Für Lil Picard, Malerin,
Schriftstellerin und eine
meiner anregenderen
Freundinnen
Coleman sagte: »Sie war mein einziges Kind. Aber nicht Ihre einzige Frau. Nur Ihre letzte.«
Ray schwieg. Was für eine Antwort erwartete Coleman darauf? Dachten denn andere schon zehn Tage nach dem Tod ihrer Frau daran, wieder zu heiraten? Brachten sie überhaupt die Kraft auf, bei solch einer Bemerkung wütend zu werden? Ray ging mit gesenktem Kopf, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Er zitterte. Die schneidende Kälte des kommenden Winters lag in der römischen Nachtluft. Die Straße, durch die sie gingen, war dunkel. Ray hob den Kopf, suchte ein Straßenschild, fand aber keines. »Sie wissen den Weg?« fragte er Coleman.
»Da unten sind sicher Taxis«, sagte Coleman und wies mit dem Kopf nach vorne.
Der Gehweg führte abwärts. Ihre Schritte klangen heller, denn die Schuhe rutschten ein bißchen: schripp, schrapp, schripp, schrapp. Für einen Schritt von Ray brauchte der andere fast zwei. Der Mann war klein, sein Gang schnell, abgehackt und wiegend zugleich. Ab und zu wehte der Qualm von Colemans Zigarre, die er zwischen den Vorderzähnen hielt, schwarz und bitter herüber und stieg Ray in die Nase. Coleman hatte zu einem Restaurant gewollt, für das es sich nicht lohnte, Rom zu durchqueren, fand Ray. Er war mit Coleman um acht im Caffè Greco verabredet gewesen. Coleman hatte gesagt, er müsse in dem Restaurant einen Mann treffen (wie war noch sein Name?), doch der war nicht gekommen. Und sobald sie dort waren, hatte Coleman ihn kein einziges Mal erwähnt – Ray fragte sich inzwischen, ob es den Mann überhaupt gab. Coleman war eigenartig. Vielleicht hatte er in diesem Restaurant ein paarmal mit Peggy gegessen, mittags oder abends, und mochte es wegen der Erinnerungen. Im Restaurant hatte er vor allem von Peggy gesprochen, nicht so zornig wie auf Mallorca; heute abend hatte er sogar ab und zu leise gelacht. Aber sein Groll, seine Frage standen ihm immer noch ins Gesicht geschrieben. Und Rays Versuch, mit ihm zu reden, hatte zu nichts geführt. Für Ray war das nur ein weiterer Abend, den er über sich ergehen ließ, ein Abend wie viele andere auf Mallorca, seit Peggys Tod vor zehn Tagen: farblos, gedämpft, wie von der Welt getrennt – Abende mit Speisen, die gegessen wurden, ganz oder zur Hälfte, nur weil sie auf den Tisch kamen.
»Sie fliegen weiter nach New York«, sagte Coleman.
»Zuerst nach Paris.«
»Geschäftlich?«
»Sozusagen. Doch das läßt sich alles in zwei Tagen erledigen.« Ray wollte in Rom einige Maler treffen und sehen, ob sie Interesse hatten, sich von seiner Galerie in New York vertreten zu lassen. Die Galerie gab es noch gar nicht. Heute hatte er keine Telefongespräche geführt, obwohl er seit Mittag in Rom war. Er seufzte, weil er wußte, daß er nicht den Mut hatte, die Maler zu treffen und zu überzeugen, die Galerie Garrett werde ein Erfolg werden.
Viale Pola, las Ray auf einem Straßenschild.
Vor ihm lag ein breiterer Boulevard: Das dürfte die Nomentana sein.
Undeutlich nahm er wahr, wie Coleman etwas aus seiner Manteltasche zog. Dann drehte der Mann sich plötzlich ihm zu, ein Schuß fiel, explodierte zwischen ihnen, schleuderte Ray rückwärts gegen eine Hecke und dröhnte ihm so laut in den Ohren, daß er einige Sekunden lang Colemans davoneilende Schritte auf dem Pflaster nicht hören konnte. Jetzt war Coleman schon außer Sicht, und Ray wußte nicht, ob eine Kugel ihn zurückgeschleudert hatte oder ob er vor Überraschung hintenübergefallen war.
