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Peter Henning

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Mein
Schmetterlingsjahr

imagesEin Reisebericht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Impressum

Menü

INHALT

Einleitung

Das Birmingham-Gefühl

Meister der Navigation

Spieler und Versteckspieler

Von Bluttröpfchen und Kleinen Kannibalen

Die Anfänge

Die schöne Isabella

Angriff ist die beste Verteidigung

Die magische Nacht von Volterra

Im Revier der Füchse

Sentimentale Rückkehr

Wo die Baumweißlinge tanzen

Westerlin und der Schwarze Apollo

Spätes Treffen mit dem Gelben Bär

Das Schillern des Todes

Anhang

Ein Schmetterling – Was ist das?

Die schönsten Bücher über Schmetterlinge

Verzeichnis der erwähnten Schmetterlinge

 

 

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Es begann mit einem Geräusch vor mehr als fünfzig Jahren im ehemaligen Klavierzimmer meiner Tante. Es klang, als fange ein Stück Papier, an das man ein brennendes Streichholz hält, von einem Luftzug angefacht an mehreren Stellen gleichzeitig Feuer.

„Fuh! Fuh! Fuh!“

Ich war damals sieben Jahre alt und ich weiß nicht mehr, wie es kam, dass mein polnischer Ziehvater Walla, der eigentlich Viktor Knapik hieß, plötzlich das Tagpfauenauge (Inachis Io) in seinen zu einer geschlossenen Kugel geformten Händen gefangen hielt. Aber ich sehe seine starken, nicht sehr großen Hände auch ein halbes Jahrhundert später so deutlich wie auf einer Fotografie vor mir. Als bräuchte ich nur meinen Arm nach ihnen auszustrecken, um sie zu berühren. Ich beugte mich über das kleine Guckloch, das er mit seinen übereinandergelegten Daumen erzeugte, indem er sie vorsichtig einen Spalt breit voneinander löste, wobei er mich auffordernd ansah und sagte: „So. Und jetzt schau und hör mal!“

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Also spähte ich in das halbdunkle Innere des kleinen Fingergefängnisses, in dem der Falter mit geschlossenen, steil aufragenden Flügeln saß. Dann legte ich wie befohlen mein Ohr an die Öffnung, schloss die Augen, horchte gespannt und erlebte ein kleines akustisches Wunder, als der Falter seine Flügel ein paar Mal kurz hintereinander öffnete und wieder schloss und dabei die Luft, die sich zwischen den tausendfach dachziegelartig angeordneten Schuppen gesammelt hatte, mit einem mir magisch erscheinenden „Fuh! Fuh! Fuh!“ entwich.

Ich registrierte es mit der Wonne eines wohligen, süßen Schauers, der mich heute noch mit beinah der gleichen Intensität durchströmt, wenn ich in der Erinnerung in das ehemalige Klavierzimmer meiner Tante zurückkehre.

„Ja, ich höre es!“, habe ich ebenso stolz wie aufgeregt ausgerufen und mich augenblicklich im Besitz einer höheren Wahrheit gefühlt. Ich hatte gerade – davon war ich überzeugt – nicht nur etwas völlig Unvergleichliches gehört, ein allerkürzestes Musikstück geradezu, sondern dieses zugleich als eine an mich ganz persönlich gerichtete Liebeserklärung verstanden.

Seither suche, sammle, züchte, bewundere und literarisiere ich das Leben der Schmetterlinge, welches sich zum Großteil im Verborgenen abspielt, erforsche die schier unergründliche Vielfalt ihrer Verhaltensweisen und verfolge ihre faszinierenden Verwandlungen mit der Zuneigung eines ihnen unerschütterlich zugewandten Freundes, ja Verehrers.

