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André Comte-Sponville

Glück ist das Ziel,
Philosophie der Weg

Aus dem Französischen von
Hainer Kober
Mit Zeichnungen von
Jean-Jacques Sempé

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Originalausgabe
erschien 2000 bei Éditions Albin Michel, Paris,
unter dem Titel ›Présentations de la philosophie‹
Copyright © 2000 by Éditions Albin Michel
Die deutsche Erstausgabe erschien
2010 im Diogenes Verlag
Umschlagillustration von
Jean-Jacques Sempé

 

 

Für Christian Recchia

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24191 4 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60135 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Besser denken, um besser zu leben  [9]

Vorwort

 

Moral  [17]

Politik  [29]

Liebe  [43]

Tod  [55]

Erkenntnis  [65]

Freiheit  [77]

Gott  [91]

Atheismus  [107]

Kunst  [123]

Zeit  [137]

Menschsein  [155]

Weisheit  [167]

 

Bibliographie  [181]

 

 

[7] Beeilen wir uns, die Philosophie
unter die Leute zu bringen!

Denis Diderot

 

 

[9] Besser denken,
um besser zu leben

Vorwort

Philosophie… Weisheitslehre…
und Ausübung der Weisheit

Immanuel Kant1

Philosophieren heißt, selbst zu denken; doch dabei erzielen wir nur vernünftige Ergebnisse, wenn wir uns zunächst auf die Gedanken anderer stützen, vor allem der großen Philosophen der Vergangenheit. Die Philosophie ist nicht nur ein Abenteuer, sondern auch eine Arbeit, die nicht ohne Mühe, ohne Lektüre, ohne Werkzeuge vonstattengeht. Die ersten Schritte sind häufig mühsam und haben schon manchen abgeschreckt. Das veranlasste mich in den letzten Jahren, die Carnets de philosophie zu veröffentlichen. Worum ging es? Um eine Sammlung zur Einführung in die Philosophie: zwölf kleine Bändchen, jedes etwa vierzig ausgewählte Texte umfassend, häufig sehr kurz und durch eine Erläuterung von wenigen Seiten eingeleitet, auf denen ich zu diesem oder jenem Begriff darzulegen versuchte, was mir wesentlich erscheint.

Das vorliegende Buch enthält diese zwölf Einleitungen, [10] durchgesehen und erheblich erweitert. Das ändert nichts an der bescheidenen Zielsetzung: Es handelt sich nach wie vor um eine Einführung in die Philosophie, gewissermaßen eine Eingangstür unter hundert anderen, die möglich wären. Aber sie überlässt es dem Leser, sobald er dieses Buch gelesen hat, sich selbst auf die Suche nach anderen Werken zu begeben, wie er das früher oder später tun muss, und sich, wenn er möchte, seine eigene Anthologie zusammenzustellen… Fünfundzwanzig Jahrhunderte Philosophie stellen einen unerschöpflichen Schatz dar. Wenn dieses Büchlein dem einen oder anderen Lust machen kann, sich mit den Dingen etwas näher zu beschäftigen, wenn es ihm helfen kann, darin Freude und Erkenntnis zu finden, ist es nicht umsonst geschrieben worden.

Als Adressaten hatte ich zunächst jugendliche Leser im Sinn, bis ich, vor allem durch die Zuschriften, die ich erhielt, entdeckte, dass das Buch weit über diese Altersgruppe hinaus wirkte. Von dieser ursprünglichen Auffassung ist allerdings noch etwas geblieben: die Wahl einiger Beispiele, ein bestimmter Standpunkt, ein gewisser Ton, der Nachdruck, der gelegentlich auf diesen oder jenen Aspekt gelegt wird… Daher auch das Du, das sich mir aufgedrängt hat – sicherlich, weil ich mehr an meine eigenen Kinder dachte, die halbwüchsig sind, als an meine Schüler oder Studenten, die ich nie geduzt habe… Lauter Besonderheiten, die zu ändern ich nicht für nötig hielt. Es gibt kein Alter, das sich besonders zum Philosophieren eignete; doch Jugendliche sind mehr als Erwachsene darauf angewiesen, dass man sie dabei unterstützt.