»Che c’è?« schrie ein Mann aus einem Fenster.
Ray rang keuchend nach Luft – er hatte den Atem angehalten –, mühte sich dann, aus der Hecke herauszukommen und aufzustehen. »Niente«, rief er automatisch zurück. Wenn er tief einatmete, tat nichts weh. Er war also nicht getroffen, sagte er sich und ging langsam weiter in die Richtung, die Coleman und er vorher eingeschlagen hatten.
»Das ist der Mann!«
»Was ist passiert?«
Die Stimmen wurden leiser, als Ray die Nomentana erreichte. Sofort kam ein Taxi von links. Er winkte es heran.
»Albergo Mediterraneo.« Er sank zurück in den Sitz, spürte ein Stechen, ein Brennen im linken Oberarm. Er hob den Arm: Die Kugel hatte den Knochen sicherlich nicht durchschlagen. Er tastete den Mantelärmel ab und blieb mit einem Finger in dem Loch im Ärmel hängen. Nach weiterem Suchen fand er das Austrittsloch auf der anderen Seite des Ärmels. Und nun spürte er die warme Nässe in seiner Armbeuge, wo sich das Blut sammelte.
Das Mediterraneo war ein modernes Hotel, dessen Stil Ray nicht gefiel, doch seine Lieblingshotels waren alle ausgebucht gewesen. Er holte sich seinen Schlüssel und fuhr mit dem Pagen hinauf, die Linke in der Manteltasche, damit kein Blut auf den Teppichboden tropfte. Die Tür seines Zimmers hinter sich zu schließen gab ihm ein Gefühl der Sicherheit; dennoch mußte Ray in allen Ecken nachsehen, nachdem er Licht gemacht hatte, als rechne er damit, Coleman in einer zu entdecken.
Er ging ins Badezimmer, fuhr aus seinem Mantel und warf ihn auf das Bett im Schlafzimmer, zog dann sein Jakkett aus und sah Blutspritzer und einen blutigen Streifen, der sich den blauweiß gestreiften Hemdsärmel hinabzog. Weg mit dem Hemd.
Die Wunde war eine kleine Kerbe, etwa einen Zentimeter lang, ein klassischer Streifschuß. Er näßte einen sauberen Waschlappen und wusch die Wunde aus, holte ein Pflaster aus einem Seitenfach des Koffers und erinnerte sich, daß nur noch dieses breite Pflaster in der Blechbüchse übrig gewesen war, als er das Arzneischränkchen auf Mallorca ausgeräumt hatte. Dann nahm er die Zähne zu Hilfe und band sich ein Taschentuch fest um den Arm. Das Hemd weichte er in kaltem Wasser ein.
Fünf Minuten später, im Pyjama, rief Ray die Bar an und bestellte einen doppelten Dewar’s. Dem Zimmerjungen gab er ein gutes Trinkgeld. Dann löschte er das Licht und trat mit dem Drink ans Fenster. Sein Zimmer lag ziemlich weit oben. Rom wirkte weit und flach, bis auf die ferne, massige Kuppel des Petersdoms und die Säule der Trinità dei Monti über der Spanischen Treppe. So wie er rückwärts in die Hecke gefallen war, dachte Ray, könnte Coleman annehmen, er sei tot. Er lächelte dünn, runzelte aber die Stirn: Wo hatte sich Coleman die Pistole beschafft? Und wann?
Der Mann flog morgen mit einer Mittagsmaschine nach Venedig. Mit Inez und Antonio, hatte Coleman am Abend gesagt – er brauche Tapetenwechsel, wolle etwas Schönes sehen und eine bessere Stadt als Venedig sei ihm nicht eingefallen. Würde Coleman morgen früh anrufen, um zu erfahren, ob er in sein Hotel zurückgekehrt war? Und wenn man im Hotel sagte: »Ja, Mr. Garrett ist im Hause« – würde der andere aufhängen? Außerdem: Wenn Coleman glaubte, ihn getötet zu haben, was würde er dann Inez sagen? »Ray und ich haben uns in der Nähe der Nomentana getrennt und verschiedene Taxis genommen. Keine Ahnung, wer das getan haben könnte.« Oder hatte Coleman vorher das Abendessen mit ihm gar nicht erwähnt, sondern gesagt, er werde mit jemand anderem essen? Und hatte er die Pistole sofort, heute abend noch, von einer Brücke in den Tiber geworfen?