Ich studiere die von Art zu Art jeweils anders verlaufende Metamorphose vom stecknadelkopfgroßen Ei über die diversen Raupenstadien und die Verpuppung bis hin zum krönenden Abschluss: dem Hervorbrechen des ausgewachsenen Falters, der sogenannten Imago, aus der geschlossenen Puppenhülle. Sein Erscheinen markiert das Ende eines ebenso vielfältigen wie faszinierenden Entwicklungsprozesses, leitet aber mit der bald darauf erfolgenden Paarung und der Eiablage durch die weiblichen Imagines zugleich die nächste Etappe im Leben eines Schmetterlings ein, womit der gesamte Zyklus im Sinne der Arterhaltung von Neuem beginnt.

Doch ich betreibe meine Forschungen nicht mit der strengen Systematik des Wissenschaftlers, der die meiste Zeit beflissen durch das Okular seines Elektronenmikroskops schaut, durch welches er Mundwerkzeuge, Superpositionsaugen, Brustganglien, Herz oder Hoden einheimischer Schwärmerraupen studiert, und sie anschließend mit chirurgischer Sorgfalt seziert. Nein, ich arbeite mit der freien, ungezwungenen und oft ekstatischen Leidenschaft eines in die Formen-, Farben- und Wesensvielfalt vernarrten Beobachters und Geschichtenerzählers, der sich jedoch nicht weniger interessanten Fragen widmet. Was zum Beispiel mag den in der Toskana anzutreffenden Erdbeerbaumfalter (Charaxes jasius) dazu veranlassen, mich unvermittelt anzugreifen? Wie ist es möglich, mit einem Admiral (Vanessa atalanta) zu spielen? Oder warum sitzen Zitronenfalter (Gonepteryx rhamni) im tiefsten Winter unter der dichten Schneedecke, ohne zu erfrieren?

Davon und von vielem mehr will dieses etwas andere Schmetterlingsbuch erzählen, indem es seine Leserinnen und Leser an jene entlegenen Orte entführt, wo der seltene Falsche Apollofalter (Archon appolinus), der prächtige Isabellaspinner (Graellsia isabellae) oder die tanzende Berghexe (Chazara briseis) zu Hause sind – auf die griechische Insel Samos, in die südspanische Sierra de Segura oder an die kroatische Felsenküste bei Porec. Mein Reisebericht ist eine unverhohlene Liebeserklärung an all die Schmetterlinge, denen ich je begegnet bin.

Meine erste Falter-Expedition, die diese Bezeichnung verdiente, unternahm ich 1967 gemeinsam mit meiner Großmutter Luise und ihrem Lebensgefährten Viktor in dessen rotem Opel Rekord 1700. Sie führte uns in die Nähe von Porec im damaligen Jugoslawien. Frisches Brot (kruh) und Milch (mlijeko) brachte ein staubiger alter Kleinlaster jeden Morgen auf den Campingplatz. Trinkwasser holten wir aus einer Zisterne in den von Macchia überwucherten Hügeln und in den Postämtern hing allerorten das Konterfei des amtierenden kommunistischen Staatschefs Josip Tito an den Wänden. An den Straßenrändern boten im Schatten sitzende, sonnenverbrannte junge Männer und Frauen Wassermelonen zum Verkauf, die wir im Meerwasser kühlten und uns am Strand schmecken ließen. Aus den mit Wäscheleinen in den Ästen der Pinien befestigten Lautsprechern schallten die Hits von Neil Diamond und Herman’s Hermits über den Zeltplatz, und über die Außenwände unseres gelb-blauen Vier-Mann-Zelts krabbelten die gelbgrünen, walzenförmigen Raupen des Segelfalters (Iphiclides podalirius), des vielleicht schönsten und anmutigsten Fliegers unter den europäischen Schuppenflüglern. Tagsüber lagen handtellergroße blutrote Seesterne auf den Steinmauern rund um den Zeltplatz zum Trocknen in der Sonne, abends roch es nach gegrilltem Fisch und spätnachts fegte manchmal die Bora, der gefürchtete Fallwind aus dem Norden, über den Platz hinweg und raubte uns den Schlaf. Ich habe die schier endlosen Sommer in Jugoslawien geliebt!

