image

Image

Kaiser Commodus (180–192 n. Chr.). Dargestellt als Herkules mit Löwenfell und Keule. Marmor, 192 n. Chr., Kapitolinische Museen, Rom.

Michael Sommer

Narren im Purpur

Lebensbilder aus der Antike

 

Impressum

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in
und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

ISBN 978-3-534-25480-4

Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt/Mainz
Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main
Umschlagbild: Nero, 4. Akt, Szene 4, nach Steeple Davis, J. (1844–1917)/Privatsammlung
© Look and Learn/The Bridgeman Art Library

ISBN 978-3-8053-4539-2

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73188-6 (für Mitglieder der WBG)
eBook (epub): 978-3-534-73189-3 (für Mitglieder der WBG)
eBook (PDF): 978-3-8053-4570-5 (Buchhandel)
eBook (epub): 978-3-8053-4571-2 (Buchhandel)

Menü

Inhalt

Vorwort

Einleitung

    I. Wie Frösche um einen Teich: Fernhandel und Güteraustausch in der klassischen Mittelmeerwelt

   II. Jenseits von Hellas und Rom: Die phönizisch-punische Mittelmeerwelt

  III. Sohn des Stiers: Attalos I. und Pergamons Aufstieg zur hellenistischen Mittelmacht

  IV. Das Erbe der Attaliden: Wie aus Pergamon die Provinz Asia wurde

   V. Aufstand der Verzweifelten: Spartacus und der dritte Sklavenkrieg

  VI. Crassus: Feldherr gegen Sklaven

 VII. Hüter der Macht: Die Prätorianer im Rom der Kaiser

VIII. Der Narr im Purpur: Zur politischen Morphologie des Cäsarenwahns

  IX. Ein Denkmal für den Sieger: Der Titusbogen auf dem Forum Romanum

   X. Dominus et Deus: Domitian und die Nemesis der Macht

  XI. Wahnwitziger als Nero, grausamer als Domitian: Der merkwürdige Kaiser Elagabal

 XII. Rom im Orient: Ein Reich an seinen Grenzen

XIII. Schwerter und Pflugscharen: Logistik und militärische Infrastruktur unter dem römischen Adler

XIV. Ritt auf dem Löwen: Palmyra und die Rettung des römischen Orients

 XV. Ein Imperium steht zur Disposition: Roms „langes“ 3. Jahrhundert

Bibliographie

Abbildungsnachweis

Personenregister

Ortsregister

Vorwort

Sich mit Geschichte zu beschäftigen diene, so hört und liest man oft, der kollektiven Selbstvergewisserung. „Zukunft braucht Herkunft“ lautet die dazugehörige plakative Aussage. Das mag so sein. Auf jeden Fall schult es unser kritisches Urteilsvermögen, wenn wir uns mit zurückliegenden Situationen und Personen auseinandersetzen – ihre spezifischen Voraussetzungen zu erfassen suchen, die kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen zu unterscheiden lernen, unter den Menschen zu anderen Zeiten handelten. Nicht zuletzt befriedigt die Lektüre historischer Darstellungen unsere Neugier auf versunkene, aber wieder zu entdeckende Welten. Dies alles gilt in besonderem Maße, wenn es sich bei dem Autor um einen ausgewiesenen Kenner seines Fachs handelt, der für den tastenden Geschichtsliebhaber verlässliche Schneisen ins Gestrüpp der wuchernden Fakten und Interpretationen zu schlagen versteht, sodass der Leser am Ende der Lektüre befriedigt feststellen kann, dass er sich einem weiteren Aspekt der unendlichen Menschheitsgeschichte verstehend angenähert hat.

Einer dieser Autoren, deren Texte man immer wieder mit Gewinn liest, ist Michael Sommer. Er breitet sein stupendes Wissen großzügig, aber stets orientierend fokussiert aus. So überträgt sich die Entdeckerfreude des Fachmanns auf den interessierten Leser, dem Sommers erzählerische Qualitäten zugleich ein außergewöhnliches Lesevergnügen bereiten. Denn dieser Autor sieht den Wissenschaftler in der Pflicht, neueste Forschungsergebnisse auch in allgemein verständlicher Form zu präsentieren. Seit vielen Jahren widmet er sich dieser Aufgabe mit nicht versiegendem Enthusiasmus und auf gleichbleibend hohem Niveau. Leselust gepaart mit historischem Erkenntnisgewinn erwartet auch den Leser der vorliegenden Essays.

 

Dr. Marlene P. Hiller

Einleitung

„Lebensbilder aus der Antike“ – hinter diesem Untertitel verbergen sich 15 kleine Essays, die seit 2004 nach und nach für das Geschichts-Magazin DAMALS entstanden sind und hier, in gesammelter Form und überarbeitet, einem interessierten Publikum zugänglich gemacht werden.1 Fern von dem Anspruch, eine systematische Einführung in die Antike sein zu wollen, möchte diese Sammlung vor allem neugierig machen: auf eine Epoche, die uns fern und doch so seltsam vertraut ist und die der Klassische Philologe Uvo Hölscher deshalb „das nächste Fremde“ genannt hat; neugierig gerade auch auf die Episoden antiker Geschichte, die nicht im Schulunterricht und selten in populären Medien auftauchen, weil sie abseits des noch immer erstaunlich mächtigen Kanon dessen liegen, was wir als klassisch zu sehen gewohnt sind.