Was ist Philosophie? Dazu habe ich mich schon häufig [11] geäußert und werde es auch im letzten dieser zwölf Kapitel tun. Philosophie ist nicht Wissenschaft, noch nicht einmal Erkenntnis oder Wissen: Sie ist eine Reflexion über das verfügbare Wissen. Daher können wir – frei nach Kant – die Philosophie nicht lernen, sondern nur lernen zu philosophieren. Wie? Indem wir selbst philosophieren: nach unserem eigenen Denken fragen, nach dem Denken der anderen, nach der Welt, der Gesellschaft, nach dem, was die Erfahrung uns lehrt, was sie uns zu ignorieren gestattet… Wenn wir dabei auf die Werke des einen oder anderen Berufsphilosophen stoßen – umso besser. Dann werden wir besser, stärker, tiefer denken. Weiter und schneller vorankommen. Freilich solle solch ein Autor, fügt Kant hinzu, »nicht wie das Urbild des Urtheils, sondern nur als eine Veranlassung selbst über ihn, ja sogar wider ihn zu urtheilen angesehen werden«.2 Niemand kann an unserer Stelle philosophieren. Gewiss, die Philosophie hat ihre Spezialisten, Profis, Lehrer. Doch sie ist in erster Linie kein Spezialgebiet, kein Gewerbe und auch kein universitäres Lehrfach: Sie gehört unmittelbar zur menschlichen Existenz. Da uns Leben und Vernunft gegeben sind, stellt sich unvermeidlich die Frage, wie sich diese beiden Gaben miteinander verbinden lassen. Natürlich können wir denken, ohne zu philosophieren (etwa in den Wissenschaften), leben, ohne zu philosophieren (beispielsweise in der Dummheit oder der Leidenschaft). Doch auf keinen Fall können wir unser Leben denken und unser Denken leben, ohne zu philosophieren: denn genau das ist Philosophie.

[12] Die Biologie wird keinem Biologen jemals sagen, wie er leben soll, noch ob er es soll, noch nicht einmal, ob er sich mit der Biologie beschäftigen soll. Die Humanwissenschaften werden niemals Auskunft darüber geben, was die Menschheit wert ist noch was sie selbst wert sind. Deshalb müssen wir philosophieren: weil wir nachdenken müssen über das, was wir wissen, über das, was wir erleben, über das, was wir wollen, und es gibt kein Wissen, welches das leisten oder es uns ersparen könnte. Die Kunst? Die Religion? Die Politik? Großartige Dinge, die aber auch geprüft werden müssen. Doch sobald wir sie prüfen oder uns selbst hinsichtlich ihrer ein wenig eingehender prüfen, verlassen wir sie, zumindest teilweise: Wir sind schon mit einem Fuß in der Philosophie. Dass auch sie geprüft werden muss, wird kein Philosoph bestreiten. Doch die Philosophie zu prüfen heißt nicht, sie zu verlassen, sondern sie zu betreten.

Auf welchem Weg? Ich folge hier dem einzigen, den ich wirklich kenne, dem der westlichen Philosophie. Was nicht heißen soll, dass es keinen anderen gäbe. Philosophieren heißt, nach der Vernunft zu leben, und die Vernunft ist universell. Die Philosophie hat niemand gepachtet. Jeder weiß, dass es im Osten andere Vorstellungen und spirituelle Traditionen gibt. Doch man kann nicht über alles reden, und es wäre schon ziemlich vermessen von mir, so zu tun, als könnte ich östliches Denken darstellen, das ich größtenteils nur aus zweiter Hand kenne. Ich glaube nicht, dass die Philosophie nur bei den alten Griechen und im Westen möglich ist. Doch bin ich natürlich wie alle Welt davon überzeugt, dass es im Westen seit den Griechen eine unermesslich reiche philosophische Tradition gibt – zu ihr, in [13] sie, möchte ich meinen Leser führen. Angesichts der gebotenen Kürze ist das Vorhaben dieser Darstellungen enorm ehrgeizig. Das mag die ihnen definitionsgemäß innewohnende Unvollständigkeit entschuldigen.