Georg Warneckes Naturführer Welcher Schmetterling ist das? wurde zu meiner Bibel, die ich immer bei mir trug. Sie lehrte mich glauben, sehen und verstehen. Ich lernte den Glauben an die Schönheiten und die Wunder der Natur, das sehende Erkennen der Schmetterlinge in ihren bisweilen kaum begreiflichen Erscheinungsformen und das lesende Verstehen der selbst für einen Jungen wie mich zugänglichen Erläuterungen.

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Gleichwohl begriff ich früh, dass sich unser Wissen über die erstmals im Jahr 1501 so bezeichneten „Schuppenflügler“ zumeist auf die oberflächlichen Informationen beschränkt, welche die gängigen Bestimmungsbücher in Form bunter Bildtafeln und kurz gefasster Texte ihren Lesern bieten. Falter-Steckbriefe – schön und gut! Aber sonst? Ich wollte bald mehr, tiefer eindringen in ihre Welt, ihnen näher kommen und mich in sie einfühlen, um sie besser zu verstehen. Aus dem Bedürfnis heraus, all jene, die sich für Schmetterlinge interessieren, wenigstens für ein paar Stunden in eine fremde Welt zu entführen und ihre Geheimnisse zu lüften, ist dieses Buch entstanden.

Der Schmetterling gilt als Sympathieträger. Man begegnet ihm auf Werbeplakaten, Postkarten, Briefmarken, Kalendern und unzähligen Buchumschlägen, als Motiv von Schmuckstücken oder als modisches Accessoire. Die britische Achtzigerjahre-Pop-Band Barclay James Harvest hatte den Schmetterling zu ihrem persönlichen Wappentier erkoren und der psychopathische Killer in Thomas Harris’ weltberühmtem Thriller Das Schweigen der Lämmer deponierte in einem symbolischen Akt Puppen des Totenkopfschwärmers (Acheronita atropos) als Signatur in den Rachen seiner Opfer.

Der Schmetterling wird als schillernder Meister der Metamorphose und als Sinnbild fragiler Anmut gepriesen. Die Mythologie sieht in ihm ein Symbol für Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Für viele Menschen verkörpert er die Leichtigkeit des Seins, Grazie, Lebens- und Sinnenfreude. In Mexiko glaubt man, die jedes Jahr am Tag der Toten, dem Día de Muertos, zu Hunderttausenden aus dem Norden in die Sierra Nevada einfallenden Monarchfalter (Danaus plexippus) trügen die heimkehrenden Seelen der Verstorbenen in sich.

Über die artspezifischen Eigenheiten, Tarnkünste, Finten und Überlebenstricks der Schmetterlinge und die „Kostümwechsel“ ihrer larvenhaften Vorstufen, der Raupen, ist vergleichsweise wenig bekannt. Was sich darüber in den anspruchsvollen Aufsätzen der Forscher findet, die sich in entomologischen Vereinen organisiert haben, um ihr Feld streng wissenschaftlich zu beackern, verschließt sich dem Laien bereits aufgrund der ihm unverständlichen Fachsprache. Aber muss das sein? Geht es nicht auch anders? Ich denke schon.

Ich habe, auch später noch, als ich bereits Schriftsteller war und Romane schrieb, lange davon geträumt, eines Tages ein Schmetterlingsbuch zu schreiben für Menschen wie mich, die wissen wollen, ohne Wissenschaft treiben zu müssen. Ein Buch, in dem ich ganz persönlich beschreibe, was ich auf meinen Reisen zu den Schmetterlingen erlebt habe, was ich ihnen verdanke und weshalb sie mit Fug und Recht zum Schönsten im Tierreich gezählt werden.

Wer sich eine Vorstellung von der unendlichen Vielfalt der Arten, von den Lebensräumen und der kulturellen Bedeutung der Schmetterlinge verschaffen will, darf sich nicht auf die heimischen, uns in Gärten, Parks und städtischen Grünanlagen begegnenden Falter beschränken. Er muss reisen, dorthin, wo er die Schmetterlinge in ihrer natürlichen Umwelt vorfindet, dorthin, wo sie ihre jahrhundertealten Rituale zelebrieren, ins Innerste ihrer Welt. Andere legen ein Sabbatical ein, um eine Zeit lang Abstand vom Alltag und den Kopf frei zu bekommen. Ich habe mir dafür ein Schmetterlingsjahr gegönnt.

