Salman Rushdie
Zwei Jahre,
acht Monate und
achtundzwanzig
Nächte
Roman
Aus dem Englischen von
Sigrid Ruschmeier
C. Bertelsmann
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Two Years Eight Months and Twenty-Eight Nights« bei Random House, New York.
Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte ist eine erfundene
Geschichte. Namen, Orte und Handlung sind entweder der Phantasie des Autors entsprungen oder werden fiktiv gebraucht. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Örtlichkeiten, lebenden oder toten Personen ist reiner Zufall.
Die Arbeit der Übersetzerin wurde freundlicherweise
vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert. Die Übersetzerin dankt Mark Baker für unermüdliche, kenntnisreiche Hilfe.
Mehr Informationen zum Werk des Autors
unter www.salman-rushdie.de
1. Auflage
Copyright © 2015 by Salman Rushdie
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Afra Margaretha
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-17490-3
V004
www.cbertelsmann.de
Für Caroline
El sueño de la razón produce monstruos
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
(Nr. 43 aus Los Caprichos von Francisco Goya. Der vollständige
Titel der Radierung im Prado lautet: »Die von der Vernunft verlassene Phantasie gebiert unfassbare Ungeheuer; mit ihr vereint ist sie die Mutter der Künste und der Ursprung der Wunder.«)
Man »glaubt« nicht an Märchen.
Es gibt keine Theologie, keinen Dogmenkatalog, kein Ritual, keine Institution, keine Erwartung an ein bestimmtes Verhalten. Märchen handeln von dem Unerwarteten und der Wandelbarkeit der Welt.
GEORGE SZIRTES
Statt das Buch zu schreiben, das ich hätte schreiben sollen, den Roman, den man von mir erwartete, habe ich das Buch erdichtet, das ich selbst gern lesen wollte, das Buch eines anderen Autors, aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Land, auf einem Dachboden entdeckt.
ITALO CALVINO
Hier bemerkte Scheherezade den Tagesanbruch und verstummte.
ERZÄHLUNGEN AUS TAUSENDUNDEINER NACHT
Die Kinder
des
Ibn Ruschd
Sehr wenig weiß man, doch viel wurde geschrieben über die wahre Natur der Dschinn, jener Wesen aus rauchlosem Feuer. Sind sie gut oder böse, teuflisch oder gütig? Diese Fragen werden heiß diskutiert. Weitgehend einig ist man sich über Folgendes: Sie sind launisch, unberechenbar und mutwillig, können sich mit hoher Geschwindigkeit fortbewegen, Größe und Gestalt wechseln, wenn es ihnen beliebt oder sie dazu genötigt werden, können Sterblichen Wünsche gewähren und haben ein grundsätzlich anderes Zeitgefühl als Menschen. Man verwechsle sie nicht mit Engeln, obgleich manche der alten Geschichten fälschlich meinen, der Teufel selbst, der gefallene Engel Luzifer, der Sohn der Morgenröte, sei der größte der Dschinn. Lange strittig waren auch ihre Wohnstätten. Einige, noch ältere Geschichten behaupten, in durchaus verleumderischer Absicht, dass die Dschinn hier unter uns auf Erden, in der sogenannten niederen Welt, in Ruinen und an vielerlei ungesunden Orten leben wie Müllhalden, Totenäckern, Abtrittsgruben, Kloaken und, wo immer möglich, Misthaufen. Diesen ehrenrührigen Äußerungen nach zu urteilen, täten wir gut daran, uns nach jedem Kontakt mit Dschinn gründlich zu waschen. Sie stinken und übertragen Krankheiten. Berühmte Kommentatoren behaupten freilich schon lange, was wir heute als gesichert ansehen: Die Dschinn leben in ihrer eigenen, von unserer durch einen Schleier getrennten Welt, und diese obere Welt, die manchmal Peristan oder Märchenland heißt, ist zwar ungeheuer groß und weit, ihre Beschaffenheit uns aber verborgen.
Die Dschinn als nicht menschlich zu bezeichnen, erübrigt sich fast, doch die Menschen haben zumindest einige Eigenschaften mit ihren sagenhaften Gegenspielern gemein. In Religionsdingen zum Beispiel gibt es unter den Dschinn Anhänger aller Glaubensrichtungen auf Erden, aber auch Ungläubige, denen die Vorstellung von Göttern und Engeln so fremd ist, wie sie selbst es den Menschen sind. Und obwohl viele Dschinn keinerlei Moral kennen, kennen zumindest einige sehr wohl den Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen dem Pfad zur rechten und dem zur linken Hand.
