Eine kurze Geschichte der Ungleichheit
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Für die englischsprachige Ausgabe
Die Originalausgabe erschien zuerst 2011 bei Basic Books.
Published by Basic Books, A Member of the Perseus Books Group
Copyright © 2011 by Branko Milanović
Für das neue Vorwort © 2016 by Branko Milanović
Für die deutschsprachige Ausgabe
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung
durch elektronische Systeme.
Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG.
© 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder
der WBG ermöglicht.
Übersetzung: Stephan Gebauer
Lektorat: Cana Nurtsch
Satz: Satz & mehr, Besigheim
Einbandgestaltung: Stefan Schmid, Stuttgart
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-3479-4
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-3523-4
eBook (epub): 978-3-8062-3524-1
Für N. und G.
„Die Bestimmung der Gesetzmäßigkeiten dieser Verteilung [auf Löhne, Profite und wirtschaftliche Renten] ist das vorrangige Problem der politischen Ökonomie.“
David Ricardo, Grundsätze der politischen Ökonomie (1817)
„Die verführerischste und […] schädlichste unter all den Tendenzen, die einer vernünftigen Wirtschaftspolitik schaden, besteht darin, sich auf die Verteilungsfragen zu konzentrieren.“
Robert E. Lucas, „The Industrial Revolution: Past and Future“ (2004)
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Essay I: Ungleiche Menschen
Ungleichheit zwischen den Einwohnern eines Landes
Skizze 1.1 Romantik und Reichtümer
Skizze 1.2 Anna Wronskaja?
Skizze 1.3 Wer war der reichste Mensch aller Zeiten?
Skizze 1.4 Wie groß war die Ungleichheit im Römischen Reich?
Skizze 1.5 War der Sozialismus egalitär?
Skizze 1.6 In welchem Pariser Arrondissement hätte man im 13. Jahrhundert leben sollen – und in welchem sollte man heute leben?
Skizze 1.7 Wer gewinnt durch die staatliche Umverteilung?
Skizze 1.8 Können mehrere Staaten in einem existieren?
Skizze 1.9 Wird China das Jahr 2048 erleben?
Skizze 1.10 Zwei Studenten der Ungleichheit: Vilfredo Pareto und Simon Kuznets
Essay II: Ungleiche Länder
Ungleichheit zwischen den Ländern der Welt
Skizze 2.1 Warum irrte sich Marx?
Skizze 2.2 Wie groß ist die Ungleichheit in der heutigen Welt?
Skizze 2.3 Wie viel von unserem Einkommen hängt davon ab, wo wir geboren werden?
Skizze 2.4 Sollte die ganze Welt aus geschlossenen Wohnanlagen bestehen?
Skizze 2.5 Wer sind die Harraga?
Skizze 2.6 Drei Generationen von Obamas
Skizze 2.7 Hat die Globalisierung die Ungleichheit in der Welt vergrößert?
Essay III: Die ungleiche Welt
Ungleichheit zwischen den Bürgern der Welt
Skizze 3.1 Und wo ist Ihr Platz in der globalen Einkommensverteilung?
Skizze 3.2 Gibt es eine globale Mittelschicht?
Skizze 3.3 Wie verschieden sind die Vereinigten Staaten und die Europäische Union?
Skizze 3.4 Warum sind Asien und Lateinamerika Spiegelbilder voneinander?
Skizze 3.5 Wollen Sie schon vor dem Anpfiff wissen, wer als Sieger vom Platz gehen wird?
Skizze 3.6 Einkommensungleichheit und die globale Finanzkrise
Skizze 3.7 Holten die Kolonialherren so viel aus den Kolonien heraus wie sie konnten?
Skizze 3.8 Warum war Rawls gleichgültig gegenüber der globalen Ungleichheit?
Skizze 3.9 Die Geopolitik im Licht der Ökonomie (oder: Eine ökonomisch aufgeklärte Geopolitik)
Anmerkungen
Weiterführende Lektüre
Index
Dieses Buch hat drei Teile, die jeweils einer der drei Arten von Ungleichheit gewidmet sind. Alle sind sie Facetten der Ungleichheit in der Welt, aber jede Art ist auch für sich genommen relevant. Im ersten Teil beschäftige ich mich mit der Einkommensungleichheit zwischen Menschen, die im selben Land leben. Dies ist offenkundig eine Art von Ungleichheit, mit der die meisten von uns auf Anhieb etwas anfangen können. Sodann gibt es die Ungleichheit zwischen den Durchschnittseinkommen verschiedener Länder. Auch diese ist leicht zu verstehen, wenn wir die Lebensstandards in reichen und armen Ländern vergleichen. Und drittens gibt es die Einkommensungleichheit zwischen allen Bewohnern der Erde. Diese wird als „globale Ungleichheit“ bezeichnet.
Die drei Teile des Buchs sind ähnlich aufgebaut. Am Anfang steht jeweils ein Essay, der den Leser in das Thema des Abschnitts einführt. Es folgt eine Reihe von Skizzen, in denen die Zusammenhänge verständlicher erklärt und mit dem alltäglichen Leben verknüpft werden. Zum Beispiel werden wir uns in diesen Skizzen ansehen, wie die Ungleichheit im europäischen Roman des 19. Jahrhunderts (Jane Austens Stolz und Vorurteil und Tolstois Anna Karenina) behandelt wurde. Wir stellen die Frage, wer wohl der reichste Mensch aller Zeiten gewesen sein mag, und untersuchen, wie groß die Ungleichheit in der Europäischen Union ist und ob sie dem Wachstum der Union natürliche Grenzen setzt. Weitere Themen sind die Ungleichheit im römischen Kaiserreich und unter dem Kommunismus, die Gefahr, die von der Einkommensungleichheit für die Einheit Chinas ausgeht usw. Jede Skizze kann für sich gelesen werden. Der Leser kann sich an die Ordnung des Buchs halten oder die Skizzen abhängig von seinen spezifischen Interessen auswählen. Es macht keinen großen Unterschied, welchen Zugang man wählt.
Obwohl sich die drei Möglichkeiten, die Ungleichheit zu betrachten, konzeptuell voneinander unterscheiden, und obwohl auch in diesem Buch oft auf diese Unterscheidung zurückgegriffen wird, müssen wir auch begreifen, dass sie zusammenhängen und dass diese drei Sphären nicht strikt voneinander getrennt werden können und sollen. Lassen sie mich diese wechselseitige Abhängigkeit der drei Arten von Ungleichheit anhand einiger Beispiele erläutern, die viele Menschen – insbesondere in Ländern wie Deutschland – heute beschäftigen.