Ray nahm einen größeren Schluck Whisky. Coleman würde nicht hier im Hotel anrufen, ihm wäre das schlichtweg egal. Und sollte man ihn darauf ansprechen, würde er lügen, und zwar gut.
Außerdem würde der Mann selbstverständlich herausfinden, daß er noch am Leben war, einfach weil in den Zeitungen nichts von seinem Tod oder einer schweren Verletzung stehen würde. Und sollte er dann schon in Paris oder New York sein, dann sähe das für Coleman so aus, als sei er geflüchtet, weggelaufen wie ein Feigling, bevor alles erklärt, etikettiert und analysiert werden konnte. Ray wußte, daß er nach Venedig fliegen mußte. Er wußte auch, daß weitere Gespräche folgen würden.
Der Drink half; Ray entspannte sich auf einmal und wurde müde. Er starrte zu seinem großen, offenen Koffer auf der Ablage hinüber. Auf Mallorca hatte er klug gepackt, weder die Manschettenknöpfe vergessen noch den Zeichenblock, seinen Tintenfüller und die Adreßbücher. Seine restlichen Sachen, zwei Kisten und mehrere große Kartons, hatte er nach Paris geschickt. Warum Paris und nicht New York, wußte er selber nicht, denn in Paris würde er sie doch nur nach New York weitersenden müssen. Praktisch war die Regelung nicht, aber angesichts der verwirrenden Umstände, unter denen er auf Mallorca gepackt hatte, fand er es erstaunlich, daß er alles so gut geschafft hatte. Coleman war am Tag vor der Beerdigung von Rom herübergeflogen und hinterher noch drei Tage geblieben, und in dieser Zeit hatte Ray Peggys und seine Sachen gepackt, Rechnungen mit örtlichen Lieferanten beglichen, Briefe geschrieben, telefonisch den Vertrag mit seinem Vermieter Dekkard gekündigt, der in Madrid wohnte. Und die ganze Zeit war Coleman durch das Haus geschlichen, wie betäubt, eher schweigsam, doch Ray hatte gesehen, wie sein schmaler Mund sich zu einem kurzen geraden Strich verdünnte, während sein Zorn auf Ray allmählich wuchs und sich verhärtete. Ray wußte noch, wie er einmal ins Wohnzimmer gekommen war, weil er Coleman etwas fragen wollte (Coleman hätte das Gästezimmer haben können, schlief aber lieber auf der Couch), und den anderen dort angetroffen hatte, einen Lampenständer aus Terracotta in den Händen, der wie ein großer Flaschenkürbis geformt war – und wie er einen Moment gedacht hatte, der Mann würde damit nach ihm werfen. Aber Coleman hatte ihn wieder hingestellt. Ray hatte ihn gefragt, ob er mit ins vierzig Kilometer entfernte Palma fahren wolle – er mußte in die Stadt, um sich um den Versand seiner Sachen zu kümmern. Coleman hatte abgelehnt. Tags darauf war er von Palma nach Rom zurückgeflogen, zu Inez, seiner gegenwärtigen Geliebten. Ray kannte sie noch nicht. Sie hatte Coleman zweimal auf Mallorca angerufen. Man hatte ihn auf das Postamt geholt, um die Anrufe entgegenzunehmen, denn im Haus gab es kein Telefon. Frauen hatte Coleman immer, obwohl Ray nicht verstand, was sie an ihm fanden.