Nach der Vernunft leben, sagte ich. Das zeigt die Richtung an, die der Philosophie, gibt ihren Inhalt aber nicht erschöpfend wieder. Philosophie ist radikales Fragen, Suche nach der umfassenden oder endgültigen Wahrheit (und nicht, wie in der Wissenschaft nach dieser oder jener besonderen Wahrheit), Entwicklung und Verwendung von Begriffen (was allerdings auch in anderen Disziplinen geschieht), Reflexivität (Rückbezüglichkeit des Verstands und der Vernunft auf das Ich): Nachdenken über das Denken), Besinnung auf die eigene Geschichte und die der Menschheit, Bemühen um größtmögliche Schlüssigkeit, größtmögliche Rationalität (das ist die Kunst zu denken, wenn man so will, die aber in die Kunst zu leben einmündet), gelegentlich Errichtung von Systemen, immer Entwicklung von Thesen, Argumenten, Theorien… aber sie ist auch, und vielleicht vor allem, Kritik an den Illusionen, Vorurteilen, Ideologien. Jede Philosophie ist ein Kampf. Ihre Waffe? Die Vernunft. Ihre Feinde? Dummheit, Fanatismus, Obskurantismus – oder die Philosophie der anderen. Ihre Verbündeten? Die Wissenschaften. Ihr Gegenstand? Das Ganze, mit dem Menschen darin. Oder der Mensch, eingebettet in das Ganze. Ihr Ziel? Die Weisheit: das Glück, aber in der Wahrheit. Es gibt einiges zu tun. Als Philosophen packen wir es an!

Die Gegenstände der Philosophie sind praktisch nicht zu zählen: Nichts, was menschlich oder wahr ist, ist ihr fremd. [14] Was nicht heißen soll, dass alles gleich wichtig wäre. Kant fasst in einem berühmten Abschnitt seiner Logik den Zuständigkeitsbereich der Philosophie in vier Fragen zusammen – »Was kann ich wissen? Was soll ich thun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?«3 – und fügt hinzu, dass »sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen«.4 Doch sie alle münden, so möchte ich hinzufügen, in eine fünfte, die philosophisch und menschlich sicherlich die wichtigste ist: Wie soll ich leben? Sobald wir versuchen, eine intelligente Antwort auf diese Frage zu geben, philosophieren wir. Und da wir unmöglich vermeiden können, sie zu stellen, ist daraus zu schließen, dass wir der Philosophie nur durch die Dummheit oder den Obskurantismus entkommen können.

Müssen wir Philosophie betreiben? Sobald wir uns diese Frage stellen, zumindest sobald wir versuchen, ernsthaft auf sie zu antworten, betreiben wir sie bereits. Was nicht heißen soll, dass sich die Philosophie auf die Frage nach ihrem Sinn reduzieren lässt und noch viel weniger auf ihre Selbstrechtfertigung. Denn wir philosophieren auch – mehr oder weniger, recht und schlecht –, wenn wir (rational und radikal zugleich) nach der Welt, der Menschheit, dem Glück, der Gerechtigkeit, der Freiheit, dem Tod, Gott, der Erkenntnis fragen… Und wer könnte darauf verzichten? Der Mensch ist ein philosophisches Tier: Er kann nur auf die Philosophie verzichten, indem er auf einen Teil seines Menschseins verzichtet.

[15] Folglich müssen wir philosophieren: so weit denken, wie wir können, und weiter, als wir wissen. Zu welchem Zweck? Dem eines Lebens, das menschlicher ist, klarer, gelassener, vernünftiger, glücklicher, freier… Das bezeichnen wir traditionell als Weisheit: ein Glück ohne Illusionen und Lügen. Kann man sie erlangen? Sicherlich nie ganz. Doch das hindert uns nicht daran, nach ihr zu streben, uns ihr zu nähern. »Philosophie ist für den Menschen Bestrebung zur Weisheit, die jederzeit unvollendet ist«,5 schreibt Kant. Ein Grund mehr, um sich unverzüglich ans Werk zu machen. Es gilt, besser zu denken, um besser zu leben. Die Philosophie ist die Arbeit; die Weisheit die Erholung.