Die globale Ungleichheit, das heißt die Ungleichheit zwischen den Einkommen aller Menschen auf der Erde, ist in jüngster Zeit zum ersten Mal seit wir sie messen können, das heißt seit der industriellen Revolution, geringer geworden. Der Grund für diese bemerkenswerte Entwicklung ist ein in der Geschichte beispielloser Anstieg der Einkommen von rund 1,3 Millionen Menschen in China. In den letzten Jahren hat ein kräftiges Wirtschaftswachstum auch in Indien, Vietnam und Indonesien Millionen Menschen aus der Armut befreit und zur Verringerung der globalen Einkommensungleichheit beigetragen. Wir können diese Entwicklung verstehen, indem wir uns vorstellen, dass die Ungleichheit geringer geworden ist, weil die Einkommen vieler sehr armer Menschen gewachsen sind, was ihnen den Aufstieg in die „globale Mittelschicht“ ermöglicht hat. Dieser Erfolg Asiens kann im Wesentlichen auf die Globalisierung zurückgeführt werden, das heißt auf den Freihandel und eine größere Bewegungsfreiheit für Kapital, Technologie und Ideen.
Aber diese positiven Entwicklungen (geringe globale Ungleichheit, Freizügigkeit von Kapital und Gütern) haben auch eine Schattenseite oder führen zu weniger ermutigenden Entwicklungen. Die Verringerung der Armut und Ungleichheit in der Welt infolge des Wachstums der armen und bevölkerungsreichen Länder Asiens ging mit einem geringeren Wachstum und zunehmender Ungleichheit in den reichen Ländern einher. Zudem wurde die Ungleichheit auch in den wirtschaftlich aufstrebenden Ländern – in China, Indien, Vietnam usw. – größer. In einigen Fällen, so zum Beispiel in China, nahm die Ungleichheit um mehr als das Doppelte zu.
Die Verringerung der globalen Ungleichheit vergrößert also die Kluft zwischen den durchschnittlichen Wachstumsraten Asiens und der reichen Welt und erhöht sowohl in der reichen Welt als auch in Asien die Ungleichheit innerhalb der Länder. Daher ist es technisch durchaus möglich, dass die Ungleichheit in praktisch allen Ländern zunimmt, während die globale Ungleichheit geringer wird – und in der gegenwärtigen Globalisierungsphase ist das tatsächlich geschehen. Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass diese beiden Resultate – abnehmende Ungleichheit in der Welt und zunehmende Ungleichheit in den einzelnen Ländern – das Ergebnis desselben Globalisierungsprozesses ist: Die Globalisierung ermöglicht den armen Ländern ein rascheres Wachstum als den reichen, vergrößert gleichzeitig jedoch die Einkommenskluft zwischen den Angehörigen ein und derselben Gesellschaft. Der zweite Effekt kann größeren Eindruck auf die Einwohner eines Landes machen, selbst wenn das erste Resultat für die Welt als ganze und für das Wohlergehen der Menschheit wichtiger sein dürfte.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt der Globalisierung, der unsere Aufmerksamkeit verdient. Die Globalisierung führt definitionsgemäß zur leichteren und letzten Endes ungehinderten Bewegung von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Technologie und Ideen zwischen verschiedenen Weltregionen. Eine Welt ohne Grenzen ist das eigentliche Ziel der Globalisierung. Aber es gibt einen Produktionsfaktor, der sehr viel weniger mobil ist. Gemeint ist die Arbeit. Während fast 40 Prozent des globalen Finanzvermögens in den Ländern der Welt in ausländischer Hand sind, leben nicht einmal 4 Prozent der Weltbevölkerung an einem Ort außerhalb ihres Geburtslands. Bei diesem Aspekt der Globalisierung beobachten wir in jüngster Zeit eine Veränderung: Die Zahl der Migranten und Flüchtlinge ist deutlich gestiegen.
Wir müssen jedoch begreifen, dass der Migrationsdruck, den Europa in diesen Tagen spürt, das Ergebnis der gewaltigen Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der verschiedenen Länder (eine unserer drei Arten von Ungleichheit) und ein Produkt der Globalisierung selbst ist, hat sie doch den Bevölkerungen der armen Länder deutlich vor Augen geführt, wie groß diese Einkommensunterschiede sind, und gleichzeitig die Bewegung der Menschen von einem Land ins andere erleichtert und verbilligt. Da die Angleichung der sehr unterschiedlichen Einkommen selbst dann, wenn die armen Länder auch in Zukunft schneller wachsen als die reichen, mindestens fünf bis sechs Generationen dauern wird, ist der Migrationsdruck auf Europa kein einmaliges Phänomen: Er wird mindestens ein Jahrhundert anhalten. Er ist Teil der Struktur der heutigen Weltwirtschaft: Große Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der Länder gehen mit einer erleichterten (wenn auch nicht unbedingt legalen) Bewegung von Land zu Land einher. Wenn wir verstehen, dass die Migration ein dauerhaftes Phänomen ist, können wir leichter Konzepte entwickeln, die dem Ideal einer grenzenlosen Welt entsprechen (welches ein impliziter Bestandteil der Globalisierung ist) und gleichzeitig auf die Sorgen der einheimischen Bevölkerung eingehen und die Migration politisch möglich machen.
Deutschland erlebt möglicherweise einen entscheidenden Moment in seiner Geschichte, in dem die Herausforderungen der Bewegungsfreiheit von Kapital und Arbeit in Europa durch zwei zusätzliche Herausforderungen ergänzt werden. Da ist zunächst die Herausforderung der ungehinderten weltweiten Kapitalbewegungen, die den deutschen Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, billiger zu produzieren, indem sie ausländische Arbeitskräfte (und damit keine deutschen Arbeitskräfte) beschäftigen, und den Bürgern die Möglichkeit gibt, die Bewegungsfreiheit des Kapitals zu nutzen, um keine Steuern zu zahlen. Sodann ist das Land mit der Herausforderung der Zuwanderung aus Ländern außerhalb der EU konfrontiert, die ein Ergebnis der großen Einkommensunterschiede ist. Die Globalisierung, die der Menschheit als ganzer nutzt, erzeugt auf diese Art erhebliche Spannungen innerhalb der einzelnen Gesellschaften.
Ich hoffe, dass der Leser das Buch und insbesondere die Skizzen interessant und unterhaltsam finden wird. Und ich hoffe, dieses Buch wird dem Leser dabei helfen, die Welt und die Zeit, in der wir leben, in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten: Wir leben weder in einem goldenen Zeitalter in einer „einzigen“ vernetzten Welt noch an einem düsteren Ort, der kurz davor steht, in einem weiteren dunklen Zeitalter der gesellschaftlichen und nationalen Spaltung zu versinken.