Vorsichtig schlüpfte er ins Bett; er wollte vermeiden, daß sein Arm noch mehr blutete. Ärgerlich, daß Inez und Antonio, der Italiener, Coleman begleiten würden. Ray hatte Antonio noch nie getroffen, aber den Typ konnte er sich vorstellen: schwach, gutaussehend und jung, gut gekleidet, ohne Geld; jetzt nur noch ein Anhang, doch wahrscheinlich Inez’ früherer Liebhaber. Inez dürfte in den Vierzigern sein, Witwe vielleicht, wohlhabend, womöglich selber Malerin, allerdings eine schlechte. Könnte er in Venedig Coleman nur noch einmal allein treffen, dann könnte er vielleicht alles in einfachen Worten erklären: die schlichte Tatsache, daß er nicht wußte, warum Peggy sich umgebracht hatte, daß er es wirklich nicht erklären konnte. Sollte er Coleman dazu bringen, das zu glauben (und nicht, daß sein Schwiegersohn ihm eine entscheidende Tatsache oder ein Geheimnis vorenthielt), dann – ja, was dann? Ray wollte sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Er schlief ein.
Am nächsten Morgen buchte er einen Abendflug nach Venedig, reservierte telegrafisch ein Zimmer in der Pensione Seguso am Zattere-Kai und erledigte vier Anrufe bei Malern und Kunstgalerien in Rom, die ihm zwei Termine eintrugen. Bei diesen wiederum konnte er sich einen Maler für die zukünftige Galerie Garrett sichern, einen gewissen Guglielmo Guardini, der phantastische Landschaften malte, in allen Einzelheiten und mit feinen Pinselstrichen. Nur eine mündliche Übereinkunft, nichts Schriftliches; dennoch munterte es Ray auf. Vielleicht würden Bruce und er in New York nun doch nicht die Galerie der Schlechten Kunst eröffnen müssen. Das war Rays Idee gewesen, die letzte Rettung sozusagen: Sollten sie keine guten Maler finden können, dann eben die schlechtesten, und die Leute würden kommen, lachen, bleiben und kaufen, um etwas anderes zu haben als andere, die nur »die Besten« sammelten. »Wir brauchen bloß herumzusitzen und zu warten«, hatte Bruce gesagt, »nur die Schlechtesten nehmen und nicht erklären, was wir da tun. Galerie der Schlechten Kunst müssen wir sie ja nicht nennen. Sagen wir Galerie Zero. Die Öffentlichkeit wird schon bald dahinterkommen.« Sie hatten gelacht, als sie auf Mallorca darüber redeten: Bruce hatte den letzten Sommer dort verbracht. Und vielleicht war die Idee gar nicht so abwegig; dennoch war Ray an jenem Abend in Rom froh, mit dem Maler Guardini festeren Boden unter den Füßen zu haben.
Als er nach dem einsamen Abendessen seinen Koffer aus dem Hotel holte, hatte niemand für ihn angerufen.
Die anderen waren zuerst eingetroffen, mindestens zehn Stunden vor ihm vermutlich. Die Maschine entließ ihre Passagiere um halb vier Uhr früh in die eiskalte Dunkelheit. Ray erfuhr, daß es um diese Zeit keine Busse gab, nur Boote.
Das Boot war eine große Barkasse und füllte sich schnell mit förmlichen, schweigsamen Engländern und blonden Skandinaviern, die schon gewartet hatten, als Rays Flugzeug landete. Die Barkasse setzte zurück, wendete elegant, senkte das Heck wie ein angaloppierendes Pferd und schoß mit Höchstgeschwindigkeit davon. Heitere Klaviermusik, wie man sie in einer Cocktailbar erwartet hätte, drang leise aus dem Lautsprecher, schien aber bei keinem die Stimmung zu heben. Sprachlos, kreidebleich im Gesicht, schauten alle nach vorn, als rasten sie auf dem Boot ihrer eigenen Hinrichtung entgegen. Die Barkasse setzte sie am Alitalia-Flughafenzubringer ab, an der Pier nahe der Haltestelle San Marco. Dort hoffte Ray, einen vaporetto zur Accademia zu finden, seiner Endhaltestelle, doch bevor er sich’s versah, lag sein Koffer auf einem Gepäckkarren und wurde in das Alitalia-Gebäude geschoben. Ray rannte hinterher, wurde aber vom Gedränge der Leute in der Tür aufgehalten, und als er hineinkam, war sein Koffer nicht zu sehen. Er mußte an einem Schalter warten, während zwei Gepäckträger genug damit zu tun hatten, auf die Rufe von vier Dutzend Reisenden zu achten und jedem das richtige Gepäckstück zu geben. Als Ray seinen Koffer bekommen hatte und das Gebäude verließ, legte ein vaporetto gerade von der Markusplatz-Pier ab.