Aufmerksamen Lesern wird ohnehin beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses kaum entgangen sein, dass die Protagonisten der folgenden Kapitel nicht die großen Gestalten der griechischen und römischen Antike sind: Perikles und Alexander, Caesar und Augustus tauchen, wenn überhaupt, dann nur als Randfiguren auf. Doch sind, bei näherer Betrachtung, der exzentrische Kaiser Elagabal oder die attalidischen Könige von Pergamon kaum weniger interessant als der große Makedone oder der Begründer des Prinzipats. Wir mögen weniger über sie wissen, weniger instruktiv für das Verständnis einer fernen Epoche sind sie darum nicht.

Oikumene: Die Globalisierung der antiken Mittelmeerwelt

Die Essays dieses Buches behandeln eine Zeitspanne von fast 1500 Jahren: von der um 1200 v. Chr. in der Levante beginnenden Eisenzeit bis zur anbrechenden Spätantike um 300 n. Chr. In diesen Jahrhunderten veränderte sich das Mittelmeer, das nicht nur geographisch im Mittelpunkt stehen wird, von Grund auf: Aus einem Meer, dessen Anrainer noch in der Zeit Homers, um 700 v. Chr., nur lose miteinander vernetzt waren, wurde in mehreren Etappen ein dichter Interaktionsraum, in dem Menschen aus entfernten Regionen miteinander kommunizierten und Handel trieben. Katalysatoren der Mobilität waren das sprunghaft anwachsende geographische Wissen, die Herausbildung großer imperialer Machtzentren und – unter römischer Ägide – die allmähliche Schaffung eines einheitlichen Rechtssystems, das geschäftlichen Transaktionen einen verbindlichen Rahmen und allen Menschen ein Mindestmaß an Rechtssicherheit gab – auch dann, wenn sie fern ihrer Heimat waren.

Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr., auf dem Höhepunkt römischer Macht, zollte der griechische Redner Aelius Aristides in seiner Rede Eis Rhomen („Auf Rom“) den Herren des Imperiums größten Respekt: Sie hätten mit der von ihnen geschaffenen Infrastruktur – Straßen, Brücken, Poststationen –, mit dem römischen Recht und dadurch, dass sie die gesamte Oikumene, die bekannte Welt jener Zeit, geodätisch vermessen hätten, eben diese Oikumene „in einen einzigen Haushalt“ verwandelt. Die logistischen Leistungen der römischen Armee illustrieren, welche Hindernisse die Truppen des Imperiums auf diesem Weg zu meistern hatten (13. Kapitel). Ein konzertierter Kraftakt römischer Legionäre, Adminstratoren, Juristen, Ingenieure und Baumeister vollendete gleichsam die „Globalisierung“ der antiken Welt, von den Ufern des Clyde bis zu den Katarakten des Nil, von Gibraltar bis zum Euphrat. Es ist dies die Welt, von der in den folgenden Kapiteln die Rede sein wird.

Freilich: Die von Aristides beschriebene Oikumene unter römischer Vorherrschaft war nur der Schlussstein einer Entwicklung, die bereits um 1200 v. Chr. eingesetzt hatte und deren Etappen für das Verständnis der Antike so fundamentale Prozesse markieren wie die „große“ griechische Kolonisation vom 8. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. und die Entstehung der „hellenistischen Weltkultur“ (Hermann Bengtson) seit Alexander dem Großen. Den Anfang hatten ohnehin weder Griechen noch Römer gemacht, sondern die Phönizier, die, von der Levante kommend, erst die lokalen Handelssysteme im Mittelmeer zu einem großen Netzwerk verknüpft hatten und dann selbst in Übersee sesshaft geworden waren (1. und 2. Kapitel).

Die Phönizier und in ihren Fußstapfen die Karthager exerzierten den Griechen vor, wie man eine rückständige Peripherie entwickelt und aus Disparitäten Nutzen zieht. Als Erste schufen sie, gleichsam als Nebenprodukt ihres Kommerzes, eine kulturell und sprachlich integrierte Sphäre, die zur Glanzzeit Karthagos neben dem Mutterland fast den gesamten Südrand des Mittelmeers, die großen Inseln Sardinien, Sizilien und Korsika sowie Teile der Iberischen Halbinsel umfasste. Nordafrika bewahrte bis in die Spätantike noch so viel von seinem phönizisch-punischen Charakter, dass selbst ein römischer Kaiser wie der aus Lepcis Magna stammende Septimius Severus (Kaiser von 193–211 n. Chr.) Punisch zur Muttersprache hatte.