Ich beugte mich über die Europakarte, wählte als Reiseziele die Flugorte jener Falter aus, die ich immer schon einmal in ihrer ursprünglichen Umgebung beobachten wollte, arbeitete eine Route aus, packte meine Koffer, sagte meinen Freunden Adieu und brach auf. Was ich auf meiner knapp zwölf Monate währenden Expedition erlebte, findet sich festgehalten in den nachfolgenden Geschichten über eine mehr denn je vom Aussterben bedrohte Spezies.

Das eingangs geschilderte Tagpfauenauge, das mich die Schmetterlinge „hören“ lehrte, haben wir übrigens wenig später durchs offene Küchenfenster in die Freiheit des strahlend blauen Hanauer Julihimmels entlassen. Das Geräusch aber, das ich damals zum ersten Mal vernahm, habe ich nie vergessen. Es begründete meine bis heute unverbrüchliche Verbundenheit mit ihm und all seinen Artgenossen.

Peter Henning, im Januar 2018

 

 

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Ich habe das Fliegen nie gemocht. Nicht weil ich Flugangst hätte. Sondern weil ich jedes Mal, wenn ich eine Maschine besteige, hinterher das Gefühl habe, betrogen worden zu sein.

Das erste Mal hatte ich dieses Gefühl, nachdem ich als 15-Jähriger mit einer Propellermaschine des Typs „Vickers Viscount“ nach Birmingham geflogen war, um meine ganz in der Nähe, in Sutton Coldfield, lebende Tante Martha und ihren Mann Charlie zu besuchen. Als ich in Birmingham ausstieg, fühlte ich mich genau wie nach meiner Blinddarmoperation, die ich im Alter von sieben Jahren über mich ergehen lassen musste und bis heute mit einem dunklen Fleck in meiner Erinnerung verbinde, mit einer schmerzhaften Gedächtnislücke, einer Leerstelle: Das Stück Lebensfilm zwischen Betäubung und Erwachen aus der Narkose fehlt. Als hätte es jemand herausgeschnitten und die beiden neuen Enden wieder miteinander verbunden.

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Genauso geht es mir, als ich nun auf dem Vorplatz des Flughafens „Aristarchos“ auf Samos im Licht stehe, geblendet von der hell strahlenden Februarsonne die Augen mit der Hand beschirme und um mich her Autohupen und griechisches Palaver erklingen. Wieder bin ich von einem knapp siebenstündigen Flug mit Zwischenstopps in München und Athen um das Gefühl einer schrittweisen Annäherung gebracht worden.

Ich habe ein mich mehrere Jahre in Atem haltendes Romanprojekt glücklich, aber ziemlich erschöpft beendet und bin nun voller Hoffnung, die entstandene Leere mit neuen, belebenden Eindrücken zu füllen. Doch nicht in Form einer jähen Fluchtbewegung über wechselnde Landesgrenzen hinweg und zu neuen Schauplätzen hin, sondern im gemächlichen Rhythmus derer, die ich ausgiebig beobachten zu können hoffe: die bisweilen mit geradezu hypnotisierender Langsamkeit dahinflatternden Apollofalter, Weißen Waldportiers und kroatischen Berghexen, deren Lebensräume auf meiner Europakarte rot eingezeichnet sind. Was mir vorschwebt, ist eine Wiederentdeckung der Langsamkeit nach der zehrenden Hektik und Betriebsamkeit der letzten Jahre.

Als am 4. Juli 1837 in Mittelengland die ersten dampfbetriebenen Eisenbahnen der „Grand Junction Railway“ den Betrieb aufnahmen, scheuten viele davor zurück, die stählernen Waggons zu besteigen, weil sie glaubten, durch die für damalige Verhältnisse irrwitzig hohe Geschwindigkeit körperlich Schaden zu nehmen. Vielfach wurden Bedenken, ja wurde die Furcht geäußert, das menschliche Gehirn könne die rasche Vorwärtsbewegung nicht nachvollziehen und werde dadurch in Mitleidenschaft gezogen. Ich kann die Männer und Frauen, die das dachten und fühlten, verstehen, denn wer reist, will es bewusst und sehenden Auges tun und nicht mit einem jähen Sprung oder Sturz durch die Zeit.

