Paul M. Cobb
Eine islamische Geschichte der Kreuzzüge
Aus dem Englischen von Michael Sailer
Für Emily
Die englische Originalausgabe ist 2014 bei Oxford University Press unter dem Titel
The Race for Paradise. An Islamic History of the Crusades erschienen.
© 2014 Paul M. Cobb
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Der Philipp von Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG.
© der deutschen Ausgabe 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Lektorat: Tobias Gabel, Heppenheim, unter Mitarbeit von Johann Szews, Darmstadt; Hannes Möhring,
Bayreuth, hat die Übersetzung fachlich gegengelesen.
Gestaltung & Satz: Janß GmbH, Pfungstadt
Einbandabbildung: Kampfszene, Miniatur aus dem um 1200 entstandenen Epos Chosrau und Schirin
des persischen Dichters Nizāmi. Handschrift aus dem 15.Jh., Paris, Bibliothèque Nationale de France.
De Agostini Picture Library/M. Seemuller/Bridgeman Images
Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.
Alle Karten im Buch: Peter Palm, Berlin
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8053-4884-3
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8053-4903-1
eBook (epub): ISBN 978-3-8053-4904-8
Prolog: Brennpunkt Damaskus
1 Das Haus des Krieges und das Haus des Islams
2 Weit über das Meer
3 Opfer des Schwerts
4 Gegen die Feinde Gottes
5 Sie sollen unsere Macht spüren
6 Saladin
7 Aus jedem tiefen Tal
8 Wölfe und Löwen
9 Lasst sie unser Loblied singen
Epilog: Begrabene Reiter
Anhang
Dank
Eine Anmerkung zu den Namen
Die wichtigsten historischen Persönlichkeiten und Dynastien
Abkürzungen
Bibliografischer Überblick
Anmerkungen
Index
Wer Damaskus besucht, steht ihm plötzlich gegenüber, an einer Biegung moderner Straßenkreuzungen. Eine große zeitgenössische Bronzestatue ragt unmittelbar vor den Mauern der alten Stadt auf, unter den einschüchternden Türmen der Zitadelle seiner Nachfolger: Saladin oder Salah al-Din, wie man ihn in Arabien nennt, der wohl bekannteste der vielen muslimischen Herrscher, die während der historischen Ereignisse, die man allgemein „die Kreuzzüge“ nennt, Berühmtheit erlangten.
Seine Geschichte ist bemerkenswert, es ist die Geschichte eines kometenhaften Aufstiegs aus bescheidenen Anfängen. Saladin herrschte als Sultan der Dynastie der Ayyubiden über Ägypten und Syrien, aber ursprünglich war er nicht mehr als ein gewöhnlicher kurdischer Soldat im Heer eines kleinen syrischen Potentaten. Er wurde der mächtigste militärische Führer seiner Zeit; sein Sieg in der Schlacht bei Hittin 1187 machte ihn zur Legende. Danach konnte er Jerusalem und einen großen Teil von Palästina zurückerobern, die fast ein Jahrhundert lang von Kreuzfahrern besetzt gewesen waren. Im Nahen Osten wie im Westen bewundert man ihn heute noch als Symbol für Staatskunst und Ritterlichkeit.
Seine Bronzestatue in Damaskus belegt, dass Saladin auch für andere Dinge steht. Errichtet wurde sie 1992 anlässlich seines 800. Todestages; sie zeigt Saladin in Gesellschaft von drei berittenen Begleitern, sein Umhang weht im Wind. Hinter ihm knien zwei gefangene Kreuzfahrer mit unterwürfigem Gesichtsausdruck. Mit einer Hand hält er die Zügel seines galoppierenden Pferds, die andere packt den Krummsäbel, mit dem er entschlossen Richtung Westen weist (Abb. 1).1
Abb. 1 Saladinstatue, Damaskus (Olfa Guizani)
Es ist das Bild eines weltlichen und geistlichen Führers, eines triumphalen Monarchen, der auch ein frommer sunnitischer Muslim war; unter seinen Begleitern findet sich ein muslimischer Mystiker oder Sufi, der Saladins islamische Glaubwürdigkeit belegt. Und doch steht das Denkmal in der Hauptstadt von Syrien, einer säkularen arabischen sozialistischen Republik nach westlichem Vorbild, in der aktuell ein Bürgerkrieg tobt, der umso tragischer ist, da er nicht zuletzt von der sektiererischen Gewalt der Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten geprägt ist. Saladins heroische Pose, die an viktorianische Radierungen gemahnt, hat keine Wurzeln in der islamischen Kunst; schon das Medium – Bildhauerei – wäre von dem, den das Kunstwerk darstellt, höchstwahrscheinlich als götzendienerisch verdammt worden. Aber derlei Ironie sollte uns vielleicht nicht überraschen. Schließlich steht die Statue unmittelbar oberhalb des modernen nationalistischen Mahnmals am Platz der Märtyrer und um die Ecke der mittelalterlichen Stadttore des alten Damaskus. Es ist die Scharia al-Thaura, der „Revolutionsboulevard“ der syrischen Hauptstadt: eine Art Niemandsland der historischen Erinnerung.
Für jeden, der eine arabische Perspektive der Kreuzzüge sucht, ist Saladin seit Langem ein Brennpunkt, insbesondere in der Region, in der sich all diese Ereignisse abspielten. Syrien ist bei Weitem nicht das einzige Land, das ihn für sich beansprucht. Nach ihm benannte Straßen finden sich in vielen orientalischen Städten, etwa in Jerusalem und der ehemaligen Kreuzfahrerbastion Akkon; Schulen ebenfalls. Im Irak gibt es eine ganze Provinz, die Salah al-Din heißt. In der jordanischen Provinzstadt Kerak, deren Burg aus der Zeit der Kreuzzüge stammt, steht eine weitere Statue von Saladin, viel kleiner als die in Damaskus. Hier ist er als einsamer Reiter dargestellt, dessen Ross sich aufbäumt, während sein blanker Krummsäbel die Luft durchschneidet. In Kairo, das auch die Hauptstadt von Saladins Dynastie der Ayyubiden war, nennt man die prachtvolle, mit einer Unzahl osmanischer Minarette aus dem 19. Jahrhundert geschmückte Zitadelle der Stadt üblicherweise „Saladin-Zitadelle“.