Dass die Oikumene keineswegs so einheitlich war, wie Aristides wahrhaben wollte, und dass vielfach unter der Oberfläche tief eingewurzelte lokale Traditionen schlummerten, die nicht der „Hellenisierung“ oder „Romanisierung“ zum Opfer fielen, sondern sich unter griechischem und römischem Einfluss zu etwas völlig Neuem wandelten, offenbart ein genauer Blick auf den römischen Nahen Osten (12. Kapitel). Hier waren es vor allem die Juden, die sich heftig gegen die zwangsweise Einverleibung in Aristides’ „Haushalt“ sträubten (9. Kapitel). Welch explosives Potenzial in der Synthese aus „westlichen“ und „orientalischen“ Elementen steckte, lehrte schließlich in der Krise nach der für Rom verlorenen Schlacht von Karrhai (260 n. Chr.) die Oasenstadt Palmyra mit ihrem Cameo-Auftritt auf der weltpolitischen Bühne (14. Kapitel).

Gefallene Helden

Zu Opfern einer Geschichtstradition, die ins Horn der Sieger bläst und Verlierer unter sich begräbt, wurden nicht nur die zu „Randkulturen“ herabgedrängten Zivilisationen an der östlichen (Phönizier, Aramäer), südlichen (Karthager) oder westlichen (Kelten) Peripherie der Mittelmeerwelt. Treffen konnte es selbst jene Männer, die im Zentrum der Macht saßen: im römischen Kaiserpalast. Ob ein römischer Herrscher als „guter“ oder „schlechter“ Kaiser in die Geschichte einging, darüber entschied ein komplexes Geflecht aus Einflussgrößen und Akteuren. Es half, wenn der Imperator vor dem eigenen Ableben die Macht geordnet an einen Nachfolger weitergeben konnte, der sich dann, wie Antoninus Pius im Fall Hadrians, für die zügige Vergöttlichung des Toten per Senatsbeschluss starkzumachen hatte.

Wer, wie Nero, Domitian oder Commodus, hingegen der Letzte seiner Dynastie und gewaltsam vom Leben zum Tode befördert worden war, hatte nur geringe Chancen, dass einst kommende Generationen hymnisch seine Taten besingen würden. Statt diese Männer zu vergöttlichen, verhängte der Senat, froh, einen Tyrannen los zu sein, Gedächtnissanktionen gegen sie: Statuen wurden gestürzt, Inschriften getilgt, Gesetze für ungültig erklärt. Senatoren waren meist auch die Geschichtsschreiber – unsere Gewährsleute für die Ereignisgeschichte der Kaiserzeit, deren Berichte mit entsprechender Vorsicht zu genießen sind.

Die Porträts aus der beeindruckend langen Galerie „schlechter“ Kaiser, unter denen Rom und sein Reich ächzten, gleichen sich frappierend. Ob Caligula, Nero oder Domitian: Immer wieder lichteten sie die Reihen der Senatoren durch Gewaltexzesse; stets schwelgten sie in Luxus und widernatürlichen Ausschweifungen aller Art; oft war ihr Regierungshandeln von Wahnsinn oder wenigstens politischer Unvernunft geleitet (8. Kapitel): Narren im Purpur allesamt, waren sie der Aufgabe, ein Weltreich zu beherrschen, nicht im Mindesten gewachsen. Oder ist dieses düstere Bild nur die Version der Wahrheit, die uns die antiken Historiographen, Männer vom Rang eines Tacitus oder Cassius Dio, glauben machen wollen? Waren Kaiser wie Domitian (10. Kapitel) oder der in eine syrische Priesterdynastie hineingeborene Elagabal (11. Kapitel) womöglich einfach nur ihrer Zeit voraus?

Eine Schlüsselrolle bei vielen blutigen Machtwechseln im kaiserzeitlichen Rom spielten die Prätorianer, von Augustus als kaiserliche Leibgarde aufgestellt, deren Soldaten sich aber immer wieder in der Rolle von Kaisermachern – und oft auch Kaisermördern – wiederfanden (7. Kapitel). Den Zenit ihrer Macht erreichten die Gardesoldaten unter Tiberius, als ihr Präfekt Seianus für den im wonnigen Capri weilenden Kaiser über Jahre die Geschäfte führte. Doch wurde den Prätorianern ihr Einfluss, der immer wieder auch mit den Interessen der kämpfenden Truppe kollidierte, schließlich zum Verhängnis: Septimius Severus stellte die Garde, die in der römischen Geschichtsschreibung keine gute Presse hatte, kalt, indem er eine reguläre Legion vor den Toren Roms stationierte.

Dass selbst über Roms engste Verbündete die Geschichte hinweggehen konnte, mussten die attalidischen Herrscher Pergamons leidvoll erfahren. Dem Imperium in grenzenloser Loyalität verbunden, hatten sie als Alliierte ausgespielt, sobald die einst mächtigen Gegner im hellenistischen Osten – Makedonien und das Seleukidenreich – in einer Serie blutiger Kriege niedergerungen waren. 133 v. Chr. sah sich der letzte Attalidenherrscher genötigt, sein Reich den Römern zu vermachen, die aus Pergamon ihre Provinz Asia machten (3. und 4. Kapitel).

