Für meinen Cousin
Dan Coates
von der Box Canyon Ranch
Weatherford, Texas
Tanzmädchen nennen sie mich – »Tanzmädchen« rufen sie, wenn ich im Stehen das linke Bein schwenke und dann das rechte und so weiter. Früher, vor zehn oder zwanzig Jahren, hieß ich Jumbo junior oder einfach Jumbo. Jetzt heiße ich nur noch Tanzmädchen. Mein Name steht offenbar neben dem Wort Afrika auf dem Holzschild vorne an meinem Käfig. Die Leute starren auf das Schild, sagen manchmal: »Afrika« und rufen dann: »Tanzmädchen! He, Tanzmädchen!« Und wenn ich die Beine schwenke, gibt es ein bißchen Applaus.
Ich lebe allein. Ich habe nie ein Wesen wie mich zu sehen bekommen, jedenfalls nicht hier. Als ich klein war, daran erinnere ich mich, folgte ich meiner Mutter überallhin, und es gab viele Wesen wie mich, die viel größer waren, und einige, die noch kleiner waren als ich. Ich erinnere mich, daß ich meiner Mutter über eine schiefe Holzplanke auf ein Boot gefolgt bin, das ein wenig schaukelte. Meine Mutter wurde über diese Planke zurückgeführt, zurückgetrieben, und ich war auf dem Boot. Meine Mutter hob den Rüssel und trompetete, damit ich ihr folgte. Ich sah, wie Seile um sie geschlungen wurden, wie zehn oder zwanzig Männer daran zogen, um sie festzuhalten. Irgend jemand schoß mit einem Gewehr auf sie. War es ein tödlicher Schuß oder ein Betäubungsschuß? Das werde ich nie erfahren. Der Geruch ist verschieden, aber an jenem Tag wehte der Wind nicht in meine Richtung. Ich weiß nur, daß meine Mutter kurz darauf zusammenbrach. Ich war auf dem Deck und schrie gellend wie ein Säugling. Dann schoß man mit einem Betäubungsgewehr auf mich. Zuletzt fuhr das Boot ab, und nach sehr langer Zeit, die ich im Halbdunkel eines Verschlags hauptsächlich schlafend und fressend verbrachte, erreichten wir ein anderes Land, in dem es keine Wälder und kein Gras gab. Ich gelangte in einen neuen Verschlag, dann ging es weiter, und dann gelangte ich an einen Ort mit Zementboden, hartem Stein überall, Gittern und übelriechenden Leuten. Am schlimmsten war, daß ich allein war. Keine kleinen Geschöpfe in meinem Alter. Keine Mutter, kein netter Großvater, kein Vater. Kein Spielen. Keine Bäder im schlammigen Fluß. Nur Gitterstäbe und Zement.
Das Fressen war reichlich und in Ordnung. Und ein netter Mann kümmerte sich um mich, ein Mann mit Namen Steve. Er hatte eine Pfeife im Mund, die er fast nie anzündete, nur zwischen den Zähnen hielt. Auch mit Pfeife im Mund konnte er sprechen, und ich konnte bald verstehen, was er sagte beziehungsweise meinte.
»Runter, Jumbo!« bedeutete zusammen mit einem Schlag gegen meine Knie, daß ich niederknien sollte. Wenn ich den Rüssel hochhielt, klatschte Steve einmal anerkennend und warf mir Erdnüsse oder einen kleinen Apfel ins Maul.
Es gefiel mir, wenn er sich auf meinen Rücken setzte, bevor ich mich aufrichtete, und wir dann im Käfig umherspazierten. Die Leute, die uns zuschauten, applaudierten dann, vor allem die Kinder.
Steve setzte mir ein Fransenstirnband auf, das mir im Sommer die Fliegen von den Augen fernhielt. Und er spritzte den schattigen Teil des Zementbodens mit dem Wasserschlauch ab, damit ich mich hinlegen und abkühlen konnte. Er spritzte auch mich ab. Als ich größer wurde, setzte Steve sich auf meinen Rüssel, und ich hob ihn in die Luft, wobei ich aufpaßte, daß er nicht das Gleichgewicht verlor, denn festhalten konnte er sich nur am Ende meines Rüssels. Auch im Winter kümmerte Steve sich um mich – er sorgte dafür, daß ich genug Stroh hatte, und brachte mir sogar Decken, wenn es richtig kalt war. In einem besonders kalten Winter brachte Steve mir einen kleinen Kasten mit einer Schnur daran, aus dem warme Luft auf mich geblasen wurde. Steve pflegte mich, als ich vor Kälte krank geworden war.
Die Leute hierzulande haben große Hüte auf. Manche der Männer tragen kurze Gewehre am Gürtel. Ab und zu zieht einer seine Waffe und schießt damit in die Luft, um mich zu erschrecken oder die Gazellen, die neben mir wohnen und die ich durch die Gitterstäbe sehen kann. Die Gazellen reagieren verstört, machen Luftsprünge und kauern sich aneinandergedrängt in die hinterste Ecke ihres Käfigs. Ein erbarmungswürdiger Anblick. Bis Steve oder ein anderer Wärter erscheint, hat der Verursacher des Aufruhrs seine Waffe wieder im Gürtel verstaut und sieht aus wie alle anderen, und die anderen lachen und verraten den Täter nicht.
Das erinnert mich an eines meiner erfreulicheren Erlebnisse. Vor etwa fünf Jahren hat ein dicker rotgesichtiger Bursche an mehreren Sonntagen hintereinander mit seiner Waffe in die Luft geschossen. Ich war verärgert, obwohl ich mir meine Verärgerung nie anmerken ließ. Aber als dieser Bursche seine Waffe zum dritten- oder viertenmal abfeuerte, nahm ich ganz ruhig einen Rüssel voll Wasser aus meiner Tränke und verpaßte ihn dem Kerl mit aller Kraft durch das Gitter. Der Strahl traf ihn so fest, daß er auf den Rücken fiel und mit seinen Cowboystiefeln strampelte. Die meisten Zuschauer lachten. Ein paar Leute waren überrascht oder wütend. Einige warfen mit Steinen nach mir – die mir nichts ausmachten oder mich verfehlten oder gegen die Gitterstäbe prallten und wegsprangen. Dann trabte Steve an, und mir war klar, daß er den Schuß gehört hatte und genau wußte, was passiert war. Steve lachte und tätschelte dem nassen Mann die Schulter, um ihn zu beruhigen. Der Mann leugnete wahrscheinlich, daß er geschossen hatte. Aber ich sah, daß Steve mir zunickte, und wußte, daß er ihm nicht glaubte. Die Gazellen kamen verschüchtert zurück und starrten durch ihre Gitterstäbe das Publikum und auch mich an. Ich bildete mir ein, daß sie meine Tat guthießen, und war an diesem Tag sehr zufrieden mit mir. Ich malte mir sogar aus, daß ich den nassen Mann oder jemand ähnliches packte, um seinen weichen Körper zu erdrücken, bis er tot war, und ihn dann zu zertrampeln.