Manche Dschinn können fliegen, andere kriechen in Schlangengestalt über den Boden oder rennen bellend und die Reißzähne bleckend als riesige Hunde herum. Im Meer und bisweilen auch in der Luft nehmen sie gern das äußere Erscheinungsbild von Drachen an. Dschinn niederen Ranges können auf der Erde ihre Form häufig nicht lange bewahren. Diese amorphen Kreaturen schlüpfen gelegentlich durch Ohren, Nasen oder Augen in die Menschen, nehmen deren Körper eine Weile lang in Besitz und werfen ihn ab, wenn sie seiner überdrüssig sind. Leider überleben die Menschen eine solche Besetzung nicht.
Die weiblichen Dschinn, also die Dschinnya oder Dschinniri, sind noch rätselhafter, noch komplizierter und seltener zu fassen, weil sie Schattenfrauen aus feuerlosem Rauch sind. Es gibt grausame Dschinniri und Dschinniri der Liebe, vielleicht aber sind sie in Wirklichkeit identisch, und grausame Naturen werden von Liebe besänftigt, während liebende Geschöpfe durch schlechte Behandlung zu einer Brutalität angestachelt werden, die wir Sterblichen uns gar nicht vorstellen können.
Dies ist die Geschichte einer Dschinnya, einer hochrangigen Prinzessin, die Blitzprinzessin genannt wurde, weil sie über den Blitz gebot, und die einst, nach unserem Sprachgebrauch im zwölften Jahrhundert, einen sterblichen Mann liebte. Es ist auch die Geschichte ihrer vielen Nachkommen und wie sie nach langer Abwesenheit in die Welt zurückkehrt, sich noch einmal für kurze Zeit verliebt und dann in den Krieg zieht. Erzählt wird des Weiteren von anderen Dschinn, männlichen und weiblichen, fliegenden und kriechenden, guten, bösen und moralisch gleichgültigen, und von der Zeit der Krise, der aus den Fugen geratenen Zeit, welche wir die Zeit der Seltsamkeiten nennen und die zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte währte, mit anderen Worten, tausendundeine Nacht. Und ja, wir leben seit damals schon wieder weitere tausend Jahre, sind aber alle für immer durch diese Zeit verändert. Ob zum Guten oder Bösen, darüber wird unsere Zukunft entscheiden.
Im Jahre 1195 geriet der große Philosoph Ibn Ruschd, einst der Kadi oder Richter von Sevilla und seit Kurzem der Leibarzt des Kalifen Abu Jusuf Jakub in seiner Heimatstadt Córdoba an höchster Stelle in Verruf und fiel in Ungnade, weil seine freisinnigen Ideen den zunehmend mächtigen und sich wie die Pest im maurischen Spanien verbreitenden fanatischen Berbern nicht passten. Er wurde in das kleine Dorf Lucena nicht weit von Córdoba, verbannt, in ein Dorf voller Juden, die nicht mehr sagen durften, dass sie Juden waren, weil die vorherige Herrscherdynastie von al-Andalus, die der Almoraviden, sie gezwungen hatte, zum Islam überzutreten. Ibn Ruschd, der Philosoph, der seine Weltanschauung nicht mehr darlegen durfte, dessen sämtliche Schriften verboten und dessen Bücher verbrannt worden waren, fühlte sich unter den Juden, die nicht sagen durften, dass sie Juden waren, gleich zu Hause. Er war der Günstling des Kalifen aus der herrschenden Dynastie, den Almohaden, gewesen, doch Günstlinge geraten aus der Mode, und Abu Jusuf Jakub gestattete den Dogmatikern, den großen Kommentator des Aristoteles aus der Stadt zu vertreiben.