Historische Verlierer waren, jeder auf seine Art, schließlich auch die beiden Antagonisten des großen Sklavenkriegs, unter dem von 73 bis 71 v. Chr. Italien erbebte (5. und 6. Kapitel). Crassus konnte über die Sklaven triumphieren, doch in die Geschichtsbücher ging er ein als der Mann, der, im Schatten seiner Mittriumvirn Caesar und Pompeius stehend, einen ebenso sinnlosen wie desaströsen Krieg gegen das Partherreich entfesselte und bei Karrhai (53 v. Chr.) die Quittung dafür erhielt. Spartacus, der Führer der Sklaven, besaß militärische Begabung im Übermaß und erschien seinen Gefolgsleuten wie ein Messias. Eine Vision, wie sich die Sklaven auf Dauer dem römischen Unterdrückungssystem entziehen konnten, besaß er hingegen nicht. Deshalb war sein Scheitern nur eine Frage der Zeit.

Was ist Macht?

Spartacus band seine Gefolgsleute an sich, weil sie fest an seine Sendung glaubten und daran, dass er mit seinen exzeptionellen Fähigkeiten jede noch so verfahrene Situation meistern könne. Spartacus verhieß Erfolg und, mehr noch, Rettung und Heil. Max Weber, der Gründervater der Soziologie, hat die außeralltäglichen Führungsqualitäten eines Menschen und den Glauben der Geführten daran als „Charisma“ bezeichnet. Der charismatische Führer ist, laut Webers Herrschaftssoziologie, der Prophet oder Befehlshaber, der die Massen in seinen Bann zieht, weil er ihnen glaubhaft Sieg und Erlösung verspricht.

Vereinfacht gesagt ist Charisma eine Quelle von Macht, die Weber versteht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Immer wieder wird es in den folgenden Kapiteln um Macht gehen, die – ob wir wollen oder nicht – das elementare Movens jeder Geschichte ist, auch der alten. Die institutionalisierte Form von Macht, Herrschaft, kann sich auch durch Tradition oder Gesetz legitimieren. Damit sind im Kern die Mechanismen umrissen, die einen Herrscher an der Macht halten und seinem Willen zur Durchsetzung verhelfen. Der Vorzug der Weberschen Kategorien liegt darin, dass sie auch für ein politisches System Gültigkeit haben, das keine oder nur schwach ausgeprägte Formen klassischer Legitimität – wie etwa Investitur, Salbung, Herrscherinsignien oder ein wie auch immer geartetes dynastisches Prinzip – kennt und in dem die Herrscher weitgehend von der Akzeptanz der Beherrschten abhängen.

Viele der folgenden Kapitel, gerade zur römischen Kaiserzeit, aber auch zu Pergamon und zu Spartacus, lassen sich förmlich als Fallstudien zur Weberschen Herrschaftssoziologie lesen. Max Weber hat aber auch nützliche Kategorien zur Bewertung der antiken Wirtschaftsgeschichte beigesteuert, die in diesem Buch ebenfalls eine Rolle spielt, wenn auch nur am Rande. Eine explizite Bezugnahme auf Weber findet dennoch nur ausnahmsweise statt. Sie wäre dem episodisch-erzählenden Charakter der Darstellung unangemessen und würde den Rahmen dieses Büchleins wohl auch sprengen. Zur Vertiefung sei daher die Bibliographie im Anhang empfohlen.

 


    1 Für die Genehmigung, die Aufsätze für diese Sammlung zu verwenden, vor allem aber für unzählige anregende Gespräche und stets konstruktive Kritik dankt der Verfasser der Chefredakteurin von DAMALS, Dr. Marlene P. Hiller.

I.   Wie Frösche um einen Teich: Fernhandel und Güteraustausch in der klassischen Mittelmeerwelt

„Wir, die wir zwischen den Säulen des Herakles und dem Fluss Phasis leben, bewohnen einen kleinen Teil der Erde, wie Ameisen oder Frösche um einen Teich.“2 So lässt Platon seinen Lehrer Sokrates im Dialog Phaidon den Siedlungsraum der Griechen zu seiner Zeit beschreiben, um das Jahr 400 v. Chr. Der Phasis heißt heutzutage Rioni und fließt durch Georgien, die ruhelose Republik am Fuß des Kaukasus. Säulen des Herakles – so nannten die Griechen die Meerenge von Gibraltar. Gemeint sind der Felsen von Gibraltar und der Berg Abyle im Gebiet des heutigen Ceuta. Einst hatte Herakles hier, auf der Suche nach den Äpfeln der Hesperiden, dem Atlas seine Last, den Erdball, abgenommen. So wollte es der griechische Mythos. Der Herakles der Griechen war ursprünglich ein phönizischer Gott: Melkart, dessen Kult sich aus dem heimatlichen Tyros über den gesamten Mittelmeerraum verbreitet hatte und in Gades (Cádiz), also jenseits der „Säulen“, eine neue Heimstatt auf kolonialem Boden gefunden hatte.