Branko Milanović
In New York, 23. September 2016
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Einkommensungleichheit zwischen Personen als Bestandteil der funktionalen Verteilung des Nationaleinkommens betrachtet: Man sah sich an, wie das Gesamteinkommen zwischen den großen sozialen Schichten (Arbeiter und Kapitalisten) verteilt war.1 Viele Ökonomen betrachteten dies als das zentrale Thema ihres Forschungsgebiets. Im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts schien die Gesellschaft normalerweise in mehrere klar voneinander abgegrenzte soziale Schichten unterteilt: Da waren die Arbeiter, die ihre Arbeitskraft verkauften, um sich einen Lohn zu verdienen, und normalerweise relativ arm waren. Sodann gab es die Kapitalisten, die das Kapital besaßen und Profit damit erzielten, weshalb sie relativ reich waren. Und es gab die Grundbesitzer, die mit dem Boden wirtschaftliche Renten erzielten, weshalb sie ebenfalls reich waren. Es wurde angenommen, dass die Verteilung der Einkommen unter diesen drei Klassen entscheidenden Einfluss auf die zukünftige Entwicklung einer Gesellschaft haben würde. Der englische Ökonom David Ricardo, der zu den Vätern der Disziplin der politischen Ökonomie zählt, glaubte, der Einkommensanteil der Grundbesitzer werde stetig steigen, da für die wachsende Bevölkerung mehr Nahrung gebraucht würde, weshalb auch weniger fruchtbarer Boden für den Ackerbau genutzt werden würde – folglich würden die Grundrenten steigen. Die Preise von „Lohngütern“ (Nahrungsmitteln) und die wirtschaftlichen Renten würden explosionsartig steigen. Als Endergebnis erwartete Ricardo einen stationären Zustand, in dem angesichts der steigenden Nahrungsmittelpreise und Grundrenten die Profite so gering ausfallen würden, dass es kaum Anreize zum Sparen und Investieren geben würde.2 Karl Marx sah eine größere Mechanisierung, die sich in einem steigenden Kapitalwert pro Arbeiter ausdrückte, was zu schrumpfenden Kapitalerträgen und zu einer langfristig gegen null sinkenden Profitrate führen würde – was die Investitionen ebenfalls abwürgen musste.
Die Betrachtung der Einkommensverteilung durch das Prisma der Gesellschaftsschichten änderte sich kaum, als die Wirtschaftstheoretiker um das Jahr 1870 einen Richtungswechsel vollzogen und die klassische politische Ökonomie in der „Marginalistischen Revolution“ durch die Grenznutzentheorie ersetzten: Von nun an galt das Augenmerk nicht mehr der allgemeinen wirtschaftlichen Evolution der verschiedenen Gesellschaftsschichten, sondern der Maximierung des individuellen Nutzens. Und an dieser Betrachtungsweise änderte sich auch nichts, als die beiden Denkschulen (die klassische und die Grenznutzenschule) unter der Bezeichnung „neoklassische marshallsche Ökonomie“ (benannt nach dem Cambridge-Ökonomen Alfred Marshall) zusammengeführt wurden: Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts weckte die Verteilung des Einkommens zwischen den Personen (nicht zwischen Klassen) das Interesse Vilfredo Paretos, eines französisch-italienischen Ökonomen, der an der Universität Lausanne unterrichtete. (Sein Beitrag ist Thema der Skizze 1.10.)
Etwa zur selben Zeit wurden auch erstmals Daten zur Verteilung der persönlichen Einkommen zugänglich. Die Bereitstellung dieser Daten ging Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Entwicklung (mit dem wachsenden Wohlstand der Länder) und mit den zunehmenden steuerlichen Eingriffen des Staates. Die ersten statistischen Informationen über die Einkommensverteilung wurden gesammelt, weil die Staaten versuchten, die direkten Steuern „fairer“ – das heißt dem Einkommen entsprechend – einzuheben und die Steuereinnahmen insgesamt zu erhöhen, weil sie Geld für die öffentliche Bildung, für Arbeitsunfähigkeitsrenten und vor allem für den Krieg brauchten. Bedeutsam war auch die ideologische Umwälzung, die mit dem Grundsatz einherging, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sein mussten, was bedeutete, dass die Reichen aufgrund ihres größeren Wohlstands und Einkommens mehr beitragen mussten. Die Steuern mussten enger an das Einkommen gekoppelt werden, und um das zu bewerkstelligen, brauchten die staatlichen Behörden bessere Informationen über die Einkommen und deren Verteilung unter den Haushalten. Daher überrascht es nicht, dass die Daten, die Pareto auswertete, um sich ein Bild von der Verteilung der persönlichen Einkommen zu machen, allesamt aus europäischen Steuerakten aus dem späten 19. Jahrhundert stammten. Dies war die Geburtsstunde unseres Themas.
Die Ökonomen und Sozialwissenschaftler befassen sich mit drei Aspekten der Ungleichheit. Erstens fragen sie, wie die Ungleichheit zwischen den Menschen in einem Land entsteht. Gibt es regelmäßige Prozesse, die bewirken, dass sich die Ungleichheit auf eine bestimmte Art verhält, wenn sich eine Gesellschaft entwickelt? Nimmt die Ungleichheit zu, wenn die Wirtschaft wächst – ist sie pro- oder antizyklisch? Diese Fragen behandeln die Ungleichheit als etwas, das erklärt werden sollte. Sie ist eine abhängige Variable.
Bei der zweiten Art von Fragen ist die Ungleichheit eine Variable, die andere wirtschaftliche Phänomene erklärt: Wirkt sich ein hohes Maß an Ungleichheit vorteilhaft oder nachteilig auf das Wirtschaftswachstum aus? Trägt Ungleichheit zu einer besseren Governance bei, lockt sie ausländische Investitionen an, hilft sie dabei, die allgemeine Bildung auszuweiten? Hier wird die Ungleichheit ausschließlich instrumentell betrachtet: Wir interessieren uns für die Frage, ob sie uns einem bestimmten wünschenswerten wirtschaftlichen Ergebnis näherbringt oder nicht.
Drittens betrachten die Sozialwissenschaftler die Ungleichheit unter ethischen Gesichtspunkten. Sie beschäftigen sich mit der Frage, inwieweit durch ein unterschiedliches Maß an Ungleichheit gekennzeichnete gesellschaftliche Arrangements gerecht sind. Ist wachsende Ungleichheit nur akzeptabel, wenn sie die absoluten Einkommen der Armen erhöht? Sollte Ungleichheit, die auf der Herkunft beruht, anders behandelt werden als Ungleichheit, die auf besseren Arbeitsleistungen und größerer Anstrengung beruht?