Solange Steve bei mir war – annähernd dreißig Jahre lang –, gingen wir ab und zu in dem Park spazieren und ließen Kinder auf meinem Rücken reiten, manchmal drei auf einmal. Das war wenigstens ein netter Zeitvertreib, eine Abwechslung. Aber der Park ist alles andere als ein Wald. Es sind nur vereinzelte Bäume auf ziemlich hartem, trockenem Boden. Dort ist es fast nie feucht. Das Gras wird kurz gehalten, und ich durfte nie Grasbüschel ausreißen, obwohl mir danach sowieso nicht zumute war. Steve kümmerte sich um alles, kümmerte sich um mich, stupfte mich mit seinem Stock aus geflochtenem Leder an, damit ich niederkniete, aufstand und mich am Ende unseres Ausflugs auf die Hinterbeine stellte. (Noch mehr Applaus.) Steve benötigte diesen Stock nicht, es war Bestandteil der Show, genau wie der Trick, daß ich mehrere Male im Kreis lief, bevor ich mich zum Schluß auf die Hinterbeine stellte. Ich konnte mich auch auf die Vorderbeine stellen, wenn Steve es verlangte. Ich weiß, daß ich damals besser gelaunt war als heute und daß ich den niedrigen Ästen mancher Bäume von allein auswich, damit die Kinder nicht von meinem Rücken abgeworfen wurden, ohne daß Steve es mir befehlen mußte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich heute noch so umsichtig wäre. Was haben Menschen mir je gegeben bis auf Steve? Nicht einmal Gras unter den Füßen. Nicht einmal die Gesellschaft eines ähnlichen Geschöpfs.
Jetzt, da ich älter bin, meine Beine schwer sind und mein Temperament reizbar geworden ist, gibt es keine Ausritte für Kinder mehr, obwohl die Kapelle an sommerlichen Sonntagnachmittagen noch immer spielt »Take me out to the Ball Game« und seit neuestem »Hello, Dolly!« Manchmal wünschte ich, ich könnte wieder einmal mit Steve spazierengehen, ich könnte wieder jung sein. Und dennoch, wozu? Um noch mehr Jahre an diesem Ort zu verbringen? Inzwischen liege ich mehr, als daß ich stehe. Ich liege in der Sonne, die mir weniger warm vorkommt als früher. Die Kleidung der Leute hat sich ein wenig verändert, weniger Waffen und Stiefel, aber immer noch die gleichen breitkrempigen Hüte bei den Männern und bei einigen Frauen. Immer noch die gleichen Erdnüsse, die man mir zuwirft, nicht immer geschält, für die ich den Rüssel so flink durch die Gitterstäbe steckte, als ich jünger war und mehr Appetit hatte. Immer noch das gleiche Popcorn und die süßen Krachmandeln. Samstags und sonntags mache ich mir oft nicht mehr die Mühe aufzustehen. Das erzürnt Cliff, den neuen jungen Wärter. Er will, daß ich mein Programm abspule wie früher. Und es liegt nicht daran, daß ich so alt und müde bin, sondern daß ich Cliff nicht mag.
Cliff ist groß und jung, rothaarig. Er gibt gerne an und knallt mit einer langen Peitsche nach mir. Er denkt, er könnte mich mit Stößen und Befehlen dazu bewegen, ihm zu gehorchen. Sein Stock hat eine scharfe Metallspitze, was unangenehm ist, obwohl sie meine Haut nicht einmal ritzen kann. Steve hat sich mir genähert wie ein Geschöpf dem anderen, hat die Verständigung mit mir gesucht und sich nicht eingebildet, ich hätte seinen Erwartungen zu entsprechen. Deshalb haben wir uns verstanden. Cliff interessiert sich nicht für mich und hilft mir zum Beispiel im Sommer nicht gegen die Fliegen.
Als Steve pensioniert wurde, habe ich samstags und sonntags noch die Kinder auf meinem Rücken im Kreis spazierengeführt und manchmal auch Erwachsene. An einem Sonntag rammte ein Mann (wieder einer, der angeben wollte) mir seine Sporen in die Seite, woraufhin ich ein bißchen Tempo zulegte und absichtlich auf einen niedrigen Ast zuhielt, ohne mich zu ducken. Der Mann konnte sich nicht rechtzeitig ducken und wurde von meinem Rücken gefegt, landete auf den Knien und schrie vor Schmerzen. Das verursachte viel Aufsehen, der Mann stöhnte eine Zeitlang, und – schlimmer – Cliff stellte sich auf die Seite des Mannes oder versuchte ihn zu besänftigen, indem er mich anschrie und mit seinem spitzen Stock nach mir schlug. Ich schnaubte vor Zorn – und freute mich, als ich sah, wie die Leute entsetzt zurückwichen. Ich hatte niemanden angegriffen, obwohl ich das gern getan hätte, sondern reagierte nur auf Cliffs Schläge und trottete dann zu meinem Käfig zurück. Cliff rief mir Verwünschungen zu. Ich nahm einen Rüssel voll Wasser, was Cliff sah. Er machte sich davon. Doch nach Einbruch der Dunkelheit, als die Parktore geschlossen waren, kam er wieder und peitschte mich aus, um mir eine Lektion zu erteilen. Das Auspeitschen tat kein bißchen weh, aber für Cliff war es offenbar anstrengend, denn er taumelte, als er fertig war.
Am nächsten Tag erschien Steve in einem Rollstuhl. Sein Haar war weiß geworden. Ich hatte ihn etwa vier oder fünf Jahre nicht mehr gesehen, doch er war noch derselbe, die Pfeife im Mund, dieselbe freundliche Stimme, dasselbe Lächeln. Ich schwenkte vor Freude die Beine in meinem Käfig, und Steve lachte und sagte etwas Nettes zu mir. Er hatte kleine rote Äpfel für mich mitgebracht. Er kam in seinem Rollstuhl an den Käfig. Es war ziemlich früh am Tag, und im Park waren fast keine Besucher. Steve sagte etwas zu Cliff und deutete auf Cliffs spitzen Stock, und ich wußte, daß Steve sagen wollte, Cliff solle ihn nicht benutzen.
Dann machte Steve mir ein Zeichen. »Auf! Heb mich auf, Tanzmädchen!«
Ich wußte, was er sagte. Ich kniete nieder und legte meinen Rüssel unter den Sitz von Steves Rollstuhl, seitlich, so daß Steve sich mit der Rechten am Ende meines Rüssels festhalten und sich mit der anderen Hand an meiner Stirn abstützen konnte. Ich richtete mich nicht auf, um Steves Rollstuhl nicht umzuwerfen, sondern hob den Rollstuhl ein gutes Stück über den Zementboden. Steve lachte. Ich setzte den Rollstuhl behutsam ab.