Sokrates’ Worte erhielten dadurch besonderes Gewicht, dass sie am Tag seines Todes gesprochen werden. Der Dialog Phaidon spielt in den letzten Stunden des Philosophen, als der sich darauf vorbereitet, den Schierlingsbecher zu trinken. Es geht Platon um die letzten Dinge, um den Primat der ewigen Seele vor der begrenzten physischen Existenz des Menschen. Die Parabel vom Froschteich aber ist mitten aus dem Leben gegriffen: Besser kann man die mediterrane Küstenkultur von Griechen und Römern und die elementare Rolle, die das Meer für sie spielte, kaum auf einen bündigen Nenner bringen. Von der Iberischen Halbinsel bis zum Ostrand des Schwarzmeers reichte die Oikumene, die zivilisierte Welt, in der man Griechisch sprach und teilhatte an dem, was die griechische Welt zusammenhielt: urbanes Leben, der Mythos und der unerschütterliche Glaube daran, dass menschliches Zusammenleben eine Angelegenheit war, die Männer – nur um sie ging es – in ihre eigenen Hände nehmen konnten. Eine Welt der Städte, von denen kaum eine weiter als 50 Kilometer vom Meer entfernt war, jenem Raum, der zugleich trennte und verband.

Als Platon den Phaidon schrieb, erschien den Griechen ihre mediterrane Welt überschaubar und vergleichsweise einheitlich. Nicht nur waren überall griechische Städte, Poleis, sie waren auch bestens miteinander vernetzt. Athen, die Heimatstadt von Sokrates und Platon, besaß auf seinem Territorium den größten Hafen des antiken Griechenland: Piräus. Hier legten täglich Schiffe an, die in großen Mengen Nahrungsmittel brachten, vor allem Getreide aus dem Schwarzmeerraum, daneben Wein und Salzfisch. Es kamen aber auch zahllose andere Güter, vielfach Rohstoffe vom Rand der Mittelmeerwelt, die in Athen zu Fertigwaren verarbeitet wurden: Holz, Teer, Pech, Rötel, Eisen-, Kupfer- und Zinnerz, Gold, Häute und Felle sowie – der wichtige menschliche Rohstoff – Sklaven. Auch teure Luxusartikel wie Papyrus, Elfenbein, Gewürze, Purpurstoffe und Möbel gelangten über den Piräus nach Athen.

Die Ausgangslage: Fernhandel im „Dunklen Zeitalter“

Als der Piräus boomte, hatten Güteraustausch und Seehandel für die Athener – und bei Weitem nicht nur für sie – eine Bedeutung erlangt, die bis dato keine historische Parallele kannte. Eine ganze Stadt hing davon ab, übers Meer mit Getreide versorgt zu werden, das in weit entfernten Regionen angebaut wurde. Das Mittelmeer war zwar noch weit davon entfernt, ein integrierter Wirtschaftsraum zu sein, aber Vernetzung und Fernhandel hatten die diversen Teile erstaunlich dicht zusammenrücken lassen – eine Art erste Globalisierungswelle war über die mediterrane Welt geschwappt.

700 Jahre zuvor, zu Beginn des sogenannten „Dunklen Zeitalters“, um 1200 v. Chr., hatte diese Welt ganz anders ausgesehen. Gerade erst waren ganze Zivilisationen zusammengebrochen: die Reiche der Spätbronzezeit. Die Palastzentren, von denen aus diese Reiche regiert worden waren und die zwischen Mykene und Mesopotamien die politische und ökonomische Landschaft beherrscht hatten – verschwunden; das mächtige Hethiterreich – kollabiert, seine Erbmasse unter einer Reihe von Nachfolgestaaten aufgeteilt; Ägypten – so geschwächt und mit sich selbst beschäftigt, dass es in Übersee kein Gewicht mehr besaß; der transmediterrane Fernhandel – praktisch zum Erliegen gekommen. Der Mittelmeerraum um und nach 1200 v. Chr. war unübersichtlich geworden: In Griechenland, Kleinasien und weiten Teilen der Levante hielten Stammesgruppen das Heft in der Hand, einst blühende Städte lagen in Trümmern und fruchtbares Ackerland war zum Weidegrund für die Herden der Nomaden geworden. Die in der bornzezeitlichen Ägäis verbreitete Schrift Linear-B war in Vergessenheit geraten, technologisches Wissens verschwunden. Händler hatten es in der neuen Welt der Eisenzeit nicht leicht.

Doch wo Schatten ist, ist auch Licht. Entlang der levantinischen Küste, in Phönizien und im dem Mittelmeer zugewandten Teil Palästinas, im Bereich der „Pentapolis“ der Philister, blieben die Städte unzerstört oder wurden rasch wieder aufgebaut, oft größer und prächtiger als zuvor. Während im von den Stämmen Israels in Besitz genommenen Hinterland Palästinas und dem von aramäischsprachigen Stämmen besiedelten Innersyrien die Städte großflächig einer Welt der Dörfer und Hirtennomaden gewichen waren, war die Küste, allen Umbrüchen zum Trotz, nach wie vor urban geprägt. Auf niederem Niveau zirkulierten auch weiter Güter im Raum zwischen Ägäis und Levante. Menschen aus Griechenland siedelten um 1100 v. Chr. an der Küste Kleinasiens und hielten den Kontakt zum griechischen Mutterland. Griechische Keramik aus dem 10. Jahrhundert v. Chr. fand sich im phönizischen Tyros und vor allem in den frühesten Schichten der Siedlung Al Mina an der Orontes-Mündung im nördlichen Syrien.