Der Philosoph, der von seiner Philosophie schweigen musste, lebte in einer engen, ungepflasterten Gasse in einem ärmlichen Haus mit kleinen Fenstern, und der Mangel an Licht bedrückte ihn schrecklich. Er richtete sich eine Arztpraxis in Lucena ein, und wegen seines Ansehens als früherer Leibarzt des Kalifen kamen auch Patienten; zusätzlich benutzte er sein ihm verbliebenes Vermögen, um in den Pferdehandel einzusteigen, und investierte in die Herstellung der großen Tonkrüge, der tinajas, in denen die Juden, die keine Juden mehr waren, Olivenöl und Wein aufbewahrten und verkauften. Nicht lange nach dem Beginn seines Exils erschien eines Tages ein Mädchen von vielleicht sechzehn Lenzen vor seiner Haustür, lächelte, klopfte aber weder an noch störte sie in irgendeiner Weise seinen Gedankengang, sondern stand einfach nur da und wartete geduldig, bis er seine Anwesenheit bemerkte und sie hereinbat. Dann erzählte sie ihm, sie sei seit Kurzem elternlos, habe keinerlei Einkommen, wolle aber nicht in einem Hurenhaus arbeiten. Es heiße Dunia, was nicht wie ein jüdischer Name klang, aber den durfte sie ohnehin nicht sagen, und weil sie des Lesens und Schreibens unkundig war, konnte sie ihn auch nicht aufschreiben. Dunia berichtete weiter, ein Angehöriger des fahrenden Volkes habe ihr den Namen vorgeschlagen, gesagt, er komme aus dem Griechischen und bedeute »die Welt«, und diese Vorstellung habe ihr gefallen. Ibn Ruschd, auch Übersetzer von Aristoteles, wollte ihr gegenüber nicht wortklauberisch sein, denn er wusste, dass »Dunia« in so vielen Sprachen »die Welt« bedeutete, dass übertriebene Genauigkeit fehl am Platze war. »Warum hast du dich nach der Welt genannt?«, fragte er sie, und sie schaute ihm in die Augen und erwiderte: »Weil aus mir eine Welt strömen wird und die, welche aus mir strömen, sich in alle Welt zerstreuen werden.«
Da er ein Mann der Vernunft war, kam er gar nicht auf die Idee, dass sie ein übernatürliches Wesen sein könne, eine Dschinnya aus dem Stamm der weiblichen Dschinn, den Dschinniri: eine vornehme Prinzessin dieses Stammes, die, fasziniert von den Menschen im Allgemeinen und den geistvollen im Besonderen, auf irdischer Abenteuersuche war. Er nahm sie als Haushälterin und Geliebte in sein bescheidenes Heim, und bei einer ihrer nächtlichen Umarmungen flüsterte sie ihm ihren »wahren« – das heißt falschen – jüdischen Namen ins Ohr, und das wurde ihr Geheimnis. Dunia, die Dschinnya, war so atemberaubend fruchtbar, wie sie es prophezeit hatte. In den folgenden zwei Jahren, acht Monaten und achtundzwanzig Tagen und Nächten wurde sie drei Mal schwanger und gebar jedes Mal eine Vielzahl von Kindern, wenigstens sieben, hatte es den Anschein, und einmal elf oder möglicherweise sogar neunzehn; die Aufzeichnungen sind weder eindeutig noch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfbar. Alle Kinder erbten ihr besonderes Kennzeichen: Sie hatten angewachsene Ohrläppchen.
Wäre Ibn Ruschd ein Kenner des geheimnisumwehten Wissens des Okkulten gewesen, hätte er damals begriffen, dass seine Nachkommen die Sprösslinge einer nichtmenschlichen Mutter waren, doch er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um groß darüber nachzudenken. (Manchmal glauben wir, dass es ein Glück für ihn und unsere ganze Geschichte war, dass Dunia ihn wegen seines brillanten Verstandes liebte, denn er war vielleicht zu eigensüchtig, als dass man ihn um seines Wesens willen hätte lieben können.) Der Philosoph, der nicht philosophieren durfte, befürchtete, dass seine Kinder von ihm die bedauerlichen Anlagen erben würden, die ihm Reichtum und Fluch zugleich waren. »Wer dünnhäutig, weitsichtig und redselig ist«, sagte er, »fühlt zu intensiv, sieht zu klar und spricht zu freimütig. Er ist der Welt gegenüber verwundbar, während die Welt sich selbst für unverwundbar hält, er versteht ihre Wandelbarkeit, während sie meint, sie sei unwandelbar, er ahnt vor allen anderen, was kommt, er weiß, dass die barbarische Zukunft die Tore zur Gegenwart einreißt, während sich andere an die abgelebte, hohle Vergangenheit klammern. Wenn unsere Kinder Glück haben, erben sie nur deine Ohren, da sie aber leider und unleugbar auch meine sind, denken sie vermutlich zu bald zu viel und hören zu früh zu viel, und darunter Dinge, die man nicht denken oder hören darf.«
»Erzähl mir eine Geschichte«, bat Dunia oft, wenn sie zu Beginn ihres Zusammenlebens beieinanderlagen. Er entdeckte rasch, dass sie ihrer scheinbaren Jugend zum Trotz im Bett und außerhalb anspruchsvoll und eigenwillig war. Er war ein großer Mann und sie wie ein Vögelchen oder eine Heuschrecke, doch er hatte oft den Eindruck, dass sie die Stärkere war. Sie war die Freude seiner alten Tage, verlangte ihm aber einen Aufwand an Energie ab, den er nur mit Mühe betreiben konnte. In seinem Alter wollte er im Bett bisweilen nur noch schlafen, doch Dunia betrachtete seine Versuche einzunicken als feindlichen Akt. »Wenn du die ganze Nacht Sex mit mir hast«, sagte sie, »bist du sogar ausgeruhter, als wenn du stundenlang schnarchst wie ein Ochse. Das weiß doch jeder.« Betagt, wie er war, fand er es nicht immer leicht, sich in den für den Geschlechtsakt erforderlichen Zustand zu bringen, besonders in mehreren aufeinanderfolgenden Nächten, aber sie betrachtete seine ältlichen Erregungsprobleme als Beweis für sein liebloses Wesen. »Wer eine Frau attraktiv findet, hat keine Probleme«, beschied sie ihn. »Ganz egal, wie viele Nächte hintereinander. Ich bin immer geil, ich kann ewig weitermachen, anhalten gibt’s für mich nicht.«
Seine Entdeckung, dass er ihre körperliche Inbrunst durch Erzählen dämpfen konnte, verschaffte ihm eine gewisse Erleichterung. Wenn sie »Erzähl mir eine Geschichte« sagte und sich unter seinen Arm schmiegte, sodass seine Hand auf ihrem Kopf lag, dachte er, ah, gut, für heute Abend bin ich aus dem Schneider, und erzählte ihr nach und nach die Geschichte seiner Gedanken. Dabei benutzte er Worte, die viele seiner Zeitgenossen unerhört fanden, wie zum Beispiel »Vernunft«, »Logik« und »Wissenschaften«, die drei Säulen seines Denkens, der Ideen, die dazu geführt hatten, dass seine Bücher verbrannt wurden. Dunia fürchtete diese Worte, aber ihre Furcht erregte sie, und sie schmiegte sich enger an ihn. »Halt mir den Kopf, während du ihn mit deinen Lügen vollstopfst«, sagte sie.