Was ist Philosophie? Es gibt fast so viele Antworten wie Philosophen. Das schließt jedoch nicht aus, dass sie sich in den wesentlichen Punkten decken oder gleichen. Ich persönlich habe seit meinen Studienjahren eine Schwäche für Epikurs Antwort: »Die Philosophie ist eine Tätigkeit, die uns durch Reden und Überlegungen ein glückliches Leben beschert.« Hier wird die Philosophie durch ihren größten Erfolg definiert (die Weisheit, die Glückseligkeit), und das ist – selbst wenn der Erfolg nie vollkommen sein wird – mehr wert, als sie in ihre Misserfolge einzusperren. Das Glück ist das Ziel; die Philosophie der Weg. Allen eine gute Reise!

 

 

[17] Moral

Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten.

John Stuart Mill6

Es herrschen falsche Vorstellungen von der Moral. Zunächst einmal ist sie nicht da, um zu strafen, zu unterdrücken, zu verurteilen. Dafür gibt es Gerichte, Polizisten und Gefängnisse, und niemand würde eine Moral darin erkennen. Sokrates ist im Gefängnis gestorben und war doch freier als seine Richter. Dort beginnt vielleicht die Philosophie. Dort beginnt die Moral, für jeden und immer von neuem: dort, wo keine Strafe möglich, wo keine Unterdrückung wirksam, wo keine Verurteilung – zumindest keine äußerliche – notwendig ist. Die Moral beginnt dort, wo wir frei sind: Sie ist diese Freiheit selbst, wenn sie über sich urteilt und sich selbst befiehlt.

Du möchtest eine CD oder ein Kleidungsstück im Kaufhaus stehlen… Doch ein Detektiv beobachtet dich, oder es gibt [18] ein elektronisches Überwachungssystem, oder du hast ganz einfach Furcht, erwischt, bestraft, verurteilt zu werden… Das ist keine Ehrlichkeit, sondern Berechnung. Das ist keine Moral, sondern Vorsicht. Die Furcht vor dem Polizisten ist das Gegenteil der Tugend oder lediglich Tugend aus Vorsicht.

Und nun stell dir umgekehrt vor, du hättest diesen Ring, von dem Platon berichtet, den berühmten Ring des Gyges, der dich nach Belieben unsichtbar macht… Das ist ein Zauberring, den ein Hirte zufällig findet. Er braucht den gefassten Stein nur nach innen, zur Handfläche hin, zu drehen, um unsichtbar zu werden, und nach außen zu drehen, um wieder sichtbar zu werden… Gyges, der vorher als ehrlicher Mann galt, vermochte den Versuchungen, denen ihn dieser Ring aussetzte, nicht zu widerstehen: Mit Hilfe seiner Zauberkräfte drang er in den Palast ein, verführte die Königin, ermordete den König, riss selbst die Macht an sich, übte sie ausschließlich zu seinem Vorteil aus… Der Schüler, der die Geschichte im Staat erzählt, zieht daraus den Schluss, dass sich der Gute und der Böse – oder der als solcher gilt – nur durch die Vorsicht, will heißen, die Heuchelei voneinander unterscheiden, mit anderen Worten, nur dadurch, wie viel Bedeutung sie dem Blick der anderen beimessen, wie geschickt sie es anstellen, sich zu verstellen…

Besäßen sie beide den Ring des Gyges, unterschiede sie nichts mehr: Sie strebten beide nach dem gleichen Ziel. Damit würde behauptet, dass die Moral nur eine Illusion ist, nur eine Lüge, nur eine als Tugend verkleidete Furcht. Man brauchte sich nur unsichtbar machen zu können, und schon verschwände jedes Verbot, und für jeden gäbe es nur noch [19] das Streben nach seinem Vergnügen oder seinen egoistischen Interessen.