Die Tonwaren stammten überwiegend aus Euboia, einer dem griechischen Festland östlich vorgelagerten großen Insel, deren Bewohner früh die Initiative im Seehandel ergriffen. Keramik ist für Archäologen eine Quelle von einzigartiger Aussagekraft, weil sie verbreitet und langlebig ist. Vor allem lassen sich Entstehungszeit und -ort relativ genau bestimmen. Scherben haben das Potenzial, Kontakte zwischen weit entfernten Orten zu dokumentieren, sie lassen obendrein in begrenztem Umfang Aussagen über Intensität und Regelhaftigkeit des Austauschs zu, aber über dessen genaue Modalitäten bleiben sie stumm: Welche Routen die Gefäße nahmen, wer sie transportierte, ob sie direkt oder über vielleicht mehrere Zwischenstationen aus Euboia in die Levante gelangten – all das bleibt im Dunkeln bzw. der spekulativen Imaginationsgabe von Archäologen und Historikern überlassen.

Viel spricht in diesem Fall dafür, dass Zwischenhändler am Warenverkehr beteiligt waren. Die Keramik aus Euboia war gemischt mit Waren anderer Herkunft: Gefäßen aus Attika, Samos, Rhodos bzw. der Nordägäis – allesamt mögliche Zwischenstationen auf dem Weg nach Osten. Zu Anbruch des „Dunklen Zeitalters“ war vor allem Kreta nach Übersee hin orientiert und exportierte seine Keramik auf die benachbarten Inseln der Dodekanes und bis nach Zypern. Später klinkte sich vor allem Zypern in den Handel mit der Levante einer-, den Kykladen, Dodekanes, Kreta und dem griechischen Festland andererseits ein.

Der ostmediterrane Fernhandel kam daher nach der umfassenden Krise um 1200 v. Chr. nicht zum Erliegen, sondern suchte sich lediglich neue Bahnen. Statt auf direktem Weg zwischen großen Palastzentren zirkulierten Güter nun über lokale und regionale Netzwerke, die miteinander verzahnt waren. So konnten Gegenstände – über Zwischenstationen – durchaus auch weite Wege zurücklegen. Das Volumen des Handels und die Qualität der gehandelten Güter waren wohl anfangs rückläufig, stabilisierten sich aber seit dem 10. Jahrhundert v. Chr. Auch Italien blieb locker mit der ostmediterranen Welt verbunden: Auf dem apulischen Vorgebirge Scoglio del Tonno bei Tarent lagerten Importwaren aus der Ägäis, deren Chronologie bruchlos vom 18. bis zum 11. Jahrhundert v. Chr. reicht. Vermutlich diente der Ort in der Bronze- und noch in der frühen Eisenzeit als Relaisstation zwischen Griechenland und Süd- bzw. Mittelitalien.

Image

Mit der mykenischen Welt hatten vor 1200 v. Chr. auch andere Teile Italiens in Verbindung gestanden, namentlich Sizilien, die Äolischen Inseln und der Golf von Neapel. Vielleicht waren die bronzezeitlichen Kontakte Initialzündung für soziale Umwälzungen auf der Apenninen-Halbinsel, die in die Entstehung größerer ethnischer Verbände mündeten. In ihnen wiederum schälten sich allmählich Eliten heraus, die Importgüter nachzufragen begannen. So gab es auch in Italien lokale und regionale Handelsnetze, die vermutlich Verbindungen reaktivierten, die bereits in der Bronzezeit bestanden. Funde aus Nordetrurien weisen etwa nach Sardinien. In Populonia, unweit des heutigen Livorno, wurde seit dem 9. Jahrhundert Eisenerz von der nahen Insel Elba verhüttet. Roheisen und Eisenprodukte nahmen von hier ihren Weg in andere Teile Italiens.

Phönix aus der Asche

Als sich im 9. oder vielleicht schon 10. Jahrhundert v. Chr. die ersten Händler aufmachten, um mit kleinen Schiffen weit entfernte Küsten zu bereisen, brauchten sie im Grunde genommen nur die vorhandenen kleinen Handelskreisläufe zu einem großen mediterranen System zusammenschweißen. Diese Rolle fiel den Phöniziern zu, deren Städte wie Perlen einer Kette an der levantinischen Küste aufgereiht waren: Arados, Byblos, Sidon und Tyros – so lauteten, von Nord nach Süd, die Namen der großen Städte, zu denen sich noch ein Dutzend kleinerer Siedlungen gesellte. Typischerweise lagen sie auf dem Festland vorgelagerten Inseln oder Halbinseln: Der Blick ihrer Bewohner richtete sich nach Westen, übers Meer.

Wie Phönix aus der Asche, so erhoben sich diese Städte auf den Trümmern der bronzezeitlichen Welt. Jahrhundertelang waren sie großen Imperien tributpflichtig gewesen, die ihrer politischen und wirtschaftlichen Entwicklung enge Grenzen gesetzt hatten. Mit dem Kollaps der großen Reiche am Ende der Bronzezeit hatten ihre Bewohner Handlungsspielräume, die eine Dynamik ganz neuer Art entfachten. Erstmals schickten sich ganze Gesellschaften an, nicht von der Landwirtschaft, sondern in großem Stil von Handel und Gewerbe zu leben.

Als Erste bekamen den Wandel die Ägypter zu spüren. Um 1075 v. Chr. spielt eine Episode, die in der uns vorliegenden Form Fiktion ist, sich aber durchaus so oder ähnlich hätte zutragen können: Der Gesandte Wenamun schifft sich vom Nildelta aus nach Byblos ein, um von dort Holz zu beschaffen, aus dem ein neues Kultschiff für den Gott Amun gebaut werden soll – die Hölzer des Libanon, vor allem die Zeder, die noch heute die Fahne des modernen Staates ziert, waren in den baumlosen Flusstälern Mesopotamiens und Ägyptens besonders begehrt. Wenamun verschlägt es fast die Sprache, als der König von Byblos, Sekerbaal, als Gegenleistung die Lieferung ägyptischer Waren fordert. „Ich bin nicht dein Diener und nicht der Diener desjenigen, der dich schickte“, stellt Sekerbaal lakonisch fest, woraufhin Wenamun nichts übrig bleibt, als nach Ägypten zurückzusegeln und die Tauschgüter zu beschaffen.3

Hatten sich die Herrscher von Byblos zuvor damit begnügt, wenn Pharao, die „Sonne“, über ihnen sein Licht leuchten ließ und Holz mit Gnade bezahlte, so forderten sie nun ein materielles Quid pro quo. Der asymmetrische Tausch zwischen Zentrum und Peripherie eines Großreichs war zu einem symmetrischen Handel unter Partnern geworden, die einander auf Augenhöhe begegneten. Und bald hatten die Phönizier die besseren Karten, wenn sie mit ihren Nachbarn am Verhandlungstisch saßen: Die Bücher Könige und Chronik des Alten Testaments berichten, wie König Salomo, als er seinem Gott den Tempel in Jerusalem errichtete, Hilfe von seinem „Bruder“, dem König Hiram von Tyros erhielt. Hiram lieferte Material, stellte Arbeitskräfte zur Verfügung und vor allem Know-how. Als Gegenleistung erhielt Tyros von Salomo Lebensmittel, die in der rapide wachsenden Inselstadt dringend benötigt wurden. Wichtiger noch: Salomo trat Land an Tyros ab, den Grundstock für den Territorialstaat, den die phönizische Stadt auf dem Festland errichtete. Dafür durften sich die Hebräer an Handelsmissionen der Tyrer beteiligen, die sie bis nach Spanien (Tarschisch) und Ophir (Arabien, vielleicht sogar Afrika) führten.

Immer wieder sind es phönizische Herrscher, die geschickt die Reichtümer ihres Landes zu vermarkten wissen. Ähnlich wie in der Bronzezeit schildern uns die Texte den Königspalast als Mittelpunkt aller wirtschaftlichen Aktivitäten. Doch werfen Quellen wie das Alte Testament und der Wenamun-Bericht womöglich mehr Fragen auf, als sie beantworten: Die Chronologie ist verworren, und über die Frage, ob es überhaupt einen König Salomo gab, streiten sich bis heute die Gelehrten. Die Dokumente referieren keinen phönizischen Standpunkt, sondern die Position der Nachbarn. Immerhin dürfte außer Zweifel stehen, dass die phönizischen Städte sich um 1000 v. Chr. von den Großmächten emanzipiert hatten und bereits zum Sprung nach Übersee ansetzten.

Dieser Befund lässt sich gut mit den archäologischen Zeugnissen aus der frühen Eisenzeit in Einklang bringen. Die materielle Kultur Zyperns, bis dato eine der Drehscheiben zwischen Ägäis und Vorderasien, verrät wachsenden phönizischen Einfluss. Levantiner scheinen sich sukzessive in den Güteraustausch mit der Ägäis eingeschaltet zu haben, wie die Funde von Salbgefäßen auf Rhodos nahelegen, die erst aus zyprischer, dann aus lokaler und schließlich aus phönizischer Herstellung stammten. Schließlich bezeugen Funde aus Elitengräbern auf Zypern (Salamis) und Euboia (Lefkandi), dass griechische Aristokraten Kontakte zur Levante pflegten. Umgekehrt tauchte griechische Importkeramik aus Euboia in Al Mina auf.