In seinem Inneren trug er eine tiefe, schmerzliche Wunde, ja, er war ein geschlagener Mann, weil er die große Schlacht seines Lebens gegen einen Perser, Ghazali von Tus, verloren hatte, einen Kontrahenten, der seit fünfundachtzig Jahren tot war. Vor hundert Jahren hatte dieser ein Buch mit dem Titel Die Inkohärenz der Philosophen geschrieben, in dem er Griechen wie Aristoteles, die Neuplatoniker und ihre Anhänger sowie Ibn Ruschds große Wegbereiter Ibn Sina und al-Farabi angriff. Einmal war er in eine Glaubenskrise geraten, doch nachdem er die überwunden hatte, zur schlimmsten Geißel in der Weltgeschichte der Philosophie geworden. Die Philosophie, höhnte er, sei unfähig, die Existenz Gottes, ja nicht einmal die Unmöglichkeit der Existenz eines zweiten Gottes zu beweisen. Die Philosophie glaube an die Zwangsläufigkeit von Ursache und Wirkung, womit sie die Macht Gottes schmälere, der, wenn es ihm beliebe, ohne Weiteres eingreifen könne, um Wirkungen zu modifizieren und Ursachen wirkungslos zu machen.
»Was geschieht«, fragte Ibn Ruschd Dunia, wenn die Nacht sie in Stille hüllte und sie von verbotenen Dingen reden konnten, »wenn man ein brennendes Stöckchen mit einem Baumwollbällchen in Kontakt bringt?«
»Natürlich fängt die Baumwolle an zu brennen«, antwortete sie.
»Und warum fängt sie an zu brennen?«
»Weil das so ist«, sagte sie, »die Flamme züngelt an der Baumwolle, und die Baumwolle wird Teil des Feuers, so ist das nun mal.«
»Das Gesetz der Natur«, sagte er. »Ursachen haben Wirkungen.« Und sie nickte, während seine Hand ihren Kopf liebkoste.
»Er war anderer Meinung«, sagte Ibn Ruschd, und sie wusste, dass er den Feind meinte, Ghazali, der ihn besiegt hatte. »Er sagte, die Baumwolle sei entflammt, weil Gott sie dazu gezwungen habe, denn in Gottes Universum ist Gottes Wille das alleinige Gesetz.«
»Wenn Gott also gewollt hätte, dass die Baumwolle das Feuer löscht, wenn er gewollt hätte, dass das Feuer Teil der Baumwolle würde, hätte er das geschafft?«
»Ja«, sagte Ibn Ruschd. »Ghazalis Buch zufolge wäre Gott dazu imstande.«
Einen Moment lang dachte sie nach. »Das ist dumm«, sagte sie schließlich. Selbst im Dunklen spürte sie sein resigniertes Lächeln, ein Lächeln voller Zynismus, aber auch Schmerz, das sich schief über seinem bärtigen Gesicht ausbreitete. »Er würde sagen, das sei der wahre Glaube«, erwiderte Ibn Ruschd, »und dem zu widersprechen sei … inkohärent.«
»Dann kann also alles geschehen, wenn Gott es in Ordnung findet«, sagte sie. »Dann könnten zum Beispiel die Füße eines Mannes den Kontakt zum Boden verlieren, und er könnte auf der Luft laufen.«
»Ein Wunder«, sagte er, »besteht schlicht darin, dass Gott die Regeln ändert, nach denen er spielen will, und wenn wir das nicht begreifen, dann deshalb nicht, weil Gott letztlich unbegreiflich ist, mit anderen Worten, jenseits unseres Begreifens.«
Wieder schwieg sie. »Angenommen, ich nehme an«, sagte sie nach einer Weile, »dass Gott nicht existiert. Angenommen, du bringst mich dazu, anzunehmen, dass ›Vernunft‹, ›Logik‹ und ›Wissenschaften‹ eine Magie besitzen, die Gott überflüssig macht. Kann man überhaupt annehmen, dass es möglich wäre, etwas Derartiges anzunehmen?« Sie spürte, wie sein Körper erstarrte. Jetzt hat er Angst vor meinen Worten, dachte sie, und merkwürdigerweise gefiel ihr das. »Nein«, sagte er viel zu barsch. »Das wäre tatsächlich eine dumme Annahme.«