Ist das wahr? Platon ist natürlich vom Gegenteil überzeugt. Aber um diese Frage beantworten zu können, braucht man nicht Platon zu sein. Denn die einzige gültige Antwort findest du, soweit es dich betrifft, in dir selbst. Führen wir ein Gedankenexperiment durch. Stell dir vor, du hättest diesen Ring. Was tätest du? Was tätest du nicht? Würdest du beispielsweise weiterhin das Eigentum anderer, ihre Intimsphäre, ihre Geheimnisse, ihre Freiheit, ihre Würde, ihr Leben respektieren? Niemand kann das an deiner Stelle beantworten: Diese Frage betrifft dich ganz allein, dich ganz und gar. All das, was du nicht tust, dir aber gestatten würdest, wenn du unsichtbar wärest, gehört weniger in den Geltungsbereich der Moral als in den der Vorsicht oder Heuchelei. Was du dir hingegen, auch wenn du unsichtbar wärest, weiterhin auferlegtest oder verbötest, und zwar nicht aus Eigennutz, sondern aus Pflichtgefühl, das allein wäre Moral im eigentlichen Sinne. Deine Seele hat ihren Prüfstein. Deine Moral hat ihren Prüfstein, der dir ermöglicht, über dich selbst zu urteilen. Deine Moral? Das, was du von dir verlangst, unabhängig vom Blick der anderen oder dieser oder jener äußeren Drohung – sondern im Namen einer bestimmten Vorstellung von Gut und Böse, von Verpflichtung und Verbot, von Zulässigem und Unzulässigem, kurzum, von der Menschheit und dir. Konkret: Die Gesamtheit der Regeln, denen du dich unterwürfest, selbst wenn du unsichtbar und unbesiegbar wärest.

Ist das viel? Ist das wenig? Das musst du selbst entscheiden. Wärest du beispielsweise bereit, wenn du dich [20] unsichtbar machen könntest, einen Unschuldigen verurteilen zu lassen, einen Freund zu verraten, ein Kind zu peinigen, zu vergewaltigen, zu foltern, zu morden? Die Antwort hängt nur von dir ab; du hängst moralisch nur von deiner Antwort ab. Du besitzt den Ring nicht? Das entbindet dich nicht von der Verpflichtung, nachzudenken, zu urteilen, zu handeln. Wenn sich ein Schuft nicht nur dem Anschein nach von einem ehrlichen Menschen unterscheidet, dann liegt es daran, dass weder der Blick der anderen noch deine Vorsicht eine Rolle spielt. Die Herausforderung der Moral besteht darin, dass sie sich zwar auf den anderen bezieht, aber nur du allein sie mit dir ausmachst. Moral ist eine äußerst einsame Angelegenheit. Moralisch zu handeln heißt zwar, die Bedürfnisse des anderen zu berücksichtigen, aber »ohne Wissen der Götter und der Menschen«, wie Platon sagt, mit anderen Worten, du wirst von niemandem für dein Verhalten belohnt und bestraft. Ist das eine Herausforderung? Ich drücke mich falsch aus, denn die Antwort hängt wiederum nur von dir ab. Es ist keine Herausforderung, sondern eine Entscheidung. Du allein weißt, was du tun musst, und niemand kann dir die Entscheidung abnehmen. Einsamkeit und Größe der Moral: Dein Wert bestimmt sich nur durch das Gute, das du tust, durch das Böse, das du dir verbietest, und zwar ohne einen anderen Nutzen als die Befriedigung – obwohl niemand jemals etwas davon wissen wird –, gut zu handeln.

Das ist der Geist Spinozas, der sagt, es gehe darum, »gut zu handeln… und in Freude zu sein«.7 Das ist der Geist, [21] Punkt. Wie können wir Freude empfinden, wenn wir uns nicht wenigstens ein bisschen achten? Und wie können wir uns achten, ohne uns zu beherrschen, ohne uns zu zähmen, ohne uns zu überwinden? À toi de jouer, sagt man auf Französisch, du bist dran, aber es ist kein Spiel und schon gar kein Schauspiel. Es ist dein Leben: Du bist, hier und jetzt, das, was du tust. Moralisch betrachtet ist es völlig nutzlos, davon zu träumen, ein anderer zu sein. Wir können auf Reichtum hoffen, auf Gesundheit, Schönheit, Glück… Aber es ist absurd, auf Tugend zu hoffen. Ob du ein Schuft oder ein anständiger Mensch bist, entscheidest du, du ganz allein: Du bist genau so viel wert, wie du wert sein willst.

