3 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26331-3

ISBN (epub) 9783423445733

 

 

 

Für John, Stevie, Anne, Genn und Liz,

ohne die nichts erledigt werden würde.

Mittwoch Überraschung …

1 Airsoft

In der Regel bekommen wir die Leichen nicht zu sehen, wenn sie ganz frisch sind. Jedem modernen Polizisten wird eingebläut, dass seine oberste Pflicht – nach dem Schutz von Leib und Leben – darin besteht, den Tatort vor Verunreinigung zu bewahren. Das heißt, die erste Kollegin vor Ort lässt niemanden durch außer der Mordkommission. Und wenn die kommt, lässt sie niemanden durch außer der Spurensicherung.

Ganz sicher wollen sie alle nicht noch ein weiteres Expertenteam hinzurufen, es sei denn, es lässt sich einfach nicht vermeiden. Am allerwenigsten uns – die Einheit Spezielle Analysen, in der Met berüchtigt als Garant für abstrusen Scheiß, unerwartete gewaltsame Ereignisse und, ganz schlecht, niedrige Aufklärungsquoten. Schon gar nicht wollen sie das, wenn die betreffende Mordkommission bereits mit uns zusammengearbeitet hat.

DI Stephanopoulos stellte eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser Regel dar.

Sie erwartete uns an einem nasskalten Mittwochmorgen im April vor dem Eingang der London Silver Vaults in der Chancery Lane, eine kräftige weiße Frau mit scharfen blauen Augen und von Natur aus finsterem Gesichtsausdruck – nahm ich jedenfalls an, denn einen anderen hatte ich nur selten an ihr gesehen. Er wurde noch etwas finsterer, als ich mit der neuesten Praktikantin des Folly im Schlepptau bei ihr ankam.

»Wer ist das?«, fragte sie.

»Danni Wickford«, sagte ich. »Sie macht den Kurs.«

Was bedeutete: den Grundkurs Falcon-Management, eine Intensiv-Rundtour durch die Welt der magischen Polizeiarbeit an der Seite meiner Wenigkeit, damit DCI Thomas Nightingale, mein Boss, und ich uns vertreten lassen konnten, wenn wir mal blaumachen wollten.

Magisches Zeug wird auf Polizeilich »Falcon« genannt, um einen beruhigend-euphemistischen Schleier über die garstige Fratze magischer Polizeiarbeit zu ziehen.

Danni Wickford war DC bei der Kriminalpolizei Kingston. In ihren Leistungsbewertungen kamen Ausdrücke wie »absolut zuverlässig« und »äußerst gewissenhaft« vor. Zuverlässig und gewissenhaft, das waren die Qualitäten, die das Falcon-Rekrutierungskomitee, das heißt, Nightingale und ich, als unabdingbar für Falcon-BeamtInnen festgelegt hatte. Danni war eine weiße Frau von nüchternem Äußeren, dünn, kleiner als ich, mit blauen Augen, einem spitzen Kinn und zu einem französischen Zopf geflochtenen dunkelbraunen Haaren. In Dagenham geboren und aufgewachsen, hatte sie einen lupenreinen Ostlondon-Akzent, aber wie ich konnte sie je nach Situation die ganze Skala von Mittelschicht über Cockney bis hin zu Multikulti-Slang abdecken.

Stephanopoulos schenkte ihr ein Nicken. »Passen Sie bloß auf, dass Sie da keine schlechten Angewohnheiten aufschnappen.«

»Ich werd mir Mühe geben«, sagte Danni.

Die London Silver Vaults waren ursprünglich zu genau jenem Zweck erbaut worden, den der Name vermuten ließ: um wertvolle Gegenstände wie Silber zu lagern. Ladenbesitzer schlossen dort nachts ihre wertvolle Ware ein, sicher verwahrt hinter meterdicken stahlverstärkten Mauern, und brachten sie tagsüber in ihre Läden hinauf. Irgendwann stellte dann ein vermutlich eher träge veranlagter Typ die Frage, warum sie all das teure, aber vor allem auch schwere Metallzeugs eigentlich Tag für Tag die Treppe rauf- und runterschleppten. Man könnte doch einfach die Kunden nach unten kommen lassen. Wäre überhaupt viel sicherer.

Also wurden die Silberkammern in Läden verwandelt, und voilà, fertig war die erste unterirdische Shoppingmall Londons. Erstaunlicherweise hatte ich noch nie davon gehört, und Danni hatte sich auf der Fahrt hierher auch erst mal auf dem Smartphone schlaumachen müssen. »Das ursprünglich darüber befindliche Haus wurde im Blitzkrieg von einer Bombe zerstört«, sagte sie. Was den neoklassizistischen Klotz samt pseudogeorgianischen Fenstern und bossierter Erdgeschossfassade erklärte, der jetzt dort stand.

Als Tatort waren die Silberkammern wenigstens leicht abzusichern. Ein marmorner Empfangstresen wachte über Haupttreppe und Aufzüge. Der zur Bewachung eingeteilte Kollege hatte lediglich den Durchgang von der Eingangshalle her mit blau-weißem Sicherheitsband absperren und den angestellten Securitymann von seinem Platz verjagen müssen. Jetzt saß dort der besagte Kollege, in einen Papieroverall gekleidet wie ein Türsteher in einer dystopischen Zukunft. Wir ließen uns ins Logbuch eintragen und stiegen ein halbes Dutzend Stufen abwärts in eine Lobby mit einem Kaffeeautomaten, in der sich mehrere Kisten mit Polizeiaufdruck stapelten.

An der zweiten Absperrung erwartete uns DS Sahra Guleed in einem Warteraum mit niedriger Decke, schwarz und cremefarbenem Boden und zwei blauen Sofas, die aussahen wie aussortierte Neunziger-Jahre-Stücke. An einer Wand war in Vitrinen aus grauem Metall und Glas eine kunstvoll arrangierte Silbersammlung ausgestellt. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein riesiger altmodischer Tresor mit stolz auf die Frontseite geschweißter Herstellerplakette: JOHN TANN – RELIANCE.

»Ist das die neue Praktikantin?«, fragte Guleed, als wir näher kamen.

Ich stellte Danni vor.

»Pass auf, dass du dich nicht mit irgendwelchen schlechten Angewohnheiten ansteckst«, sagte Guleed.

»Okay.« Danni warf mir einen fragenden Blick zu. »Natürlich nicht.«

Guleed winkte uns zu einem Karton, der zur Hälfte mit zellophanverpackten Einweg-Papieranzügen gefüllt war. Sie selbst hatte sich bereits eingekleidet und die Kapuze so fest zugezogen, dass sie ihren teuren Hijab in die Jackentasche stecken konnte. Wir entledigten uns unserer Jacken und zwängten uns in Overall und Handschuhe. Ich musste erst einmal die ganze Kiste durchwühlen, um einen in XXL zu finden – um das Ding über den Straßenklamotten zu tragen, braucht man es fast immer eine Nummer größer, und wer zu spät zum Tatort kommt, ist oft gezwungen, wie eine Wurst in zu enger Pelle herumzuwackeln.

Während wir mit unserem Outfit kämpften, erklärte Guleed uns die Lage. »Heute Morgen um kurz nach neun kam ein noch nicht identifizierter weißer Mann oben herein, ging nach unten in die Silberkammern, betrat einen der Läden und bedrohte den Inhaber. Der löste den stummen Alarm aus, aber bevor daraufhin jemand kam, passierte etwas – was, wissen wir nicht –, und der Unbekannte wurde getötet.«

»Etwas passierte?«, sagte ich.

»Rate mal, wie viele Kameras es hier gibt. Und rate mal, wie viele davon noch funktionieren.«

Starke Magie schädigt Mikroprozessoren. Wenn die Überwachungskameras hinüber sind, ist das eines der untrüglichen Anzeichen für einen Falcon-Vorfall. Wir von der Polizei lieben unsere Videoüberwachung. Sie erleichtert uns die Arbeit enorm, und wenn wir etwas am Überwachungsstaat auszusetzen haben, dann höchstens, dass er längst nicht so lückenlos ist, wie alle zu glauben scheinen. Da können Sie jeden fragen, der sich schon mal fünfhundert Stunden lang körnige Videoaufnahmen anschauen musste für den unwahrscheinlichen Fall, dass darauf jemand mit Kapuzenjacke mal im richtigen Augenblick in die falsche Richtung guckt.

Als wir fertig waren und aussahen wie anonyme imperiale Sturmtruppen, schlurften wir los, um uns anzuschauen, was für ein Etwas unserem namenlosen Opfer passiert war.

 

Die Silberkammern befanden sich hinter einer vierzig Zentimeter dicken Tür; in den Türsturz war wieder das John-Tann-Markenzeichen eingelassen. Beim Gedanken an das Gewicht der Tür und des Hauses über uns wurde mir flüchtig etwas mulmig, während ich Guleed hineinfolgte.

Hinter der Tron-Tür bogen wir nach rechts in einen grell erleuchteten, blendend weißen Korridor ab, der sich unabsehbar weit in die Ferne erstreckte. Die Wände waren von Sicherheitstüren und Vitrinen voller Silber gesäumt. Weit hinten sah ich blau-weißes Absperrband und Spurensicherer, die mit Kameras und Ausrüstungskästen herumhuschten. Im Vorbeigehen fiel mir auf, dass auf jedem Türsturz das John-Tann-Logo zu sehen war; die Namen der Geschäfte hingegen standen auf den Türinnenseiten, sichtbar nur dann, wenn der Laden geöffnet war.

Und in den Läden gab es Massen von Silber. In übervollen Wandregalen und freistehenden Schaukästen. Aufgereihtes Besteck, Präsentierteller und Saucieren. Scharen von Hündchen, Kätzchen, Bären, Adlern und kunstvollen Galeonen unter vollen Segeln. Alles schimmernd und funkelnd im grellweißen Kunstlicht.

Und in jedem Laden stand oder saß inmitten all der Pracht die Inhaberin oder der Verkäufer und sah uns zu, wie wir in unserem Papierchic vorbeistapften.

»Wir haben ihnen angeboten, außerhalb der Absperrung zu warten«, sagte Guleed. »Aber sie haben sich geweigert.«

Die meisten Läden befanden sich schon seit mehr als fünfzig Jahren in Familienbesitz. So auch Samuel Arnold & Co, der nach etwa zwei Dritteln des Hauptkorridors kam.

Der Laden bestand aus zwei nebeneinanderliegenden Räumen und hatte daher zwei John-Tann-Türen, was sehr praktisch war, weil eine davon durch die Leiche blockiert wurde, die längelang auf der Schwelle lag, die Beine draußen im Korridor. Die Spurensicherer zogen sich zurück, als wir näher kamen – ich bilde mir gern ein, aus Ehrfurcht vor meiner Fachkenntnis, aber wahrscheinlich eher, um sich nicht mit gewissem abstrusem Scheiß zu kontaminieren, mit dem man vor Gericht keine gute Figur macht. Danni und ich traten durch die freie Tür ein und schlängelten uns zwischen vollgestopften Vitrinen durch, bis wir einen guten Blick auf den Ort des Geschehens hatten.

Im Vorbeigehen war mir aufgefallen, dass einige der Geschäfte ziemlich spezialisiert waren. In einem wurden nur Besteck und Geschirr verkauft, andere boten nur silberne Figürchen oder Kerzenständer an. Samuel Arnold & Co hatte hauptsächlich Schmuck, in den Schaukästen lagen haufenweise Ringe, Ketten und Anhänger, und kopflose Büsten mit feingesponnenen Silberkolliers um den Hals standen herum.

Was die Grausamkeit des Anblicks anging, war dieser Mord einigermaßen erträglich. Ich habe schon kopflose, gesichtslose, arm- und beinlose Leichen gesehen, ganz zu schweigen von der, die von innen heraus zerkocht war. Und es ist nicht etwa so, dass man sich daran gewöhnt, aber man verspürt doch eine kleine Woge der Erleichterung, wenn die Wunde klein und sauber ist und die Leiche noch nicht angefangen hat zu riechen.

Der Tote war weiß, vielleicht zwischen fünfzig und sechzig, mit dünnem, kurzgeschnittenem braunem Haar, regelmäßigen Gesichtszügen, hellgrauen Augen, die an die Decke starrten, und einem schmallippigen, im Tode schlaff gewordenen Mund. Er trug Jeans, Turnschuhe, ein schlichtes lila Sweatshirt und darüber eine olivgrüne Patagonia-Jacke. In dem Sweatshirt befand sich etwas seitlich unter dem Logo ein etwa handtellergroßes Loch. Es war kreisrund, die Ränder des Stoffs drum herum schwarz verkohlt. Durch das Loch war eine große Wunde sichtbar; was für eine genau, war wegen des geronnenen Bluts und der undefinierbaren Partikel darin nicht zu erkennen. Ich hätte auf Schrotflinte getippt, allerdings sah ich um die Hauptwunde herum keine weiteren kleinen Einschusslöcher, und sie erschien mir dafür auch zu tief.

»Kommt die dir komisch vor?«, fragte ich Danni und zeigte auf die Wunde.

»Ja«, quiekte sie. Und dann, in normalem Ton: »Ja, schon.«

Ich rief zu den wartenden Forensikern hinüber, ob ich das Sweatshirt zurückziehen und mir die Wunde genauer ansehen dürfe.

»Nein!«, kam es einstimmig zurück. »Und beeilen Sie sich ein bisschen.«

»Wir werden jetzt eine Vestigia-Ersteinschätzung vornehmen«, sagte ich zu Danni.

Magie, einschließlich der allgegenwärtigen Magie des menschlichen Alltags, hinterlässt Spuren – ein Echo, wenn man so will. Wahrscheinlich haben Sie so etwas schon oft wahrgenommen: das Gefühl, hier schon gewesen zu sein, beim Betreten eines fremden Raums, der Schauder, der Sie aus unerfindlichen Gründen auf einem bestimmten Stück Bürgersteig überläuft, dieser Eindruck, jemand hätte gerade Ihren Namen geflüstert. All das sind möglicherweise Vestigia – oder es ist eine flüchtige Fehlfunktion Ihrer Neuronen, eine Erinnerung oder gar ein Tagtraum. Das eine vom anderen zu unterscheiden erfordert Anleitung und Übung und ist der erste Schritt in der Ausbildung zur falconkundigen Polizistin.

»Mach dir keine Gedanken, wenn du nichts spürst«, sagte ich. »Wenn du unsicher bist, frag mich ruhig. Denk daran, das gehört zum Trainingsprozess.«

Da wir bereits neben dem Toten hockten, schien es sinnvoll, bei ihm anzufangen. Ich beugte mich vor, um mein Gesicht so nahe wie möglich an die Leiche zu bringen. Ich nahm Schweiß, Weichspüler und darunter die ersten schleichenden Anzeichen von Fäulnis wahr.

Sonst nichts, abgesehen vom Rattern meiner Gedanken.

Ich verlagerte mich wieder auf die Fersen und sah Danni an. »Was spürst du?«

Danni schloss die Augen und atmete langsamer. Wegen der Kapuze, der Schutzbrille und des Mundschutzes war es schwer zu sagen, aber ich meinte sie die Stirn runzeln zu sehen, ehe sie mich ansah. »Da ist nichts«, sagte sie. »Oder?«

Ich war beeindruckt. »Nein. Keine Vestigia. Nirgendwo hier unten.«

»Du hast doch gesagt, es wäre fast immer was zu spüren.«

»Es gibt Dinge, die der Umgebung Magie entziehen können«, sagte ich.

Guleed, die im Türrahmen lehnte, stöhnte. »Nicht schon wieder«, sagte sie, während wir aufstanden.

»Was nicht schon wieder?«, fragte Danni.

»Erkläre ich dir, wenn wir mit der Beweisaufnahme fertig sind«, sagte ich. »Kannst du dir einen Übersichtsplan vom Tatort besorgen und dann rauskriegen, was es hier an Elektronik gibt – Überwachungskameras, Kassen, Handys, Laptops und so weiter? Zeichne auf dem Plan ihre Position zum Tatzeitpunkt ein. Wenn wir herausfinden, wie viel Schaden was erlitten hat, können wir vielleicht das Epizentrum des Geschehens triangulieren.«

Danni nickte und strebte eilig davon. Ein ebenfalls häufig in ihren Leistungsbeschreibungen enthaltenes Wort war »effizient«.

»Schau dich bloß an«, bemerkte Guleed. »Leute rumscheuchen macht Spaß, was?«

»Mehr als die Alternative«, sagte ich.

Wir gingen zu den Spurensicherern hinüber und stellten klar, dass sämtliche Überwachungskameras und sonstige Elektronik eingetütet und beschriftet werden mussten.

»Das wird mal wieder teuer«, sagte Guleed.

»Das dürfen Nightingale und Stephanopoulos unter sich klären.« Meiner Ansicht nach war genau das der Zweck, zu dem leitende Beamte da waren.

»Ich find’s süß, wie du immer noch mit dem Nachnamen von ihnen sprichst«, sagte sie.

»Wenn ich Sergeant bin wie du, nenne ich sie Thomas und Miriam«, gab ich zurück, aber ich war mir unsicher, ob ich das je tun würde – zumindest nicht bei Nightingale. »Ich sollte wohl mal ein Wort mit dem Zeugen reden.«

 

Phillip Arnold war Silberhändler in dritter Generation. Stolz erzählte er uns, dass seine Familie schon seit fünfzig Jahren einen Laden in den Silver Vaults besaß. »Allerdings muss ich sagen, die Zukunft sieht nicht rosig aus.«

Phillip war ein jünger wirkender weißer Mann um die vierzig mit schwarzem Haar und hellbraunen Augen. Er trug einen gutgeschnittenen, aber – meiner Einschätzung nach absichtlich – altmodischen Nadelstreifenanzug samt bestickter Weste und passender Kippa. Er wirkte fahrig und machte ständig dieselben kleinen Handbewegungen. Bei normalen Ermittlungen wartet man gewöhnlich gern ein bisschen ab vor der zweiten Befragung eines Zeugen, aber bei Falcon-Fällen erledigt man das lieber schnell. Mit dem Übernatürlichen konfrontierte Zeugen neigen dazu, Dinge, die sie nicht begreifen, wegzuerklären. Also sollte man sie besser zur Aussage bringen, bevor sie sich einreden, dass sie das, was sie gesehen haben, unmöglich gesehen haben können.

Phillip war sich alles andere als sicher, was er überhaupt gesehen hatte. »Ein Licht«, sagte er. »Nur kein echtes Licht, sondern … Haben Sie schon mal einen Schlag auf den Kopf bekommen?«

»Berufsrisiko«, sagte ich.

»Und haben Sie da so einen Lichtblitz gesehen?« Er deutete mit den Fingern Explosionen vor seinen Augen an. »Also, nicht wirklich einen Lichtblitz, aber es sieht so aus?«

»Durchaus.«

»So war es«, sagte er und umklammerte die Flasche Wasser, die wir ihm hingestellt hatten.

Ich führte die Befragung auf den blauen Sofas in der Lobby mit dem Tresor und den Ausstellungsvitrinen durch – immer noch im Papieroverall, was vielleicht einen etwas ungünstigen Eindruck machte, aber möglicherweise würde ich noch mal zum Tatort zurückmüssen.

»Ganz genau so war es«, wiederholte Phillip und nahm einen Schluck aus der Flasche. »Wirklich. Wie wenn man einen Schlag auf den Hinterkopf bekommt.«

Was nicht der Fall gewesen war – jedenfalls nicht dem Sanitäter zufolge, der ihn untersucht hatte. Trotzdem war dieser in Sorge gewesen, Phillip könnte eine Gehirnerschütterung haben, und hätte ihm gern eine schnelle Fahrt in die Notaufnahme spendiert. Aber Phillip hatte sich geweigert zu gehen, ehe nicht sein Dad oder einer seiner Brüder kommen und ein Auge auf den Laden haben konnte.

Ich ging noch einmal seine bereits getätigte Aussage mit ihm durch. Wie das Opfer in seinen Laden gekommen war, kaum dass er aufgemacht hatte, und sich nach Ringen erkundigt hatte.

»Er wirkte völlig normal«, sagte Phillip. »Ein bisschen intensiv vielleicht, aber normal. Ich habe ihm ein paar Ringe gezeigt, aber er hatte ganz bestimmte Vorstellungen.«

»Was für welche?«

»Schwer zu sagen. Ich weiß gar nicht, ob er es selbst genau wusste. Vielleicht einen Puzzle- oder Gimmelring.« Ein Gimmelring besteht aus zwei Ringen, die so miteinander verbunden sind, dass sie einen ergeben, sehr beliebt bei Romantikern und Fans ehelicher Treue vom Mittelalter bis heute. »Er sagte, der Ring könne ›sich öffnen‹ und hätte ›Symbole‹ auf den Außen- und Innenseiten.«

In den alten Zeiten hätte ich jetzt einen Herr-der-Ringe-Scherz über die Schwarze Sprache Saurons gemacht, aber nun, da ich schon fast Vater war, bemühte ich mich um eine etwas professionellere Haltung, um Auszubildenden wie Danni ein gutes Beispiel zu geben. »Hat er gesagt, was für Symbole?«

»Ich habe ihn gefragt, ob er Elbisch meint«, sagte Phillip. »Ich weiß, dass das vor etwa fünfzehn Jahren groß in Mode war, vor allem auf Goldringen.« Offenbar missverstand er meinen Gesichtsausdruck, denn er fügte hinzu: »Wegen der Hobbit-Filme.«

Nein, Elbisch meine er nicht, hatte der Mann gesagt, sondern mystische, alchimistische Symbole.

»Ich sagte, so was hätten wir nicht«, sagte Phillip. »Da sagte er, ich würde ihn anlügen. Er sagte, seine Exfrau hätte einen solchen Ring an uns verkauft. Ich fragte, wann, und er sagte, vor Jahren. Ich sagte, ich könne in unserer Inventarliste nachschauen, aber hier im Laden hätten wir nichts dergleichen, und wenn er mir nicht glaube, könne er sich gern umschauen.« Der Mann wurde immer aufgebrachter. Phillip erwog, den stillen Alarm auszulösen; allerdings sollte man den nur in wirklichen Notfällen aktivieren, und ob das hier einer war, dessen war sich Phillip nicht sicher – bis der Mann eine Waffe zog.

»Zuerst konnte ich es gar nicht glauben«, sagte er. »Es wirkte so irreal.«

Um in den Silberkammern einen Raubüberfall zu versuchen, musste man schon meschugge sein. In den Läden galt die Strategie: Gib den Typen, was sie wollen, und lass sie dann oben der Polizei in die Arme laufen.

Leider konnte Phillip dem meschuggenen Typen nicht geben, was dieser wollte, weil er noch nie von dem beschriebenen Ring oder der Exfrau des Mannes gehört und den Ring definitiv nicht in seinem Laden hatte.

»Warten Sie mal«, sagte ich, weil manches von dem, was er gerade gesagt hatte, in seiner vorigen Aussage fehlte. »Hat er vielleicht den Namen seiner Exfrau erwähnt?«

Phillip überlegte.

»Anthea?«, sagte er dann. »Nein, es war noch altmodischer – Althea. Wie die Frau in dem Gedicht.« Ich muss etwas begriffsstutzig geschaut haben. »An Althea, aus dem Gefängnis? Stone walls do not a prison make? Nor iron bars a cage?« Er seufzte. »Gedicht von Richard Lovelace. Fairport Convention haben einen berühmten Song draus gemacht. Wenn ich euch anschaue, fühle ich mich richtig alt.« Er musste schmunzeln. Dann lockerte er Schultern und Hals und wurde sichtlich entspannter.

Im Gegensatz zu dem, was viele Leute glauben, mögen wir es, wenn die Zeugen bei der Befragung entspannt sind. In entspanntem Zustand kommt es viel öfter vor, dass jemand die Wahrheit erzählt, sogar wenn sie belastend ist.

Also lächelte ich freundlich und sagte, das hörten wir immer wieder.

Dann fragte ich, ob der Mann auch den Nachnamen seiner Exfrau genannt hatte.

»Moore«, sagte Phillip. »Mit e am Ende, das hat er ausdrücklich betont. Er wollte, dass ich in unseren Verzeichnissen nach ihr suche.«

»Und haben Sie das getan?«, wollte ich wissen.

»Natürlich.« Phillips Anspannung nahm wieder zu. »Er hielt ja die Waffe auf mich gerichtet. Also, ich habe jedenfalls in unserem Buch nachgeschaut.« Damit meinte er ein altmodisches Kassenbuch, das seine Familie noch immer führte, hauptsächlich weil es dem Laden ein mysteriöses Flair verlieh. Die echte Buchhaltung erledigten sie auf einem Laptop.

Ich war bereit zu wetten, dass der Laptop genau wie sämtliche Handys und Überwachungskameras buchstäblich im Sande verlaufen war. Andererseits …

»Haben Sie ein externes Backup Ihrer Verzeichnisse?«, fragte ich.

»Natürlich«, sagte er.

Ich notierte auf meiner Maßnahmenliste für Guleed, diese Dateien zu durchsuchen. »Und war Althea Moore mit e in Ihrem Buch?«

»Das konnte ich nicht mehr herausfinden«, sagte Phillip. »Während ich ins Buch schaute … passierte es.«

Dieser Lichtblitz, als hätte man ihm ein Brett über den Schädel gezogen.

»Und dann lag er einfach da«, schloss Phillip. »Mausetot.«

 

»Die Pistole ist ein Imitat«, sagte Stephanopoulos, nachdem wir uns oben in der Lobby zu einem After-Tatort-Kaffee zusammengefunden hatten. »Hat der Waffenspezialist auf den ersten Blick gesehen. Eine Airsoft-Replik. Verschießt Plastikkugeln.«

»Wann wird die Leiche weggebracht?«, erkundigte ich mich.

»Heute Nachmittag«, sagte Guleed.

Ich notierte mir, Nightingale Bescheid zu sagen, damit er dafür sorgte, dass Dr. Vaughan und Dr. Walid die Obduktion übernahmen.

»Glauben Sie, das ist ein Falcon-Fall?«, fragte Stephanopoulos im munteren Ton der leitenden Beamtin, die hofft, ein kompliziert aussehendes Problem auf eine andere Abteilung abwälzen zu können. Ich war mir recht sicher, dass es Falcon war, aber bei der ESA gilt der Grundsatz, andere Einheiten möglichst davon abzuhalten, uns ihre Fälle aufzuhalsen. Selbst wenn es sich um Stephanopoulos handelt.

Wir nennen das Förderung operativer Eigenständigkeit.

»Ich glaube, das können wir erst sicher sagen, wenn die Todesursache bekannt ist«, erklärte ich.

Nachdem ich also Nightingale telefonisch ins Bild gesetzt hatte, nahm ich den Konferenzraum der Silver Vaults in Beschlag, der bequemerweise gleich neben der Lobby lag, und nutzte ihn, um dort unsere Vestigia-Ersteinschätzung abzuschließen. Auf der Grundlage von Dannis Tatortplan beschafften wir uns repräsentative Proben von Kameras, Telefonen und Laptops von den Spurensicherern. Genauer gesagt, wir entrangen sie ihren widerstrebenden Fingern, indem wir hoch und heilig versprachen, alles, was korrekt vermerkt werden musste, korrekt zu vermerken und die Gewahrsamskette einzuhalten, so wahr uns Gott helfe, auf immer und ewig oder mindestens bis zum Prozessauftakt – je nachdem, was zuerst eintreten würde.

Zuerst nahmen wir uns Phillip Arnolds iPhone 6 vor, von dem wir vermuteten, dass es dem Epizentrum am nächsten gewesen war. Für die Pentalope-Schrauben braucht man einen besonderen Schraubenzieher, aber abgesehen davon lässt sich das Sechser besser öffnen als die Vorgängermodelle. Ich hatte es dicht neben meinem Ohr geschüttelt und wusste bereits, was mich erwartete, daher legte ich vorsorglich ein weißes Blatt Papier unter, um den Sand aufzufangen, der herausrann, als ich die Hauptplatine ausbaute. Leider waren die Schutzplatten angelötet, ich musste sie abhebeln, um Danni die Chips zeigen zu können.

»Das passiert, wenn jemand oder etwas in der Nähe eines Mikroprozessors ernsthaft Magie wirkt. Das hier ist im Grunde einfach Siliziumsand mit Spuren verschiedener Metalle und Quarz.«

»Ach, deshalb trage ich die doofe aufziehbare Armbanduhr?«, sagte Danni. »Und musste mein liebes Smartphone, auf dem nebenbei gesagt mein ganzes Leben drauf ist, im Safe am Russell Square einschließen?«

»Wir waren es leid, ständig Handys ersetzen zu müssen«, sagte ich.

»Aber ihr kommt billig an Airwaves«, meinte sie.

»Nicht soo billig«, widersprach ich. »Ich nehme lieber Wegwerfhandys.« Ein solches hatte ich Danni zu Beginn des Kurses spendiert. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es viel leichter ist, die KollegInnen zu etwas zu überreden, wenn es was umsonst gibt.

»Kann ich das dann behalten?«, hatte sie gefragt. »Wenn der Kurs vorbei ist?«

»Wenn’s dann noch funktioniert, gern«, hatte ich geantwortet.

Der Geschäftslaptop war leichter zu öffnen und, genau wie Phillips Smartphone, rettungslos hinüber. Das komplette Set Mikrochips hatte sich quasi in nichts aufgelöst; nur die Verbindungsschrauben, Kabel und Platinen waren übrig. Wenigstens hatte er eine konventionelle Festplatte, was bedeutete, dass man vielleicht die wichtigsten Daten darauf würde retten können. Wobei ich keine Zweifel hatte, dass Sahra keine Zeit verlieren und sofort versuchen würde, dem externen Backup alles Verfügbare über Althea Moore zu entlocken.

Als Nächstes schauten wir uns eine Überwachungskamera an, die zwei Meter neben der Leiche gehangen hatte, dann eine digitale Kasse in vier Metern Entfernung, eine weitere Kamera in sechs Metern, und so in Zwei-Meter-Abständen weiter, bis wir nach zwölf Metern ein iPhone fanden, das keine sichtbaren Schäden aufwies.

»Trotzdem ›nicht funktionsfähig‹«, las Danni vom Etikett des Beweisbeutels ab.

»Damit ein Mikrochip kaputtgeht, braucht es nicht viel.« Mit Hilfe meiner Juwelierlupe konnte ich die nadelspitzengroßen Krater in der Siliziumoberfläche erkennen.

Nun, da der wahrscheinliche Umkreis sichtbarer Zerstörung abgesteckt war, prüften wir nacheinander alle Gegenstände, die wir aus diesem Bereich mitgenommen hatten. Das war eine langwierige Angelegenheit, weil wir alle beschädigten Komponenten fotografieren und sie dann erneut für die Spurensicherung beschriften und verpacken mussten. Als wir endlich alles in den Plan eingezeichnet hatten, war ersichtlich, dass das magische Etwas, das unserem Opfer passiert war, gleich vor der Tür zu Samuel Arnold & Co stattgefunden haben musste.

»Na, Überraschung«, sagte Danni, während wir zusammenpackten. »Ich kapiere nur nicht – wenn die Magie so stark war, dass sie all dem Zeug den Rest gegeben hat, warum hat sie dann kein Vestigium hinterlassen?«

Pluspunkt für den korrekten Singular, dachte ich.

»Dazu habe ich eine Theorie. Willst du sie hören?«

»So eine wie die über den Baum mit Bewusstsein?«, fragte sie.

»Die hier wird durch ein paar mehr Daten gestützt.«

»Daten?«

»Belegbare Daten. Alles voll korrekt dokumentiert.« Wie meine Cousine Abigail sagen würde.

Danni seufzte und schrieb ihr Etikett fertig. »Weißt du, als ich mich für den Kurs hier meldete, hat mich kein Mensch gewarnt, dass es gut wäre, sich mit wissenschaftlichen Methoden auszukennen.«

»Was hattest du denn erwartet? Ouija-Bretter und Tarotkarten?«

»Ja, so in der Art.«

»Ich glaube, in einem der Labore hab ich mal eine Kristallkugel gesehen«, sagte ich. »Aber als moderne, pragmatische Beamte halten wir uns an die Fakten und bewegen uns strikt innerhalb empirischer Rahmenbedingungen.«

»Du warst schon lange nicht mehr auf Streife, oder?«

»Willst du die Theorie jetzt hören oder nicht?«

Sie ließ mich warten, faltete erst sorgfältig einen Beweisumschlag und legte ihn zu den anderen in die Kiste.

»Okay, wie lautet die Theorie?«, fragte sie dann.

»Freut mich, dass du fragst«, sagte ich und erklärte es ihr, während wir die Kisten zurück zur Spurensicherung schleppten und das Übergabeprotokoll unterzeichneten.

»Wir glauben, dass beim Wirken eines Zaubers zweierlei geschieht. Zuerst saugt man Magie an. Und dann erzeugt man damit eine Wirkung. Wie das Werlicht, das ich dir am ersten Tag gezeigt habe.«

»Das war ganz schön krass.«

»Beim Zaubern wird dann einerseits die gewünschte Wirkung frei, aber auch überschüssige Magie«, fuhr ich fort. »Wie wenn du eine Glühbirne einschaltest und außer Licht auch Wärme entsteht.«

»Also ist das Vestigium sozusagen die Wärme.«

»Exakt. Die nötige Magie wird dir selbst und aus irgendeinem Grund auch Mikroprozessoren entzogen.« Ich fügte nicht hinzu, dass es sich möglicherweise um einen Randeffekt dessen handelte, dass unsere Welt mit Paralleluniversen in Berührung kam. Denn a) war das eine noch unbewiesenere Theorie als die erste. Und b) hätte ich mich angehört wie eine Episode von Doctor Who.

Danni runzelte die Stirn. »Das beschädigt also die Chips. Genau wie Gehirne, ja?«

»Du hast Dr. Walids Gehirnbesichtigung schon hinter dir?«

Der Chef-Kryptopathologe des Folly verdeutlichte gern die Gefahren des Magiepraktizierens, indem er den Leuten anschauliche Beispiele von hyperthaumaturgischen Nekrosen zeigte, unter medizinischen Laien auch Blumenkohlhirnsyndrom genannt. Wir haben im Folly eine stattliche Sammlung solcher konservierten Objekte.

»Ja«, sagte sie. »Leider direkt nach dem Frühstück.«

»Wir wissen, dass einige Dinge Magie aus ihrer gesamten Umgebung aufnehmen können«, fuhr ich fort. »Die saugen alles Magische um sich herum auf, einschließlich den Vestigia, so dass kein Fitzelchen zurückbleibt.«

»Einige Dinge

»Ja.«

»Also nicht Personen?«

»Kommt darauf an, wie du Personen definierst.«

»Ich hab da so Geschichten gehört …«

»Was?«

»Na ja, von so einer Art Geist, der sich Leuten in den Kopf setzen konnte und sie dazu brachte, Sachen zu tun. Und dass das der Grund für die Unruhen in Covent Garden war. Und wenn er mit einem fertig war, riss er einem das Gesicht ab, das ist irgendeiner armen Kollegin aus Belgravia passiert.«

Deren Name Lesley May lautete und die mit mir den Abschluss in Hendon gemacht hatte. Deren Gesicht von genau so einem Wesen zerstört und entstellt worden war, das Danni schilderte. Nicht abgerissen, aber die Knochen, Knorpel und Muskeln, die es zusammenhielten, waren auseinandergefallen.

Es geschah vor meinen Augen, und es gab absolut nichts, was ich hätte tun können.

»Du hast gesagt, wenn wir mit der Beweisaufnahme fertig sind, erklärst du mir alles«, drängte Danni. »Also, erkläre.«

»Das Ding, das du da beschreibst, wird Wiedergänger genannt. Man kann es sich als übermächtigen Geist vorstellen.«

»Du hast doch gemeint, Geister wären harmlos.«

»Deshalb sage ich ja übermächtiger Geist. Aber er kann sich einem nur in den Kopf setzen, wenn man ihn reinlässt. Das versucht er, indem er mit deinen Schwächen spielt.«

»Das finde ich gar nicht aufbauend. Ich hab eine Menge Schwächen.«

»Wir wissen nur von einem einzigen bestätigten Wiedergänger«, sagte ich. »Und mit dem sind wir fertig geworden.«

Mehr oder weniger.

Ich hatte tatsächlich provisorische Richtlinien für eine Konfrontation mit genau diesem Wiedergänger verfasst. Zugegebenermaßen beschränkten sie sich ungefähr auf Renn ins Folly, so schnell du kannst, und versteck dich unter Fingerhuts Bett.

»Da seid ihr euch ganz sicher?«

»Wenn Mr. Punch hier gewesen wäre, wüssten wir das. Der arbeitet nicht gern anonym.«

»Mr. Punch?«, fragte Danni.

»Steht alles in dem Infomaterial, das ich dir gegeben habe.«

Danni sah mich mit dem leuchtenden, interessierten Blick der Praktikantin an, die bei der wichtigen Grundlagenlektüre einiges übersprungen hat, es aber nicht zugeben will. »Ach ja, natürlich! Ich erinnere mich.«

Als wir gerade unsere Overalls abstreiften, fuhren die Bestatter die Leiche hinaus.

»Und jetzt?«, fragte Danni, nachdem die Bahre vorbeigerattert war.

»Jetzt finden wir heraus, was genau dem armen Kerl passiert ist«, sagte ich.

2 Skalpell

Wenn man tot ist, gehört man in England und Wales erst einmal dem örtlichen Coroner. Dieses mit Befugnissen aus der Zeit vor der Magna Carta ausgestattete Amt hat die Aufgabe, herauszufinden, was genau dich ins Jenseits befördert hat. Ursprünglich deshalb, um zu bestimmen, ob die Krone das Recht hatte, deinen Besitz einzusacken – die Royals waren ja notorisch knapp bei Kasse. Heutzutage ist das Ziel, Unfälle und Krankheiten von Akten der Böswilligkeit oder Verzweiflung zu unterscheiden. Als Kombination aus Jurist und Arzt müsste der Beruf der Wunschtraum jedes westafrikanischen Elternteils für den hoffnungsvollen Nachwuchs sein; es wunderte mich, dass meine Tanten ihn noch nie ins Spiel gebracht hatten, wenn sie über ihre Karrierepläne für ihre Sprösslinge redeten.

Meine Mum war da anders, die hätte sich notfalls mit Jazzmusiker zufriedengegeben.

Egal, die Coroner entscheiden jedenfalls, wann, wo und unter wessen Skalpell du aufgeschnitten wirst.

Daher ließen wir Thomas Nightingale, Gentlemanzauberer, Kriegsheld und mit mehr Oberschicht-Ausstrahlung als ein Afternoon Tea im Savoy, die Verhandlungen führen. Er hat eine Abmachung mit der Coronerin von Westminster, weshalb Dr. Abdul Haqq Walid und, noch wichtiger, seine höher qualifizierte Assistentin Dr. Jennifer Vaughan dort bei potenziellen Falcon-Fällen ein Erstzugriffsrecht haben.

Die Coronerin von Westminster ihrerseits hat offenkundig ein Faible fürs Makabre und daher eine Abmachung mit den anderen Londoner Coronern, dass sie den ersten Zugriff auf Falcon-Fälle hat, die normalerweise nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen würden. Für gewöhnlich ist es ihren Kollegen nur recht, ihr diese Angelegenheiten zu überlassen, die sich oft als kompliziert und frustrierend erweisen.

Das Iain-West-Leichenschauhaus besitzt mehrere Eingänge. Während unser Opfer mit den Füßen voran über die Laderampe hineingebracht wurde, gingen Guleed, Danni und ich (nach einem Zwischenstopp bei Joe’s Café um die Ecke) durch den Hintereingang rein und die Treppe zum Beobachtungsraum hinauf. Dieser sieht aus wie jeder beliebige Konferenzraum seit den neunziger Jahren – Wände in gedecktem Weiß und ein Konferenztisch mit fast echtem Holzdekor –, nur zusätzlich mit einem großen Flachbildschirm, auf dem das Geschehen im Sektionsraum eine Etage tiefer live zu sehen ist. Es gibt auch eine Art kleinen Joystick, mit dem man die Kamera bewegen kann, aber wenn man zu viel damit herumspielt, fängt Dr. Vaughan an, sarkastische Kommentare zu machen.

Von diesen Aufnahmen dürfen keine Mitschnitte gemacht werden, will man nicht das Missfallen der Coronerin erregen. Da sie zu allem Überfluss auch noch Richterin ist, könnte dieses Missfallen sich auf mannigfaltige und sehr langanhaltende Weise äußern.

Wir saßen also guten Mutes dort oben, schlürften unseren Kaffee, futterten uns durch unsere mitgebrachten Baguettes und sahen aus der Ferne Dr. Vaughan zu, wie sie ihre Arbeit machte.

Ich hätte mir denken können, dass die Idylle nicht von Dauer sein würde.

Nach etwa einer halben Stunde trat Nightingale vom Obduktionstisch zurück und sagte laut, um sicherzugehen, dass das Mikro der Kamera es auch auffangen würde: »Peter, bitte kommen Sie mit Danni herunter. Ich möchte, dass Sie sich das hier direkt ansehen.«

Danni zog eine Grimasse, aber es war klar, dass es wichtig war, sonst hätte Nightingale uns nicht nach unten gebeten.

»Krieg ich deinen Doughnut?«, fragte Guleed, als ich schnell meinen letzten Schluck Kaffee herunterstürzte.

»Nein«, sagte ich und steckte die Tüte in meine Aktentasche.

Danni und ich warfen uns in unsere Schutzkleidung. Unten sahen wir sofort, was er uns zeigen wollte.

Das große Loch in der Brust, wo das Herz hätte sein müssen.

Nun, da es gesäubert war, sah ich, dass es etwa so breit und tief wie meine Faust war. Was auch immer es verursacht hatte, hatte geradewegs den Brustkorb durchschlagen. Durch das rote und graue Gewebe waren die Enden der Rippen zu sehen. Nein, nicht durchschlagen … die Knochenenden wirkten nicht gesplittert, eher wie abgeschnitten, und die Seiten der Wundhöhle waren gruselig glatt. Es sah aus, als hätte jemand dem Mann das Herz mit einem großen Eisportionierer herausgelöffelt.

»Oh Scheiße«, sagte Danni. »Wodurch kommt denn so was zustande?«

»Nach meiner Erfahrung eigentlich durch nichts«, sagte Nightingale. »Es wäre für einen Praktizierenden sehr schwer, die Schutzfunktionen des menschlichen Körpers derart zu überwinden, dass er ihm einen Teil des Brustkorbs entnehmen könnte.«

»Was für Schutzfunktionen?«, wollte Danni wissen – auf ihrem Stundenplan hätte das für Freitag gestanden, als Teil der Lektion Identifizierung von Falcon-Vorfällen Teil III: Körperliche Verletzungen. Ich hätte das Skript auch ganz sicher am Donnerstagabend fertiggestellt – ehrlich.

Aber es geht sowieso nichts über die bewährte Weiterbildung durch die Praxis.

»Den menschlichen Körper direkt zu beeinflussen ist schwer«, sagte ich. »Alles, was ein Zentralnervensystem hat, scheint eine Art antimagisches Feld zu generieren. Man kann Leute mit Magie umwerfen oder Sachen nach ihnen schmeißen, aber direkt in sie hineinzugreifen und etwas mit ihren Eingeweiden anzustellen geht nicht.«

»Das ist ja eine Erleichterung.«

Nightingale zeigte auf die klaffende Wunde. »Jedenfalls nicht so grob wie hier.«

»Vom evolutionsbiologischen Standpunkt aus ergibt das Sinn«, sagte Dr. Walid. »Nicht gegen Magie geschützt zu sein wäre auf lange Sicht für jede Spezies ein Überlebensnachteil.«

Danni hob die Schultern. »Aber offenbar kann man doch in den menschlichen Körper eingreifen.«

»Können wir sicher sein, dass nicht eine Art Waffe im Spiel war?«, fragte ich – etwas ratlos.

»Wir haben im Wundkanal tatsächlich ein Fremdobjekt gefunden.« Dr. Walid hielt uns ein Edelstahltablett hin. Darauf lag etwas, was aussah wie ein kurzes Keramikrohr, vom Durchmesser her gerade so groß, dass mein kleiner Finger hineingepasst hätte. Es schillerte blaugrau, ein Ende war unverkennbar abgebrochen und gesplittert, doch das andere sah aus wie zu einer Hohlspitze geformt, ähnlich wie die eines Bambusspeers.

Ich nahm an, dass nicht das Loch in der Brust, sondern das hier es war, was Nightingale mich untersuchen lassen wollte.

»Soll ich?« Ich streckte die Hand nach dem Tablett aus.

Nightingale nickte. Ich legte die behandschuhten Finger auf das Rohr. Selbst durch das Nitril hindurch fühlte sich die Oberfläche rau und körnig an. Zuerst dachte ich, es sei ebenso frei von Vestigia wie die Umgebung in den Silver Vaults. Doch dann bemerkte ich sie, wie eine Münze auf dem Boden eines Brunnens.

Ich trat zurück, und Danni war dran.

»Nichts«, sagte sie, während sie das Rohr berührte. »Das gleiche Nichts wie am Tatort.« Dann sah ich sie trotz Mundschutz und Schutzbrille die Stirn runzeln. »Doch, halt, da ist was. Sehr schwach. Wie eine Art Licht oder ein leiser Ton.«

Ich sah zu Nightingale hinüber. Er nickte.

Wenn Sie jemanden ausbilden, machen Sie keine halben Sachen, dachte ich.

Ein Licht, wie wenn man einen Schlag auf den Hinterkopf bekommt, hatte Phillip Arnold gesagt.

»Ich vermute, dass es sich hierbei um ein bearbeitetes Stück Fulgurit handelt«, sagte Dr. Walid. »Auch als Blitzröhre bekannt.« Welche dadurch entstand, dass ein Blitz in Sand einschlug und dieser durch die Hitze zu einer Glasröhre verschmolz. Allerdings, merkte Dr. Walid an, musste im vorliegenden Fall die Oberfläche irgendwie geglättet oder poliert worden sein.

»Von so etwas habe ich schon gehört«, sagte Nightingale. »Ich kann mich im Moment nicht erinnern, wo, ich werde in den Bibliotheken im Folly nachsehen müssen.«

In der Umkleide wartete Guleed auf uns.

»Wir haben die Exfrau gefunden«, sagte sie.

 

Da für Danni eine Übungsstunde bei Nightingale im Folly anstand, klärten Guleed und ich die Maßnahme rasch mit Stephanopoulos ab und machten uns zu einer kleinen Plauderei nach Richmond auf. Während Danni und ich mit Blitzröhrenstreicheln beschäftigt waren, hatte Stephanopoulos die Firma Samuel Arnold & Co. überredet, uns Einblick in ihre An- und Verkaufsunterlagen zu gewähren, und so die Adresse bekommen.

»Sie war erst letzte Woche in dem Laden«, sagte Guleed auf dem Weg zu dem hässlichen Hyundai, den sie sich aus dem Fahrzeugpool der Mordkommission geschnappt hatte. »Aber Ringe hat sie keine verkauft, nur ein paar antike Kerzenhalter.«

Während wir uns durch den Verkehr auf der Brompton Road schlängelten, fing es an zu regnen. Stadtbummler und Touristen zogen unter ihren Regenschirmen die Köpfe ein und die Schultern hoch und legten einen Schritt zu. Im Vorbeifahren bemerkte ich, dass die Schaufenster von Harrods geschmackvoll minimalistisch mit Fahrrädern und Schaufensterpuppen in Flapper-Kleidung der 1920er Jahre dekoriert waren.

Ich fragte mich, ob sie die Elektronikabteilung schon wieder instand gesetzt hatten. Es war jetzt über ein Jahr her, und das Kaufhaus hatte die Met bisher nicht auf Schadensersatz verklagt, also war der Schaden wohl durch die Versicherung gedeckt gewesen. Wir hatten nie herausgefunden, wie Lesley May ihr iPhone so präpariert hatte, dass es diese magische Explosion auslöste, die jeden einzelnen hochwertigen Plasmafernseher und jede sündhaft teure Bang-und-Olufsen-Anlage in zwanzig Metern Umkreis ruiniert hatte.

Die Magie war mindestens ebenso mächtig gewesen wie die, die jetzt die Elektronik in den Silberkammern geschrottet hatte, aber nicht annähernd so sauber.

»Ich frage mich, wo sie ist«, sagte Guleed, und ich wusste, dass auch sie an Lesley dachte.

»Irgendwo, wo wir keinen Auslieferungsvertrag haben«, sagte ich. »Und das Wetter besser ist.«

Als wir es über die Chiswick Bridge geschafft hatten, waren schon die ersten Erkenntnisse aus dem umfassenden Datencheck des stationären Ermittlungsteams reingekommen. Ich fasste sie für Guleed zusammen, die uns durch die begrünten Wohnstraßen Richmonds steuerte, wo die Adresse sein musste.

Althea Emma Synon, 1984 geboren, hatte im August 2005 in der Camden Town Hall einen David Moore geheiratet.

»Mit gerade mal einundzwanzig«, sagte Guleed. »Wie alt war er?«

Laut dem Eintrag auf der Heiratsurkunde vierundvierzig. Geboren war er in Handbridge, Chester, wo auch immer das sein mochte, war dann auf die Universität Manchester gegangen und beschrieb sich in seinen Online-Profilen als Sozialunternehmer. Was auch immer das sein mochte.

»Freiberuflicher Charity-Profi«, riet Guleed.

»Dann sind wir vermutlich Sozialkittunternehmer?«

»Hängt vom jeweiligen Einsatz ab, würde ich sagen.«

Althea Emma Moore, geborene Synon, wohnte in der Souterrainwohnung einer viktorianischen Doppelvilla in der Onslow Road, deren Besitzer wie die meisten ihrer Nachbarn den Vorgarten zubetoniert hatten, um dort ihren SUV unterzubringen. In einem seltenen Glückstreffer fand Guleed eine Parklücke vor dem Nachbarhaus, und während sie einparkte, kam der zweite Teil der Personenüberprüfung rein.

Wir waren gerade mal fünf Minuten dort, da hielt schon eine Streife neben uns, was sogar für Guleed und mich ein Rekord war. Ich persönlich wedele dann nur mit meinem Dienstausweis, setze ein »Hey Kumpels, wir machen ja alle nur unseren Job«-Grinsen auf und lasse sie weiterfahren. Aber Guleed macht in solchen Fällen gern eine Szene. Vielleicht weil sie Sergeant ist und glaubt, ein Exempel statuieren zu müssen.

Diesmal wurde daraus aber nichts, denn ehe der PC auf dem Beifahrersitz Guleed fragen konnte, wie sie dazu kam, mit Hijab in einem befriedeten Gebiet herumzulungern, beugte sich die Fahrerin vor, um uns genauer zu mustern, und erkannte mich.

»Bist du das, Peter? Seid ihr im Einsatz?«

Ihr Name war – kein Witz – Tiffany Walvoord, und sie hatte zu dem Noteinsatzteam gehört, das geholfen hatte, mich aus der unseligen Geschichte in Kew herauszuboxen.

»Keine Sorge, Tiff«, sagte ich. »Es geht nur um die Überbringung einer Todesnachricht und eine Aussage.«

»Versprochen?«, fragte Tiffany.

»Mehr nicht, wirklich. Soll ich dich anfunken, falls es spannend werden sollte?«

»Nein. Warte bitte mindestens eine halbe Stunde, dann hab ich Feierabend.«

Ich sagte, ich würde sehen, was sich machen ließe, und Tiffany fuhr weiter. Da war ihr Kollege noch mal glimpflich davongekommen.

»Du nimmst diese Dinge viel zu leicht«, sagte Guleed, beließ es aber dabei, während wir aus dem wahllosen Treibgut von Althea Moores Netzpräsenz ihr Leben zusammenpuzzelten. Sobald wir genug für eine Befragungsstrategie hatten, stiegen wir aus dem Hyundai und gingen zur Treppe, die ins Souterrain hinunterführte.

Dabei erblickte ich flüchtig ein blasses Gesicht in einem Fenster im ersten Stock eines benachbarten Hauses. Das war vermutlich die Person, die vorhin unseretwegen die Polizei gerufen hatte, aber sie verschwand vom Fenster, ehe ich einen genaueren Blick auf sie werfen konnte. Ich merkte mir jedoch die Wohnung – bei einer Ermittlung können neugierige Nachbarn Gold wert sein.

Bei viktorianischen Stadthäusern wie diesem lag das Souterrain leicht erhöht, um den ursprünglichen Bewohnern, für gewöhnlich Dienstboten, etwas Blick nach draußen zu gewähren. Wobei dieser sich in unseren modernen, aufgeklärten Zeiten auf die Mülltonnen und das Hinterteil eines Toyota Land Cruiser beschränkte. Es bedeutete aber, dass dort wohnende Personen uns ausgiebig mustern konnten, während wir die schmale Lieferantentreppe zur Eingangstür hinunterstiegen. Daher war es keine große Überraschung, dass diese sich öffnete, kaum dass wir unten ankamen.

»Kennen Sie schon die frohe Botschaft Jesu Christi?«, fragte die Bewohnerin.

Sie war weiß und hochgewachsen, in grünen Flecktarnhosen und einem schwarzen T-Shirt, auf das eine halb geschälte, vermenschlichte Banane mit Sonnenbrille aufgedruckt war. Ihr blondes Haar schaute unter einem rot-weiß gepunkteten Tuch hervor. Sie hatte weit auseinanderstehende blaue Augen und ein breites, unverkennbar falsches Lächeln. Aus ihren Fotos in den sozialen Medien war sie sofort als Althea Moore erkennbar.