Aber dieser Besuch ist Jahre her. Es war nicht Steves letzter Besuch. Er kam einige Male in seinem Rollstuhl, aber nie an den zwei Wochentagen, an denen besonders viele Besucher da waren. Inzwischen habe ich Steve seit etwa drei Jahren nicht mehr gesehen. Ist er tot? Der Gedanke, daß er tatsächlich tot sein könnte, stimmt mich jedesmal traurig. Aber andererseits ist es nicht weniger traurig, zu warten und zu hoffen, daß Steve sich an einem der ruhigeren Morgen blicken läßt, wenn sich nur wenige Leute zu uns verirren, und er nicht unter ihnen ist. Manchmal hebe ich den Rüssel und brülle mein Herzeleid und meine Enttäuschung heraus, daß Steve nicht kommt. Es scheint die Leute zu belustigen, wenn ich brülle – so wie meine Mutter auf dem Dock brüllte, als sie nicht zu mir gelassen wurde. Cliff schert sich nicht darum und hält sich nur die Hände vor die Ohren, wenn er in der Nähe ist.
Das bringt mich zur jüngsten Vergangenheit. Erst gestern, an einem Sonntag, waren die üblichen vielen Besucher da, sogar mehr als sonst. Ein weißbärtiger Mann in rotem Anzug läutete mit einer Glocke und ging umher und redete mit jedermann, vor allem mit den Kindern. Dieser Mann taucht hin und wieder auf. Die Leute hatten Erdnüsse und Popcorn für mich dabei. Wie immer hielt ich den Rüssel durch die Gitterstäbe und hatte das Maul geöffnet für den Fall, daß jemand mit seiner Erdnuß zielte. Jemand warf mir etwas Rundes ins Maul, und ich hielt es für einen roten Apfel, bis ich es zerbiß, worauf es entsetzlich in meinem Maul brannte. Ich nahm sofort Wasser in den Rüssel, spülte mein Maul und spie aus. Ich hatte nichts von dem Zeug geschluckt, aber mein ganzes Maul brannte. Ich nahm mehr Wasser, aber es nützte nicht viel. Vor Schmerzen trat ich von einem Fuß auf den anderen, und zuletzt trottete ich in meiner Qual im Käfig im Kreis. Die Leute lachten und zeigten auf mich. Ich wurde wütend, zornig. Ich nahm soviel Wasser ich konnte in den Rüssel und ging wie zufällig an die Vorderseite des Käfigs. In der richtigen Entfernung zum Gitter, um alle zu erwischen, blieb ich stehen und spie das Wasser mit aller Kraft auf sie.
Es fiel niemand hin, aber mehr als zwanzig Leute taumelten, fielen gegeneinander, hustend und geblendet. Ich ging zu meiner Tränke und holte neues Wasser, und das keine Sekunde zu früh, denn die Leute hatten sich auch bewaffnet. Steine und Stöcke wurden nach mir geworfen, leere Krachmandeltüten, alles mögliche. Ich nahm den Größten und Dicksten ins Visier, spritzte ihn nieder und versprühte das restliche Wasser auf alle übrigen. Eine Frau schrie um Hilfe. Andere traten den Rückzug an. Ein Mann zog seine Waffe, schoß auf mich und verfehlte mich. Obwohl er sofort von einem anderen Mann überwältigt wurde, zog ein weiterer seine Waffe. Eine Kugel traf mich in die Schulter, nicht tief, eher ein Kratzer an der Oberfläche. Eine zweite Kugel schlug die Spitze meines rechten Stoßzahns ab. Mit dem Rest meines Wassers im Rüssel attackierte ich einen der Revolverhelden, mitten auf die Brust. Eigentlich hätte es ihm alle Knochen brechen müssen. Jedenfalls kippte er rückwärts und riß dabei eine Frau um. Mein Maul brannte noch, aber unter dem Eindruck, diesen Kampf gewonnen zu haben, verzog ich mich in die Sicherheit meines Schlafplatzes (ebenfalls aus Zement), wo mich keine Kugeln treffen konnten. Drei weitere Schüsse waren zu hören und wurden von den Wänden zurückgeworfen. Was sie trafen, weiß ich nicht, aber mich trafen sie nicht.
Ich roch das Blut an meiner Schulter. Ich war noch immer so aufgebracht, daß ich schnaubte, statt zu atmen, und bevor ich mir über mein Tun im klaren war, verbarrikadierte ich den Eingang zu meinem Schlafplatz mit den Heuballen, die an den Wänden aufgeschichtet waren. Ich hob sie von ihren Stapeln herunter, schob und kickte sie, und es gelang mir, mit dem Rüssel einen letzten Heuballen auf den Haufen aus acht oder neun Ballen zu bugsieren und den Eingang bis auf einen Spalt ganz oben zu versperren. Auf jeden Fall war diese Barrikade kugelsicher. Aber Kugeln waren nicht mehr zu hören. Statt dessen hörte ich draußen Cliff, der den Leuten etwas zurief.
»Immer mit der Ruhe, Tanzmädchen!« sagte Cliffs Stimme. Die Worte waren mir vertraut. Aber noch nie hatte ich die Furcht wie ein Zittern in Cliffs Stimme gehört. Zweifellos beobachteten ihn die Leute. Cliff mußte sich als Herr der Lage zeigen. Dieser Gedanke, verbunden mit meiner Abneigung gegen Cliff, versetzte mich erneut in Rage, und ich rammte den Kopf gegen die Barrikade, die ich errichtet hatte. Cliff hatte an dem obersten Ballen gezerrt, und nun fiel der ganze Haufen auf ihn.
Die Leute schrien vor Entsetzen wie aus einem Mund.
Ein Schuß ertönte, und diesmal war ich in die linke Seite getroffen. Cliff hielt eine Waffe in der Hand, aber der Schuß hatte sich nicht aus ihr gelöst. Cliff regte sich nicht. Ich ebenfalls nicht. Ich rechnete mit einem weiteren Schuß aus der Menge, von irgend jemandem in der Menge.
Die Leute starrten nur zurück. Ich funkelte sie böse an, mit leicht geöffnetem Mund: Er brannte immer noch.
Zwei uniformierte Wärter kamen durch die Seitentür meines Käfigs. Sie hatten lange Gewehre dabei. Ich blieb reglos stehen und tat nichts, nahm sie kaum zur Kenntnis. So durchgedreht und aufgeregt, wie sie waren, hätten sie mich vor lauter Furcht ohne weiteres erschossen, wenn ich den leisesten Anflug von Zorn gezeigt hätte. Allmählich kehrte meine Selbstbeherrschung zurück. Und ich dachte mir, daß Cliff vielleicht tot war, was mich freudig stimmte.
Aber nein, das war er nicht. Einer der Männer beugte sich über ihn, befreite ihn von einem der Heuballen, und ich sah, daß Cliffs Rotschopf sich bewegte. Der andere Mann stieß mir grob sein Gewehr in die Flanke, um mich zu meinem Schlafplatz zu treiben. Er rief mir etwas zu. Ich wandte mich um und trabte ohne Eile in mein Zementzimmer, das jetzt voll verstreuten Heus war. Auf einmal war mir sehr unwohl, und mein Mund schmerzte noch immer. Ein Mann mit auf mich gerichtetem Gewehr stand in der Tür. Ich sah ihn gelassen an. Ich konnte sehen, wie Cliff sich aufrichtete. Der andere Mann redete noch immer in zornigem Ton auf Cliff ein. Cliff antwortete und wedelte mit den Händen, obwohl er nicht besonders gut in Form zu sein schien. Er sah aus, als könne er sich kaum auf den Füßen halten, und faßte sich immer wieder an den Kopf.