Viele betrachten Saladin als Einiger oder Befreier, als eine Art orientalischen Simón Bolívar oder George Washington. In vielen Ländern des heutigen Nahen Ostens ist der Wunsch verbreitet, es gebe einen Führer wie Saladin. Dies machen sich Politiker in dem Bestreben, sich in Saladins Ruhm zu sonnen, eifrig zunutze. Saddam Hussein ließ kaum eine Gelegenheit aus, daran zu erinnern, dass er in Saladins Geburtsstadt Tikrit zur Welt kam. Er änderte sogar sein Geburtsdatum um zwei Jahre, damit es auf Saladins 800. Geburtstag fiel. In offiziellen Kunstwerken und der staatlichen Propaganda wurde Saddam oft als neuer Saladin dargestellt – oder etwa in einem irakischen Kinderbuch als „Saladin II. Saddam Hussein“.2
Die Verehrung, die Saladin im Nahen Osten genießt, ist kein neues Phänomen, das mit dem Aufstieg des „politischen Islam“ und antiwestlichen Haltungen im Zuge des „Kriegs gegen den Terror“ zusammenhängt. Muslimische Autoren halten die Erinnerung an ihn und seine Leistungen bereits seit dem 13. Jahrhundert am Leben, vor allem in Werken, die sich der Historie und den religiösen Stätten in Jerusalem und dem Heiligen Land widmen, ganz zu schweigen von der Flut an Kopien und Zitaten früherer Schriften über ihn.3
Zum allgemein bekannten Begriff wurde er dennoch erst durch den modernen Nationalismus.4 Die erste Biografie seit dem Mittelalter, die ausschließlich von Saladin handelt, veröffentlichte 1872 in der osmanischen Türkei der prominente türkische Nationalist und Intellektuelle Namik Kemal. Bezeichnenderweise wurde sie später bearbeitet und zusammen mit den Biografien zweier osmanischer Sultane neu veröffentlicht, die Kemal ebenfalls als heldenhafte Krieger gegen die Feinde des Imperiums darstellte. Andere Werke zu Saladin folgten bald, viele unter dem Einfluss von Sir Walter Scott, dessen populärer Roman Der Talisman (1825) zur Zeit der Kreuzzüge spielt und Saladin als sympathisch edlen Ritter beschreibt. Diese Darstellung des Sultans wurde von der als Nahda (Erwachen) bekannten Renaissance der arabischen Literatur im 19. Jahrhundert aufgegriffen, die dem aufkeimenden arabischen Nationalismus intellektuellen Schwung verlieh.
Die Vereinnahmung von Saladin als „Markenzeichen“ durch diverse intellektuelle Subkulturen des Nahen Ostens schlug sich auch im Westen nieder, wo man ihn als den „Sarazenen“ kennt, der ritterlicher war als die Ritter des Christentums. Das beste Beispiel hierfür ist Ridley Scotts Film Kingdom of Heaven (2005), der in der (größtenteils weltlichen) arabischen Presse fast ausschließlich Beifall fand. Scott zeigt einen toleranten Saladin, dargestellt von dem syrischen Schauspieler Ghassan Massoud, der dem Sultan eine rätselhaft coole Aura verleiht.
Infolge all dessen ist Saladin heute vielgestaltig und kann alles für jeden verkörpern. Der Saladin des 21. Jahrhunderts hat selbstverständlich ein Profil bei Facebook und rund 95.000 Facebookfreunde – weit mehr als die etwa 20.000 Anhänger, die ihm bei seinem triumphalen Sieg bei Hittin folgten. Saladin ist global. Millionen haben zumindest von ihm gehört, wohingegen selbst im Nahen Osten wenige etwa die Sultane Nur al-Din und Baibars kennen – Männer, die spektakuläre militärische und diplomatische Erfolge gegen die Kreuzfahrer feierten und deren Geschichte es verdient, erzählt zu werden.
Saladins globale Vereinnahmung trifft auf ein zunehmendes Interesse an den Kreuzzügen, die zum bevorzugten Thema für eine wachsende Zahl von fachlich mehr oder weniger versierten Experten geworden sind. Ihre Werke sind größtenteils frei von der Unordnung und den diversen Schattierungen der mittelalterlichen Quellen und erzählen fast immer von Helden und Schurken. Wer die Helden und wer die Schurken sind, ändert sich je nach der Mode. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein betrachtete man die Kreuzzüge im Westen als triumphale Episode, als heroischen Abschnitt des unaufhaltsamen Aufstiegs der westlichen Welt, die unter dem Banner von Ritterlichkeit, Treue, Tapferkeit und Scharfsinn gegen den faulen, korrupten und barbarischen Osten ankämpfte. Spuren dieser Erzählweise finden sich bis heute, vor allem wenn die Kreuzzüge in außenpolitischen Diskussionen auf den Tisch kommen. Die überwiegende heutige Sicht der Kreuzzüge könnte man mit einem Begriff aus der jüdischen Geschichte „tränenreich“ nennen. In dieser Version, deren Wurzeln in der Aufklärung liegen, waren die Kreuzzüge kein edles europäisches Abenteuer, sondern ein brutaler Angriff des fanatischen, intoleranten und heuchlerischen christlichen Westens, ein Vorläufer des europäischen Kolonialismus, gerichtet gegen den unglückseligen islamischen Osten, der in seiner erhabenen Trägheit höchster Zivilisation, Toleranz und Weisheit unversehens konfrontiert wurde mit dem, was ein Historiker als „letzte der barbarischen Invasionen“ bezeichnet hat.5 Für die meisten heutigen Menschen in Ost und West ist dies das treffende Bild der Kreuzzüge. Osama bin Laden – als Extrembeispiel – empfand die Welt, in der er lebte, als gespalten in Muslime und eine weltweite Kreuzzugsbewegung gegen sie. In ihrer Reduktion hat diese Sicht viel gemein mit der triumphalen Darstellung, an deren Stelle sie vermeintlich getreten ist.
Dieses Buch erzählt die Geschichte weder triumphal noch tränenreich. Es beruht so gut wie gänzlich auf den islamischen Originalquellen und zielt daher darauf ab, die Ereignisse aus Sicht der mittelalterlichen Muslime selbst zu zeigen. Obwohl die Fülle an Material fast unerschöpflich ist, diente es bislang kaum als Grundlage einer eigenen Geschichte, teilweise auch einfach deshalb, weil viele Forscher nicht in der Lage waren, es zu entschlüsseln.
Der Wert arabischer Quellen für die Geschichte der Kreuzzüge ist seit der Aufklärung unumstritten und nur wenige neuere Werke zu diesem Thema verzichten gänzlich auf sie, zumindest in Übersetzungen; aber Historiker der Kreuzzüge sind meist in der Tradition des mittelalterlichen Westens geschult, können kein Arabisch und finden sich daher nur schwer in den komplizierten historiografischen Überlieferungen der mittelalterlichen islamischen Welt zurecht. Historiker des Nahen Ostens wiederum, die selbstverständlich arabische Quellen nutzen (und publizieren), sind viel dünner gesät und werden im Westen kaum gelesen. Der Ägypter Saʿid Abd al-Fattah ʿAshur (oder Said Ashour), in der arabischen Welt eine anerkannte Koryphäe der Kreuzzugsforschung, hat in seiner langen Karriere (von 1946 bis zu seinem Tod 2009) mehr als zwanzig Bücher verfasst, von denen jedoch nicht ein einziges übersetzt wurde. Das Gleiche gilt für seinen syrischen Kollegen Suhayl Zakkar (der sogar im Westen studierte).6
Letztlich ist alles eine Frage der Perspektive. Die meisten Darstellungen der Kreuzzüge, ob triumphal oder tränenreich, sind aus einer Sichtweise geschrieben, die man „traditionell“ nennen könnte und die zwar viele unterschiedliche Ansätze vereint, die Kreuzzüge jedoch ausschließlich als Teil der mittelalterlichen beziehungsweise europäischen Geschichte untersucht und daher zwangsläufig hauptsächlich auf Quellen des europäischen Mittelalters beruht (manchmal garniert mit einigen blutrünstigen Anekdoten aus den wenigen übersetzten islamischen und ostchristlichen Quellen).7
Der traditionellen Darstellung zufolge nahmen die Kreuzzüge 1095 im französischen Clermont ihren Anfang, wo Papst Urban II. eine Predigtreise begann und seine versammelten Zuhörer zu einer bewaffneten Pilgerfahrt aufrief, um ihren christlichen Glaubensbrüdern im Osten Beistand zu leisten und die heilige Stadt Jerusalem aus muslimischer Besetzung zu befreien. Nach einigen Irrungen und Wirrungen gelang es den Heeren des Ersten Kreuzzugs, in den Gebieten, die sie ihren muslimischen Feinden entrissen hatten, vier Kreuzfahrerreiche zu errichten: die Grafschaft Edessa (1097), das Fürstentum Antiochia (1098), das Königreich Jerusalem (1099) und die Grafschaft Tripolis (1109). Nach einer Schilderung der höchst wechselhaften Geschicke dieser Staatengebilde, deren rascher Abstieg mit Saladins Siegen begann, endet die traditionelle Darstellung im Allgemeinen mit der Vertreibung der letzten Kreuzritter aus dem Nahen Osten im Zuge der Rückeroberung von Akkon durch die Mamluken 1291.
Eine ganze Reihe von Historikern sieht Merkmale des Kreuzzugsphänomens auch in anderen kriegerischen Auseinandersetzungen, etwa in dem sogenannten Albigenserkreuzzug in Südfrankreich (1208–29) und den Kreuzzügen im Baltikum, die im 13. Jahrhundert begannen. Ebenso gilt die Aufmerksamkeit den „späten Kreuzzügen“, die sich bis in die Moderne hi–nein (1500 und darüber hinaus) gegen Muslime richteten oder auch nicht. Aber auch diese Werke sind in der Auseinandersetzung mit kreuzzugähnlichen Phänomenen in anderen Epochen und vor anderem Hintergrund geprägt von der traditionellen Perspektive und betrachten jene als Anhängsel, wenn schon nicht feste Bestandteile der herkömmlichen Geschichte von „Clermont bis Akkon“. Kurz gesagt: Die traditionelle Historie der Kreuzzüge besteht seit jeher aus Abwandlungen eines Narrativs, das fast ausschließlich auf europäischen Quellen beruht.
Selbst in vielen modernen und anspruchsvolleren Studien zur islamischen Geschichte, die die Kreuzzüge mit einbeziehen, hat sich die traditionelle Perspektive niedergeschlagen und dazu geführt, dass die Kreuzzüge als Unterbrechung einer größeren Geschichte dargestellt werden, die mit dem Aufstieg des Islams im 7. Jahrhundert begann und in deren Verlauf sich die Europäer Ende des 11. Jahrhunderts plötzlich wie unerwünschte Hausgäste auf das arglose Morgenland stürzten, um Ende des 13. Jahrhunderts spurlos wieder zu verschwinden.
Die Kreuzzüge können und sollten hingegen im Kontext der islamischen Welt verstanden und als aktiver Teil einer dynamischen Beziehung zwischen mittelalterlichen islamischen Staaten und Gesellschaften von Spanien bis nach Iran betrachtet werden. Sie dürfen nicht nur als exotische Episode in einer ansonsten „stubenhockerischen“ Geschichte des Mittelalters gesehen werden, sondern als wesentlicher Abschnitt der Geschichte der islamischen Zivilisation selbst. Dies erfordert eine geografische und chronologische Eingrenzung, die sich von der traditionellen Darstellungsweise unterscheidet. Um ein naheliegendes Beispiel zu nennen: Die mittelalterlichen islamischen Quellen (übrigens ebenso wie die christlichen) nennen diese Ereignisse nie „Kreuzzüge“; im klassischen Arabisch gibt es kein solches Wort, und der heute gängige Begriff (al-hurub al-salibiyya, „die Kreuzfahrerkriege“) ist ein moderner Neologismus. Ebenso wenig sehen die arabischen Quellen die Rede von Papst Urban 1095 als den Beginn und die Vertreibung der letzten Kreuzfahrer aus der Stadt Akkon 1291 als Ende der Geschichte. Aus ihrer Sicht ist die Invasion des Morgenlands im Zuge des Ersten Kreuzzugs lediglich ein Höhepunkt der europäischen Aggression, die Jahrzehnte früher begann: im 11. Jahrhundert in Spanien und Sizilien. Diese Welle rollte demnach später in die Türkei, den Irak, Syrien/Palästina, Ägypten, über die Inseln des Mittelmeers bis nach Arabien und richtete sich dann auf den Mittelmeerraum und Osteuropa. Ihren glücklichen Abschluss fand sie erst mit den osmanischen Eroberungen auf dem Balkan Ende des Mittelalters und später. Die unterschiedliche Art und Weise, wie mittelalterliche Muslime mit diesem Ausbruch von Aggression umgingen, sind, zusammengefasst, das Thema dieses Buchs.
Nun maßt sich dieses Buch nicht an, eine „umfassende Geschichte“ der Kreuzzüge zu sein, weil dafür die Kenntnisse einer ganzen Arbeitsgruppe von Forschern und Gelehrten nötig wären.8 Es ist vielmehr ein Versuch, die Geschichte der Kreuzzüge so zu erzählen, wie sie die Muslime des Mittelalters erlebten.9 Es ist keine muslimische Geschichte der Kreuzzüge und erst recht nicht die Geschichte der Kreuzzüge aus Sicht eines Muslims. Ich bin kein Muslim, und es wäre arrogant, sich anzumaßen, die Art und Weise zu repräsentieren, wie heutige Muslime ihre Geschichte einschätzen. Der Untertitel „Eine islamische Geschichte der Kreuzzüge“ bezieht sich auf das, was man „islamische Geschichte“ nennt und was ganz einfach die Studien von Menschen bezeichnet, die in der islamischen Welt lebten, das heißt: in Gegenden, deren herrschende Elite und (für gewöhnlich) Mehrheit der Bevölkerung aus Muslimen bestanden.
Es mag auf den ersten Blick verwirren, eine Geschichte der Kreuzzüge zu Zeiten zu beginnen, als es noch keine Kreuzzüge gab, und an Orten, die weit von Clermont und Jerusalem entfernt sind – aber eine solche Verwirrung führt gelegentlich zu neuen Sichtweisen. Wie Saladins Statue in Damaskus kann sie uns überraschen und den Weg zu anderen Geschichten weisen, die am Ursprung unserer Geschichte stehen.
Möglicherweise hatte sich Harun ibn Yahya verirrt oder war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort; jedenfalls hätte er womöglich nicht die geringste Spur in den historischen Aufzeichnungen hinterlassen, wäre er nicht irgendwann gegen Ende des 9. Jahrhunderts von der griechischen Marine vor der Küste von Palästina gefangen genommen worden. Offenbar war er Muslim; Indizien zufolge könnte er aber auch ein östlicher Christ gewesen sein. Seine Begeisterung für Zahlen lässt auf kaufmännisches Denken schließen; möglicherweise war er Forscher oder Spion, vielleicht auch lediglich ein Bürokrat. Was wir wissen, ist, dass er seine Gefangennahme durch byzantinische Griechen überlebte und seine Geschichte erzählte. Und er verfasste die erste arabischsprachige Beschreibung von Teilen Europas aus erster Hand.1
Anders als die meisten solchen Gefangenen kehrte Harun nach seiner Freilassung nicht sofort in seine Heimat zurück, die manche Muslime Dar al-Islam nannten, „Haus des Islams“, sondern beschloss (vielleicht auch gezwungenermaßen), seine Zeit in den Gefilden der Ungläubigen zuzubringen, der Dar al-Harb oder dem „Haus des Krieges“. Haruns byzantinische Kidnapper hatten ihn mit anderen Gefangenen nach Konstantinopel (in das heutige Istanbul) gebracht, die Hauptstadt des Byzantinischen Reichs, des griechisch-christlichen Nachbarn und traditionellen Feindes der Dar al-Islam. Nachdem er freigekommen war, erkundete er ausführlich, wenn auch bisweilen blauäugig, die Stadt des Gegners, ihre Größe, ihren Wohlstand, die erstaunlichen Monumente, den Prunk des Kaiserpalasts sowie Zeremonien und religiöse Bräuche. Dann ging er auf eine Art umgekehrte Kavalierstour und reiste von Konstantinopel aus westwärts über den Balkan, durch Makedonien, vorbei an „einem Dorf, Venedig genannt“ und schließlich nach Rom, das er ähnlich wie zuvor Konstantinopel in einer Mixtur aus Fakten und Legenden beschrieb. So spricht er etwa vom Petersdom als gewaltiger Kirche, die die Gräber der Apostel Petrus und Paulus beherberge. Dann fügt Harun hinzu, zur Kirche gehöre ein hoher Turm mit einer Bleikuppel, die einen bronzenen Vogel trage. Zur Zeit der Olivenernte blase der Wind durch die Statue und erzeuge dabei einen Ruf, der alle Vögel der Umgebung in Scharen in die Stadt locke; jeder einzelne trage eine Olive, wodurch die Kirche bis zum nächsten Jahr mit Öl versorgt sei. Obwohl Harun offenbar nicht weiter als bis nach Rom kam, weiß er von einem Land jenseits der Alpen im Westen zu berichten, in dem das christliche Volk der Franken lebe; noch ferner liege das Land Britannien, das er „das fernste der römischen Territorien“ nennt; „jenseits davon gibt es keine Zivilisation“.
Die Aufmerksamkeit nachfolgender Generationen von arabischen Geografen galt jedoch Haruns Beschreibung der beiden Hauptstädte des Christentums – Konstantinopel und Rom. Seine Aufzeichnungen sind verschollen; wir kennen sie nur aus Zitaten späterer Geografen als Fragmente eines verlorenen Buchs. Mit Byzanz kamen die Muslime schließlich als Rivalen und Nachbarn einigermaßen zurecht. Rom und die Länder des Westens hingegen blieben weitgehend ein Mysterium. Um 1070, nur eine Generation vor dem Ersten Kreuzzug, zitierte ein Geograf aus der Region des heutigen Spanien und Portugal, die damaligen Muslimen unter dem Namen al-Andalus bekannt war und so in seinem Buch auch durchgehend genannt wird, ausgiebig Haruns Beschreibung. Dass dieser andalusische Geograf namens al-Bakri zwei Jahrhunderte nach Haruns Besuch dort immer noch auf dessen alte Darstellung als Quelle zu Rom und seinen Einwohnern vertrauen konnte, legt die Vermutung nahe, dass das Wissen um die Länder und Menschen, die Ursprung und Urheber der Kreuzzüge waren, mittlerweile erstarrt und verkrustet war, und das ist nicht ganz falsch. Die muslimischen Kenntnisse von Europa und seinen Völkern wie auch anderen Teilen der Welt waren eine Mischung aus Fakten und Fantasie. Zum Ende des 11. Jahrhunderts wurden sie jedoch präziser.2
Nunmehr konnte al-Bakri Haruns antiken Bericht um neuere und verlässlichere Informationen ergänzen; wie er sich diese verschaffte, wissen wir jedoch nicht. „Die Stadt Rom“, erzählt al-Bakri, nachdem er ausgiebig Harun zitiert hat (vielleicht als eine Art Aktualisierung), „liegt auf einer Ebene, in einiger Entfernung von Bergen umgeben … Sie misst vierzig Meilen im Umfang und zwölf Meilen im Durchmesser; ein Fluss namens Tiber [Tibrus] fließt durch sie hindurch.“ Nach Aufzählung weiterer trockener topografischer Einzelheiten widmet er sich der Stadt selbst und ihren Bauwerken:
Die Geschicke der Menschen in Rom bestimmt der Papst [al-baba]. Es obliegt jedem christlichen König, wann immer er dem Papst begegnet, sich vor ihm zu Boden zu werfen. Dann küsst er die Füße des Papstes und erhebt nicht den Kopf, bis ihm der Papst aufzustehen befiehlt.
Das antike Rom wurde Roma Vecchia [Ruma Bakiya] genannt, das heißt „alt“. Der Fluss engte die Stadt ein, und so erbaute der Bischof Johannes auf der anderen Seite des Flusstals eine weitere Stadt, weshalb der Fluss nun durch die Stadt fließt … Im Inneren der Stadt Rom steht die Kirche des Heiligen Petrus [kanisat Shanta Patar], in der sich ein Bild von Karl dem Großen [Qarulah] befindet, auf dem der Bart und sämtliche Insignien vergoldet sind. Er steht inmitten einer streng blickenden Menge, auf einem Balken erhoben, wie ein Kruzifix … Alle Wände dieser Kirche bestehen aus gelbem römischem Kupfer, die Säulen und Stützpfeiler stammen aus Jerusalem. Sie ist über die Maßen gelungen und schön … Im Inneren der Kirche gibt es eine Kapelle, die den Aposteln Petrus und Paulus gewidmet ist.
Trotz Irrtümern in einigen Details ist diese Beschreibung von Rom und dem Petersdom einigermaßen zutreffend und nachvollziehbar; offenbar bezieht sich al-Bakri auf Augenzeugen, möglicherweise einen Mönch oder Pilger, der seine spanische Heimat besuchte. Ein verzerrtes, aber dennoch wiedererkennbares Porträt ist auch al-Bakris Anthropologie des lateinischen Christentums, wie es in Rom praktiziert wurde. Da sein Bezugspunkt der Islam mit seinen religiösen Gesetzen und Ritualen ist, kann man Objektivität vielleicht nicht erwarten. Er fährt fort:
Der Sonntag ist den Christen deshalb ein besonderer Tag, weil sie glauben, der Messias sei am Sonntagabend auferstanden und am Sonntagabend nach seiner Begegnung mit den Aposteln zum Himmel aufgefahren. Sie reinigen ihre Verstorbenen nicht und führen auch keine rituellen Waschungen vor dem Gebet durch … Das heilige Abendmahl empfangen sie erst, nachdem sie gesprochen haben: „Dies ist dein (das heißt: des Messias’) Fleisch und Blut, nicht Wein und nicht Brot …“ Nicht einer von ihnen heiratet mehr als eine Frau, noch nimmt er jemals eine zur Konkubine. Wenn sie Ehebruch begeht, kann er sie verkaufen – eine normale Scheidung kennen sie nicht. Frauen erben zwei Anteile, Männer einen …
Im Fasten sind sie nicht sehr konsequent; es muss nicht streng praktiziert werden. Ihnen zufolge geht es darauf zurück, dass der Messias fastete, wie sie behaupten, um sich gegen Satan zu wappnen. Er fastete jedoch vierzig volle Tage, auch die Nächte, so sagen sie zumindest, aber sie selbst fasten nie auch nur einen vollen Tag oder eine volle Nacht … Selbst wenn einer sein ganzes Leben lang nicht betet und keinem Gottesdienst beiwohnt, würde niemand abfällig von ihm sprechen oder ihm einen Vorwurf machen.
Das Buch der Christen – das das komplette Verzeichnis ihrer Rechtsprechung bildet … umfasst nicht mehr als 557 Punkte. Unter diesen sind, trotz ihrer geringen Zahl, einige falsche, die keinen Sinn ergeben und völlig unerklärlich sind, da sie weder in ferner noch in jüngerer Vergangenheit je wirklich vorgekommen sind. Ihre Richtlinien für untadeliges Verhalten gehen nicht auf eine Offenbarung oder die Verkündigungen eines Propheten zurück; vielmehr stammen sie alle von ihren Königen.
An diesem Bericht sind zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen ist al-Bakris Bild des lateinischen Christentums, seiner Rituale und Gesetze, bei all seinen Irrtümern ziemlich detailliert. Das ist bei einem Muslim, der sein ganzes Leben in Spanien mit seinen vielen Christen unter muslimischer Herrschaft und nahe den Grenzen der christlichen Welt verbrachte, freilich nicht anders zu erwarten. Zum anderen verrät der Bericht einiges über das Verhältnis zwischen Christentum und Islam. In al-Bakris Augen ist das Christentum dem Islam in jeder Hinsicht unterlegen: Muslime versammeln sich am Freitag, Christen am Sonntag; Muslime sind penibel, was die strenge Einhaltung der Rituale angeht, Christen gleichgültig; für Muslime sind Heirat und Scheidung eine simple Sache – ein ehrlicher Vertrag, von Männern dominiert, nicht das unter Christen übliche monogame emotionale Gerangel; im islamischen Recht können Frauen (im Allgemeinen) halb so viel erben wie Männer, während im Christentum (al-Bakri zufolge) das genaue Gegenteil gilt. Das christliche Fasten ist ein Witz im Vergleich zu der Strenge des Ramadan und dem freiwilligen Fasten frommer Muslime, und ihr „Gesetz“ ist im Gegensatz zum Islam kein umfassendes Regelwerk für ein Leben nach dem Willen Gottes, sondern lediglich eine Sammlung königlicher Erlasse. Man glaubt fast, al-Bakris Mitleid zu spüren.
Haruns und al-Bakris Darstellungen von Rom und dem lateinischen Christentum sind ein guter Ausgangspunkt für eine islamische Geschichte der Kreuzzüge, weil sie genau die Mischung aus zutreffender Information, Missverständnissen und purer Fantasie enthalten, die für mittelalterliche (nicht nur muslimische) Berichte über andere Kulturen typisch ist. Darüber hinaus lieferte diese Mischung einen Großteil des Rohmaterials, auf das spätere Generationen von Muslimen bauten, als sie Motive und Charakter der lateinischen Christen zu begreifen versuchten, die in die islamische Welt eindrangen und sich dort ansiedelten. Gebildete Muslime des Mittelalters waren mit Europa und seinen Völkern einigermaßen vertraut, und auch wenn ihre Informationen nicht immer ganz zutrafen, sahen sie die Christen doch nicht als „wilde“ Höhlenmenschen, wie manche populäre Darstellung der Kreuzzüge behauptet. Dennoch spielten die Völker Europas in der Weltsicht der Muslime eher eine randständige Rolle. Um dies zu verstehen, mag es hilfreich sein, einige Karten anzuschauen.
Soweit wir wissen, fügte al-Bakri seiner Geografie, obgleich diese eine faszinierende Skizze von Jerusalem enthält, keine Weltkarten bei. Viele andere Geografen taten dies jedoch, und sie alle folgten dem gleichen allgemeinen Bild, weil sie auf die antike hellenistische Kartografie zurückgriffen, insbesondere auf das Werk des alexandrinischen Gelehrten Ptolemaios. Die vielleicht berühmteste mittelalterliche islamische Karte der Welt (Abb. 2) findet sich in Manuskripten des marokkanischen Geografen al-Idrisi aus dem 12. Jahrhundert und wird daher meist ihm zugeschrieben.3 Idrisi vollendete sein Werk geraume Zeit nach dem Beginn der Kreuzzüge (1154 im Auftrag des christlichen Königs von Sizilien, Roger II.). Dennoch und obwohl es eine bemerkenswert detaillierte Darstellung von Westeuropa und England (und sogar Irland) bietet, ist seine Weltsicht als solche ziemlich konventionell und kann der Einfachheit halber als Beispiel dafür dienen, wie Muslime vor den Kreuzzügen die Gestalt der Welt und den Platz ihrer Nachbarn darin sahen.
Abb. 2 Die nach Süden ausgerichtete Weltkarte von al-Idrisi, um 1154 (Wikimedia Commons)
Moderne Betrachter sind von Idrisis Karte auf den ersten Blick meist verwirrt. Zwar ist klar, dass die hellen Bereiche für Land stehen, die dunkleren für Wasser und die geschlängelten, verzweigten Linien für Flüsse; die kleinen hellen Flecken sind demnach Inseln. Die dunklen höckrigen Kleckse müssen Berge sein, die langen Ketten von Buckeln und Wülsten Gebirgszüge (was auch sonst?). Eine absolut zugängliche Weise, die Welt abzubilden. Aber welche Welt?
Erst wenn man die Karte auf den Kopf stellt, wird sie verständlich. Die Lage der Windrichtungen auf dem Kompass ist selbstverständlich nur eine Frage der Gewohnheit. Es gibt keinen wissenschaftlichen oder sonstigen Grund, weshalb Norden auf der Karte oben sein müsste. Für die meisten muslimischen Kartografen des Mittelalters lag Norden gewohnheitsmäßig unten. Ihre Welt stand für moderne Augen buchstäblich auf dem Kopf, und Idrisi hätte dasselbe von der unseren gesagt. Als Anhaltspunkt zeigt Karte 1 die von Idrisi dargestellten Bereiche mit modernen Bezeichnungen, aber ausgerichtet in mittelalterlich-islamischer Weise. Der Mittelpunkt von Idrisis Weltkarte ist nicht – wie in vielen christlichen Karten des Mittelalters – Jerusalem, sondern die Arabische Halbinsel und die heilige Stadt der Muslime, Mekka, die die zentrale Stelle des mittleren „Klimas“ einnimmt (ein „Klima“ im antik-geografischen Sinne ist einer der von Parallelen auf der Karte markierten Breitengürtel der Erde), als Beleg für die Perfektion, mit der Gott die Wiege des Islams gesegnet hat.
Dominiert wird diese Welt nicht vom Mittelmeer und Europa, sondern vom Indischen Ozean und Afrika, das im Süden über einen Großteil der oberen Seitenhälfte ragt und dessen Horn weit in den östlichen (linken) Horizont hineinreicht, während der Rest des Kontinents sich grenzenlos ausdehnt und das südliche Viertel bedeckt, eine undifferenzierte Leere von Terra incognita. Von dem ganzen Kontinent ist nur die Mittelmeerküste von Nordafrika erkennbar, von Ägypten bis Marokko am westlichen Ende der Welt. Der Nil fließt von Süden nach Norden, umrahmt von zwei Gebirgsketten, und führt zum herausragenden Merkmal des Kontinents, den Quellen des Nils, die in vielen einzelnen Strömen von den mythischen Bergen des Mondes in drei große kreisrunde Seen münden.
Verglichen mit Afrika wirkt die eurasische Landmasse, vom Kaspischen Meer durchschnitten, geradezu überladen; die Topografie von Iran, Mittelasien, Irak, dem Vorderen Orient und Arabien ist höchst detailliert wiedergegeben. Anatolien, in etwa die heutige Türkei, ragt als ziemlich teigige Halbinsel nach Nordwesten fast an Europa heran. Und Europa selbst, so klein und erbärmlich es ist, weist so viele Einzelheiten auf wie Asien. Während der Indische Ozean mit seiner Vielzahl von Inseln Idrisis kartografische Fähigkeiten offensichtlich überforderte, ist das Mittelmeer ebenso genau dargestellt wie der Rest der Karte; mit klarem Schwergewicht auf Kreta, den Inseln und Idrisis zeitweiliger Heimat Sizilien. Von Osten nach Westen erkennt man deutlich die Balkanhalbinsel, den italienischen Stiefel und al-Andalus mit seinen vielen Flüssen.
Karte 1 Nachzeichnung von Idrisis Karte mit modernen Ortsnamen (© 2013 Elisabeth Alba)
Diese – detaillierteren – Bereiche von Idrisis Karten umfassen die Welt der mittelalterlichen Muslime, die manche modernen Historiker unter Verwendung eines griechischen Begriffs die islamische oikumene nennen, die „bewohnte Welt“: Mittelasien, den Nahen Osten, Nordafrika und Europa. Es war insgesamt eine wesentlich größere Welt als jene, die das mittelalterliche Europa kannte. Selbstverständlich war die Oikumene mittelalterlicher Muslime beherrscht vom Haus des Islams, aber auch nichtmuslimische Gegenden fanden darin ihren Platz. Die Oikumene war das große Spielfeld der Zivilisation, der urbanen Kultur und der wahren Religion, wo die Lehren alter, versunkener Reiche der Vergangenheit ihren mittelalterlichen Erben als Beispiel dienten und wo zeitgenössische Herrscher gegen ihre Rivalen fochten. Für mittelalterliche Muslime der Zeit vor den Kreuzzügen waren die Völker, die weit unten im Norden im christlichen Europa lebten, ferne und fragwürdige Teilnehmer am Spiel der Zivilisation, die nicht wirklich interessierten.
Wie Idrisis Karte zeigt, waren muslimische Autoren des Mittelalters relativ gut über Europa informiert (etwa im Vergleich mit China und Afrika jenseits der Sahara); eine detailliertere Kenntnis von den Völkern, die dort lebten, hielt man jedoch nicht für wichtig.4
Die Umstände, unter denen sich Muslime und christliche Europäer begegneten, waren einem Interesse, mehr übereinander zu erfahren, nicht eben förderlich. Die frühesten muslimischen Interaktionen mit Europäern waren militärischer Natur, da muslimische Streitkräfte den größten Teil von Spanien und Portugal eroberten und im frühen 8. Jahrhundert bis weit nach Südfrankreich vordrangen. Schließlich gelang es ihnen mit der Unterstützung von Piraten und Räubern, in den französischen Pyrenäen Fuß zu fassen, etwa durch die kurzzeitige Eroberung von Narbonne (719–59) und, im frühen 10. Jahrhundert, durch den Stützpunkt in Fraxinetum am Golf von Saint-Tropez, von wo aus Muslime Plünderungszüge in die Alpen unternahmen. Das waren jedoch kleine militärische Stellungen, bewohnt von Gruppen, die hauptsächlich auf Raubzüge und Eroberungen aus waren, nicht auf Ethnografie oder Beziehungen zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen.
Wenn andererseits überhaupt jemand eine genauere Ahnung von den Franken hatte, waren das die Kaufleute. Mitte des 9. Jahrhunderts lieferte der in Persien geborene Geograf Ibn Khurradadhbih eine der frühesten muslimischen Darstellungen von Europa, das er Urufa nannte. Seine kaufmännischen Interessen in der Region treten klar zutage: Er stellt fest, aus diesem Erdteil kämen diverse rare Güter, etwa slawische, griechische, fränkische und lombardische Sklaven, Parfüm, Mastix, Korallen und andere exotische und gesuchte Waren, teils importiert von jüdischen Kaufleuten, die, wie er berichtet, „zu Land und zur See von Westen nach Osten und von Osten nach Westen reisen“. Mit der Zeit identifizierten Muslime unterschiedliche ethnische Gruppen, die den europäischen Kontinent bevölkerten, so etwa, unter anderen, Galizier und Basken in al-Andalus sowie Slawen, Magyaren und Bulgaren im Osten. Im Norden gab es Russen (Rus) und die Wikinger, die als erschreckend heidnische „Feueranbeter“ beschrieben und als Madschus (zoroastrische und andere nichtchristliche Magier) bezeichnet werden. Im Westen traf man auf Lombarden und vor allem Franken, die „fernsten der Feinde von al-Andalus“, wie sie ein früher muslimischer Historiker nannte. Der Name Franken (arabisch Ifrandsch oder Firandsch) wurde bald zum Überbegriff für alle christlichen Völker des kontinentalen Europas und der britischen Inseln, ebenso wie christliche Kommentatoren Muslime unterschiedlichster Herkunft schlicht als Sarazenen bezeichneten. Zur Zeit der Kreuzzüge betrachteten sich diese Franken als unterschiedliche Völker, als Deutsche, Normannen, Provençalen und so weiter, und dem schlossen sich schließlich auch muslimische Beobachter an, indem sie von Engländern (Inkitar), Deutschen (Alman), Venezianern (Banadiqa) und anderen sprachen.
Firandscha, das Land der Franken, war nur ein kleiner Teil des Hauses des Krieges, aber mit einigen herausragenden Kennzeichen. Eines davon war, wie wir an den islamischen Karten gesehen haben, seine Ferne. (Man sollte der Tatsache, dass muslimische Geografen Europa am Rand ihrer „Welt“ situierten, nicht zu viel Bedeutung beimessen: Auch auf den „Mappae mundi“ der europäischen Kollegen war nicht Europa, sondern Jerusalem der buchstäbliche Nabel der Welt, das heilsgeschichtliche Zentrum). In der Terminologie eher wissenschaftlicher muslimischer Geografen umfasste das Land der Franken Teile des fünften und sechsten der sieben Klimata – weitab vom bevorzugten, gemäßigten vierten Klima, dem Haus des Islams. Muslimische Gelehrte glaubten, die Ansiedlung in einem bestimmten Klima sei Schicksal und beeinflusse den Charakter der Menschen. Als Bewohner nördlicher Klimazonen entstammten die Franken ihrer Ansicht nach einer Region nahezu durchgehender Dunkelheit und Kälte. Masʿudi, ein Schriftgelehrter des 10. Jahrhunderts aus Bagdad, beschrieb die Bewohner dieser nördlichen Klimazonen als Menschen, „für die die Sonne weit vom Zenit entfernt ist und die in den Norden vordringen, wie die Slawen, die Franken und die Nationen, die ihnen benachbart sind“. Es war ein trostloser Teil der Welt: „Die Kraft der Sonne ist schwach bei ihnen, weil sie so fern ist; Kälte und Nässe herrschen in ihren Gegenden vor, und Schnee und Eis folgen endlos aufeinander.“ Gott habe die angenehmste Klimazone für die zivilisierten Völker des Hauses des Islams auserwählt. Das Klima bei den Franken, fährt Masʿudi fort, sorge dafür, dass sie zu Unvernunft und Dummheit neigten und im Allgemeinen begriffsstutzig, phlegmatisch und beleibt seien. Aufgrund ihrer eisigen Heimat seien sie blass und blond. Andere muslimische Autoren griffen diese Schlussfolgerungen auf; nicht wenige zählten die Einwohner dieser Regionen eher zu den Tieren als zu den menschlichen Wesen.
Unter derartigen klimatischen Bedingungen fehlte es der fränkischen Religion zwangsläufig an Stabilität. Masʿudi stellt fest, religiöser Fanatismus sei für alle Bewohner des westlichen Weltquadranten, darunter auch die Franken, ebenso charakteristisch wie ein Hang zur Häresie (und, seltsamerweise, die Fähigkeit, Geheimnisse zu wahren). Diese Charakterzüge betrachtete man als weiblich, da der Westen von weiblichen Planeten und dem Mond geprägt sei. Im Osten, dem Reich der Sonne, zeichneten sich die Völker durch maskuline Wesenszüge wie langes Leben, Gedächtnis, kluge Herrschaft, Wissenschaft und – interessanterweise – Eitelkeit aus.5 Kurz gesagt wurden die Franken in al-Bakris Bericht über das lateinische Christentum Opfer der klassischen Strategie, dass ein Volk sich selbst im Unterschied zu einem anderen definiert, dem alle Eigenschaften zugeschrieben werden, die das genaue Gegenteil der Eigenheiten sind, die Muslime für sich selbst reklamierten. Ihre geografische Lage schien nur zu unterstreichen, dass die Franken zur Barbarei neigten; lediglich ihre offenbarte Religion und, wie manche meinten, ihre Staatskunst bewahrten sie vor dem Stigma tatsächlicher Barbarei. Trotzdem waren sie ein kaltes und umnachtetes Volk, lebten weit entfernt und dienten allenfalls als Folie muslimischer Größe.
In diesem Sinne stellten die Franken für muslimische Beobachter eine doppelte Gefahr dar. Muslime waren seit Anbeginn der islamischen Geschichte mit Christen vertraut, aber die Christen der islamischen Welt hatten sich damit abgefunden, Untertanen eines islamischen Herrschers zu sein. Im Gegenzug gestand das islamische Recht ihnen den Status von dhimmis zu, einer „geschützten“ (wenn auch zweitrangigen) Minderheit, und so waren sie keine große Bedrohung. Ebenso hatten Muslime lange Erfahrung mit nichtmuslimischen Kriegern von den Rändern ihres Imperiums, etwa Berbern und Türken, aber diese Völker waren schließlich zur Erkenntnis gelangt und konvertiert und hatten sich der islamischen Zivilisation willig angepasst. Anders die starrköpfigen Bewohner des finsteren Firandscha: Als Christen und Außenseiter zugleich waren die Franken der wahren Religion und echten Zivilisation so nahegekommen und lehnten doch beide mit einer hartnäckigen Entschlossenheit ab, die muslimische Beobachter sowohl verblüffte als auch entmutigte.
In dieser Mischung aus Spekulation und Halbwahrheit, die frühe Muslime über die Franken besaßen, steckten jedoch auch einigermaßen akkurate Informationen. Einige frühe muslimische Beobachter stellten immerhin fest, sie seien kühne Krieger und Feinde sowohl der Slawen als auch der Muslime – ein Eindruck, der zweifellos durch Geschichten von den Schlachtfeldern in al-Andalus und Frankreich bestärkt wurde. Selbst Masʿudi verfügte dank einer fränkischen Quelle über eine ziemlich exakte Liste der Frankenkönige. Außerdem hielt er fest, die Hauptstadt ihrer unermesslichen Länder sei eine Stadt namens Paris (später sagt er, es sei Rom), und behauptete, alle Franken sprächen dieselbe Sprache und gehorchten einem König. Ein aus Persien stammender Zeitgenosse namens al-Istakhri kam der Sache näher: „Ihre Sprache ist unterschiedlich, obwohl sie eine Religion und ein Königreich haben, ebenso wie es im Königreich des Islam viele Sprachen und einen Herrscher gibt.“ Mitte des 10. Jahrhunderts reiste der Andalusier Ibrahim ibn Yaʿqub durch Europa und hinterließ detaillierte Berichte über die Länder, die er besuchte, vom slawischen Osten bis zum fränkischen Westen.6 In Westeuropa fielen ihm unter anderem die grünen Felder von Bordeaux auf, der schmackhafte Lachs aus Rouen, die Torfmoore um Utrecht, das ehrwürdige Kloster Fulda, heidnische Feiern in Schleswig, die Handelsbräuche in Augsburg und sogar ein wenig Lokalgeschichte, die er in Süditalien aufschnappte. Sogar für Irland nahm sich Ibrahim Zeit, aber sein Bericht über den irischen Walfang, so detailliert er ist, wird die Meinung seiner Mitbürger und Kollegen über diese Gegend kaum geändert haben.
Erschrocken zeigt sich Ibrahim über die allgemeine Schmutzigkeit der Franken, denen er begegnet war: „Ohne Rücksicht auf jeglichen Anstand nehmen sie höchstens ein oder zwei Mal im Jahr ein Bad, in kaltem Wasser. Nie waschen sie ihre Kleidung, die sie tragen, bis sie in Lumpen fällt.“ Er war überrascht, dass sie ihre Bärte abrasierten und dann einfach „in roher, zottiger Manier“ nachwachsen ließen. „Einer der Ihren wurde einst diesbezüglich befragt. Er sagte: ‚Haar ist schlicht überflüssig. Wenn ihr Leute es von eurer Scham entfernt, wieso sollten wir es dann in unseren Gesichtern stehen lassen?‘“ Insgesamt zeigt er sich von seinem Aufenthalt unter diesen bunt schillernden Ureinwohnern durchaus beeindruckt, insbesondere von ihrem „unermesslichen Königreich“. Trotz kaltem Wetter und harschem Klima sei die Region „reich an Korn, Obst und anderen Früchten, Wasserläufen, Pflanzen, Herden, Bäumen, Honig und Jagdwild jeder Art“. Es gebe Silberminen und schärfere Schwerter als in Indien. Die Franken gehorchten „einem starken und tapferen König, gestützt auf ein beträchtliches Heer“. Die Soldaten, warnte er, seien so kühn, dass sie „die Flucht niemals dem Tode vorziehen würden“.
Unter all den Stereotypen finden sich hier Anhaltspunkte, anhand deren Muslime ein Bild der Franken hätten entwerfen können, das sich von dem früher gezeichneten „klimatischen“ unterscheidet. Dass sie dies nicht taten, sondern die folgenden fünf Jahrhunderte weiterhin das Motiv der fränkischen Barbarei pflegten, ebenso wie die Lateiner an der Barbarei der „heidnischen Sarazenen“ festhielten, ist eine der am wenigsten greifbaren, aber darum nicht weniger verhängnisvollen, Konsequenzen jener Kriege im Zeichen des Kreuzes.
Aus Sicht der mittelalterlichen islamischen Welt nahm das Land der Franken einen ähnlichen Platz ein wie der heutige Nahe Osten im Bewusstsein vieler Menschen im Westen. Oberflächlich betrachtet, war Westeuropa für mittelalterliche Muslime eine verarmte Region, man könnte sagen: ein „Entwicklungsland“ am Rande der Welt, bewohnt von einem fanatischen, kriegerischen Volk, Anhängern eines rückständigen Glaubens. Seine Wirtschaft hatte außer billigen Märkten und Rohstoffen wenig zu bieten. Es verfügte über einiges an erstaunlicher Architektur und extravaganten Bräuchen, aber sonst nicht viel. Die islamische Welt hingegen erschien wie das Idealbild der Zivilisation: wohlhabend, geordnet, aufgeklärt, imperial und beschützt von einem gnädigen Gott.
Karte 2 Die mittelalterliche Welt um 1050 (© 2013 Elisabeth Alba)
Der Vergleich ist nicht ganz fair, schon weil die islamische Welt um 1050 viel größer war als das lateinische Christentum (Karte 2). Selbst wenn man dessen Grenzen großzügig zöge, etwa von Österreich bis Irland, ohne Skandinavien und die mit den Byzantinern und Muslimen umstrittenen Grenzländer, käme man auf nicht mehr als 1,7 Millionen Quadratkilometer. Das ist nur ein Bruchteil der konservativsten Definition der Dar al-Islam, die sich von al-Andalus bis nach Iran erstreckte, die Grenzländer in Mittel- und Südasien, dem Kaukasus und Afrika nicht eingerechnet: ein gewaltiger Streifen der Erde über drei Kontinente und etwa 12 Millionen Quadratkilometer. Selbst wenn man die dünn besiedelten, entlegenen Zonen der Sahara und der Arabischen Halbinsel berücksichtigt, ist klar, dass die islamische Welt und das lateinische Christentum in keiner Weise als ebenbürtig betrachtet werden konnten.
Das deutlichste Kennzeichen von Zivilisation waren Städte, und anders als in Westeuropa gab es in den Ländern des Islams eine Menge davon, fast überall, wo das Land eine dauerhafte Besiedlung möglich machte. Wie die erwähnten Reiseberichte zeigen, kannten Muslime einige große Städte wie Rom und kleinere wie Rouen, Mainz, Prag und Krakau. Hinzu kamen leicht sagenumwobene Orte wie Paris und einige verpestete Weiler wie Venedig.
Das aufkeimende städtische Leben im mittelalterlichen Europa war jedoch nichts, verglichen mit dem Nahen Osten des Mittelalters, einer der am stärksten urbanisierten Regionen auf dem Globus, wo es nicht nur Städte, sondern ganze Netzwerke von Städten gab. Der Nahe Osten war, dem Klischee der Archäologie gemäß, die „Wiege der Zivilisation“, wo die ersten komplexen urbanen Strukturen der Menschheitsgeschichte entstanden waren. Seit dem 4. Jahrtausend vor Christus hatte die städtische Kultur des antiken Orients hinreichend Gelegenheit gehabt, fortzuschreiten und sich auszubreiten, und das Ergebnis war, dass zur Zeit der Kreuzzüge im 2. Jahrtausend nach Christus der Orient nicht nur Erbe antiker Städte wie Jerusalem, Aleppo und Damaskus war, sondern auch Schauplatz urbaner Expansion und dynamischer Neugründungen wie etwa der relativ jungen Metropolen Bagdad (gegründet 762) und Kairo (969). Hinzu kommen islamische Städte außerhalb des Nahen Ostens, etwa Tunis in Nordafrika und Córdoba, das Zentrum von al-Andalus.