Dass es Handelsherren aus Phönizien und nicht aus Griechenland waren, die den lokalen Handel erneut zu einem großflächigen System vernetzten und somit den aktiven Part spielten, lassen die beiden homerischen Epen, Ilias und Odyssee, erahnen, in denen Phönizier eine prominente, wenngleich etwas zwielichtige Rolle spielen. Zwar gelten sie als geübte Fabrikanten von Luxusartikeln, die ihren immensen Wert allein schon aus ihrer „sidonischen“ Herkunft beziehen, andererseits aber auch als ausgebuffte Krämerseelen mit zweifelhafter Moral und ausgeprägtem Hang zur Profitgier. Die Helden der Ilias wissen die von „sidonischen Frauen“ hergestellten Gewänder aus edlen Stoffen ebenso zu schätzen wie das silberne Mischgefäß, das Achill bei den Leichenspielen für seinen Freund Patroklos als Kampfpreis aussetzte: „an Schönheit trug’s den Sieg davon auf der gesamten Erde, denn Sidoner voller Kunstsinn hatten’s schön gefertigt“ (XXIII. 742f.).

Doch erfahren wir auch, wie die Phönizier ihren Handel organisierten und welche Geschäftspraktiken zur Anwendung kamen. Der Schweinehirt Eumaios, der für Laertes, den Vater des Odysseus arbeitet, erzählt dem Helden der Odyssee seine tragische Lebensgeschichte: Einst kamen Phönizier zu Schiff auf die Insel Syria, auf der Eumaios’ Vater König war. Eine phönizische Sklavin lebte am Hof, die mit ihren Landsleuten einen raffinierten Fluchtplan ausheckte: Nachdem die Phönizier ein ganzes Jahr auf der Insel verbracht hatten und feilschend die von ihnen mitgeführten Waren abgesetzt sowie andere erhandelt hatten, raffte die Phönizierin im Haus des Königs einige Wertgegenstände zusammen und entführte den jungen Prinzen Eumaios; dann machten sich alle davon. Schließlich verkauften die Händler Eumaios an Laertes.4

In einer anderen Episode – Odysseus hält seine Identität vor Eumaios geheim – erfindet sich der Listenreiche eine abenteuerliche Lebensgeschichte, die ihn bis an den Hof des ägyptischen Pharao führte. Auch hier spielt ein Mann aus Phönizien Schicksal. Er überredet den fiktiven Odysseus, mit ihm nach „Phoinike“ zu kommen, wo er Ländereien besitze. Nachdem sie einige Zeit dort verbracht haben, lädt der Phönizier den Helden ein, ihn als Kompagnon auf eine Handelsexpedition nach Libyen zu begleiten. Beide erleiden Schiffbruch, und Odysseus rettet sich an die Küste von Epirus, im heutigen Nordwestgriechenland.5

Das Bild vom phönizischen Fernhandel gewinnt damit etwas schärfere Konturen. Die Kaufleute waren zugleich Seeleute; sie bildeten Gesellschaften, die gemeinschaftlich ein Schiff nutzten und sich um einen Anführer scharten, der Initiator und Organisator des Projekts war; vor allem kamen sie ohne die großen Organisationen von Tempel und Palast aus, die in der Bronzezeit das Handelsgeschehen, wenn nicht monopolisiert, so doch dominiert hatten. Die Händler hielten sich relativ lange an den einzelnen Zwischenstationen auf, aber wohl kaum ein ganzes Jahr, wie es in der Odyssee heißt. Während ihres Besuchs betrieben sie geldlosen Tauschhandel mit den Einheimischen, wobei sie sich wie alle Zwischenhändler, ohne es zu kennen, Ricardos Prinzip der komparativen Kostenvorteile – fluktuierende Preise bei unterschiedlicher Verfügbarkeit verschiedener Waren – zunutze machten. Die Grenzen zwischen Seehandel, Gabentausch, Piraterie und Abenteurertum waren durchaus noch fließend.

Vor allem aber spielten ethnische Gesichtspunkte bei der Zusammensetzung der Mannschaften offenbar kaum eine Rolle. Wir dürfen uns die Crews der kleinen Handelsschiffe, die im 9. und 8. Jahrhundert v. Chr. – der Zeit, als die homerischen Epen allmählich zu ihrer um 700 v. Chr. verschriftlichten Form fanden – auf dem Mittelmeer segelten, getrost als bunt zusammengewürfelte Haufen vorstellen, anders als die Kaufmannshansen des europäischen Mittelalters, bei denen landsmannschaftliche Prinzipien im Vordergrund standen.

An fremden Küsten

So ist auch das Material aus den frühesten „Kolonien“ in Übersee, die nun in dichter Folge entstanden, der Spiegel einer multikulturellen Gesellschaft von Kaufleuten, die in der Fremde dem Glück nachjagten. Sich in Übersee niederzulassen, hatte gegenüber der Existenz als reisender Kaufmann handfeste Vorzüge. Nicht nur tauschte man Risiko und Mühsal der Seefahrt gegen ein geruhsameres Leben an Land ein; vor allem kam man den Rohstoffquellen des Hinterlands und potenziellen Märkten für Fertigwaren ein gutes Stück näher. Überall am Mittelmeer entstanden nun solche Pflanzstädte, die dem Fernhandel Auftrieb gaben und Händler aus dem Osten magisch anzogen. Eine kommerzielle Diaspora, die das Tor zum wirtschaftlich interessanten, vorerst aber noch fremden Hinterland aufstieß, dämmerte herauf.

Einer dieser Umschlagplätze – die Griechen sprachen von emporia