Er hatte selbst ein Buch geschrieben, Die Inkohärenz der Inkohärenz, eine Erwiderung auf Ghazali über einen Abstand von einhundert Jahren und eintausend Meilen, doch trotz des flotten Titels hielt der Einfluss des toten Persers unvermindert an, und dann war es schließlich Ibn Ruschd, der in Ungnade fiel; sein Buch wurde angezündet, und die Flammen verzehrten die Seiten, weil Gott in dem Moment beschlossen hatte, den Flammen genau das zu erlauben. In allen seinen Schriften hatte der Philosoph versucht, die Worte »Vernunft«, »Logik« und »Wissenschaften« mit den Worten »Gott«, »Glauben« und »Koran« in Einklang zu bringen, und es war ihm nicht gelungen, obwohl er mit großem Feinsinn von der Güte Gottes her argumentierte und anhand eines Zitats aus dem Koran zeigte, dass Gott existieren müsse, weil er der Menschheit den Garten der irdischen Lüste gegeben habe. Und Wir senden aus den Regenwolken Wasser in Strömen hernieder, auf dass Wir damit Korn und Kraut hervorbringen mögen und üppige Gärten. Ibn Ruschd war ein begeisterter Gärtner, und das Argument von der Güte Gottes schien ihm sowohl Gottes Existenz als auch sein grundsätzlich gütiges, tolerantes Wesen zu beweisen, doch die Anhänger eines strengeren Gottes hatten ihn geschlagen. Jetzt lag er einer konvertierten Jüdin bei (glaubte es zumindest), die er vor dem Hurenhaus bewahrt hatte und die offenbar in seine Träume sehen konnte, in denen er sich mit Ghazali in der Sprache der Unversöhnlichkeit stritt, der Sprache der Aufrichtigkeit und Konsequenz, welche ihn dem Scharfrichter ausgeliefert hätte, hätte er sie bei Tage gebraucht.
Während Dunia sich mit Kindern füllte und sie in das kleine Haus ausleerte, gab es immer weniger Platz für Ibn Ruschds exkommunizierte »Lügen«. Die intimen Momente des Paars wurden weniger und allmählich das Geld zum Problem. »Ein wahrer Mann stellt sich den Folgen seiner Handlungen«, sagte sie zu ihm, »besonders einer, der an Ursache und Wirkung glaubt.« Aber Geld zu verdienen war nie seine Stärke gewesen. Im Pferdehandel herrschten Lug und Betrug, es wimmelte von Halsabschneidern, und die Gewinne waren gering. »Verlang mehr Geld von deinen Patienten«, riet sie ihm einigermaßen gereizt. »Du solltest aus deinem früheren Ruf Kapital schlagen, selbst wenn er angekratzt ist. Was hast du denn sonst noch? Nur ein Kinder machendes Monster zu sein reicht nicht. Du machst Kinder, die Kinder kommen, die Kinder müssen essen. Das ist ›logisch‹. Das ist ›vernünftig‹.« Sie wusste, welche Worte sie gegen ihn verwenden konnte. »Und das nicht zu tun«, rief sie auftrumpfend, »ist ›Inkohärenz‹.«
(Die Dschinn lieben Glitzerkram, Gold, Juwelen und dergleichen, und sie verstecken ihre Schätze oft in unterirdischen Höhlen. Warum rief die Dschinnya-Prinzessin nicht am Tor einer Schatzhöhle Öffne dich! und löste ihre finanziellen Probleme auf einen Schlag? Weil sie sich für ein menschliches Leben entschieden hatte, für eine menschliche Partnerschaft als »menschliche« Ehefrau eines Menschen, und an diese Entscheidung gebunden war. Wenn sie zu diesem späten Zeitpunkt ihrem Geliebten ihr wahres Wesen enthüllt hätte, hätte sie auch enthüllt, dass Falschheit und Lüge den Kern ihrer Beziehung bildeten. Aus Angst, er werde sie verlassen, schwieg sie. Zum Schluss verließ er sie trotzdem, aus seinen eigenen menschlichen Gründen.)
Ein persisches Buch mit dem Titel Hazar Afsaneh oder Tausend Erzählungen war ins Arabische übersetzt worden. In der arabischen Fassung enthielt es weniger als eintausend Geschichten, doch die Handlung erstreckte sich über eintausend Nächte, oder – weil runde Zahlen als hässlich galten – über tausend Nächte und eine dazu. Ibn Ruschd hatte das Buch nie gesehen, aber manche der Geschichten am Hofe gehört. Die vom Fischer und dem Dschinni gefiel ihm gut, weniger wegen ihrer phantastischen Elemente (dem Dschinni aus der Lampe, den sprechenden Zauberfischen, dem verzauberten Prinzen, halb Mann, halb Marmor) als vielmehr wegen ihrer handwerklichen Schönheit, ihm gefiel es, wie Geschichten in andere Geschichten eingepackt waren und selbst wiederum neue einhüllten, sodass die Geschichte insgesamt, fand er, ein wahrer Spiegel des Lebens wurde, in dem alle unsere Geschichten die Geschichten anderer enthalten und ihrerseits in größeren, bedeutenderen Erzählungen enthalten sind, den Geschichten unserer Familien, unserer Heimatländer oder Glaubensvorstellungen. Schöner sogar noch als die Geschichten in den Geschichten war die Geschichte der Erzählerin, einer Prinzessin Schahrazad oder Scheherezade, die ihre Märchen ihrem mörderischen Ehemann erzählte, damit er sie nicht hinrichten ließ, die also Geschichten gegen den Tod erzählte und einen Barbaren damit zivilisieren wollte. Am Fußende des Ehebetts saß Scheherezades Schwester, die perfekte Zuhörerin, die stets um noch eine Geschichte bat, dann noch eine und noch eine. Dem Namen dieser Schwester entlehnte Ibn Ruschd den Namen für die Kinderscharen, die dem Schoß seiner Geliebten Dunia entsprangen, denn zufällig hieß die Schwester Duniazad, »und, bitte schön, was mir hier das düstere Haus füllt und mich zwingt, von meinen Patienten, den Kranken und Siechen von Lucena, Wucherhonorare zu verlangen, ist die Existenz der Dunia-zát, das heißt, des Stammes der Dunia, der Rasse der Dunianer, des Dunia-Volkes, was, wenn man es übersetzt, ›Volk der Welt‹ heißt.«
Dunia war zutiefst beleidigt. »Du meinst«, sagte sie, »weil wir nicht verheiratet sind, dürfen deine Kinder nicht den Namen ihres Vaters tragen?« Er verzog das Gesicht zu seinem traurigen Lächeln. »Es ist besser, wenn sie die Duniazat sind«, erwiderte er. »In dem Namen steckt die Welt, und er ist nicht von ihr gerichtet worden. Wenn sie Ruschdi hießen, würden sie mit einem Mal auf der Stirn in die Geschichte eingehen.« Dunia begann nun, von sich als Schwester Scheherezades zu sprechen, und bat auch immer um Geschichten, aber ihre Scheherezade war ein Mann, ihr Geliebter, nicht ihr Bruder, und manche seiner Geschichten hätten für sie beide den Tod bedeutet, wenn die Worte durch ein Versehen der Dunkelheit des Schlafzimmers entschlüpft wären. Er sei so was wie eine Anti-Scheherezade, sagte Dunia zu Ibn-Ruschd, das genaue Gegenteil der Erzählerin aus Tausendundeiner Nacht. Deren Geschichten hätten ihr das Leben gerettet, während seine sein Leben in Gefahr brächten. Doch dann gewann Kalif Abu Jusuf Jakub einen Krieg; bei Alarcos am Fluss Guardiana errang er seinen größten militärischen Erfolg gegen den christlichen König von Kastilien, Alfonso VIII. Nach der Schlacht bei Alarcos, in der seine Streitkräfte 150 000 kastilische Soldaten, die Hälfte des christlichen Heeres, erschlugen, nannte er sich al-Mansur, der Siegreiche, und mit dem Selbstbewusstsein des siegreichen Helden setzte er der Vorherrschaft der fanatischen Berber ein Ende und berief Ibn Ruschd zurück an den Hof.