Seit meinem Flug mit der „Vickers Viscount“ verabscheue ich das Birmingham-Gefühl, denn es verwirrt mich, statt mich langsam auf mein Ziel einzustimmen. Bei meiner Expedition quer durch Europa werde ich das Fliegen, wenn es sich machen lässt, vermeiden und stattdessen mit dem Schiff oder dem Zug reisen.

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Aus der klirrenden Kölner Kälte mit Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt bin ich ziemlich abrupt in die östliche Ägäis verpflanzt worden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass unsere Maschine eine Strecke von 2218 Kilometern in gerade einmal einem halben Tag zurückgelegt hat. Zu Hause blühen Eisblumen an meinen Fensterscheiben, während die Leute hier in leichter Sommerkleidung herumlaufen. Es ist zwar erst Februar. Trotzdem wirkt bereits alles frühlingshaft mit all den betörenden Farben und Gerüchen. Noch in der Ankunftshalle des Flughafens tausche ich mein Sweatshirt und meine Jeans gegen Shorts und T-Shirt und meine schweren Lederstiefel gegen ein Paar leichte Vans.

Ich bin nach Samos gekommen, um den Griechischen Apollofalter (Archon apollinus) aufzuspüren, den Falschen Apollo, wie er auch genannt wird. Einen ganz besonderen Vertreter seiner Gattung, der in warmen Jahren schon im Februar auf der Insel anzutreffen ist. Mit Vorliebe besucht er die steinigen Hänge lichter Weinberge und windgeschützte, von Felsplatten durchsetzte Olivenhaine, die er als Sonnenbänke nutzt. Denn der Falsche Apollo ist ein stiller Genießer, der mit einer Spannweite von 54 bis 60 Millimetern nicht zu den Riesen unter den europäischen Tagfaltern zählt. Aufgrund seines hybriden, unverwechselbaren Aussehens wirkt er, als habe man einen „echten“ Apollofalter (Parnassius apollo) mit dem kleineren Osterluzeifalter (Zerynthia polyxena) gekreuzt.

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Der Falsche Apollo, der in seinem Äußeren stark den „echten“ Apollos der Gattung Parnassius ähnelt, also zum Beispiel dem Apollofalter oder dem Schwarzen Apollo (Parnassius mnemosyne), und wie diese zur Familie der Ritterfalter (Papilionidae) gehört, zählt zu den Frühstartern ins Jahr.

Seine Heimat Samos ist der kleinasiatischen Küste vorgelagert, ein Eiland mit zahllosen, oft in Buchten gelegenen Stränden und terrassenförmig ansteigenden Hügeln, die sich wie Schutzwälle gegen das ruhelos heranstürmende Meer erheben. Seit Jahrhunderten hat man sich hier auf den Anbau von Wein und den Handel mit Rosinen und Olivenöl spezialisiert, irgendwann kam der Tabak hinzu. Im Zweiten Weltkrieg war die Insel von italienischen Truppen besetzt. 1946 kam es zum griechischen Bürgerkrieg, er schwächte die ohnehin schon erschöpfte Wirtschaft noch mehr und Samos litt unter der bald einsetzenden Auswanderung. Erst mit dem Ende der Militärdiktatur 1974 begann ein neuer Aufschwung und durch den in den 1980er-Jahren einsetzenden Tourismus avancierte Samos zu einem beliebten Urlaubsziel, denn es herrschen milde, regenreiche Winter und trockene, warme Sommer vor. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei angenehmen 19,3 Grad. Jetzt, im Februar, ist die Quecksilbersäule schon auf 18 Grad geklettert, ideal für einen wie den Archon apollinus, der es liebt, immer wieder von Flugpausen unterbrochen im Sonnenschein die blütenreichen Hänge und Haine zu besuchen.