Was ist Moral? Das ist die Gesamtheit dessen, was ein Individuum sich auferlegt oder verbietet, und zwar nicht primär, um sein Glück oder sein Wohlbehagen zu steigern, was lediglich Egoismus wäre, sondern um die Bedürfnisse und Rechte anderer wahrzunehmen, um kein Schuft zu sein, sondern um sich zu einer bestimmten Vorstellung des Menschseins und seiner selbst zu bekennen. Die Moral antwortet auf die Frage »Was soll ich tun?« und besteht in der Gesamtheit meiner Pflichten, anders gesagt, der Imperative, die ich als rechtmäßig anerkenne – selbst wenn ich sie, wie jeder andere, gelegentlich verletze. Sie ist das Gesetz, das ich mir selbst auferlege oder auferlegen sollte, unabhängig vom Blick der anderen und jeglicher erwarteten Sanktion oder Belohnung.

»Was soll ich tun?« und nicht »Was sollen die anderen tun?« Das unterscheidet die Moral vom Moralismus. »Die Moral«, sagt Alain, »ist nie für den Nachbarn da«: Wer sich um die Pflichten des Nachbarn kümmert, ist nicht [22] moralisch, sondern ein Moralprediger. Was könnte unangenehmer sein? Welcher Diskurs wäre überflüssiger? Die Moral ist nur in der ersten Person legitim. Jemandem zu sagen: »Du sollst großzügig sein«, beweist keine Großzügigkeit. Ihm zu sagen: »Du sollst mutig sein«, beweist keinen Mut. Die Moral taugt nur für uns selbst. Für die anderen genügen das Mitgefühl und das Recht.

Wer kann im Übrigen die Absichten, die Motive oder die Verdienste der anderen kennen? Niemand ist moralisch von anderen als Gott, wenn er denn existiert, zu beurteilen oder von sich selbst, und mehr braucht es nicht. Bist du egoistisch gewesen? Bist du feige gewesen? Hast du die Schwäche, die Not, die Naivität des anderen ausgenutzt? Hast du gelogen, gestohlen, vergewaltigt? Du weißt es genau, und dieses Wissen von dir über dich heißt Gewissen – der einzige Richter, der, jedenfalls moralisch, zählt. Ein Prozess? Eine Geldstrafe? Gefängnis? Das ist lediglich die Gerechtigkeit der Menschen: Das ist das Recht und die Polizei. Wie viele Schufte laufen frei herum? Wie viele rechtschaffene Menschen sitzen im Gefängnis? Du kannst mit der Gesellschaft im Reinen sein – und solltest es auch sein. Doch das entbindet dich nicht von der Notwendigkeit, mit dir selbst, mit deinem Gewissen im Reinen zu sein. Und das ist in Wahrheit die einzige Regel.

Gibt es ebenso viele Moralvorstellungen wie Individuen? Mitnichten. Das ist das ganze Paradoxon der Moral: Sie gilt nur in der ersten Person, aber allgemein – anders gesagt, für jeden Menschen (da jeder Mensch ein »Ich« ist). Zumindest leben wir danach. Tatsächlich wissen wir sehr gut, dass es [23] verschiedene Moralvorstellungen gibt, abhängig von der Erziehung, die wir genossen haben, der Gesellschaft oder der Epoche, in der wir leben, den Gesellschaftsschichten, in denen wir uns bewegen, der Kultur, in der wir uns erken-nen… Es gibt keine absolute Moral oder keinen, der absoluten Zugang zu ihr hätte. Aber wenn ich mir Grausamkeit, Rassismus oder Mord verbiete, weiß ich auch, dass das nicht einfach eine Frage der Neigung ist, die vom Geschmack jedes Einzelnen abhängt. Das ist vor allem eine Voraussetzung für das Überleben und die Würde der Gesellschaft, jeder Gesellschaft, mit anderen Worten, der Menschheit oder der Zivilisation.

Wenn alle lögen, würde keiner mehr jemandem glauben: Wir könnten noch nicht einmal mehr lügen (weil die Lüge das Vertrauen voraussetzt, das sie missbraucht), und jede Kommunikation würde absurd oder vergeblich.