Das bedeutete wahrscheinlich eine lange Wartezeit, was ihm aber nicht allzuviel ausmachte.
»Wohin wollen Sie, Sir? Ich trage ihn für Sie«, sagte ein kräftiger Gepäckträger in verwaschenem Blau und griff nach seinem Koffer.
»Accademia.«
»Ah, Sie haben gerade einen vaporetto verpaßt.« Er lächelte. »Eine Dreiviertelstunde bis zum nächsten. Pensione Seguso?«
»Sì«, sagte Ray.
»Ich begleite Sie. Mille lire.«
»Grazie. Ist nicht weit zu Fuß von der Accademia.«
»Zehn Minuten schon.«
Bestimmt nicht. Lächelnd winkte Ray ihn weg. Er ging zur Pier am Markusplatz, betrat den schwankenden, knarrenden Anleger und zündete sich eine Zigarette an. Auf dem Wasser regte sich gerade nichts. Die große Kirche Santa Maria della Salute, auf der anderen Kanalseite gegenüber, war nur schwach beleuchtet, so nachlässig wie die Straßenlaternen, wohl weil der November nicht in die Touristensaison fiel, vermutete Ray. Die Wellen schlugen sanft, doch kraftvoll gegen die Pfeiler der Pier. Ray dachte an Coleman, Inez und Antonio, die jetzt irgendwo in Venedig schliefen – Coleman und Inez vielleicht im selben Bett, etwa im Gritti oder Danieli, weil Inez die Rechnung zahlen würde. (Coleman hatte ihn wissen lassen, daß sie wohlhabend war.) Antonio dürfte billiger untergekommen sein, obwohl ihm Inez auch diese Reise wahrscheinlich zahlte.
Zwei gut gekleidete Italiener mit Aktenkoffern traten zu ihm auf den Anleger. Sie sprachen davon, irgendwo ein Parkhaus auszubauen. Irgendwie beruhigte Ray ihre Anwesenheit und die Unterhaltung, aber er fror immer noch und sah sich zum zweitenmal, und wieder vergeblich, nach einer Kaffeebar um. Harry’s Bar wirkte wie ein graues Grab aus Glas und Stein. Und kein einziges Fenster in der roten Vorderfront des Hotels Monaco e Canal Grande gegenüber davon war erleuchtet. Ray stapfte in kleinen Kreisen um seinen Koffer herum.
Zuerst sah er den vaporetto aus einer dunklen Kanalbiegung weit auf der Linken kommen, ein kleines, hell leuchtendes, willkommenes Licht. Der Wasserbus bremste ab und legte eine Haltestelle vor San Marco an. Ray und die beiden Italiener starrten ihn gebannt an. Das Boot kam näher, wurde größer, bis Ray eine Handvoll Passagiere an Bord ausmachen konnte, auch das ruhige, gutgeschnittene Gesicht des Mannes mit der weißen Yachtmütze, der das Tau zum Festmachen schleudern würde. An Bord kaufte Ray einen Fahrschein und noch einen für seinen Koffer, für fünfzig Lire. Das Boot passierte Santa Maria della Salute und bog in den schmaleren Arm des Canal Grande ein. Die Lichter des Gritti Palace waren elegant und gedämpft: zwei sanft leuchtende elektrische Lampen, emporgehalten von zwei überdimensionalen weiblichen Statuen am Wasserrand. Boote, die zum Hotel wollten, legten zwischen ihnen an. Unter Segeltuchplanen dümpelten zwei Motorboote zwischen den Pfosten. Sie hießen Ca’ Corner und Aldebaran. Alles war schwarz, die seltenen Lampen waren vor diesem Hintergrund nur kleine gelbe Lichttupfer, die ab und zu blaßroten oder fahlgrünen Stein beleuchteten.
An der dritten Haltestelle, der Accademia, nahm Ray seinen Koffer und ging schnell zu dem breiten, gepflasterten Weg, der über die Insel zum Zattere-Kai führte. Durch eine kleine Arkade gelangte er in eine Gasse, anscheinend eine Sackgasse, doch dann erinnerte er sich, daß sie ein paar Meter weiter links abbog, und er erinnerte sich auch an die blaue Emailleplakette an der Seite des Hauses genau vor ihm, die verkündete, John Ruskin habe dort gewohnt und gearbeitet. Die Pensione Seguso lag gleich links hinter der Linkskurve. Ray war es unangenehm, den Portier zu wekken. Er drückte dennoch auf die Klingel.
Nach einer kleinen Weile öffnete ein alter Mann in einem roten Jackett die Tür (er hatte sich nicht die Zeit genommen, es zuzuknöpfen), begrüßte ihn höflich und fuhr mit ihm in einem kleinen Aufzug hinauf in den zweiten Stock.
Sein Zimmer war einfach und sauber; durch seine hohen Fenster bot es einen Blick auf die Insel Giudecca jenseits des Wassers und, direkt darunter, auf den schmalen Kanal, der eine Seite der Pension säumte. Ray schlüpfte in seinen Pyjama, wusch sich über dem Waschbecken – ein Zimmer mit Bad sei nicht mehr frei gewesen, sagte der Portier – und fiel ins Bett. Er war sehr müde gewesen, doch nach ein paar Minuten wußte er, daß er nicht würde einschlafen können. Er kannte das Gefühl von der Zeit auf Mallorca: eine zittrige Erschöpfung, die sich als leichtes Beben in seinem Federstrich oder seiner Handschrift zeigte. Dagegen half nur ein Spaziergang. Er stand auf, zog bequeme Sachen an und verließ leise das Hotel.
Der Morgen dämmerte schon. Ein Gondoliere in Marineblau ruderte eine Ladung Coca-Cola-Kisten in den Kanal neben der Pension; ein Motorboot schoß schnurgerade über den Canale della Giudecca, als ob es schuldbewußt nach einer langen Party schnell und heimlich nach Hause wollte.
Ray lief die gebogenen Stufen der Akademiebrücke hinauf, Richtung San Marco, landeinwärts. Er ging durch schmale graue Gassen, deren Läden fest verschlossen waren, über kleine Plätze: Campo Morosini, Campo Manin – vertraut, unverändert und Ray doch nicht so gut bekannt, daß er sich an jede Einzelheit erinnerte. Nur ein Mensch begegnete ihm, eine alte Frau mit einem großen, flachen Korb Rosenkohl. Dann tauchten unter seinen Füßen die Fliesen von American Express auf, deren Pfeil zu ihrem Büro wies, und vor sich sah er die unteren Hälften der Säulen vor der Piazza San Marco.
Er betrat das riesige Rechteck des Platzes. In seinen Ohren hallte der weite Raum wie ein »Aaahh«, wie das endlose Ausatmen eines Geistes. Zur Rechten und zur Linken wurden die Bögen der Arkaden in regelmäßigem Abstand mit der Entfernung immer kleiner. Das Stillstehen machte ihn seltsam befangen, und Ray ging weiter, scheute selbst das leise Schlurfen seiner Schnürstiefel auf dem Zement. Ein paar Tauben erwachten, umflatterten ihre Nester in den Arkaden, zwei oder drei flogen herab, um auf dem Platz nach Futter zu picken. Ray ging ganz dicht an ihnen vorbei, doch sie beachteten ihn nicht, so als ob es ihn gar nicht gäbe. Dann suchte er den Schutz der Arkaden. Die Juwelierläden waren verhängt und hinter Faltgittern verbarrikadiert. Kurz vor dem Ende der Arkaden trat er wieder auf den Platz hinaus und schaute sich im Vorbeigehen die Kathedrale an, mußte blinzeln, wie immer, angesichts ihrer komplexen Struktur, der Vielzahl verschiedener Stile auf engstem Raum. Künstlerisch vermutlich ein heilloses Durcheinander, doch sie sollte beeindrucken und in Staunen versetzen, dazu war sie errichtet und darin war sie erfolgreich.
Ray war schon fünf- oder sechsmal in Venedig gewesen, erstmals mit seinen Eltern, im Alter von vierzehn. Seine Mutter hatte Europa viel besser gekannt als sein Vater, der aber hatte ihn strenger angehalten, etwas darüber zu lernen und seine italienischen und französischen Sprachlehrplatten zu hören. In dem Sommer, als er siebzehn war, hatte sein Vater ihn zu einem französischen Schnellkurs auf die Berlitz School in St. Louis geschickt. Italien und seine Städte hatten Ray immer schon besser gefallen als Paris, besser als die Loire mit ihren Schlössern, die sein Vater so bewunderte: Diese waren dem jungen Ray damals so vorgekommen, als ob er Kalenderfotos betrachtete.
Viertel vor sieben. Ray fand eine bar-caffè, die gerade aufmachte, trat ein und stellte sich an den Tresen. Bei einem frischen blonden Mädchen mit großen blaugrauen Augen und Wangen wie Pfirsiche bestellte er einen Cappuccino; sie brühte ihn selbst an der Espressomaschine. Ein junger Helfer war damit beschäftigt, Glasbehälter mit panini zu füllen. Das Mädchen trug einen sauberen hellblauen Arbeitskittel. Sie sah ihm in die Augen, als sie die Tasse vor ihn hinstellte – ohne zu flirten, ohne ihn auch nur persönlich zu meinen, sondern so, dachte Ray, wie Italiener gleich welchen Alters oder Geschlechts andere anschauten –, als ob sie die Menschen wirklich sähen. Wohnte sie noch bei ihren Eltern, oder war sie frisch verheiratet? Doch sie ging wieder, bevor er einen Ring an ihrer Hand entdecken konnte, und eigentlich war es ihm auch egal. Er legte seine kalten Hände um die heiße Tasse und ahnte das frische, fröhliche Gesicht des Mädchens hinter der Theke, ohne sie noch einmal anzusehen. Zu seinem zweiten Kaffee nahm er sich ein Croissant, zahlte extra für einen Sitzplatz und ging zu einem kleinen Tisch. Nebenan konnte er mittlerweile eine Zeitung kaufen. Fast eine Stunde saß er da, während um ihn die Stadt erwachte und sich die Straße draußen mit hin und her eilenden Menschen füllte. Der schmächtige kleine Junge in schwarzer Hose und weißem Jackett trug ein Tablett mit Cappuccini nach dem anderen hinaus, belieferte die Nachbarschaft und kehrte zurück mit dem leeren Tablett, das er zwischen Daumen und Zeigefinger schlenkerte. Obwohl er höchstens wie zwölf aussah und in die Schule gehörte, schwärmte er für das blonde Mädchen, das ihn wie einen kleinen Bruder behandelte und ihn hinten am Haar zupfte.
Coleman und seine Gruppe zu suchen, das war wohl seine Aufgabe, dachte Ray, damit sie einander nicht in einem Restaurant oder auf der Piazza über den Weg liefen – Coleman würde vielleicht zusammenfahren oder ausrufen: »Ray, Sie hier, was für eine Überraschung!« Aber es war gerade acht, zu früh, um im Gritti oder sonstwo anzurufen und nach ihnen zu fragen. Ray überlegte, in die Pension zurückzukehren und eine Weile zu schlafen, beschloß dann aber, noch ein Stück weiterzugehen. Ladenbesitzer legten gerade ihre Waren aus, hängten Schals und steckten Taschenbücher vor die Türen ihrer beengten Läden, zogen die Rolläden hoch und zeigten Schaufenster voller Lederwaren.
In einem Fenster sah Ray einen Schal mit grüngelbschwarzen Blumen auf weißem Grund, den das Muster fast völlig verdeckte. Der Anblick hatte ihm einen Stich gegeben – erst danach schien er den Schal wirklich wahrzunehmen, und noch einen Moment später wurde ihm klar, daß er den Schal deshalb bemerkt hatte, weil er ihn an Peggy erinnerte. Sie hätte ihn sehr gern gemocht, obwohl er sich eigentlich bei ihr an keinen ähnlichen Schal erinnern konnte. Er ging ein paar Schritte weiter, kehrte dann um: Er wollte den Schal. Der Laden war noch geschlossen. Ray schlug die Zeit mit einem Espresso und noch einer Zigarette tot, in einer Bar an derselben Straße. Als er zurückkam, wurde gerade aufgemacht, und er kaufte den Schal für zweitausend Lire. Die junge Verkäuferin steckte ihn in eine hübsche Schachtel, die sie sorgfältig einpackte – sicher dachte sie, er würde ihn einem Mädchen schenken.
Dann ging Ray zurück zur Pensione Seguso. Er war jetzt ruhiger. In seinem Zimmer hängte er den Schal über die Stuhllehne, warf Papier und Schachtel weg und zog wieder den Pyjama an. Er saß auf dem Bett und betrachtete den Schal: als wäre Peggy bei ihm, hier im Zimmer. Auch ohne einen Hauch ihres Parfüms, ohne die Falten, wenn sie ihn umgebunden hätte, sah er Peggy genau vor sich, und Ray fragte sich, ob er den Schal nicht weglegen sollte. Dann fand er das lächerlich, legte sich hin und schlief ein.
Er erwachte um elf zum Läuten von Kirchenglocken, die allerdings jede Viertelstunde geschlagen haben mußten, seit er eingeschlafen war. Versuch, Coleman zu erreichen, dachte er, sonst gehen sie zum Mittagessen aus und kommen nicht vor fünf zurück. In seinem Zimmer gab es kein Telefon. Ray warf seinen Trenchcoat über und ging in den Flur, wo das Telefon auf einem Sideboard stand.
»Würden Sie mich bitte mit dem Hotel Gritti Palace verbinden?« fragte er.
Im Gritti wohnte niemand namens Coleman.
Ray fragte nach im Royal Danieli.
Wieder war die Antwort nein.
Hatte Coleman gelogen, als er sagte, er wolle nach Venedig? Wahrscheinlich ja – er hätte auf jeden Fall gelogen, ob er Ray nun töten wollte oder nicht. Bei dem Gedanken, Coleman könnte in Neapel oder Paris sein, oder gar noch in Rom, mußte Ray lächeln.
Da war noch das Bauer-Grünwald. Oder das Monaco. Er hob wieder ab. »Das Hotel Bauer-Grünwald, bitte.« Nach längerem Warten eine andere Stimme; er stellte seine Frage.
»Signor Coleman? Einen Moment, bitte.«
Ray wartete.
»’allô?« Eine Frauenstimme.
»Madame – Inez?« Ihren Nachnamen wußte er nicht. »Hier ist Ray Garrett. Verzeihen Sie die Störung. Ich wollte mit Ed sprechen.«
»Oh, Ray? Wo sind Sie? ’ier?«
»Ja, ich bin in Venedig. Ist Ed da? Wenn nicht, kann ich –«
»Er ist ’ier.« Sie klang beruhigend bestimmt und verschluckte alle ihre H. »Ray, einen Augenblick, bitte.«
Der Augenblick dauerte lange. Wollte Coleman nicht mit ihm sprechen? Dann die Stimme des anderen: »Ja?«
»Hallo. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich in der Stadt bin.«
»So so. Was für eine Überraschung. Wie lange bleiben Sie?«
»Nur einen Tag etwa. Wenn möglich, würde ich Sie gern sprechen.«
»Auf jeden Fall. Und Sie sollten Inez kennenlernen – Inez Schneider.« Coleman klang leicht verwirrt, fing sich aber wieder, als er fortfuhr: »Heute zum Abendessen? Wohin gehen wir noch mal, Inez? … Da Colombo, etwa halb neun«, sagte er zu Ray.
»Vielleicht könnten wir uns nach dem Essen treffen. Oder heute nachmittag? Allein wäre mir lieber.« