Der begrenzte Ozean kann der griechische oder römische sein; der endlose Ozean ist der portugiesische.
Fernando Pessoa*
∗ Aus „Padrão“, in: Fernando Pessoa, Mensagem, Lissabon 1945, S. 59.
|3|Roger Crowley
Portugals Kampf
um ein Weltreich
Aus dem Englischen von
Norbert Juraschitz und Hans Freundl
|4|Voll innigem Dank Pascal gewidmet,
der mich auf die Reise brachte und anspornte
Die englische Originalausgabe ist 2015 bei Faber & Faber Ltd., London
unter dem Titel Conquerors. How Portugal Seized the Indian Ocean
and Forged the First Global Empire erschienen.
© Roger Crowley, 2015
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© der deutschen Ausgabe 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Lektorat: Rainer Wieland, Berlin
Satz: Janß GmbH, Pfungstadt
Einbandabbildung: Portugiesische Karacken, ca. 1540, © picture alliance/Heritage Images
Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.
Abb. S. 32: Biblioteca Nazionale, Florenz;
Abb. S. 165: akg-images/De Agostini Picture Lib./A. Dagli Orti;
alle anderen Abbildungen im Buch mit freundlicher Genehmigung von Faber & Faber
Karten © András Bereznay, für die deutsche Ausgabe angepasst von Peter Palm, Berlin
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ISBN 978-3-8062-2769-7
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-3325-4
Book (epub): 978-3-8062-3326-1
Prolog: Der Vorposten Europas
Teil eins
Erkundung: Der Weg nach Indien
1 Der Indien-Plan
2 Der Wettlauf
3 Vasco da Gama
4 „Hol dich der Teufel!“
5 Der Samorin
Teil zwei
Wettstreit: Monopole und Heiliger Krieg
6 Cabral
7 Das Schicksal der Miri
8 Zorn und Rache
9 Brückenköpfe
10 Das Königreich Indien
11 Die Große Hure Babylon
12 „Der Schreckliche“
13 Drei Tage in Chaul
14 „Der Zorn der Franken“
15 Diu
|6|Teil drei
Eroberung: Der Löwe des Meeres
16 Die Türen des Samorin
17 „Was die Portugiesen einmal haben, geben sie nie wieder her“
18 Gefangene des Regens
19 Der Einsatz von Terror
20 Zum Auge der Sonne
21 Die Wachskugel
22 „Alle Schätze der Welt in Euren Händen“
23 Die letzte Fahrt
Epilog: „Sie bleiben nie an einem Ort stehen“
Dank
Anhang
Bibliographie
Anmerkungen
Register
Am 20. September des Jahres 1414 schritt die erste Giraffe, die jemals in China gesehen wurde, auf den Kaiserpalast in Peking zu. Die Zuschauer reckten ihre Hälse, um einen Blick auf diese Kuriosität zu erhaschen, auf das Tier „mit dem Körper eines Hirsches und dem Schwanz eines Ochsen, und einem fleischigen, knochenlosen Horn, mit grellen Flecken wie eine rote Wolke oder ein purpurner Nebel“, wie der entzückte Hofdichter Shen Du es beschrieb.1 Das Tier war offensichtlich harmlos: „Seine Hufe treten nicht auf lebende Geschöpfe … die Augen wandern unablässig hin und her. Alle sind hocherfreut über es.“2 Die Giraffe wurde von ihrem Halter, einem Bengalen, am Zügel geführt; es handelte sich um ein Geschenk des fernen Sultans von Malindi an der Küste Ostafrikas.
Das anmutige Tier, das auf einem zeitgenössischen Gemälde festgehalten wurde, war die exotische Trophäe einer der merkwürdigsten und spektakulärsten Expeditionen der Seefahrtsgeschichte. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts entsandte der Kaiser der unlängst gegründeten Ming-Dynastie Yongle über 30 Jahre hinweg zur Demonstration der Macht Chinas eine Reihe von Armadas über die westlichen Meere.
Die Flotten waren riesig. Die erste im Jahr 1405 bestand aus 250 Schiffen mit 28.000 Mann an Bord. In der Mitte fuhren die Schatzschiffe: Dschunken mit neun Masten, mehreren Decks, einer Länge von 130 Metern sowie innovativen, wasserdichten Schotten und gewaltigen Ruderblättern mit einer Fläche von 40 Quadratmetern. Sie wurden von einer Eskorte aus Hilfsschiffen begleitet – Pferdetransporter, Versorgungsschiffe, Truppentransporter, Kriegsschiffe, Wassertanker –, mit denen sie über ein System aus Flaggen, |8|Laternen und Trommeln kommunizierten. Neben Navigatoren, Seeleuten, Soldaten und Hilfsarbeitern nahmen sie auch Übersetzer mit, um mit den „barbarischen Völkern“ des Westens zu sprechen, und Chronisten, um die Reisen zu dokumentieren. Die Flotten hatten ausreichend Proviant für ein Jahr geladen – die Chinesen wollten nicht auf fremde Hilfe angewiesen sein – und navigierten mit Kompassen und geeichten astronomischen Tafeln, die in Ebenholz geschnitzt waren, quer durch das Herz des Indischen Ozeans. Die Schatzschiffe, auch Drachenschiffe genannt, waren so stabil, dass sie bis zur Milchstraße hätten fahren können. „Unsere Segel“, so hieß es in der Chronik, „die erhaben wie Wolken entfaltet waren, setzten ihren Kurs Tag und Nacht fort, schnell wie ein Stern, und [das Schiff] durchschnitt die wilden Wogen.“3 Der Admiral war ein Muslim namens Zheng He, dessen Großvater die Pilgerreise nach Mekka unternommen hatte und der sich des Titels Drei-Juwelen-Eunuch rühmen durfte.
Diese Expeditionen, sechs zu Lebzeiten Yongles und eine siebte von 1431 bis 1433, waren Meisterleistungen der Seefahrt. Jede einzelne dauerte zwei bis drei Jahre und führte weit über den Indischen Ozean, von Borneo bis Sansibar. Auch wenn die Chinesen über reichlich Kapazitäten verfügt hätten, um Piraten zu unterdrücken und Monarchen abzusetzen, und darüber hinaus Waren für den Handel mit sich führten, waren die Fahrten in erster Linie weder militärische noch wirtschaftliche Unternehmungen, sondern sorgfältig inszenierte Zurschaustellungen von „soft power“, wie man heute sagen würde. Die Reisen der Schatzflotten waren gewaltlose Mittel, um den Küstenstaaten Indiens und Ostafrikas die Größe Chinas vor Augen zu führen. Es wurde kein Versuch unternommen, sie militärisch zu besetzen oder den freien Handel zu behindern. Stattdessen folgten sie einer Art Umkehrlogik. Sie waren gekommen, um zu beweisen, dass China lediglich etwas geben wollte, nicht wegnehmen: Die Flotte sollte in die Länder der „Barbaren“, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt, segeln „und ihnen Geschenke machen, um sie durch die Zurschaustellung unserer Macht zu verwandeln“.4 Eingeschüchterte Gesandte der Völker vom Rand des Indischen Ozeans kehrten mit der Flotte zurück, um Yongle Tribut zu zollen – um also China als den Mittelpunkt der Welt anzuerkennen |9|und zu bewundern. Die Juwelen und Perlen, das Gold und Elfenbein sowie die exotischen Tiere, die sie dem Kaiser zu Füßen legten, waren kaum mehr als eine symbolische Anerkennung der chinesischen Überlegenheit. „Die Länder jenseits des Horizonts und am Ende der Welt sind alle zu Untertanen geworden“, hieß es in der Chronik.5 Die Chinesen bezogen sich auf die Welt des Indischen Ozeans, obwohl sie eine gute Vorstellung von dem hatten, was dahinter lag. Während Europa über den Horizont jenseits des Mittelmeers nachdachte und überlegte, wie die Ozeane miteinander verbunden waren und die Form Afrikas aussehen könnte, wussten die Chinesen das allem Anschein nach bereits. Im 14. Jahrhundert hatten sie eine Karte angefertigt, die den afrikanischen Kontinent als ein spitzes Dreieck mit einem großen See im Innern und nach Norden strömenden Flüssen zeigte.
Im Jahr nach dem Eintreffen der Giraffe in Peking und rund 21.000 Seemeilen entfernt, wurde an den Küsten Afrikas eine andere Form von Macht demonstriert. Im August 1415 segelte eine portugiesische Flotte über die Straße von Gibraltar und stürmte die muslimische Hafenstadt Ceuta in Marokko, eine der am besten gesicherten und wichtigsten strategischen Festungen im ganzen Mittelmeer. Die Eroberung verblüffte ganz Europa. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatte Portugal eine Bevölkerung von allenfalls einer Million Menschen. Seine Könige waren zu arm, um eigene Goldmünzen zu prägen. Fischerei und Subsistenzwirtschaft waren die Hauptstützen der Wirtschaft, doch die Armut des Landes wurde lediglich von seinem Ehrgeiz übertroffen. König Johann I., „Johann, der Bastard“, der Begründer der Herrscherdynastie Avis, hatte im Jahr 1385 die Krone des Landes an sich gerissen und die Unabhängigkeit des Landes gegen das benachbarte Königreich Kastilien verteidigt. Der Angriff auf Ceuta sollte den unbändigen Tatendrang des Adels in einem Feldzug bündeln, der den Geist des mittelalterlichen Rittertums mit der Leidenschaft eines Kreuzzugs kombinierte. Die Portugiesen waren gekommen, um ihre Hände im Blut der Ungläubigen zu waschen. Sie erfüllten ihren Auftrag buchstäblich. Eine dreitägige |10|Plünderung und ein Blutbad hatten einen Ort verwüstet, der einst beschrieben wurde als „die Blume aller Städte in Afrika … [dessen] Tor und Schlüssel“.6 Dieser erstaunliche Handstreich lehrte die europäischen Rivalen, dass das kleine Königreich selbstbewusst war, vor Tatendrang strotzte – und nach Höherem strebte.
Drei Söhne Johanns, Duarte, Pedro und Heinrich, hatten sich in Ceuta an einem Tag heftiger Kämpfe ihre ersten Sporen verdient. Am 24. August wurden sie in der dortigen Moschee, nachdem diese rituell mit Salz gereinigt und in Kirche der Jungfrau von Afrika umbenannt worden war, von ihrem Vater zum Ritter geschlagen. Für die jungen Prinzen war dies ein schicksalhafter Moment. In Ceuta hatten die Portugiesen einen ersten Blick auf den Reichtum Afrikas und des Orients erhascht. Die Stadt war der Endpunkt für die Karawanen, die Gold vom Senegal quer durch die Sahara transportierten, und der westlichste Umschlagplatz des islamischen Gewürzhandels mit Indien. Hierher kamen, so der portugiesische Chronist, alle Kaufleute der Welt, aus „Äthiopien, Alexandria, Syrien, dem Land der Berber, Assyrien … sowie jene aus dem Orient, die auf der anderen Seite des Euphrat lebten, und aus Indien … und aus vielen anderen Ländern, die sich jenseits der Achse befinden und jenseits unserer Augen liegen“.7 Die christlichen Eroberer hatten mit eigenen Augen die Vorräte an Pfeffer, Gewürznelken und Zimt gesehen und sie dann auf der Suche nach verborgenen Schätzen vorsätzlich zerstört. Sie hatten die Stände von angeblich 24.000 Händlern geplündert und sich gewaltsam Zutritt zu prachtvoll mit Teppichen verzierten Häusern reicher Kaufleute und in wunderschön gewölbte und gekachelte unterirdische Zisternen verschafft. „Unsere armen Häuser sahen verglichen mit denen Ceutas wie Schweineställe aus“, schrieb ein Augenzeuge.8 An diesem Ort bekam vor allem Heinrich zum ersten Mal den Reichtum zu Gesicht, der „jenseits der Achse“9 errungen werden konnte, falls es gelang, die Barriere der islamischen Welt über die afrikanische Küste zu umgehen. Ceuta markierte den Beginn der portugiesischen Expansion, das Überschreiten der Schwelle zu einer neuen Welt.
Es war das Schicksal Portugals und zugleich sein Glück, dass das Land von der geschäftigen Arena des Handels und der Ideen im Mittelmeer ausgeschlossen war. Am äußersten Rand Europas gelegen, |11|an der Peripherie der Renaissance, konnten die Portugiesen nur voller Neid auf den Reichtum von Städten wie Venedig und Genua blicken, die den Markt mit Luxusgütern aus dem Orient – Gewürze, Seide und Perlen – dominierten, die über die islamischen Städte Alexandria und Damaskus gehandelt und zu Monopolpreisen weiterverkauft wurden. Stattdessen hatten die Portugiesen den Ozean vor sich.
Zwanzig Meilen westlich der Hafenstadt Lagos läuft die Küste Portugals in einer felsigen Landzunge aus, die in den Atlantik hinausragt: Kap St. Vincent. Das ist der Vorposten Europas, der südwestlichste Punkt des Kontinents. Nach der mittelalterlichen Lehre endete hier die Welt. Von den Klippen aus nimmt das Auge eine unendliche Wasserfläche wahr, und man spürt das Rütteln des Windes. Der Horizont krümmt sich im Westen zu einem verschwindenden Punkt, wo die Sonne in eine unbekannte Nacht versinkt. Seit Jahrtausenden blickten die Bewohner des Rands der Iberischen Halbinsel von dieser Küste aus in die Leere. Bei stürmischem Wetter rollen die Brecher mit beängstigender Heftigkeit gegen die Klippen an, und die Wellenkämme bäumen sich in dem langen Rhythmus eines riesigen Ozeans auf und tauchen wieder unter. Die Araber, deren reiches Wissen über die Welt nicht weit hinter der Straße von Gibraltar aufhörte, nannten es das „Grüne Meer der Finsternis“: mysteriös, beängstigend und womöglich endlos. Seit der Antike war es der Ursprung zahlloser Spekulationen gewesen. Die Römer kannten die Kanarischen Inseln, eine gut hundert Meilen südwestlich gelegene Ansammlung von Felsen, die sie die Inseln der Glückseligen nannten und von denen aus sie die Länge maßen – sämtliche Punkte östlich davon. Nach Süden hin verblasste Afrika zu einer Legende, seine Größe und der Endpunkt waren unbekannt. Auf antiken und mittelalterlichen Karten, die auf Papyrus oder Pergament gemalt waren, ist die Welt für gewöhnlich eine runde Scheibe, umgeben vom Meer. Amerika ist noch nicht entdeckt, der äußerste Rand der Erde durch eine unüberwindliche Barriere schwarzer Gewässer abgetrennt. Der Geograph des Altertums, Ptolemäus, der im Mittelalter sehr großen Einfluss hatte, glaubte, dass der Indische Ozean von Land umschlossen und für Schiffe unerreichbar sei. Aber für die Portugiesen war die Aussicht vom Kap St. Vincent ihre |12|große Chance. Entlang dieser Küste lernten sie in einer langwierigen Lehrzeit als Fischer die Kunst der Navigation auf offener See und die Geheimnisse der atlantischen Winde, die ihnen eine beispiellose Kunstfertigkeit in der Schifffahrt verleihen sollten. Nach dem Sturm auf Ceuta fingen sie an, dieses Wissen für Reisen entlang der afrikanischen Küste zu nutzen, die schließlich in dem Versuch, Indien auf dem Seeweg zu erreichen, gipfelten.
Die kreuzfahrerischen Feldzüge gegen Muslime in Nordafrika waren eng mit dem portugiesischen Abenteuer zur See verknüpft. In einem symmetrischen Bogen begann das Königshaus Avis seinen Aufstieg bei Ceuta im Jahr 1415 und wurde 163 Jahre später nicht weit davon vernichtet. In der Zwischenzeit stießen die Portugiesen schneller und weiter als jedes andere Volk der Geschichte über den ganzen Globus vor. Aus dem Stand arbeiteten sie sich an der Westküste Afrikas entlang nach Süden vor, umrundeten das Kap und erreichten im Jahr 1498 Indien, gelangten im Jahr 1500 an die brasilianische Küste, 1514 nach China und 1543 nach Japan. Der portugiesische Seefahrer Fernão de Magalhães (Magellan) ermöglichte es den Spaniern, in den Jahren nach 1518 die Welt zu umsegeln. Der Feldzug von Ceuta war der Ausgangspunkt für diese Unternehmungen; er wurde ersonnen als ein Ventil für religiöse, wirtschaftliche und nationalistische Leidenschaften, geschürt von einem schwelenden Hass auf die islamische Welt. In den „Kreuzzügen“ nach Nordafrika erhielten mehrere Generationen von portugiesischen Konquistadoren ihre erste Weihe. Hier lernten sie die kriegerische Gier und die reflexhafte Gewalt, die die Völker des Indischen Ozeans traumatisieren und schon einer kleinen Zahl von Eindringlingen enorme Stoßkraft verleihen sollten. Im 15. Jahrhundert zählte die ganze Bevölkerung Portugals kaum mehr als die der chinesischen Stadt Nanking, doch seine Schiffe verbreiteten mehr Angst und Schrecken als die Armadas von Zheng He.
Die Ehrfurcht einflößenden Schatzflotten der Ming-Kaiser waren im Vergleich dazu so fortschrittlich und kostspielig wie Mondraketen – jede verschlang die Hälfte der jährlichen Steuereinnahmen des Landes –, und sie ließen kaum mehr als Fußspuren im Mondstaub zurück. Im Jahr 1433 starb Zheng He auf der siebten Expedition, möglicherweise in Calicut an der indischen Küste. Vermutlich |13|wurde er auf See bestattet. Nach ihm lief nie wieder eine Schatzflotte aus. Die politische Stimmung in China hatte sich gewandelt: Die Kaiser bauten die Große Mauer aus und schotteten sich ab. Schiffsreisen über die Ozeane wurden verboten, sämtliche Unterlagen darüber zerstört. Im Jahr 1500 war es bei Todesstrafe verboten, ein Schiff mit mehr als zwei Masten zu bauen; 50 Jahre danach war es schon ein Verbrechen, mit einem Schiff in See zu stechen. Die Technologie der Drachenschiffe ging mit Zheng Hes Leichnam in den Wogen des Indischen Ozeans verloren; ein Machtvakuum blieb zurück, das darauf wartete, gefüllt zu werden. Als Vasco da Gama 1498 die Küste Indiens erreichte, waren die Einheimischen lediglich imstande, unzusammenhängende Berichte von mysteriösen Besuchern mit merkwürdigen Bärten und unglaublichen Schiffen zu erzählen, die einst vor ihrer Küste aufgetaucht seien. Zheng He ließ nur ein bemerkenswertes Andenken an seine Reisen zurück: eine auf Chinesisch, Tamilisch und Arabisch beschriftete Gedenktafel, die Buddha, Shiva beziehungsweise Allah Lob und Dank darbringt: „Kürzlich haben wir Missionen entsandt, um unseren Auftrag fremden Völkern kundzutun, und während ihrer Reise über die See waren sie von dem Segen Eures wohlwollenden Schutzes begünstigt. Sie entkamen Elend und Unglück und reisten sicher hin und zurück.“10 Es handelte sich um eine Geste der religiösen Toleranz, aufgestellt bei Galle nahe der Südwestspitze der Insel Ceylon (das heutige Sri Lanka), wo die Flotten den Kurs zur Westküste Indiens in Richtung Arabisches Meer änderten.
Die Portugiesen kamen ohne vergleichbaren Segen oder Pracht. Die winzigen Schiffe Gamas mit rund 150 Mann hätten wohl alle in eine einzige Dschunke von Zheng He gepasst. Die Geschenke, die sie einem hinduistischen König anboten, waren so erbärmlich, dass er sich weigerte, sie auch nur eines Blickes zu würdigen, aber sie verkündeten ihre hohen Ziele mit auf die Segel gemalten roten Kreuzen und bronzenen Kanonen. Im Gegensatz zu den Chinesen schossen sie zuerst und gingen nicht wieder weg. Die Eroberung war ein dauerhaftes, nationales Projekt; Jahr für Jahr bauten sie ihre Stellung aus, bis es unmöglich war, sie zu verdrängen.
Der Gedenkstein von Galle steht noch heute. Er ist von zwei chinesischen Drachen gekrönt, die die Welt herausfordern, aber portugiesische |14|Seeleute aus dem primitiven Europa verbanden als Erste die Ozeane miteinander und legten den Grundstein zu einer globalen Wirtschaft. Das Ausmaß ihrer großen Leistung ist weitgehend unbemerkt geblieben. Es war eine weitreichende Meisterleistung der Schifffahrt, des Handels und der Technologie, finanzieller und militärischer Anstrengung, der Diplomatie und der Spionage, der Ausdauer, des Mutes – mit Seeschlachten, Schiffbrüchen und extremer Gewalt. Im Mittelpunkt stand ein erstaunlicher Aufbruch von rund 30 Jahren, der Gegenstand des vorliegenden Buches ist, als diese Schar Portugiesen, angeführt von einer Handvoll außergewöhnlicher Gründerfiguren, versuchten, den Islam zu zerschlagen und den ganzen Indischen Ozean und Welthandel unter ihre Kontrolle zu bringen. In diesem Prozess legten sie das Fundament für ein globales Imperium und leiteten das große Zeitalter der europäischen Entdeckungen ein. Die historische Epoche Vasco da Gamas setzte eine 500 Jahre währende westliche Expansion und die Kräfte der Globalisierung in Bewegung. Die Folgen erleben wir noch heute.
Im August 1483 stellte eine Gruppe wettergegerbter Seemänner einen Pfeiler aus Stein auf einer Landspitze an der Küste des heutigen Angola auf. Er war knapp 1,70 Meter hoch, mit einem Eisenkreuz an der Spitze, das mit gegossenem Blei im Sockel verankert war. Die zylindrische Säule lief oben in einen Würfel zu, dessen Seiten mit einem Wappen und einer Inschrift auf Portugiesisch versehen waren:
Im Jahre 6681 nach der Erschaffung der Welt und 1482 Jahre nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus sandte der Hohe und Vortreffliche und Mächtige Herrscher König Johann II. von Portugal Diogo Cão aus, den Schildknappen seines Hauses, um dieses Land zu entdecken und diesen Pfeiler zu errichten.1
Dieses Monument, eine winzige Nadel in der gewaltigen Landmasse Afrikas, markierte den bislang südlichsten Punkt, den die europäischen Forschungsreisen jenseits der Küsten des Mittelmeeres erreicht hatten. Er war zugleich ein bescheidenes Symbol der Inbesitznahme und ein Stab, der an der afrikanischen Westküste von Landspitze zu Landspitze nach Süden getragen wurde auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien. Der Wappenpfeiler erzählte seine eigene mythische Geschichte von Zeit, Identität und religiöser Mission. Cão errichtete mehrere dieser Steinmale, als er auf Geheiß seines Königs nach Süden segelte. Diese Pfeiler, die wahrscheinlich ein Jahr vorher in den grünen Hügeln von Sintra in der Nähe von Lissabon behauen und Tausende Seemeilen auf einer schaukelnden |18|Karavelle befördert worden waren, kündeten von einer erklärten Absicht, einem festen Vorsatz, wie eine amerikanische Flagge, die in ein Raumfahrzeug geladen wurde, das auf dem Mond landen sollte. Als Cão von seinem Wappenpfeiler aus nach Süden blickte, sah er, dass sich die Küste nach Osten zu neigen schien. Vielleicht dachte er, er befinde sich nahe am Ende von Afrika. Der Weg nach Indien war in Sicht.
Dieser Pfeiler markierte die Endpunkte von Diogo Cãos Reisen entlang der afrikanischen Westküste. Er wurde im Januar 1486 am Kreuzkap in Namibia aufgestellt und 1893 nach Berlin gebracht.
Wie eine Apollo-Raumfahrtmission versinnbildlichte auch dieser Augenblick jahrzehntelange Bemühungen und Anstrengungen. Nach der Einnahme von Ceuta hatte Prinz Heinrich, der als Heinrich der Seefahrer in die Geschichte einging, damit begonnen, Expeditionen entlang der afrikanischen Küste zu unterstützen, die nach Sklaven, Gold und Gewürzen suchen sollten. Jahr für Jahr, Landspitze für Landspitze drangen die portugiesischen Schiffe weiter vor an der sich westwärts wölbenden Küstenlinie Westafrikas, vorsichtig das Terrain auslotend und stets auf der Hut vor Untiefen und Riffen, über denen sich die donnernde Meeresbrandung brach. Dabei begannen sie auch nach und nach die Form des Kontinents zu erfassen: die Wüstenküste von Mauretanien, die üppigen tropischen Strände jener Gegend, die sie Guinea nannten, das Land der Schwarzen und die großen Flüsse Äquatorial-Afrikas: den Senegal und den Gambia. Unter Heinrichs Führung verbanden sich Erforschung, Plünderung und Handel mit ethnographischer Neugier und Kartographierung. Jedes neue Kap und jede Bucht |19|wurden in Verbindung mit dem Namen eines christlichen Heiligen, einem sichtbaren Merkmal oder einem bestimmten Ereignis in eine Karte eingetragen.
Diese Expeditionen waren eher bescheidene Unternehmungen: zwei oder drei Schiffe unter Leitung eines Mitglieds von Heinrichs Hofstaat, während die Navigation und die Schiffsführung in den Händen eines erfahrenen, doch nicht namentlich genannten Steuermanns lag. Auf jedem Schiff gab es ein paar Soldaten, die ihre Armbrust schussbereit hatten, wenn sich das Schiff einem unbekannten Ufer näherte. Die Schiffe, es handelte sich um Karavellen, waren eine portugiesische Entwicklung und wahrscheinlich arabischen Ursprungs. Ihre dreieckigen Lateinersegel ermöglichten es ihnen, hart am Wind zu segeln, was sehr wichtig war, um sich von der guineischen Küste abzusetzen, und aufgrund ihres geringen Tiefgangs konnten sie auch in Meeresarme und Flussmündungen vorstoßen. Diese Schiffe eigneten sich sehr gut für Forschungsfahrten, wenngleich längere Seereisen aufgrund ihrer geringen Größe – sie waren 25 Meter lang und 7 Meter breit – und des begrenzten Lagerraums für Vorräte mit vielen Unannehmlichkeiten verbunden waren.
Heinrich verfolgte verschiedene Motive. Portugal war ein kleines und armes Land an der Peripherie Europas und fühlte sich durch seinen mächtigen Nachbarn Kastilien bedrängt. Bei Ceuta hatte Portugal einen Blick in eine andere Welt geworfen. Heinrich und seine Nachfolger hofften, Zugang zu finden zu den Stätten des afrikanischen Goldes, sich Sklaven und Gewürze anzueignen. Heinrich wurde inspiriert durch mittelalterliche Karten, die auf Mallorca von jüdischen Kartographen erstellt worden waren und funkelnde Flüsse zeigten, die zum Reich des legendären Mansa Musa führten, des „Königs der Könige“, der das Königreich Mali seit dem 14. Jahrhundert regierte und die sagenumwobenen Goldminen am Fluss Senegal beherrschte. Diese Karten legten die Vermutung nahe, dass es Flüsse gab, die den gesamten Kontinent durchflossen und mit dem Nil verbunden waren. Sie nährten die Hoffnung, dass man Afrika auf dem Wasserweg durchqueren könne.
Der Hof stellte diese Fahrten gegenüber dem Papst als Kreuzzüge dar – als eine Fortsetzung des Kampfes gegen den Islam. Die Portugiesen hatten die Araber viel früher aus ihrem Land vertrieben als |20|ihre Nachbarn in Kastilien und schon früh ein Gefühl von nationaler Identität entwickelt, doch der Appetit auf Glaubenskriege war nach wie vor ungestillt. Als katholisches Herrschergeschlecht bemühte sich das Königshaus Avis darum, auf der europäischen Ebene als Kämpfer für die Sache Christi anerkannt zu werden. In einem Europa, das sich zunehmend von einem militanten Islam bedroht fühlte, vor allem nach dem Fall Konstantinopels im Jahr 1453, erhielten die Portugiesen vom Papst moralische und finanzielle Unterstützung, und es wurden ihnen im Namen Christi territoriale Rechte über die erforschten Gebiete eingeräumt. Der Auftrag aus Rom lautete, „sämtliche Sarazenen, Heiden und sonstigen Feinde der Christenheit zu besiegen, gefangen zu nehmen, zu vernichten und zu unterwerfen … und sie in immerwährende Sklaverei zu führen.“2
Die Portugiesen wurden aber auch von dem Verlangen nach großen Taten getrieben. Heinrich und seine Brüder waren halbe Engländer – ihre Mutter war Philippa von Lancaster, Enkelin von Edward III.; ihr Vetter war Heinrich V., der Sieger von Azincourt. Eine Aura edler Ritterlichkeit, gespeist durch ihre anglo-normannischen Vorfahren und die mittelalterliche Literatur, umgab den Königshof und beseelte die rastlosen Adeligen mit einer kraftvollen Mischung aus gereiztem Stolz, verwegenem Mut und dem Wunsch nach Ruhm, verbunden mit dem Fieber des Kreuzzugs. Diese adelige Schicht, auf Portugiesisch fidalgos genannt, wörtlich „Söhne einer Familie mit Besitz“, lebte, kämpfte und starb nach einem Ehrenkodex, der die Portugiesen überall auf der Welt begleitete.
Hinter der afrikanischen Unternehmung stand der uralte Traum eines militanten Christentums: dass man den Islam einfach umgehen könne, der den Weg nach Jerusalem und zu den Reichtümern des Ostens versperrte. Auf einigen der Karten wurde eine Herrschergestalt in einem roten Gewand, mit einer Bischofsmitra auf dem Kopf und auf einem golden glänzenden Thron dargestellt. Das war der legendäre christliche Priesterkönig Johannes. Der Mythos vom Priester Johannes reichte weit zurück ins Mittelalter. Er verkörperte den Glauben an die Existenz eines mächtigen christlichen Regenten, der jenseits der muslimischen Welt in Asien herrschte und mit dem sich die westliche Christenheit verbünden könne, um die Ungläubigen zu vernichten. Dieser Mythos beruhte auf Berichten |22|von Reisenden, auf literarischen Fälschungen – einem berühmten Brief, der im 12. Jahrhundert auftauchte und angeblich von dem bedeutenden König selbst geschrieben worden war – und auf dem verschwommenen Wissen, dass es tatsächlich christliche Gemeinschaften außerhalb Europas gab: die Nestorianer in Zentralasien, die Anhänger des Heiligen Thomas in Ostindien und ein mächtiges christliches Königreich im äthiopischen Hochland. Der Priesterkönig sollte über gewaltige Heere verfügen und unermesslich reich sein, „mächtiger als jeder andere Mann auf der Welt und reicher als jeder andere an Gold, Silber und Edelsteinen“, wie es in einem Bericht aus dem 14. Jahrhundert hieß.3 Die Dächer und das Innere der Häuser in seinem Reich sollten mit Gold gefliest sein, die Waffen seines Heeres aus Gold geschmiedet. Im 15. Jahrhundert wurde die Figur des Priesterkönigs auf die tatsächlichen christlichen Könige Äthiopiens übertragen, und die Karten ließen den Schluss zu, dass man sein Reich auf dem Wasserweg durch das Herz Afrikas erreichen könne. Mehr als ein Jahrhundert lang konnte sich dieses betörende Trugbild in den Vorstellungen und dem strategischen Denken der Portugiesen halten.
Ausschnitt aus dem Katalanischen Weltatlas aus dem Jahr 1375, der auf Mallorca angefertigt wurde. Er zeigt Mansa Musa mit einem Goldklumpen in der Hand. Im Norden liegen der sagenumwobene Goldene Fluss, die Küste Nordafrikas und Südspanien.
Die Karten, die Reiseberichte, die undeutlichen Bilder von großen Flüssen, auf denen man in das Innere Afrikas gelangen könne, die sagenhaft anmutenden Gerüchte über Gold, die Kunde von mächtigen christlichen Herrschern, mit denen man ein Bündnis gegen die islamische Welt bilden könnte – dieses Gemisch aus Halbwahrheiten, Wunschdenken und geographischen Irrtümern sickerte in das Weltbild der Portugiesen. Dies lockte sie an der afrikanischen Küste immer weiter nach Süden, trieb sie zur Suche nach dem Goldenen Fluss oder jenem Strom, der sie zum Priester Johannes bringen würde. Jede Bucht, jede Flussmündung erschien ihren Suchschiffen Erfolg versprechend, doch das Vordringen an der Küste musste hart erkämpft werden. Die Wellenbrecher machten jede Landung zu einem gefährlichen Unterfangen; der Empfang durch die einheimische Bevölkerung erzeugte stets Unbehagen. Die Seefahrer stießen in den Flussmündungen auf ausgedehnte Lagunen und undurchdringliche Mangrovensümpfe, hatten mit dichtem Nebel, Flauten und heftigen äquatorialen Regenfällen zu kämpfen. Das Fieber streckte viele Seeleute nieder. Im Golf von Guinea behinderten die |23|widrigen Winde und die starken Strömungen von Osten nach Westen das Vorankommen, doch die Seefahrer wurden lange Zeit von der nach Osten gerichteten Neigung der Küste angetrieben. Allmählich gelangten sie zu der Überzeugung, dass sie sich der Südspitze Afrikas näherten und dass die Schätze Indiens über das Meer und nicht auf einem Fluss erreichbar seien, doch die Form und die schiere Größe des Kontinents, der fünfzig Mal größer war als die Iberische Halbinsel, sollte in den Vorstellungen der Portugiesen fast 80 Jahre lang für Verwirrung und falsche Vermutungen sorgen.
Der Gedanke, sich dem Griff des Islam zu entziehen, indem man die islamische Welt umging, war wirtschaftlich wie auch ideologisch motiviert. Unmittelbar mit den Völkern im subsaharischen Afrika Handel zu treiben, sich Gold und möglicherweise auch Gewürze zu beschaffen – das Bild des Goldklumpens in den Händen des Königs von Mali –, entfaltete eine enorme Anziehungskraft; sich mit Priester Johannes und dessen sagenumwobener Armee zu verbünden und den Islam im Rücken anzugreifen, wirkte ebenso verlockend. Als Heinrich starb, kam die Initiative für eine Weile zum Erliegen, wurde jedoch in den 1470er-Jahren durch seinen Großneffen Prinz Johann wieder aufgenommen. Als Johann 1481 zum König gekrönt wurde, gewann das Afrika-Projekt neuen Schwung.
Mit seinem schwarzen Bart, dem langen Gesicht, einem leicht melancholischen Gesichtsausdruck und einer „so würdevollen und gebieterischen Ausstrahlung, dass jedermann ihn als König erkannte“4, war Johann „ein Mann, der andere befehligte, selbst aber von niemandem befehligt wurde“.5 Er war wahrscheinlich der bemerkenswerteste europäische Monarch der frühen Moderne. Für die Portugiesen ging er als „der vollkommene Fürst“ in die Geschichte ein. Seine Gegenspielerin Isabella, die Königin von Kastilien und des späteren vereinten Spanien, verlieh ihm die höchstmöglichen Würden. Für sie war er schlicht „der Mann“. Johann war beseelt „von dem starken Verlangen, Großes zu vollbringen“6, und die erste große Unternehmung, die er in Angriff nahm, war die Erforschung von Afrika. In den ersten fünf Jahren nach seiner Thronbesteigung forcierte er die Entdeckungs- und Forschungsreisen, durch die er zwei Ziele zu erreichen hoffte: einen Seeweg nach Indien zu finden und eine Verbindung zum legendären Reich des Priesters |24|Johannes herzustellen. Diese Aufgabe wurde Diogo Cão anvertraut, der die Wappenpfeiler an der Westküste Afrikas errichtete.
Johann II., der „vollkommene Fürst“
Doch in den 1480er-Jahren kamen in Lissabon auch andere Vorstellungen über einen möglichen Seeweg nach Indien in Umlauf. Die Stadt war das Zentrum des Entdeckergeistes, ein Labor, in dem neue Ideen über die Welt einer Prüfung unterzogen wurden. Aus allen Teilen Europas blickten Astronomen, Wissenschaftler, Kartographen und Kaufleute nach Portugal, wo sie die neuesten Informationen über die Form von Afrika erhielten. Jüdische Mathematiker, Genueser Kaufleute und deutsche Kartographen wurden angezogen vom Trubel der Straßen Lissabons, von den Ausblicken von der Mündung des Flusses Tejo auf den unendlichen Ozean, aus dem die Karavellen zurückkehrten mit schwarzen Sklaven, farbenprächtigen Papageien, Pfeffer und handgezeichneten Karten. Johanns Interesse an Navigation führte zur Einrichtung eines wissenschaftlichen Ausschusses, der diese intellektuellen Ressourcen nutzbar machte. Zu dessen Mitgliedern gehörten José Vizinho, Schüler des großen jüdischen Astronomen und Mathematikers Abraham Zacuto, und der Deutsche Martin Behaim, der später den ersten erhalten gebliebenen Erdglobus schaffen sollte. Im Interesse der wissenschaftlichen Forschung unternahmen beide Männer auf portugiesischen Schiffen Reisen, auf denen sie Sonnenbeobachtungen durchführten.
|25|Während Cão im Sommer 1483 an der afrikanischen Küste weiter nach Süden vordrang, befand sich der Genueser Abenteurer Cristoforo Colombo – dessen Name im Spanischen Cristóbal Colón und auf Deutsch Christoph Kolumbus lautet – am Königshof in Lissabon und warb für eine andere Vorgehensweise bei der Suche nach einem Seeweg nach Indien. Dieser Vorschlag war Johann bereits bekannt. Schon vor zehn Jahren hatte er von dem berühmten Florentiner Mathematiker und Kosmographen Paolo Toscanelli einen Brief erhalten, in dem dieser von einem „Seeweg nach Indien“ gesprochen hatte, „dem Land der Gewürze, der kürzer ist als jener über Guinea“7. Da die Erde eine Kugel sei, argumentierte er, sei es möglich, über beide Himmelsrichtungen nach Indien zu gelangen, und die Strecke würde kürzer sein, wenn man nach Westen segelte. Abgesehen von der noch unbekannten Barriere Amerika beging Toscanelli einen grundlegenden Fehler: Er hatte den Umfang der Erde falsch berechnet. Doch der Brief und die Karte sollten zu einem machtvollen Treibsatz in dem sich beschleunigenden Wettrennen um die Welt werden, das die Iberische Halbinsel in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts erfasste. Auch Kolumbus kannte Toscanellis Brief und besaß eine Kopie davon, und er ersuchte nun selbstbewusst König Johann um finanzielle Mittel, um einen entsprechenden Versuch zu unternehmen. Der König war neuen Ideen stets aufgeschlossen. Er leitete den kühnen Vorschlag von Kolumbus an sein Gremium aus Gelehrten und Mathematikern zur Prüfung weiter und wartete auf die Heimkehr von Cão.
Dieser kam im folgenden Jahr, 1484, Anfang April nach Lissabon zurück und berichtete von der sich nach Osten neigenden Küste. Johann befragte seinen Entdecker ausführlich und nahm die Ergebnisse mit Zufriedenheit zur Kenntnis. Zum Dank gewährte er Cão eine jährliche Pension und erhob ihn in den Adelsstand, was ihm das Recht verlieh, ein eigenes Wappen zu führen. Cão wählte als Emblem zwei Pfeiler, die von Kreuzen geziert wurden. Für Johann lag Indien nun gewissermaßen zum Greifen nahe. Eine weitere Expedition musste die Entscheidung bringen.
Durch Cãos Bericht zerschlugen sich die Hoffnungen von Kolumbus. Sowohl das Auftreten als auch die Berechnungen des Genuesen wurden als verfehlt eingestuft. Johanns Expertengremium kam zu dem Schluss, dass Kolumbus Toscanellis Irrtum bezüglich der |26|Größe der Welt übernommen habe. Mehr noch: Kolumbus hatte bei seiner Schätzung der Entfernung nach Indien den Globus um 25 Prozent zu klein angesetzt, und seine Selbstgewissheit wurde als unerträglich aufgefasst, ebenso wahrscheinlich seine Forderung nach Vergütung. „Da der König sah, wie dieser Cristóvão Colombo prahlerisch und aufdringlich von seinen Fähigkeiten sprach und sich so sehr täuschte und irrte bezüglich der Lage der Insel Japan, schenkte er ihm nur wenig Glauben“, berichtete der portugiesische Historiker João de Barros, „worauf dieser enttäuscht den König verließ und sich nach Spanien begab, wo er abermals sein Anliegen vorbrachte“.8 Kolumbus versuchte jetzt, Isabella und Ferdinand für seine Pläne zu gewinnen und machte sich die Rivalität zwischen den beiden Königreichen zunutze, um sein Projekt voranzutreiben.
Johann war überzeugt, dass sich der Erfolg bald einstellen würde. Im Mai oder Juni 1485 wurde Cão in Begleitung von Martin Behaim abermals mit zwei Wappenpfeilern ausgesandt, die er am äußersten Ende von Afrika aufstellen sollte. Einige Monate später gab der portugiesische König der Welt bekannt, dass seine Seeleute kurz vor dem entscheidenden Durchbruch standen. Im November überbrachte sein Gesandter Vasco Fernandes de Lucena dem neuen Papst Innozenz VIII. die Ergebenheitsadresse des Königs, in der sich nationalistisches Werben und Kreuzzugsrhetorik auf eindringliche Weise verbanden. Er sprach vom Priester Johannes und
der wohlbegründeten Hoffnung, das Arabische Meer zu erkunden, jenseits dessen das Reich und die Nationen der Bewohner Asiens liegen, von denen wir nur wenig wissen, die jedoch mit frommer Hingabe dem Glauben an den Erlöser anhängen und zu denen man, wenn es stimmt, was die meisten gelehrten Geographen verkünden, in wenigen Tagesreisen gelangen kann. Als unsere Seefahrer den größten Teil der afrikanischen Küste erkundeten, drangen sie im vergangenen Jahr bis in die Nähe der Prassus-Landspitze vor [das Ende von Afrika], wo das Arabische Meer beginnt; sie erforschten sämtliche Flüsse, Küsten und Häfen in einer Entfernung von mehr als 4500 Seemeilen von Lissabon mit der aufmerksamsten Beobachtung der See, des Landes und der Sterne. Sobald dieses Gebiet erforscht ist, werden wir eine gewaltige Vermehrung des Reichtums und des Ruhmes der christlichen Völker und insbesondere von Euch, Heiliger Vater, zu gewärtigen haben.9
|27|Lucena fuhr fort mit einem Satz aus dem Psalm 72: „Er wird herrschen von einem Meer bis ans andere und von dem Strom an bis zu der Welt Enden.“10 Dieser Fluss war der Jordan; es hätte aber in Johanns zunehmend globale Züge annehmenden Vision auch der Tejo sein können.
Doch noch während Lucena seine Aufwartung machte, wurden die Hoffnungen des Königs erneut zunichte gemacht. Tausende Meilen entfernt entdeckte Cão, dass die ostwärts gerichtete Neigung des Landes eine Täuschung war; es handelte sich nur um eine große Bucht, die sich schnell wieder in südlicher Richtung fortsetzte in einer unendlich erscheinenden Küstenlinie. Im Herbst dieses Jahres stellte er noch einen Wappenpfeiler auf einer 160 Meilen weiter im Süden gelegenen Landspitze auf; die Küste ging allmählich von äquatorialen Regenwäldern in tief gelegenes Ödland und Hügel mit spärlicher Vegetation und Halbwüste über. Cão erreichte die Grenze seiner Kräfte an einem Ort im heutigen Namibia, der Kreuzkap genannt wurde, wo er seinen letzten Pfeiler aufstellte inmitten einer Kolonie von Seehunden, die sich auf schwarzen Felsen sonnten. Es hatte den Anschein, als würde Afrika kein Ende nehmen, und an dieser Stelle fällt Cão durch die Spalten der Geschichte und verschwindet. Entweder starb er auf der Rückfahrt, oder er schaffte es zurück nach Lissabon, und Johann, der wegen des Fehlschlags dieser öffentlich groß herausgestellten Mission wütend und beschämt war, verstieß ihn in Schmach und Schande, und er fiel dem Vergessen anheim.
Welches Schicksal ihm auch beschieden war: Cão hatte dem kartographischen Wissensschatz 1450 Meilen Küstenlinie hinzugefügt. Die Portugiesen schienen nicht nachzulassen in ihrem Willen und ihrem Eifer, über die Grenzen der bekannten Welt hinaus vorzustoßen, in ihren wendigen Karavellen über die rauen Meere zu segeln und die gigantischen Ströme Westafrikas zu erforschen, um das sagenumwobene Reich des Priesters Johannes zu finden und eine Inlandverbindung zum Nil. Viele von ihnen kamen zu Tode bei diesen Unternehmungen. Sie starben in untergehenden Schiffen, an Malaria, vergifteten Pfeilen oder in der Isolation und hinterließen ihre kleinen Markierungszeichen als Talismane gegen das Vergessen.
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Die Hauptinschrift an den Felsen der Yellala-Wasserfälle
Es gibt kein ergreifenderes Denkmal für Cãos Bemühungen als jenes an den Yellala-Wasserfällen am Fluss Kongo. Um hierher zu kommen, musste man hundert Meilen flussaufwärts segeln oder rudern, musste Mangrovensümpfe und dicht bewaldete Flussufer durchqueren. Im weiteren Verlauf des Flusses nahm die Strömung zu, die Entdecker gelangten zu einer Felsenschlucht und einem donnernden Wasserfall, über den sich eine gewaltige Sturzflut aus dem Herzen Afrikas ergoss. Als sie nicht mehr weiterkamen, verließen sie ihre Schiffe und stiegen zehn Meilen über die Felsen in der Hoffnung, weiter flussaufwärts wieder befahrbares Gewässer zu finden, mussten jedoch enttäuscht feststellen, dass sich eine Stromschnelle an die andere reihte. Auf einem überhängenden Felsen über den herabstürzenden Wassermassen hinterließen sie eine Inschrift, ein Monument der besonderen Art. Es bestand aus dem Wappen von König Johann, einem Kreuz und den Worten: „Hierher gelangten die Schiffe des ruhmreichen Herrschers Dom João des Zweiten von Portugal, Diogo Cão, Pedro Anes, Pedro da Costa, Álvaro Pyris, Pêro Escolar A …“ Rechts unten und von anderer Hand eingemeißelt standen weitere Namen: „João de Samtyago, Diogo Pinheiro, Gonçalo Alvares, der erkrankte João Alvares …“ und der Vorname „Antam“ (Anton).11
Alle diese Inschriften sind abgebrochen. Unter welchen Umständen sie entstanden, ist ebenso unklar wie der letzte Eintrag im Tagebuch eines Polarforschers. Sie überliefern uns die Namen jener Männer, welche die Schiffe führten – Diogo Cão und die anderen, die neben dem Kreuz eingemeißelt sind –, doch die Kommandeure |29|waren vermutlich gar nicht persönlich anwesend. Es ist wahrscheinlich, dass Cão einen Erkundungstrupp ausschickte, um herauszufinden, ob der Kongo schiffbar war; diese Männer bildeten die zweite Gruppe von Namen. Beide Inschriftenblöcke sind unvollständig, als wäre das Anbringen der Inschriften im selben Augenblick durch irgendetwas unterbrochen worden. Offenkundig waren einige Männer krank oder gestorben – wahrscheinlich an Malaria. Waren sie zu schwach, um weiterzumachen? Wurden sie überrascht oder angegriffen, als sie die Namen in den Felsen einritzten? Ungewöhnlicherweise wird kein Datum angegeben, und es gibt auch keinen zeitgenössischen Bericht über diese Unternehmung, die erst bekannt wurde, als europäische Forscher 1911 die Inschrift entdeckten.
Die Vorstellung der Portugiesen, dass es einen Fluss oder einen Landweg durch Afrika geben müsse, die genährt wurde durch die Vermutungen der antiken Geographen und die verführerischen goldverbrämten Blätter der mittelalterlichen Kartographen, starb nur langsam. Der Glaube, dass die großen Flüsse Westafrikas eine Verbindung mit dem Nil besaßen, dass das Reich des Priesters Johannes erreichbar sei durch einen Kontinent, dessen Ausmaße sie falsch berechneten, hielt die Portugiesen jahrzehntelang gefangen in ihren hartnäckigen, aber letztlich vergeblichen Anstrengungen. König Johann entsandte mehrere Landexpeditionen, die Informationen sammeln, Gold beschaffen und dem Land Ruhm erwerben sollten. Die Erkundungsmission in den Kongo wurde mehrmals an anderen Flüssen wiederholt. Karavellen fuhren 500 Meilen den Senegal-Fluss hinauf, wurden aber an den Felu-Stromschnellen aufgehalten; als eine ähnliche Expedition am Barracona-Wasserfall auf dem Gambia-Fluss zum Stillstand kam, schickte Johann Ingenieure, die die Felsen im Flussbett sprengen sollten, doch sie scheiterten an der Größe dieser Aufgabe. Zugleich brachen Bedienstete und Knappen des Königshofes zu Fuß ins Landesinnere auf. Kleine Gruppen von Männern durchquerten die mauretanische Wüste und zogen nach Wadan und Timbuktu, zu den Reichen Jolof und Tokolur am oberen Niger, zu dem Madinka-König, der unter dem Namen Mandi |30|Mansa bekannt war. Einige dieser Männer kehrten mit Berichten über Königreiche und Handelswege zurück, andere verschwanden.
Johann aber ließ sich weder durch die unüberwindlichen Wasserfälle des Gambia- und des Kongo-Flusses noch durch die schier endlose Küstenlinie Afrikas entmutigen oder durch die Ungewissheit, an welchem Ort genau der sagenhafte christliche Herrscher zu finden war. Die Dimension und die Kohärenz seines Indien-Projekts waren ebenso erstaunlich wie die Beharrlichkeit, mit der er es verfolgte. Im Jahr 1486, als sich seine Geographen in Lissabon intensiver denn je in fehlerhafte Weltkarten vertieften und Kolumbus in Spanien für seine westliche Route warb, verstärkte der König von Portugal seine Bemühungen. Im selben Jahr taucht auch das Wort descobrimento („Entdeckung“) zum ersten Mal in einem portugiesischen Dokument auf.
Die auf einem Felsvorsprung in Lissabon gelegene Georgsburg, von der aus man weit über den Tejo blickte, barg einst unter ihren Schätzen eine kostbare Weltkarte. Der Vater König Johanns II., Alfons V., hatte sie 30 Jahre zuvor bei einem Kartographen, einem Mönch, in Venedig mit der Anweisung in Auftrag gegeben, das genaueste geographische Wissen jener Zeit zusammenzufassen.
Fra Mauro fertigte ein außergewöhnliches Meisterwerk an; die Karte war bis ins kleinste Detail genau und kunstvoll mit Blattgold verziert und zeigte wogende Meere in einem lebendigen Blau und Bilder befestigter Städte. Sie war wie ein gewaltiger Rundschild geformt, mit einem Durchmesser von zehn Fuß und nach der arabischen Tradition nach Süden ausgerichtet; und sie zeigte etwas, das nie zuvor auf einer europäischen Karte zu sehen gewesen war: Sie zeigte Afrika als einen frei liegenden Kontinent mit einem südlichen Kap, das Fra Mauro Kap Diab nannte. Auch wenn Afrika furchtbar verzerrt dargestellt war und viele Details zur Zeit Johanns durch portugiesische Entdeckungen bereits überholt waren, hatte der Mönch immerhin einen auf die damaligen Quellen gestützten Versuch gewagt. Venedig war mit seinen weitreichenden Handelsverbindungen in den Orient damals die maßgebliche Instanz für Informationen und Reiseerzählungen über die Welt außerhalb der Grenzen Europas.
Die Karte war übersät mit Hunderten von Kommentaren in roter und blauer Tinte und wurde hauptsächlich nach den Augenzeugenberichten Marco Polos und eines Reisenden aus dem 15. Jahrhundert namens Niccolò de Conti gezeichnet, sowie aufgrund von „Informationen sämtlicher neuer Entdeckungen, welche die Portugiesen selbst |32|gemacht oder geplant hatten“. „Viele haben geglaubt, und viele haben geschrieben, dass das Meer unsere bewohnbare und gemäßigte Zone nicht im Süden umfasse“, vermerkte Mauro auf seiner Karte, „aber es liegen viele Beweise vor, welche die entgegengesetzte Meinung bestätigen, allen voran jene der Portugiesen, die der König von Portugal an Bord seiner Karavellen ausgesandt hat, um die Tatsache mit eigenen Augen zu überprüfen“.1 Besondere Aufmerksamkeit wurde den Gewürzinseln und den Häfen des Indischen Ozeans gewidmet, für die sich die Portugiesen außerordentlich interessierten, außerdem griff Mauro direkt eine zentrale These der ptolemäischen Geographie an: |33|dass der Indische Ozean nämlich ein geschlossenes Meer sei. Als konkrete Beweise dafür, dass ein Seeweg nach Indien existiert, nannte er den antiken Geographen Strabo und seine Schilderung einer derartigen Reise sowie eine Erzählung, vermutlich von Conti, von der Reise einer chinesischen Dschunke, die angeblich Afrika umsegelt habe.
Der Mönch Fra Mauro zeichnete 1459 diese gesüdete Weltkarte. In die Kreisform mittelalterlicher Karten ließ er Reiseberichte und geographische Geheiminformationen der Portugiesen einfließen.