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Das Taxi bringt mich in einer knapp zehn Kilometer langen Fahrt über gewundene Straßen ins „Kerveli Village“. Das Hotel erweist sich als einladendes, vor den Hang gebautes weißes Landhaus, in dem ich ein helles großzügiges Zimmer mit Meerblick beziehe. Um diese Jahreszeit ist es kein Problem, auf Samos ein Zimmer zu mieten. Als ich am offenen Fenster stehe und aufs Meer blicke, kann ich mein Glück kaum fassen: Ich bin der lähmenden Unwirtlichkeit der Kölner Kälte tatsächlich entronnen und im Herzen der frühlingshaften Schönheit Griechenlands angekommen.

Die Farben sind hier anders. Kräftiger, leuchtender. Das Gras ist grüner, der hohe Himmel von einem ungleich intensiveren, irisierenden Blau. Und der von knorrigen Eichen, Kiefern und Zypressen durchsetzte Strand besitzt den gleichen Curry-Ton wie der Staub, der zum offenen Seitenfenster hereingeweht kam, als wir mit dem Taxi aus der Stadt hinausfuhren, die asphaltierten Straßen verließen und in Richtung Kerveli in die Hügel vordrangen.

Nachdem ich mich in meinem Zimmer eingerichtet habe, nehme ich an einem der weiß gedeckten Tische auf der überdachten Steinterrasse Platz, bestelle gekühlten Weißwein und Wasser, Schafskäse und Oliven. Um die Frühblüher, welche die Terrasse säumen und sich aus schweren Kübeln erheben, flattern mehrere Kleine und ein Großer, in unseren Breiten leider stark zurückgegangener Kohlweißling (Pieris rapae bzw. Pieris brassicae), Sommerboten, die sich aus ihren Winterquartieren vorzeitig ans Licht gewagt haben. Und sogar ein Taubenschwänzchen (Macroglossum stellatarum) zeigt sich. Dieser kleine wendige Wanderfalter, der im Juni auch in deutschen Städten an den Balkonblumen anzutreffen ist, lässt den flüchtigen Beobachter unweigerlich an einen schwirrenden Kolibri denken, wenn er scheinbar reglos in der Luft steht und mit seinem fadendünnen Rüssel den Nektar aus der Blüte saugt. Die den behaarten, keilförmigen Hinterleib zierenden, an die Schwanzfedern von Tauben erinnernden Haarpinsel geben dem faszinierenden hummelartigen Falter seinen klangvollen Namen.

Am nächsten Morgen gegen halb zehn laufe ich über die steil zum Meer hin abfallende Steintreppe hinunter zur Bootsanlegestelle. In der kleinen Bucht dümpeln ein paar Einmaster. Ich ziehe die Schuhe aus und wate ein Stück ins Meer hinein. Eine halbe Stunde später breche ich in die nahen Hügel auf, um den Falschen Apollo aufzuspüren.

Wer Schmetterlinge beobachten will, muss Zeit haben und sich darauf einstellen, dass der Aufwand oft nicht im Verhältnis zu dem gewünschten Resultat steht. In Jugoslawien, in der Nähe von Split, habe ich mir vor Jahren erfolglos neun Augustnächte um die Ohren geschlagen, um einen Windenschwärmer (Agrius convolvuli) vor das Objektiv meiner Kamera zu bekommen. Geduld ist eine Grundvoraussetzung für das Studium von Schmetterlingen in ihren natürlichen Lebensräumen, Forscherglück eine andere.

Und zimperlich sein sollte man auch nicht. Ich habe in den französischen Alpen bedrohlichen, jäh aufzuckenden Blitzgewittern getrotzt, bin nur mit kurzen Hosen und Wanderstiefeln bekleidet der Länge nach in hüfthohe Brennnesselstauden gefallen und in Stacheldrahtzäunen hängengeblieben. Ich bin in Kroatien auf abschüssigen Geröllfeldern gestürzt und habe mir in einem südspanischen Steinbruch eine Gehirnerschütterung zugezogen bei dem Versuch, einem Segelfalter (Iphiclides podalirius) nachzustellen. Doch meiner Liebe zu den Schmetterlingen konnten meine Hautabschürfungen, Verstauchungen und Risswunden nicht im Mindesten schaden. Denn auch für Schmetterlingsjäger gilt, was der Schriftsteller Peter Rühmkorf einst im Hinblick auf das Schreiben postulierte: „Wer sich nicht ruiniert für seine Leidenschaft, aus dem wird nichts!“

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Mit der Zeit habe ich gelernt, meine Umgebung zu „lesen“ und Raupen an den Fraßspuren zu erkennen, die sie als „Fingerabdrücke“ an ihren Futterpflanzen hinterlassen. Lautlos wie die Indianer in den Cowboyfilmen meiner Jugend bewege ich mich durchs freie Gelände und schleiche mich an, um zum Beispiel einen Kaisermantel (Argynnis paphia), diesen prächtigen Liebhaber des Halbschattens, auf einer Distelblüte zu erhaschen. Der Kaisermantel bevorzugt Waldränder und Waldwege, in deren Zwielicht er mit Vorliebe Distelhaine anfliegt.

Zum erfolgreichen Beobachten gehört oft minutenlanges Stillstehen, das im besten Fall zu einem Verschmelzen mit der Umgebung führt, damit der flüchtige Besucher nicht durch einen unbedachten Tritt auf einen knackenden Ast in die Flucht geschlagen wird. Schmetterlinge sind sehr scheu und mit einem feinen Sensorium ausgestattet. Ihre Facettenaugen sind aus vielen Tausend Augenkeilchen zusammengesetzte Sinnesorgane, deren Einzelwahrnehmungen sich zu einem mosaikartigen Gesamtbild vereinigen, das die Entomologen „musivisches Sehen“ nennen. Und obgleich der Gesichtssinn von Schmetterlingen nicht besonders gut entwickelt ist und ihre Sicht nur wenige Meter weit reicht, vermögen sie Farben gut zu unterscheiden und selbst kleinste Regungen wahrzunehmen. Schon mein über den Waldboden huschender Schatten reicht aus, um einen Falter, der graduelle Veränderungen der Lichtverhältnisse und Hell-Dunkel-Kontraste sensibel registriert, zu verscheuchen. Die bewimperten, gefiederten, sägezahnartigen, keulen- oder knopfförmigen Fühler, eigentlich Träger des Geruchssinns, sind auch für auch Schall- und Erschütterungsreize empfindlich.

Das nervöse, feinnervige Wesen der Schmetterlinge, die sich in einem latenten Alarmzustand befinden, verlangt ein Maximum an Einfühlungsvermögen, will man ihr Studium mit Gewinn betreiben. Doch nach mehr als 50 Jahren Falterbeobachtung weiß ich ihre Verhaltensweisen zu deuten. Ich kann einen Falter bereits aus großer Entfernung allein daran erkennen, wie er fliegt. Denn so unverwechselbar die Flügelzeichnung jedes einzelnen ist, so spezifisch ist seine Art, sich fortzubewegen. Sogar ein über sonnenwarmes Gemäuer huschender Schatten verrät mir, wer da hinter mir vorbeigeflogen ist. Ihre in Tausenden von Stunden studierten Bewegungen sind mir vertraut: ihre Sturzflüge, ihr Segeln, Schweben, Gleiten, Flattern und Schwirren. Ich weiß, dass das plötzliche, arttypische Flügelzucken eines Schwalbenschwanzes (Papilio machaon), der an einer Schlüsselblume saugt, seinen jeden Moment einsetzenden Weiterflug ankündigt. Und ich kann vorhersagen, wann ein Großer Schillerfalter (Apatura iris), der minutenlang über einer vom Sommerregen zurückgelassenen Pfütze auf einem Waldweg kreist, bereit ist, sich an ihrem Rand niederzulassen, um zu trinken. Ich kenne ihre Finten und Tricks, ihre Verstellungen und kleinen Täuschungsmanöver.

Aporia crataegi