Wie entwickelt sich die Ungleichheit abhängig vom Einkommensniveau einer Gesellschaft? Pareto, der sich in seiner Analyse auf eine begrenzte Auswahl von Steuerdaten aus europäischen Ländern und Städten des späten 19. Jahrhunderts stützte, glaubte an das „eherne Gesetz der Ungleichheit zwischen den Personen“, das seiner Meinung nach bewirkte, dass sich unterschiedliche soziale Ordnungssysteme (feudalistische, kapitalistische oder sozialistische Gesellschaft) nicht wesentlich auf die Verteilung der Einkommen auswirkten. Die Eliten konnten verschieden sein und verschiedene Methoden anwenden, um die Gesellschaft zu kontrollieren, aber auf die Verteilung des Einkommens – und damit das Maß an Ungleichheit – habe das keine wesentlichen Auswirkungen. Heute wird dies als „80-20-Regel“ bezeichnet, denn bei manchen Phänomenen können wir regelmäßig dieses Verhältnis beobachten: 20 Prozent der Menschen sind verantwortlich für 80 Prozent der Ergebnisse und umgekehrt (die übrigen 80 Prozent der Menschen erzeugen nur 20 Prozent der Ergebnisse). Auch in der Qualitätssicherung findet dieses Gesetz Anwendung (80 Prozent der Probleme werden durch 20 Prozent der Produkte verursacht), und es kann für das Marketing genutzt werden. Und wie wir sehen werden, gilt etwas Ähnliches sogar für die globale Einkommensverteilung (siehe Essay III). Was die Einkommensverteilung innerhalb der Länder anbelangt, so war Pareto unfähig, eine Theorie der Veränderung zu entwickeln, obwohl das Wort „unfähig“ nicht vollkommen zutreffend ist, weil Pareto glaubte (und überzeugt war, empirisch bewiesen zu haben), dass die Einkommensverteilung mehr oder weniger feststehen musste, weshalb es keine Gesetzmäßigkeiten ihrer „Veränderung“ infolge der wirtschaftlichen Entwicklung gab. Für Pareto gab es nur ein „Gesetz ihrer Unveränderlichkeit“.
Es dauerte bis zum Jahr 1955, bis der russisch-amerikanische Ökonom und Statistiker Simon Kuznets die erste Theorie zu den Ursachen für Veränderungen der Einkommensverteilung aufstellte. (Ein Profil von ihm und Pareto findet sich in der Skizze 1.10.) Kuznets, dessen Daten ähnlich beschränkt waren wie die Paretos (obwohl sie nicht aus Steuerarchiven, sondern aus Haushaltserhebungen stammten), gelangte zu dem Schluss, die Ungleichheit zwischen den Einwohnern eines Landes sei nicht dieselbe, gleich welche Form eine Gesellschaft habe, sondern verändere sich, wenn sich die Gesellschaft entwickle. Und er erklärte, diese Veränderung sei vorhersehbar: In sehr armen Ländern sei die Ungleichheit zwangsläufig gering, da das Einkommen der großen Mehrheit der Bevölkerung etwa auf dem Subsistenzniveau liege und kaum wirtschaftliche Unterschiede zwischen den Menschen bestünden. Wenn sich eine Volkswirtschaft entwickle und die Arbeitskräfte von der Landwirtschaft in die Industrie wechselten, drifteten die Durchschnittseinkommen der (wohlhabenderen) Industriearbeiter und der (ärmeren) Bauern auseinander. Und Kuznets zufolge bewegen sich die Einkommen der einzelnen Arbeitskräfte innerhalb des Industriesektors ebenfalls deutlicher auseinander als die Einkommen der Bauern, weil die Aufgaben in der modernen Industrie vielfältiger sind als in der Landwirtschaft. Die Einkommensungleichheit nimmt also sowohl infolge der wachsenden Kluft zwischen den Durchschnittseinkommen in Industrie und Landwirtschaft als auch infolge der Differenzierung zwischen den Industriearbeitern zu. Schließlich beginnt der Staat in hoch entwickelten Gesellschaften, die Einkommen umzuverteilen (siehe Skizze 1.7); die Bildung wird ausgeweitet und die Ungleichheit nimmt ab (siehe Skizzen 1.1 und 1.2). Hier haben wir die berühmte „Kuznets-Hypothese“, in der die Veränderung der Ungleichheit im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung anhand einer auf dem Kopf stehenden U-Kurve beschrieben wird: Die Ungleichheit muss erst zunehmen, bevor sie abnehmen kann.
Diese Idee war jedoch nicht vollkommen neu. Sie war schon rund 120 Jahre früher von dem französischen Sozialwissenschaftler und Politiker Alexis de Tocqueville zu Papier gebracht worden:
Wenn man aufmerksam betrachtet, was seit Anbeginn der Gemeinschaften in der Welt geschieht, so erkennt man ohne große Mühe, daß Gleichheit nur am Anfangs- und am Endpunkt der Kulturentwicklung steht. Die Wilden sind untereinander gleich, weil sie alle gleichermaßen schwach und unwissend sind. Die Kulturmenschen können einander gleich werden, weil ihnen allen ähnliche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Wohlstand und Glück zu erreichen. Zwischen diesen beiden Extremen stößt man auf die Ungleichheit der Lebensbedingungen, auf Reichtum, Wissen und Macht einiger sowie auf Armut, Unkenntnis und Schwäche aller anderen. (Mémoire sur le paupérisme, 1835)*
Natürlich sagte Tocqueville, der kein Ökonom war wie Kuznets, nichts über den Mechanismus, der diese umgekehrte U-Kurve hervorbringen würde.
Die Kuznets-Hypothese wurde von den Ökonomen wieder und wieder empirisch überprüft. Mittlerweile stehen umfangreiche nationale Haushaltserhebungen zu Einkommen und Konsum zur Verfügung, die uns aufschlussreiche Daten zur Einkommensverteilung liefern und die Untersuchung dieser Theorie erheblich erleichtert haben. Im Prinzip sollte die Hypothese am besten funktionieren, wenn wir die Entwicklung der Ungleichheit innerhalb eines Landes untersuchen, das eine umwälzende Transformation von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft und schließlich zu einer Dienstleistungsgesellschaft durchmacht. Aber in diesem Kontext sind die Ergebnisse durchmischt: In einigen Ländern ist (in einigen Zeiträumen) die umgekehrte U-Kurve zu beobachten, aber in anderen Ländern ist das nicht der Fall.
Die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen und der Prognosetauglichkeit der Kuznets-Hypothese bewegte die Forscher dazu, sie durch neue Elemente zu ergänzen, die besser geeignet waren, die Entwicklung der Einkommensungleichheit zu erklären. So entstand die „verbesserte“ Kuznets-Hypothese. Nun wurden neben dem Einkommensniveau zusätzliche Variablen wie die „finanzielle Tiefe“ einer Volkswirtschaft, der Umfang der Staatsausgaben oder des öffentlichen Dienstes sowie die Offenheit einer Volkswirtschaft herangezogen, um die Entwicklung der Ungleichverteilung zu erklären. Viele Ökonomen glaubten, diese zusätzlichen Elemente könnten unser Verständnis der Ungleichheit verbessern. Beispielsweise nahmen sie an, ein effizienterer und ausgeweiteter Finanzsektor werde die Armen in die Lage versetzen, Kredite aufzunehmen, um ihre Bildung zu bezahlen, was die Ungleichheit verringern werde, da die Aussichten auf berufliches Fortkommen durch Bildung nicht mehr auf die Reichen beschränkt sein werde. Höhere Staatsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder eine höhere Beschäftigtenzahl im öffentlichen Dienst gemessen an der Größe des nationalen Arbeitsmarkts verringern demnach die Ungleichheit, da sie den Armen zugutekommen und der Einkommensungleichverteilung entgegenwirken. Eine größere Offenheit für den Handel sollte in armen Ländern die Ungleichheit verringern, da sie die Nachfrage nach nicht qualifikationsintensiven Produkten wie Textilien erhöht, auf die sich diese Länder spezialisieren können; in der Folge werden die Löhne ungelernter Arbeiter verglichen mit denen qualifizierter Arbeitskräfte oder mit den Gewinnen der Kapitalisten steigen. In reichen Ländern sollte die Öffnung für den Welthandel das Gegenteil bewirken, da diese Länder zumeist technologisch anspruchsvolle Produkte exportieren, für deren Erzeugung hochqualifizierte Arbeitskräfte wie Informatiker und Ingenieure benötigt werden; folglich steigen die Einkommen von Hochschulabsolventen gegenüber den Einkommen von Arbeitskräften, die nur eine Grund- oder Sekundärschulausbildung haben. Die Ungleichheit nimmt zu. Um die Kuznets-Hypothese zu testen, würden die Ökonomen heute neben dem Einkommen auch all diese und einige andere Faktoren berücksichtigen, wobei sie vermutlich von Fall zu Fall Dinge wie die Altersstruktur der Bevölkerung oder die Verteilung des Grundbesitzes ergänzen würden. Tatsächlich sind die Ergebnisse besser, wenn wir uns nicht auf das Einkommensniveau beschränken – aber wirklich spektakulär sind sie auch nicht.
In jüngerer Zeit hat der französische Ökonom Thomas Piketty eine Reihe empirischer Studien vorgelegt, die er gemeinsam mit anderen Forschern (Emmanuel Saez, Anthony Atkinson, Abhijit Banerjee) durchgeführt hat. Die Ergebnisse widersprechen sowohl der Kuznets-Hypothese als auch ihren „verbesserten“ Varianten. Piketty zeigt, dass die Ungleichheit in den westlichen Ländern lange Zeit abnahm, im letzten Vierteljahrhundert jedoch wieder deutlich gestiegen ist. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, aber Piketty liefert eine „politische“ Erklärung dafür: Die Entwicklung der Ungleichheit hänge davon ab, ob der Staat die direkten Steuern auf laufende Einkommen und geerbtes Vermögen erhöhe oder senke, und werde von kriegerischen Konflikten beeinflusst (das heißt durch die Zerstörung von Sachkapital und die Verringerung der Einkommen der Kapitalisten). Dies kann man als eine politische Theorie der Einkommensverteilung betrachten, in der die gesellschaftliche Haltung (die Vorstellung davon, was gerecht und ungerecht ist) und die wirtschaftlichen Interessen, die sich im Wahlverhalten und in den Positionen der politischen Parteien niederschlagen, sowie die wirtschaftlichen Erfordernisse im Krieg über den Verlauf der Ungleichheitskurve entscheiden.
Um zu erklären, was die Entwicklung der Ungleichheit über einen langen Zeitraum (in diesem Fall das gesamte 20. Jahrhundert) hinweg antreibt, griff Piketty wieder auf eine alte Datenquelle zurück, die eigentlich aus der Mode gekommen war: die Steuerstatistiken. Diese Statistiken, die Pareto als erster verwendet hatte, wurden durch die Haushaltserhebungen ersetzt, weil die Steuerdaten nur einen Teil – das obere Ende – der Einkommensverteilung abdecken, denn in den meisten Ländern zahlen die Armen keine direkten Steuern. Die Haushaltserhebungen hingegen beinhalten die gesamte Bevölkerung. Die Verwendung von Steuerdaten ist problematisch, weil die daraus gezogenen Schlüsse nur gültig sind, wenn zwei Annahmen zutreffen: (1) Die zu versteuernden Einkommen entsprechen weitgehend den tatsächlichen Einkommen der Haushalte (und diejenigen, welche die höchsten Steuern zahlen, sind auch die reichsten Personen). (2) Man kann die allgemeine Entwicklung der Ungleichheit anhand der Veränderung des Einkommensanteils der reichsten Gruppen annähernd bestimmen (zum Beispiel des reichsten 1 Prozent der Steuerzahler, das auch das reichste 1 Prozent der Haushalte ist). Aber beide Annahmen sind anfechtbar. Das von Piketty und seinen Coautoren verwendete zu versteuernde Einkommen wird auch als Markteinkommen (oder Einkommen vor Steuern) bezeichnet. Es beinhaltet also weder die Steuerabzüge noch staatliche Transferleistungen.3 Aber normalerweise interessieren wir uns für die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen, das heißt jener Einkommen, die den Haushalten und Personen gehören, nachdem sie ihre Steuern bezahlt und staatliche Transferleistungen bezogen haben. Wenn sich Steuern oder Sozialtransfers ändern, können sich die Ungleichheit der Markteinkommen und jene der verfügbaren Einkommen in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Das Problem bei der zweiten Annahme ist, dass die Statistiken zur Ungleichheit im Prinzip die Einkommen aller Menschen beinhalten sollten, nicht nur die der Wohlhabenden. Beispielsweise könnte es sein, dass nicht nur der Einkommensanteil der Reichsten, sondern auch jener der Armen steigt, während der der Mittelschicht schrumpft. In diesem Fall können wir nicht behaupten, dass die Ungleichheit insgesamt zugenommen hat – aber wir gelangen zwangsläufig zu diesem Schluss, wenn wir uns ausschließlich am wachsenden Einkommensanteil der Reichen orientieren. Da Studien wie die von Piketty auf dieser Annahme beruhen (die, wie wir wissen, nicht auf alle Orte und zu allen Zeiten zutrifft), wird die Interpretation der Resultate problematisch. Stünden uns Erhebungen zu Einkommen oder Konsum der Bevölkerung zur Verfügung, die weit genug in die Vergangenheit zurückreichen, so wäre das Problem natürlich gelöst. Wir müssten nicht auf die sehr viel weniger präzisen und bruchstückhaften Steuerdaten zurückgreifen. Wie wir sehen werden, liegen solche Daten in den reichen Ländern im Allgemeinen nur für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und für viele Entwicklungs- und Schwellenländer nur für die letzten zwanzig bis dreißig Jahre vor.
Dies ist die gegenwärtige Situation in der Ungleichheitsforschung. Es wäre unfair und ist vermutlich unmöglich zu sagen, welcher der verschiedenen Standpunkte überzeugender ist. Vermutlich keiner. Aber wir sehen, dass wir über eine einfache Messung der Ungleichheit oder ein Verständnis ihrer Entwicklung hinausgehen und uns der wesentlichen Frage zuwenden müssen, ob Ungleichheit eine notwendige Voraussetzung für das Wachstum einer Volkswirtschaft ist. Und wenn sie nötig ist: Wie groß sollte sie sein?
Wie wirkt sich die Ungleichheit auf die wirtschaftliche Effizienz aus? Die Ungleichheit beschäftigt uns, besser gesagt, sie beschäftigt uns vor allem, weil wir glauben, dass sie sich auf einige bedeutsame wirtschaftliche Phänomene auswirkt, insbesondere auf das Wirtschaftswachstum: Wachsen Länder mit größerer Ungleichheit schneller oder langsamer? Im Lauf der Jahre wurde die eindeutige Antwort, Ungleichheit sei gut für das Wachstum, durch eine sehr viel nuancenreichere Einschätzung ersetzt, die eher das Gegenteil besagt.
Woran liegt das? Zum besseren Verständnis können wir die Wirkung der Ungleichheit auf die wirtschaftliche Effizienz mit der Wirkung des Cholesterins vergleichen: So wie es das gute und das schlechte Cholesterin gibt, gibt es auch eine „gute“ und eine „schlechte“ Ungleichheit.4 Die „gute“ Ungleichheit ist nötig, um den Menschen Anreize zum Lernen, zu harter Arbeit oder zu unternehmerischen Wagnissen zu geben. Dazu bedarf es eines gewissen Maßes an Ungleichheit zwischen den Belohnungen (mehr zu den Auswirkungen einer „unvernünftigen“ Nivellierung der Einkommen in Skizze 1.5 über die Ungleichheit im Sozialismus). Aber an einem – schwer zu bestimmenden – Punkt, wo Ungleichheit keinen Ansporn zu herausragenden Leistungen mehr gibt, sondern lediglich dabei hilft, eine erworbene Position zu verteidigen, verwandelt sie sich in „schlechte“ Ungleichheit. Das geschieht, wenn ungleich verteilte Vermögen oder Einkommen genutzt werden, um eine wirtschaftlich wünschenswerte politische Veränderung zu verhindern (z.B. eine Landreform oder die Abschaffung der Sklaverei), den Zugang zur Bildung auf die Reichen zu beschränken oder dafür zu sorgen, dass die besten Jobs Personen aus wohlhabenden Familien vorbehalten bleiben. All das beeinträchtigt die wirtschaftliche Effizienz. Wenn die Aussicht auf eine gute Bildung vom Wohlstand der Eltern abhängt, kann die Gesellschaft die Fähigkeiten und das Wissen eines beträchtlichen Teils ihrer Mitglieder (der Armen) nicht nutzen. In diesem Sinn unterscheidet sich die Diskriminierung aufgrund fehlenden geerbten Vermögens oder Einkommens nicht von jeder anderen Form von Diskriminierung, etwa aufgrund von Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit. In all diesen Fällen entscheidet die Gesellschaft, dass die Fähigkeiten eines Teils ihrer Mitglieder nicht genutzt werden. Es ist unwahrscheinlich, dass eine solche Gesellschaft wirtschaftlich erfolgreich sein wird. Abhängig davon, welche Art von Ungleichheit zu einer gegebenen Zeit in einem Land vorherrscht – „positive“, die nötig ist, um Anreize zu schaffen, oder „negative“, die ein Monopol der Reichen garantiert –, kann sie als vorteilhaft oder schädlich betrachtet werden.
Die Vorstellung, die Einkommensungleichheit sei vorteilhaft, weil sie den Menschen Anreize zu herausragenden Leistungen gibt, herrschte zu einer Zeit vor, als die Ökonomen glaubten, nur die sehr reichen Menschen sparten, weshalb es ohne sie keine Investitionen und kein Wachstum des Wohlstands geben könne. Von den Arbeitern (oder den Armen) wurde erwartet, dass sie alles ausgaben, was sie verdienten. Würden alle dasselbe (relativ) niedrige Einkommen haben, so würde nicht genug gespart und investiert – die Folge wäre wirtschaftliche Stagnation. Die Reichen an sich waren nicht wichtig, aber man brauchte sie, damit sie sparten, Kapital anhäuften und den Wirtschaftsmotor ankurbelten: Sie wurden als Behälter für die Individualisierung der Ersparnisse betrachtet. Sie würden nicht mehr konsumieren und sich nicht mehr Vergnügungen gönnen als alle anderen, sodass überschüssiges Einkommen gespart und investiert würde. Max Weber bezeichnete die asketische Haltung als zentralen Bestandteil des „kapitalistischen Geistes“: „[V]or allem ist das ‚summum bonum‘ dieser ‚Ethik‘, der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller […] hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüber dem ‚Glück‘ oder dem ‚Nutzen‘ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint.“5
Diese ein wenig rosige Begründung für die Notwendigkeit von Einkommensunterschieden unter der Bedingung, dass hohe Einkommen für Investitionen genutzt werden, findet ihren besten Ausdruck in einer Passage im Werk des berühmten englischen Ökonomen John Maynard Keynes, der als Begründer der modernen Makroökonomie gilt:
Trotzdem war die Gesellschaftsordnung [Europas vor 1914] so aufgebaut, daß ein großer Teil des erhöhten Einkommens in die Hände jener Klasse kam, bei welcher die Wahrscheinlichkeit am geringsten war, daß sie es gleich wieder verbrauchen würde. Die neuen Reichen des neunzehnten Jahrhunderts waren nicht an große Ausgaben gewöhnt und zogen die Macht, welche ihnen ihre Investitionen verliehen, den Freuden des unmittelbaren Konsums vor. Tatsächlich war es eben die Ungleichheit der Verteilung des Wohlstandes, die jene großen Akkumulationen von Vermögen und Kapitalanlagen möglich machte, welche dieses Zeitalter von allen anderen unterscheidet. Hierin lag in der Tat die hauptsächliche Berechtigung des kapitalistischen Systems. Hätten die Reichen ihren neuen Reichtum zum eigenen Vergnügen ausgegeben, hätte die Welt schon vor langer Zeit eine solche Ordnung unerträglich gefunden. Doch sie sparten und horteten wie die Bienen, was der gesamten Gesellschaft zugute kam – auch wenn sie selbst damit engere Ziele verfolgten.6
Dies war das Bild des Kapitalisten als „Sparmaschine“ und Entrepreneur.
Es gab jedoch auch zahlreiche Exemplare des kapitalistischen Rentiers, der wenig mehr tat als sich zurückzulehnen und entspannt zuzusehen, wie das Geld für ihn „die Arbeit machte“. Eine schöne Beschreibung des Rentiers finden wir in Stefan Zweigs wunderbarem Buch Die Welt von Gestern, in dem das Europa vor dem Ersten Weltkrieg beschrieben ist, eine Welt, in der das begehrteste Kompliment (Zweig zufolge) die Bezeichnung „solide“ für den respektablen Bürger war, eine Welt, in der alles darauf hindeutete, dass sich Vernunft und Fortschritt ewig fortsetzen würden. Die Reichen hatten ein leichtes Leben:
Dank diesem ständigen Zurücklegen der Gewinne bedeutete in jener Epoche steigender Prosperität, wo überdies der Staat nicht daran dachte, auch von den stattlichsten Einkommen mehr als ein paar Prozent an Steuern abzuknappen und andererseits die Staats- und Industriewerte hohe Verzinsung brachten, für den Vermögenden das Immer-reicher-Werden eigentlich nur eine passive Leistung.7
In dieser Perspektive wirken die Reichen weniger wie unverzichtbare „respektable“ Bürger, die sparen und investieren, sondern eher wie Parasiten, die gut davon leben, Dividendencoupons abzuschneiden. Aber die seit einigen Jahrzehnten vorherrschende Vorstellung, die Ungleichheit sei schädlich, beruht nicht auf dieser ethischen Sichtweise. Sonderbarerweise gehen die Verfechter dieser Vorstellung von demselben Grundgedanken aus wie jene, die in der Ungleichheit eine vorteilhafte Kraft sehen – es sollte Personen geben, die zu investieren bereit sind –, ziehen jedoch vollkommen andere Schlüsse daraus. Die Argumentation sieht so aus8: Die Menschen (sei es, dass sie reich sind, der Mittelschicht angehören oder arm sind) stimmen bei den Wahlen darüber ab, wie hoch ihre Steuern sein sollen, wobei sie berücksichtigen, dass die mit den Steuern finanzierten Staatsausgaben in erster Linie den Armen zugutekommen. Von einem hohen Maß an Ungleichheit geprägte Gesellschaften werden für hohe Steuern stimmen, weil in solchen Gesellschaften eine Mehrheit der Bürger von Sozialtransfers profitiert, keine oder nur geringe Steuern zahlt und die Reichen immer überstimmt (siehe Skizze 1.7). Nun verringern derart hohe Steuern die Anreize, zu investieren und hart zu arbeiten, weshalb das Wirtschaftswachstum erlahmt. Der Mechanismus hat Ähnlichkeit mit dem, der im 19. Jahrhundert befürchtet wurde: Wenn man den Besitzlosen die Chance zu wählen gab, würden sie die Besitzenden enteignen. Hier geschieht dasselbe, nur dass die Enteignung ein wenig sanfter verläuft: Sie wird nicht durch offene Verstaatlichung, sondern durch Besteuerung bewerkstelligt.9
Gleichgültig, ob man die wirtschaftliche Ungleichheit nun als vorteilhaft oder schädlich betrachtet: man braucht in jedem Fall Menschen, die bereit sind, ihr Geld zu investieren. Aber im ersten Fall braucht man ein hohes Maß an Ungleichheit, weil es sonst keine ausreichend reichen Investoren gibt. Im zweiten Fall macht die Einführung der Demokratie eine ausgeprägte Ungleichheit politisch untragbar. Selbst wenn die Reichen versprechen, dass sie ihr überschüssiges Einkommen nicht konsumieren, sondern investieren werden, und die Armen auf diese Art überzeugen, dass sie unverzichtbar für das Wachstum der Wirtschaft sind, können sie unmöglich gezwungen werden, dieses Versprechen auch zu halten. Es wäre auch nicht glaubwürdig. Daher muss das kapitalistische System die Einkommen vor Steuern so verteilen, dass die Gesellschaft keinen Anlass dazu sieht, den Reichen erpresserische Steuern aufzuerlegen. Um das zu erreichen, muss das Vermögen relativ gleichmäßig unter den Menschen verteilt werden. Die Verteilung des Finanzvermögens können wir kurz- oder mittelfristig nicht wesentlich beeinflussen, aber wir können die Verteilung der Bildung verändern (also das, was die Ökonomen als Zusammensetzung des „Humankapitals“ bezeichnen) – daher wird einem leichteren Zugang zur Bildung für alle so große Bedeutung beigemessen. Der Grund ist nicht einfach, dass die Bildung als an sich wertvoll betrachtet wird, und es geht auch nicht nur darum, dass ein höherer Bildungsstand das Wirtschaftswachstum direkt ankurbeln kann. Vielmehr würde eine breitere Verteilung dieses Vermögenswerts auch die Einkommen vor Steuern gleichmäßiger verteilen, weshalb es sich die relativ Armen zweimal überlegen würden, bevor sie für Steuererhöhungen stimmen.
Verändert eine Änderung der wirtschaftlichen Entwicklung auch unsere Einschätzung des Nutzens der Ungleichheit? Es ist wahrscheinlich.10 In der Frühphase der Entwicklung ist das Sachkapital knapp. Unter diesen Bedingungen werden reiche Personen gebraucht, die bereit sind, ihr Einkommen nicht zur Gänze für den Konsum aufzuwenden, sondern zu investieren, damit mehr Maschinen und Straßen gebaut werden können. Wenn sich die Wirtschaft entwickelt, wächst das Sachkapital, womit das Humankapital (die Bildung) im Verhältnis dazu wertvoller wird. Nun wird es wichtig, die Bildung auszuweiten. Aber wenn dies dadurch verhindert wird, dass begabte Kinder aus armen Haushalten die Bildung nicht bezahlen können, gerät das Wachstum ins Stocken. So gelangen wir sogar ohne die Einführung des universellen Wahlrechts und der Demokratie zu einem ähnlichen Schluss: Für ein schnelles Wachstum im fortgeschrittenen Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung muss die Bildung ausgeweitet werden, und eine gute Bildung für breite Bevölkerungsgruppen ist eine unverzichtbare Voraussetzung für geringere Ungleichheit.