Dann kam ein Mann mit grauem Haar – nicht so grau wie Steves Haar – zusammen mit einem anderen Mann, der eine Tasche trug, an die Käfigtür. Sie wurden eingelassen. Beide traten ganz nahe zu mir und untersuchten mich. Von meiner linken Flanke tropfte Blut auf den Zement. Dann sprach der Grauhaarige zornig mit Cliff und redete weiter, als Cliff ihn unterbrechen wollte – beide redeten um die Wette. Der Grauhaarige deutete auf die Käfigtür, damit Cliff ging. An die nächsten Augenblicke erinnere ich mich nicht genau, weil der Mann mit der Tasche mir ein Tuch über den Rüssel legte und es gut festzurrte. Und dann stach er mich mit einer Nadel. Inzwischen, während des lauten Wortwechsels, hatte ich mich hingelegt. Das Tuch roch kühl, aber ekelhaft, und ich verfiel in einen erschreckenden Schlaf, in dem ich Tiere umherspringen sah, die wie riesige Katzen aussahen und mich, meine Mutter, meine Familie angriffen. Ich sah grüne Bäume und hohes Gras. Aber ich merkte, daß ich im Sterben lag.
Als ich aufwachte, war es dunkel, und ich hatte etwas Fettiges im Mund. Mein Maul schmerzte nicht mehr, und meine Flanke schmerzte nur ganz wenig. War das der Tod? Aber ich konnte das Heu in meinem Quartier riechen. Ich stellte mich auf die Beine, und mir wurde übel. Ich erbrach mich ein bißchen.
Dann hörte ich, wie jemand die Seitentür knarrend schloß. Ich erkannte Cliffs Schritte, obwohl er mit seinen Stiefeln leise auftrat. Ich spielte mit dem Gedanken, den engen Schlafplatz zu verlassen, diese Falle mit der Tür als einzigem Ausgang, aber ich war noch zu benommen, um mich zu rühren. Undeutlich sah ich Cliff mit einer Tasche, wie der Mann sie bei sich gehabt hatte, niederkauern. Dann roch ich wieder den schwachen süßlichen Geruch, den der Mann mir über die Nase gestülpt hatte. Selbst Cliff schnaubte und drehte den Kopf weg, und dann sprang er auf mich zu, warf mir das Tuch über die Nase und band es gleichzeitig mit einem Seil fest. Ich schüttelte meinen Rüssel und schlug Cliff mit einem Schlag gegen die Hüfte nieder. Ich trommelte mit dem Rüssel auf den liegenden Körper ein, in erster Linie, um das Tuch loszuwerden, und weniger mit Cliff beschäftigt, der zappelte und stöhnte. Das Seil lockerte sich, und mit einer letzten Bewegung konnte ich das Tuch abschütteln. Es fiel auf Cliffs Brust und auf einen Teil seiner Beine – stinkend, böse, gefährlich. Ich ging nach draußen in den Käfig, wo die Luft besser war.
Cliff kam keuchend auf die Füße. Er trat ebenfalls zum Luftholen heraus und lief dann schimpfend zurück, ergriff das Tuch und näherte sich wieder. Ich erhob mich etwas auf die Hinterbeine und drehte mich von ihm weg. Cliff wäre fast gestürzt. Ich versetzte ihm einen Klaps mit dem Rüssel, der ihn umwarf. Cliff fiel wie ein Brett auf den Zement. Jetzt wurde ich zornig. Es war ein Kampf zwischen ihm und mir, und Cliff hatte das übelriechende Tuch immer noch in der Hand. Jetzt kam er auf die Knie.
Mit dem linken Fuß gab ich Cliff einen Tritt, eigentlich nur einen Stups. Ich erwischte ihn an der Seite und hörte ein Knacken wie das Brechen von Ästen. Danach bewegte sich Cliff nicht mehr. In den süßlichen und tödlichen Geruch mischte sich jetzt der scheußliche Geruch von Blut. Ich ging zur Vorderseite meines Käfigs, so weit wie möglich von dem Tuch entfernt, und legte mich hin, um mich an der frischen Luft zu erholen. Mir war kalt, aber das war nicht weiter wichtig. Nach und nach beruhigte ich mich. Ich konnte wieder atmen. Für einen kurzen Moment hatte ich den Wunsch, aufzustehen und auf Cliff zu treten, aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich empfand nur Wut. Und nach und nach verließ mich sogar die Wut. Dennoch war ich immer noch zu verstört, um zu schlafen. Ich wartete in meiner Zementecke auf die Morgendämmerung.
Und dort bin ich jetzt, ich liege in einer Ecke des Käfigs aus Stahl und Zement, in dem ich so viele Jahre verbracht habe. Langsam bricht der Tag an. Zuerst kommt die vertraute Gestalt des alten Mannes, der die zwei Moschusochsen füttert. Er schiebt eine Schubkarre, öffnet einen weiteren Käfig mit anderen gehörnten Tieren. Zuletzt kommt er an meinem Käfig vorbei, blickt zweimal herüber und sagt Worte, in denen »Tanzmädchen« vorkommt, zu mir, weil es ihn überrascht, mich dort vorne liegen zu sehen. Und dann sieht er Cliffs Gestalt.
»Cliff? – He, Cliff! Was ist los?«
Offenbar ist der Käfig nicht verschlossen, denn der alte Mann tritt herein, beugt sich über Cliff, sagt etwas, hält sich die Nase zu und bringt das große weiße Tuch nach draußen. Dann rennt er schreiend davon. Ich stehe auf. Die Käfigtür ist leicht geöffnet. Ich gehe an Cliffs Körper vorbei, drücke die Tür weiter auf und gehe hinaus.
Im Park ist niemand. Es ist angenehm, wieder auf dem Erdboden zu gehen, was ich nie mehr getan habe, seit die Ritte am Wochenende vor so langer Zeit ein Ende hatten. Der trockene Boden fühlt sich sogar weich an. Ich bleibe stehen, um den Rüssel zu heben, ein paar grüne Blätter von einem Zweig zu pflücken und sie zu essen. Die Blätter sind zäh und stachelig, aber wenigstens frisch. Hier ist der runde Brunnen, an dem ich bei den Wochenendausgängen nie stehenbleiben und aus dem ich nie trinken durfte. Jetzt nehme ich einen tiefen, kühlen Schluck.