Würden alle stehlen, wäre das Leben in der Gesellschaft unmöglich oder beklagenswert: Es gäbe kein Eigentum mehr, keinen Wohlstand und nichts zu stehlen.

Würden alle töten, liefe die Menschheit oder die Zivilisation in ihr Verderben: Es gäbe nur noch Gewalt und Angst, und wir wären alle die Opfer der Mörder, die wir selber wären.

Das sind zwar nur Hypothesen, aber sie führen uns direkt zum Wesen der Moral. Du möchtest wissen, ob diese oder jene Handlung gut oder verwerflich ist? Dann frage dich, was geschähe, wenn sich alle verhielten wie du. Ein Kind wirft beispielweise seinen Kaugummi auf den Bürgersteig. Seine Eltern sagen: »Stell dir vor, wenn das alle täten: Was für einen Schmutz gäbe das, wie unangenehm wäre es [24] für dich und uns alle!« Oder schlimmer, stell dir vor, alle würden lügen, töten, stehlen, vergewaltigen, prügeln, foltern… Würdest du eine solche Menschheit wollen? Wie könntest du sie für deine Kinder wollen? Und mit welchem Recht kannst du dich von dem, was du willst, ausnehmen? Folglich musst du dir verbieten, was du bei anderen verurteilst, oder darauf verzichten, dein Verhalten in Einklang mit dem universell Gültigen zu bringen, das heißt, mit dem Geist oder der Vernunft. Das ist der entscheidende Punkt: Es geht darum, sich persönlich einem Gesetz zu unterwerfen, von dem wir überzeugt sind, dass es für alle gilt – oder es zumindest sollte.

Das ist die Bedeutung des berühmten Kategorischen Imperativs, wie ihn Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert: »…handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«.8 Das heißt, sich beim Handeln nach der Menschheit zu richten, statt nach dem »lieben kleinen Ich«, und der Vernunft zu gehorchen, statt seinen Neigungen oder seinem Eigennutz. Eine Handlung ist nur gut, wenn das Prinzip, dem sie sich unterwirft (ihre »Maxime«) zu recht für alle gelten kann: Moralisch zu handeln heißt, so zu handeln, dass du uneingeschränkt wünschen kannst, jeder würde sich den gleichen Prinzipien wie du unterwerfen. Das entspricht dem Geist des Evangeliums oder dem Humanitätsgedanken (ähnliche Formulierungen finden sich in anderen Religionen oder auch bei Rousseau, wenn er die »erhabene Maxime« verkündet: »Handele [25] anderen gegenüber so, wie du willst, daß man dir gegenüber handele.«9 Das entspricht auch – bescheidener und klüger – dem Geist des Mitgefühls, den er in einer anderen Maxime ausdrückt, »die viel weniger vollkommen, aber vielleicht nützlicher als die vorangehende ist: ›Sorge für dein Wohl mit so wenig Schaden für andere wie möglich.‹«10 Das bedeutet, dass wir uns in unserem Leben zumindest teilweise nach anderen richten, oder vielmehr nach uns als urteilenden und denkenden Wesen. »Ganz allen«, sagt Alain, »allgemein…« Das ist die Quintessenz der Moral.

Bedarf es, um diese Moral zu legitimieren, einer Begründung? Das ist weder notwendig noch ohne weiteres möglich. Ein Kind droht zu ertrinken. Brauchst du eine Begründung, um es zu retten? Ein Tyrann massakriert, unterdrückt, foltert… Brauchst du eine Begründung, um ihn zu bekämpfen? Eine Begründung wäre eine unbestreitbare Wahrheit, die den Wert unserer Werte garantierte: Das würde uns ermöglichen, auch dem, der sie nicht teilt, zu beweisen, dass wir recht und er unrecht hat. Doch dazu müssten wir zunächst die Vernunft begründen, und das können wir nicht. Was wäre das für ein Beweis ohne ein als wahr geltendes zugrundeliegendes Prinzip? Was für eine Begründung ließe sich, wenn es um Werte geht, liefern, die nicht die Moral voraussetzte, die zu begründen sie vorgibt? Wie könnte man dem Menschen, der den Egoismus über die Großzügigkeit stellt, die Lüge über die Ehrlichkeit, die [26]