Das Schandmal auf der Stirn des alten Philosophen wurde getilgt, sein Exil hatte ein Ende, er wurde rehabilitiert, fiel wieder in Gnade und wurde mit allen Ehren in seine alte Stellung als Leibarzt in Córdoba eingesetzt, zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Tage und Nächte nach Beginn seiner Verbannung, mit anderen Worten, eintausend Tage und Nächte und noch einen Tag und eine Nacht; und natürlich war Dunia wieder schwanger, und natürlich heiratete er sie nicht, natürlich gab er seinen Kindern niemals seinen Namen und nahm Dunia natürlich auch nicht mit zum Hof der Almohaden. Sie glitt aus der Historie, die er bei seinem Weggehen mitnahm, zusammen mit seinen Gewändern, seinen geistsprühenden Gegenreden und Manuskripten, manche gebunden, manche in Rollen, sowie den Abschriften der Bücher anderer Männer. Seine eigenen Schriften waren zwar verbrannt worden, doch viele Kopien, hatte er ihr einmal erzählt, überlebten in anderen Städten, in den Bibliotheken von Freunden und in Verstecken, wo er sie für den Fall, dass er eines Tages die Gunst seines Herrschers verlieren würde, deponiert hatte, denn ein weiser Mann bereitet sich stets auf Ungemach vor. Wenn er allerdings angemessen bescheiden bleibt, kann das Glück ihn auch überraschen. Ibn Ruschd ging, ohne zu Ende zu frühstücken oder sich zu verabschieden, und weder drohte sie ihm noch entdeckte sie ihm ihr wahres Wesen und die in ihr verborgene Macht, noch rief sie ihm hinterher: Ich weiß, was du in deinen Träumen sprichst, wenn du annimmst, was anzunehmen dumm wäre, wenn du nicht mehr versuchst, das Unversöhnliche zu versöhnen, sondern die schreckliche, fatale Wahrheit sagst. Nein, Dunia ertrug, dass die Historie sie zurückließ, und bemühte sich nicht, sie festzuhalten, so wie Kinder eine prächtige Prozession an sich vorbeiziehen lassen, sie jedoch in Erinnerung behalten und zu etwas Unvergesslichem machen, sie sich zu eigen machen. Dunia hörte auch nicht auf, ihn zu lieben, obgleich er sie so schnöde verlassen hatte. Du warst mein ein und alles, wollte sie ihm sagen, du warst meine Sonne und mein Mond, und wer hält mir jetzt den Kopf, wer küsst meine Lippen, wer wird unseren Kindern ein Vater sein? Doch er war ein großer Mann, bestimmt für unsterblichen Ruhm, und die schreienden Bälger waren nur Ballast, den er abwarf.
Eines Tages, flüsterte sie dem abwesenden Philosophen zu, eines Tages, wenn du längst tot bist, wirst du an den Punkt kommen, an dem du deine Familie um dich haben möchtest, und dann werde ich, deine Geistfrau, dir deinen Wunsch erfüllen, obwohl du mir das Herz gebrochen hast.
Man geht davon aus, dass Dunia noch eine Zeit lang unter den Menschen weilte, weil sie vielleicht wider besseres Wissen auf seine Rückkehr hoffte, und dass er ihr regelmäßig Geld schickte, sie vielleicht von Zeit zu Zeit besuchte, dass sie den Pferdehandel aufgab und nur mit den tinajas weitermachte, doch da Sonne und Mond der Historie für immer über ihrem Haus untergegangen waren, verwandelte sich ihre Geschichte in etwas Schattenhaftes, Mysteriöses, und es mochte sogar stimmen, was die Leute sagten, dass Ibn Ruschds Geist sie nach seinem Tod aufsuchte und noch mehr Kinder zeugte. Die Leute behaupteten auch, Ibn Ruschd habe ihr eine Lampe mit einem Dschinni mitgebracht, und der Dschinni sei der Vater der Kinder, die nach dem Weggang des Philosophen geboren wurden – wir sehen also, wie leicht Gerüchte die Dinge vollkommen verkehrt herum darstellen können! Weniger freundlich wurde auch kolportiert, dass die verlassene Frau jeden Mann, der ihr die Miete bezahlte, ins Haus nahm, und dass jeder Mann, den sie ins Haus nahm, ihr noch mehr Bälger hinterließ, sodass die Duniazat, die Bälger der Dunia, keine Ruschdi-Bankerte mehr waren, jedenfalls einige von ihnen nicht, oder viele oder die Mehrzahl nicht. In den Augen der meisten Leute war die Geschichte ihres Lebens eine zerfledderte Zeile geworden, deren Lettern zu nichtssagenden Formen zerfielen und keine Auskunft mehr darüber geben konnten, wie lange sie wie oder wo oder mit wem lebte und wann und wie – oder ob – sie starb.
Niemand bemerkte es oder interessierte sich dafür, dass sie sich eines Tages zur Seite drehte, durch einen Schlitz in der Welt glitt und nach Peristan zurückkehrte, in die andere Realität, die Welt der Träume, die die Dschinn in regelmäßigen Abständen verlassen, um die Menschheit zu plagen oder zu beglücken. Die Dorfbewohner von Lucena meinten, sie habe sich aufgelöst, vielleicht in feuerlosen Rauch. Nachdem Dunia unsere Welt verlassen hatte, nahm die Zahl der Reisenden aus der Welt der Dschinn in unsere Welt ab, und dann kam sogar lange überhaupt niemand mehr, und das phantasielose Unkraut der Konvention und die langweiligen Dornbüsche alles Irdischen überwucherten die Schlitze in der Welt, bis diese schließlich vollkommen zugewachsen waren und unsere Vorfahren sich, so gut sie konnten, ohne die Hilfe von Flüchen oder Magie behelfen mussten.