Hinter mir höre ich aufgeregte Stimmen. Die Stimmen kommen sicher von meinem Käfig, aber ich sehe mich nicht einmal um. Ich genieße meine Freiheit. Über mir ist der weite blaue Himmel, eine riesige Welt der Leere weit oben. Ich trete in ein Dickicht von Bäumen, die so eng stehen, daß sie mich auf beiden Seiten kratzen. Aber es sind so wenige, daß ich im Handumdrehen wieder draußen bin und mich auf einem Zementweg wiederfinde, an dessen Rand Affen und Äffchen in Käfigen mich anglotzen und aufgeregt schnattern, als ich vorbeigehe. Ein paar der behaarten kleinen Burschen kauern aneinandergeschmiegt hinten im Käfig. Languren kreischen mir schrill entgegen und kehren mir dann ihre blauen Hintern zu, bevor sie in den entferntesten Winkel ihres Käfigs davonhopsen. Würden einige von ihnen vielleicht gern auf meinem Rücken reiten? Von irgendwo erinnere ich mich daran. Ich rupfe Blumen ab und esse sie, nur zum Spaß. Die schwarzen Affen mit den langen Armen grinsen und lachen, halten sich an ihren Gitterstäben fest, rütteln an den Stäben und machen Radau.
Ich schlendere zu ihnen, und sie fürchten sich nur ein bißchen, eigentlich sind sie eher neugierig, als ich meinen Rüssel um zwei der Stäbe schlinge und sie herausreiße. Dann folgt ein dritter Gitterstab, und jetzt können die schwarzen Affen hinausklettern.
Sie kreischen und schnattern und setzen in großen Sprüngen über den Boden, wobei sie sich mit den Händen abstoßen. Einer greift mutwillig nach meinem Schwanz. Zwei klettern entzückt einen Baum hinauf.
Doch jetzt höre ich Schritte, das Geräusch laufender Füße und Schreie.
»Da drüben ist sie! Bei den Affen!«
Ich drehe mich um, ihnen entgegen. Ein Affe benutzt meinen Schwanz als Halteseil und klettert mir auf den Rücken. Er klopft mir auf die Schultern, weil er reiten will. Zwei Männer, dieselben wie gestern, die mit den langen Gewehren, kommen auf mich zugerannt, halten dann rutschend inne und erheben ihre Gewehre. Bevor ich meinen Rüssel zu einer friedfertigen Geste heben kann, bevor ich niederknien kann, gehen drei Schüsse los.
»Paß auf, daß du nicht den Affen triffst!«
Aber sie treffen mich.
Peng!
Jetzt geht die Sonne auf, und die Baumwipfel leuchten grün, denn nicht alle Bäume sind kahl. Meine Augen wandern endlos nach oben. Mein Körper sinkt. Ich spüre, daß der Affe behende von meinem Rücken auf den Boden springt und davonhopst, von den Gewehrschüssen erschreckt. Auf einmal komme ich mir ganz schwer vor, wie kurz vor dem Einschlafen. Ich will niederknien und mich hinlegen, aber mein Körper schlingert zur Seite, und ich falle schwer auf den Zement. Ein weiterer Schuß reißt mir den Kopf zurück. Ein Schuß zwischen die Augen, doch sie sind noch offen.
Männer springen um mich herum, ähnlich wie die Affen, treten nach mir, schreien sich Wörter zu. Wieder sehe ich die großen Katzen durch den Wald springen und diesmal mich anspringen. Dann sehe ich durch die verschwommenen Menschengestalten ganz deutlich Steve, aber so, wie er aussah, als er jung war, und er lächelt und spricht zu mir, die Pfeife zwischen den Zähnen. Steve bewegt sich gemessen und graziös. Und da weiß ich, daß ich sterbe, denn ich weiß, daß Steve tot ist. Er ist wirklicher als die anderen. Um ihn herum ist Wald. Steve ist mein Freund, wie er es immer war. Es gibt keine Katzen mehr, nur noch meinen Freund Steve.
Tief in der Wüste Arabiens lebte Djemal mit seinem Herrn und Meister Mahmet. Sie schliefen in der Wüste, weil das billiger war. Tagsüber trotteten sie (Mahmet ritt) zur nächsten Stadt Elu-Bana, wo Touristen auf Djemal reiten durften, kreischende Frauen in Sommerkleidern und nervöse Männer in Shorts. Das waren mehr oder weniger die einzigen Anlässe, bei denen Mahmet zu Fuß ging.
Djemal war sich dessen bewußt, daß die anderen Araber Mahmet nicht mochten. Wenn er und Mahmet auftauchten, ging leises Stöhnen durch die Reihen der anderen Kameltreiber. Zwischen Mahmet und den anderen Kameltreibern wurde dauernd um Preise, um Dinare, gefeilscht, und die anderen fielen wie ein Mann über Mahmet her. Es wurde wie wild gestikuliert und laut geschrien. Aber Dinare wurden keine getauscht, es war nur Gerede. Und zuletzt führte Mahmet Djemal zu der Gruppe Touristen, die sie anstarrten, und rief Djemal den Befehl zum Niederknien zu.
Das Fell an Djemals Knien der Vorder- und Hinterbeine war ganz abgewetzt, und seine Haut sah dort wie altes Leder aus. Ansonsten war er braun und zottelig, stellenweise verfilzt, stellenweise fast kahl, als hätten die Motten im Fell genistet. Djemals große braune Augen jedoch waren klar, und seine großzügigen, intelligenten Lippen wirkten freundlich, als lächelten sie unablässig, obgleich dies keineswegs der Fall war. Außerdem war Djemal erst siebzehn, in der Blüte seiner Jugend, und außergewöhnlich groß und stark. Sein Winterfell lichtete sich, weil es Sommer war.
»Oooh! Iiih!« kreischte eine dicke Dame, die hin und her rutschte, als Djemal sich zu eindrucksvoller ganzer Höhe aufrichtete. »Der Boden ist plötzlich meilenweit entfernt!«
»Fall nicht runter! Halt dich fest! Der Sand ist nicht so weich, wie er aussieht!« rief die Stimme eines Engländers warnend.
Der kleine schmierige Mahmet in seinen schmutzigen Gewändern zerrte an Djemals Zaum, und los ging es im Schrittempo; Djemal stapfte mit seinen breiten Füßen durch den Sand und ließ den Blick wandern, wohin es ihm gefiel, zu den weißen Kuppeln der Stadt vor dem blauen Himmel, zu einem Automobil, das die Straße entlangschnurrte, zu einem gelben Haufen Zitronen am Straßenrand, zu anderen Kamelen, die wanderten oder ihre menschliche Fracht auf- und abluden. Wie jeder Mensch fühlte diese Frau sich beinahe gewichtlos an, anders als die großen Säcke mit Zitronen oder Orangen, die er oft tragen mußte, oder die Säcke mit Gips oder auch die Bündel junger Bäume, die er bisweilen tief in die Wüste brachte.
Manchmal stritten sogar die Touristen in ihrem zögernden, verblüfft klingenden Tonfall mit Mahmet. Streitigkeiten über den Preis. Immer ging es um Preise. Alles drehte sich um Dinare. Dinare, Papier wie Münzen, brachten die Menschen dazu, Dolche zu zücken oder die Fäuste zu erheben und einander ins Gesicht zu schlagen.
Mit seinem Turban, seinen spitzen Schnabelschuhen und seiner weiten alten Djellaba sah Mahmet arabischer aus als jeder Araber. Er hielt sich für eine Touristenattraktion und für fotogen (wenn man ihn fotografierte, verlangte er dafür eine bescheidene Gebühr) mit dem goldenen Ring im einen Ohr und seinem verkniffenen, sonnengebräunten Gesicht, das unter den buschigen Augenbrauen und hinter dem ungepflegten Bart kaum zu erkennen war. Vor Haaren war fast kein Mund zu sehen. Seine Augen waren klein und schwarz. Die anderen Kameltreiber konnten ihn nicht leiden, weil er sich nie an die Preisabsprachen für Kamelritte hielt. Mahmet gelobte hoch und heilig, sich daran zu halten, doch sobald ein Tourist auftauchte und ungeübt zu feilschen versuchte (Mahmet wußte, daß das den Touristen eingeschärft worden war), senkte Mahmet seinen Preis ein wenig und bekam den Auftrag, und der Tourist war stolz auf seinen Erfolg beim Feilschen und so guter Laune, daß sein Trinkgeld am Ende des Ritts meistens höher ausfiel als der Preisunterschied. Gingen die Geschäfte aber gut, dann setzte Mahmet seinen Preis herauf, im Wissen, daß die Touristen zahlen würden, und sogar in Hörweite der anderen Kameltreiber. Nicht daß die anderen Treiber sonderlich ehrenhaft gewesen wären, aber sie hatten ihre informellen Abmachungen, an die sie sich weitgehend hielten. Mahmets Unredlichkeit brachte Djemal so manchen Steinwurf gegen den Rumpf ein, der sich eigentlich gegen Mahmet richtete.
Nach einem guten Touristentag, der oft bis Einbruch der Dunkelheit währte, band Mahmet Djemal in der Ortschaft an eine Palme und leistete sich ein Couscous in einem armseligen Restaurant mit Terrasse und kreischendem Papagei. Djemal hatte dann oft noch nicht einmal zu trinken bekommen, weil Mahmet sich zuerst um die eigenen Bedürfnisse kümmerte, und Djemal zupfte die Blätter ab, an die er gelangen konnte. Mahmet aß allein, gemieden von den anderen Kameltreibern, die gemeinsam an einem anderen Tisch saßen und fröhlich lärmten. Einer von ihnen spielte zwischen den Gängen ein Saiteninstrument. Mahmet kaute schweigend an seinen Lammknochen und wischte sich die Finger an seinem Gewand ab. Trinkgeld gab er nicht.
Vielleicht brachte er Djemal an den öffentlichen Brunnen, vielleicht auch nicht, aber er ritt auf Djemal, der in die Wüste zu dem Baumgrüppchen schritt, wo Mahmet jeden Abend sein Lager aufschlug. Djemal sah nicht immer im Dunkeln, aber sein Geruchssinn führte ihn zu Mahmets Kleiderbündel, dem zusammengerollten Zelt, den ledernen Wasserschläuchen, die allesamt von Mahmets scharfem, schweißigem Geruch durchtränkt waren.
Am frühen Morgen gab es in den heißen Sommermonaten meistens Zitronen zu befördern. Allah sei Dank, dachte Mahmet, hatte die Regierung Zeiten für das Kamelreiten der Touristen festgesetzt – zwischen zehn und zwölf Uhr vormittags und achtzehn und einundzwanzig Uhr abends –, so daß die Kameltreiber tagsüber Geld verdienen und das Touristengeschäft in den festgelegten Stunden abwickeln konnten.
Als jetzt die große orangerote Sonne am sandigen Horizont sank, konnten Mahmet und Djemal den Muezzin von Elu-Bana bereits nicht mehr hören. Ohnehin hatte Mahmet sein Transistorradio eingeschaltet, ein faustgroßes Spielzeug, das er zwischen den Falten seiner Djellaba auf der Schulter tragen konnte. Es plärrte gerade ein endloses Klagelied, mit Falsettstimme gesungen. Mahmet summte mit, während er eine zerlumpte Matte auf dem Sand ausbreitete und mit weiteren Matten bedeckte. Das war sein Bett.
»Djemal! Geh dahin!« sagte Mahmet und deutete auf die Seite, die, wie er entdeckt hatte, in Windrichtung seiner Schlafstelle lag. Djemal diente nicht nur als Schutz vor dem sandigen Wind, sondern strahlte zudem beträchtliche Wärme aus.
Djemal fraß weiter an dem dürren Strauch in wenigen Metern Entfernung. Mahmet ging zu ihm und schlug ihn mit einer geflochtenen Lederpeitsche. Die Schläge taten nicht weh. Sie waren ein Ritual, das Djemal noch einige Minuten über sich ergehen ließ, bevor er sich von den dunkelgrünen Büschen losriß. Zum Glück war er diesmal nicht durstig.
»Ojajaja«, plärrte das Radio.
Djemal kniete nieder und drehte sich dabei in eine etwas andere als die von Mahmet gewünschte Richtung, bis der leise Wind ihm fast direkt gegen den Schwanz blies. Djemal wollte keinen Sand in die Nüstern bekommen. Er streckte den langen Hals aus, legte den Kopf hin, schloß die Nüstern fast ganz und die Augen ganz. Bald darauf spürte er, wie Mahmet sich an seine linke Flanke legte, die alten roten Decken, in die er sich eingemummt hatte, zurechtzupfte und seine Fersen in den Sandalen in den Sand grub. Mahmet schlief in der gleichen Körperhaltung, in der er sich ausruhte, beinahe sitzend.
Manchmal las Mahmet ein wenig im Koran und murmelte dabei vor sich hin. Er konnte nicht gut lesen, aber seit frühester Kindheit konnte er große Teile des Korans auswendig. Seine Schule damals hatte – wie die Schulen heute noch – aus einem Raum voller Kinder bestanden, die auf dem Boden saßen und wiederholten, was ein großer Mann in einer Djellaba vorsagte, der zwischen ihnen auf und ab ging und große Schritte über ihre Köpfe hinweg tat, während er aus dem Koran vorlas. Dieses Wissen, diese Worte betrachtete Mahmet als eine Art Poesie, nett zu lesen, aber ohne jeden praktischen Nutzen. An diesem Abend blieb Mahmets Koran – ein unförmiges kleines Buch mit eselsohrigen Seiten und verblichenen Druckbuchstaben – in dem Rucksack mit den klebrigen Datteln und einem harten Brotkanten. Mahmets Gedanken waren mit dem bevorstehenden nationalen Kamelrennen beschäftigt. Er kratzte sich an einem Flohstich unterhalb des linken Arms. Das Kamelrennen würde am Abend des nächsten Tages beginnen und eine Woche dauern. Es führte von Elu-Bana nach Khassa, einem großen Hafen und einer bedeutenden Stadt, in der es besonders viele Touristen gab. Die Kameltreiber übernachteten unterwegs natürlich im Freien und mußten ihre Essens- und Wasservorräte selbst mitbringen, und in Souk Mandela sollten sie rasten und die Kamele saufen lassen, bevor es weiterging. Mahmet überdachte seine Pläne. Er würde nicht in Souk Mandela haltmachen. Deshalb gewöhnte er Djemal gerade daran, ohne Wasser auszukommen. Wenn Djemal morgen abend kurz vor Beginn des Rennens auftankte, konnte er, wie Mahmet sich ausrechnete, sieben Tage lang laufen, ohne Wasser zu brauchen, und die sieben Tage hoffte Mahmet ohnedies auf sechs zu verkürzen.
Das Rennen von Elu-Bana nach Khassa ging immer knapp aus; die Kameltreiber peitschten ihre Kamele ins Ziel. Das Preisgeld betrug dreihundert Dinar, eine nicht unbeträchtliche Summe.
Mahmet zog sich die rote Decke über den Kopf und fühlte sich geborgen und unabhängig. Er hatte keine Frau, nicht einmal Verwandte – das heißt, Verwandte gab es in einer fernen Stadt, aber sie mochten ihn nicht, und er mochte sie nicht, und deshalb verschwendete Mahmet keinen Gedanken an sie. Als Junge hatte er gestohlen, und die Polizei war ein bißchen zu oft bei seiner Familie erschienen, um ihn und seine Eltern zu verwarnen, und deshalb war Mahmet als Dreizehnjähriger von zu Hause ausgerissen. Seitdem hatte er ein Nomadenleben geführt, hatte sich in der Hauptstadt als Schuhputzer durchgeschlagen und eine Zeitlang als Kellner gearbeitet, bis man ihn dabei erwischte, daß er sich aus der Kasse bediente; danach hatte er sich in Museen und Moscheen als Taschendieb betätigt, als Hilfszuhälter für eine Bordellkette in Khassa und danach als Laufbursche für einen Hehler, und seit dieser Zeit hinkte er, weil ein Polizist ihn in die Wade geschossen hatte. Mahmet war sieben- oder achtunddreißig, vielleicht schon vierzig – er wußte es nicht genau. Das Geld, das er bei dem Rennen gewinnen wollte, sollte als Anzahlung auf ein kleines Haus in Elu-Bana dienen. Er hatte das weiße Haus mit zwei Zimmern, fließendem Wasser und einem kleinen Kamin besichtigt. Es wurde günstig angeboten, weil der Vorbesitzer im Schlaf ermordet worden war und niemand in diesem Haus wohnen wollte.
Am nächsten Tag wunderte Djemal sich über die leichte Arbeit. Er und Mahmet wanderten die Zitronenberge am Stadtrand von Elu-Bana entlang, und Djemals zwei große Säcke wurden bis Sonnenuntergang viermal be- und entladen, doch das war so gut wie gar nichts. Normalerweise wäre Djemal viel schneller die Straßen entlanggetrieben worden.
»Hoia, Djemal!« rief jemand.
»Mahmet! Fsss!«
Unruhe kam auf. Djemal hatte keine Ahnung, was los war. Männer klatschten. Applaudierend oder empört? Djemal wußte, daß niemand seinen Herrn leiden konnte, und diese Ablehnung und folglich Feindseligkeit betrachtete das Kamel auch als gegen sich gerichtet. Djemal war stets auf der Hut vor einem tückischen Schlag oder einem Wurfgeschoß, das Mahmet galt. Die großen Lastwagen fuhren los, beladen mit Zitronen, die Dutzende von Kamelen angeschleppt hatten. Die Treiber ruhten sich aus, an die Bäuche ihrer Kamele gelehnt oder im Schneidersitz. Als Djemal den Hof verließ, streckte ein Kamel ohne Anlaß den Kopf vor und biß Djemal in den Rumpf.
Djemal drehte sich sofort um, schob die Oberlippe zurück, die kraftvolle, lange Zähne entblößte, und biß zurück, wobei er fast die Schnauze des anderen Kamels erwischt hätte. Der Kameltreiber auf diesem Tier wurde durch dessen Zurückscheuen beinahe abgeworfen und überschüttete Mahmet mit einer Flut von Verwünschungen.
Mahmet schimpfte lautstark zurück.
Obwohl Djemal getrunken hatte, bis er nicht mehr konnte, führte Mahmet ihn noch einmal zur Tränke. Djemal trank langsam ein bißchen Wasser und hob immer wieder den Kopf, um in den Wind zu schnüffeln: Von ferne konnte er den Duft von Touristen riechen. Und er hörte laute Musik, was nichts Ungewöhnliches war, da die Transistorradios den ganzen Tag aus allen Richtungen quäkten, doch diese Musik war lauter und volltönender. Djemal spürte einen Klaps an seinem linken Hinterbein. Mahmet ging jetzt vor ihm und zog ihn am Zügel.
Flaggen kamen in Sicht, ein Podest, Touristen und zwei Lautsprecher, aus denen Musik dröhnte. Und das alles am Rand der Wüste. Kamele standen aufgereiht. Ein Mann sprach mit unnatürlich lauter Stimme. Die Kamele sahen gut aus. War das ein Rennen? Djemal hatte einmal an einem Rennen teilgenommen, mit Mahmet als Reiter, und Djemal erinnerte sich, daß er schneller gelaufen war als die anderen. Das war letztes Jahr gewesen, als Mahmet Djemal erstanden hatte. Djemal erinnerte sich undeutlich an seinen ersten Herrn, der ihn abgerichtet hatte. Es war ein großer, freundlicher und ziemlich alter Mann gewesen. Er hatte mit Mahmet gestritten, wahrscheinlich über Dinare, und Mahmet hatte gewonnen. So jedenfalls interpretierte es Djemal. Mahmet hatte Djemal mitgenommen.
Auf einmal stand Djemal in einer Reihe mit den anderen Kamelen. Ein Signal ertönte. Mahmet schlug auf Djemal ein, Djemal rannte los und brauchte ein paar Minuten, bis er seinen Rhythmus gefunden hatte. Dann galoppierte er geradewegs in die untergehende Sonne. Er lag vorn. Es war nicht schwer. Djemal begann ruhig zu atmen und richtete sich darauf ein, das Tempo so lange wie nötig beizubehalten. Wohin ging es? Djemal konnte keine Blätter und kein Wasser riechen, und die Gegend war ihm nicht vertraut.
Klapperdiklapp, klapperdiklapp … Die Hufschläge der Kamele hinter Djemal verklangen. Djemal lief ein wenig langsamer. Mahmet schlug nicht auf ihn ein. Djemal hörte Mahmet leise kichern. Der Mond ging auf, und sie hielten nicht inne; inzwischen ging Djemal im Schritt. Er war ein wenig erschöpft. Sie machten eine Pause; Mahmet trank aus seinem Wasserschlauch, aß etwas und schmiegte sich wie gewohnt an Djemals Flanke. Aber an der Stelle, an der sie übernachteten, gab es keinen Baum, keinen Schutz. Das Land war flach und leer.
Am nächsten Morgen machten sie sich in der Dämmerung auf, nachdem Mahmet sich auf seinem Spirituskocher eine Tasse süßen Kaffees zubereitet hatte. Er schaltete sein Radio ein und legte es in die Kniebeuge des Beins, das er auf Djemals Schulter angewinkelt hatte. Kein einziges Kamel war hinter ihnen zu sehen. Aber Mahmet hielt Djemal zu zügigem Tempo an. Nach Djemals festem Höcker zu schließen, konnte das Kamel ohne Ermüdungserscheinungen noch vier bis fünf Tage durchhalten. Dennoch schaute Mahmet sich links und rechts nach Bäumen um, nach Grün, in dessen Schatten man wenigstens kurzfristig Zuflucht vor der Sonne suchen konnte. Gegen Mittag mußten sie anhalten. Die Sonnenglut hatte sogar Mahmets Turban durchdrungen; Schweiß rann ihm in die Augenbrauen. Zum ersten Mal warf Mahmet Djemal ein Tuch über den Kopf, um ihn vor der Sonne zu schützen, und sie rasteten bis fast vier Uhr nachmittags. Mahmet hatte keine Uhr, aber er konnte die Uhrzeit relativ zuverlässig am Sonnenstand ablesen.
Der nächste Tag verlief genauso, nur daß Mahmet und Djemal Bäume fanden, aber kein Wasser. Mahmet kannte die Gegend oberflächlich. Ob er vor Jahren einmal hergekommen war oder ihm jemand davon erzählt hatte, wußte er nicht mehr genau. Wasser gab es nur in Souk Mandela, wo die Teilnehmer haltmachen sollten. Das hätte einen Umweg bedeutet, und deshalb hatte Mahmet nicht vor, dort zu rasten. Andererseits hielt er es für ratsam, Djemal mittags besonders lange ausruhen zu lassen und den Zeitverlust wettzumachen, indem sie bis tief in die Nacht ritten. So geschah es. Mahmet orientierte sich, so gut es ging, an den Sternen.
Djemal hätte bei moderatem Tempo und mit wenig Gewicht fünf Tage ohne Wasser überstehen können, aber er verfiel immer häufiger in lange Schritte. Gegen Mittag des sechsten Tages begann Djemal die Anstrengung zu spüren. Mahmet murmelte Koransuren. Wind kam auf und blies mehrmals die Flamme unter Mahmets Kaffeekocher aus. Djemal rastete, den Schwanz dem Wind zugekehrt, die Nüstern Schlitze, gerade weit genug zum Atmen.
Mahmet erkannte, daß sie sich am Rand eines Windsturms befanden, nicht in dem Sturm. Er tätschelte Djemal kurz den Kopf. Mahmet dachte sich, daß die anderen Kamele mit ihren Reitern mitten im Sturm sein mußten, dessen Zentrum sich im Norden abzeichnete, in der Richtung von Souk Mandela. Mahmet hoffte, daß alle anderen aufgehalten werden würden.
Mahmet irrte sich, wie er am siebten Tag feststellte, dem Tag, an dem das Rennen enden sollte. Mahmet machte sich in der Morgendämmerung auf; der Sand wurde vom Wind so heftig gepeitscht, daß Mahmet gar nicht erst versuchte, Kaffee zu kochen, sondern sich damit begnügte, ein paar Kaffeebohnen zu zerkauen. Er begann zu argwöhnen, daß der Sturm ihn auf seiner direkten Route nach Khassa eingeholt hatte und daß seine Rivalen möglicherweise gut beraten gewesen waren, sich in Souk Mandela mit Wasser zu versorgen und dann den Weg nach Khassa einzuschlagen, denn dadurch würden sie sich am nördlichen Rand des Sturms und nicht in seiner Mitte befinden.
Djemal fiel es schwer voranzukommen; er mußte seine Nüstern gegen den Sand halb geschlossen halten und konnte nicht tief einatmen. Mahmet, der auf seinen Schultern saß und sich über seinen Hals beugte, peitschte nervös auf ihn ein, um ihn anzutreiben. Djemal spürte, daß Mahmet sich fürchtete. Wenn Djemal ihr Ziel nicht sehen oder riechen konnte, wie sollte es dann Mahmet können? War Mahmet das Wasser ausgegangen? Möglicherweise. Djemals rechte Schulter wurde von dem Peitschen wund und begann zu bluten. Mahmet schlug auf diese Schulter ein, weil es dort schmerzlicher war als an der anderen, vermutete Djemal. Mittlerweile kannte Djemal Mahmet in- und auswendig. Er wußte, daß Mahmet beabsichtigte, sich für seine, Djemals, Anstrengungen bezahlen zu lassen, denn sonst hätte Mahmet nicht so viele Mühen auf sich genommen. Djemal hatte auch eine undeutliche Vorstellung davon, daß er sich in Konkurrenz zu den anderen Kamelen befand, die er in Elu-Bana gesehen hatte, denn er war schon früher gezwungen worden, »Rennen« zu laufen, wenn Mahmet Touristen in der Ferne ausgemacht und ihn angetrieben hatte, schneller zu sein als andere Kamele.
»Hai-iie! Hai-iie!« rief Mahmet, der auf und nieder hüpfte und seine Peitsche schwang.
Wenigstens entkamen sie so dem Sandsturm. Der schwache, unscharfe Umriß der Sonne, noch weit über dem Horizont, war hin und wieder erkennbar. Djemal stolperte und stürzte und warf Mahmet ab. Unversehens hatte Djemal das Maul voll Sand, und er wäre am liebsten minutenlang liegengeblieben, um sich zu erholen, aber Mahmet peitschte schimpfend auf ihn ein, um ihn zum Aufstehen zu bewegen.
Mahmet hatte sein Transistorradio verloren und suchte auf allen vieren den Sand ab. Als er das Radio wiederfand, trat er Djemal hart in die Rippen und rücksichtslos in den Anus, weil Djemal sich wieder hingelegt hatte, doch das Kamel rührte sich nicht.
Mahmet fluchte.
Djemal schnaubte bösartig und entblößte seine zwei furchterregenden Vorderzähne, bevor er sich mit verbitterter Würde langsam aufrichtete. Ganz benommen vor Hitze und Durst sah Djemal Mahmet wie durch einen Schleier, und wäre er vor Erschöpfung nicht so schwach gewesen, hätte er ihn in seiner Verzweiflung angegriffen. Mahmet schlug ihn und befahl ihm, niederzuknien. Djemal gehorchte, und Mahmet stieg auf.
Weiter ging es. Djemals Füße wurden immer schwerer und schleiften durch den Sand. Aber jetzt konnte Djemal Leute riechen. Wasser. Und dann hörte er Musik, das übliche klagende Gequäke arabischer Transistorradios, nur lauter, als liefen mehrere Radios gleichzeitig. Mahmet schlug wieder und wieder auf Djemals Schulter ein und feuerte ihn an. Djemal sah keinen Grund, sich anzustrengen, denn schließlich war das Ziel deutlich zu sehen, doch er ging, so schnell er konnte, in der Hoffnung, weniger Schläge zu bekommen.
»Jajaa!« Das Geschrei wurde lauter.