Die empirischen Belege für den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum sind widersprüchlich. Möglicherweise ist das unvermeidlich, denn zu bestimmten Zeiten kann die Ungleichheit an bestimmten Orten das Wachstum hemmen (weil sie die Entstehung von Monopolen begünstigt), während sie es in anderen Situationen anregt (weil sie Leistungsanreize schafft). Es genügt zu sagen, dass unsere Einschätzung der positiven und negativen Auswirkungen der Ungleichheit auf die wirtschaftliche Effizienz immer davon abhängen wird, ob wir dem einen oder dem anderen Bestandteil des grundlegenden Dilemmas größeres Gewicht beimessen: dem gesellschaftlichen Monopol oder den Anreizen. In den Fällen, in denen wir glauben, dass das von den Reichen ausgeübte Monopol auf Macht und Wohlstand die gesellschaftliche Stabilität und damit auch die wirtschaftliche Entwicklung und sogar die Lebensfähigkeit des Staates bedroht (wie es Platon vor 2400 Jahren tat), sind Einkommens- oder Vermögensungleichheit ein soziales Übel, das bekämpft werden muss. Auf die Frage, ob seine Forderung, der ideale Staat müsse sparsam sein, nicht die Gefahr einer Eroberung durch reiche Nachbarn heraufbeschwöre, antwortet Platons Sprachrohr Sokrates:
Einen großen Namen, antwortete [Sokrates], muss man den andern [Staaten] geben, denn jeder von ihnen bildet viele Staaten, nicht aber einen Staat […]. Denn zwei sind es auf jeden Fall, die einander feindlich gegenüber stehen, einer der Armen und einer der Reichen, in jedem von diesen aber sind sehr viele, wenn du nun gegen diese als gegen einen einzigen auftrittst, so scheiterst du völlig, wofern aber als gegen viele, so dass du das Eigentum der einen den andern gibst, Schätze und Vermögen oder auch sie selbst, so wirst du immer viele Bundesgenossen haben und wenige Feinde.11
Aber in den Fällen, in denen wir glauben, dass eine übertriebene Nivellierung der Einkommen – hier fehlt sowohl das Zuckerbrot des Erfolgs als auch die Peitsche des Scheiterns – dazu führt, dass sich die Menschen nicht mehr anstrengen werden, weil wir ihnen nicht erlauben, die Früchte ihrer Arbeit oder ihrer Investitionen zu ernten, sollten wir, so sonderbar das scheinen mag, für größere Ungleichheit sorgen.
Ungleichheit und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Die Einkommensungleichheit ist auch deshalb ein wichtiges Thema, weil sie zwei Fragen betrifft, die oft beide im Interesse der Gesellschaft sind, aber manchmal nicht oder zumindest nicht leicht miteinander in Einklang gebracht werden können. Dies sind die wirtschaftliche Effizienz und die wirtschaftliche Gerechtigkeit. Bei der wirtschaftlichen Effizienz geht es um die Maximierung der Gesamtproduktion oder der Rate des wirtschaftlichen Fortschritts einer Gesellschaft. Bei der wirtschaftlichen Gerechtigkeit geht es um die Akzeptanz und Nachhaltigkeit einer gegebenen sozialen Ordnung. Hier spielt die wirtschaftliche Ungleichheit offenkundig ebenfalls eine Rolle. Auf geerbtem Vermögen, ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht beruhende Ungleichheit kann selbst dann als ungerecht betrachtet werden, wenn sie der wirtschaftlichen Entwicklung nicht schadet, das heißt, wenn sie ihren rein instrumentellen Nutzen durchaus erfüllt. Wenn die meisten Menschen oder eine einflussreiche Minderheit eine gegebene soziale Ordnung als ungerecht betrachten, werden Zweifel an der Nachhaltigkeit dieser Ordnung wach.
Die Ökonomen verwenden bei der Auseinandersetzung mit der Frage, wie wünschenswert verschiedene soziale Arrangements sind, gerne die „soziale Wohlfahrtsfunktion“, ein Konstrukt, das im Prinzip die Wohlfahrt (den Nutzen) sämtlicher Mitglieder einer Gemeinschaft beinhaltet. Ziel ist es, das Wohlergehen aller Mitglieder der Gemeinschaft in einer sozialen Ordnung mit dem Wohlergehen aller Mitglieder in einer anderen Ordnung zu vergleichen, um festzustellen, welches der beiden Systeme besser ist. Das wird als „Welfarismus“ bezeichnet. Eine grobe Methode des Welfarismus besteht darin, einfach den Nutzen für die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft zu addieren, sodass in einer Gesellschaft, die aus Alan, Bob und Charlie besteht, der Gesamtnutzen für die Gesellschaft dem Nutzen für Alan plus dem Nutzen für Bob plus dem Nutzen für Charlie entspricht. Die individuellen Nutzenfunktionen von Alan, Bob und Charlie sehen so aus, dass jede einzelne positiv wird, obwohl der Nutzen jedes zusätzlichen Dollars an Einkommen sinkt. Dies ist eine vernünftige und empirisch belegte Annahme: Denken wir an die Tatsache, dass wir das erste Eis an einem heißen Tag vermutlich mehr genießen als das zweite und zweifellos mehr als das dritte Eis. Technisch wird dies als „sinkender Grenznutzen des Einkommens“ bezeichnet. Nehmen wir nun zusätzlich an, dass die Nutzenfunktionen von Alan, Bob und Charlie identisch sind. In diesem Fall wäre eine vollkommen gleiche Verteilung des Einkommens optimal. Hätten wir Alan ein wenig mehr Einkommen gegeben als Bob und Charlie, so würden wir feststellen, dass der reiche Alan das zusätzliche Einkommen weniger genießt als die ärmeren Bob und Charlie (da alle drei sinkende und identische Grenznutzenfunktionen haben). Der Gesamtnutzen würde also steigen, wenn wir Alans zusätzliches Einkommen weiterhin transferieren, bis schließlich alle drei denselben Betrag erhalten.
Von diesem Gedanken ging der englische Ökonom Anthony Atkinson aus, als er im Jahr 1970 einen Schlüsselbeitrag zum Welfarismus veröffentlichte. Atkinson stellte die Frage, wie die Ungleichheit so gemessen werden konnte, dass erkennbar würde, inwieweit verschiedene soziale Ordnungen wünschenswert waren.12