Aber Dunias Kinder wuchsen und gediehen. So viel kann man sagen. Und als die Juden fast dreihundert Jahre später aus Spanien vertrieben wurden, sogar die Juden, die nicht sagen durften, dass sie Juden waren, gingen Dunias Kindeskinder in Cádiz und Palos de Moguer auf Schiffe, zu Fuß über die Pyrenäen oder flogen auf fliegenden Teppichen oder gigantischen Amphoren wie die Dschinn davon, mit denen sie ja verwandt waren. Sie durchquerten Kontinente, segelten über die sieben Meere, erklommen hohe Berge, schwammen durch mächtige Ströme, glitten in tiefe Täler, suchten Zuflucht und Obdach, wo immer sie sich ihnen boten, und vergaßen einander rasch beziehungsweise erinnerten sich so lange wie möglich und vergaßen sich dann oder aber vergaßen sich nie und wurden eine Familie, die eigentlich keine Familie mehr war, ein Stamm, der eigentlich kein Stamm mehr war. Sie nahmen jeden Glauben an oder keinen, und viele von ihnen wussten nach Jahrhunderten der Konvertierung nichts mehr von ihren übernatürlichen Ursprüngen oder auch der erzwungenen Konvertierung der Juden, und so wurden manche krankhaft religiös, andere verächtliche Nichtgläubige. Sie waren eine Familie ohne Ort, aber mit Angehörigen allerorts, ein Dorf ohne Ort, das sich bald hier, bald dort auf diesem Globus befinden konnte, wie Pflanzen ohne Wurzeln, Moose, Flechten oder Kletterorchideen, die sich an andere anlehnen müssen, weil sie nicht allein stehen können.
Die Historie ist nicht freundlich zu denen, die sie fallen lässt, kann aber ebenso unfreundlich zu denen sein, die sie machen. Ibn Ruschd starb (normal am Alter, glauben wir zumindest), als er kaum ein Jahr nach seiner Rehabilitierung durch Marrakesch reiste, und erlebte weder, wie sein Ruhm wuchs, noch, wie er sich über die Grenzen seiner Welt in die Welt der Ungläubigen dahinter ausbreitete, wo seine Kommentare zu Aristoteles die Popularität seines mächtigen Vorgängers begründeten und zu Eckpfeilern der gottlosen Philosophie der Ungläubigen wurden, die saecularis genannt wurde, also eine Idee bedeutete, die nur einmal in einem saeculum entsteht, einer Zeitspanne der Welt, oder eine Idee für alle Zeiten, die das genaue Ebenbild und Echo jener Ideen war, von denen er nur in seinen Träumen gesprochen hatte. Als frommer Mann wäre er vielleicht von dem Platz, den die Geschichte ihm zuwies, weniger erbaut gewesen, denn für einen Gläubigen ist es schon ein seltsames Schicksal, wenn er zu Ideen inspiriert, die Glauben nicht nötig haben, und ein noch seltsameres Schicksal ist es für die Philosophie eines Mannes, über die Grenzen seiner Welt hinaus zu obsiegen, aber innerhalb dieser Grenzen in Vergessenheit zu geraten, denn in der Welt, die Ibn Ruschd kannte, mehrten sich die Kinder seines toten Widersachers Ghazali und erbten das Königreich, während seine eigene uneheliche Brut sich ausbreitete, seinen, ihr verbotenen Namen hinter sich ließ und die Erde bevölkerte. Ein beträchtlicher Teil der Überlebenden gelangte dank des Phänomens der Clusterbildung, das zu der rätselhaften Unlogik der zufälligen Verteilung gehört, auf den großen nordamerikanischen Kontinent, während viele andere auf dem großen indischen Subkontinent landeten, von denen sich später wiederum viele gen Westen und Süden über den amerikanischen Doppelkontinent und von der großen Raute am Fuße Asiens aus sich nördlich und westlich in aller Herren Länder verbreiteten, denn eins kann man sagen: Außer den eigentümlichen Ohren hatten die Duniazat Fernweh. Ibn Ruschd war tot, doch wir werden sehen, dass er und sein Kontrahent sich sogar noch jenseits des Grabes stritten, denn großen Denkern gehen die Argumente nie aus. Argumente selbst sind ja ein Werkzeug, mit dem man den Geist schärfen kann, das schärfste aller Werkzeuge, geboren aus der Liebe zur Weisheit, mit anderen Worten: zur Philosophie.
Mr. Geronimo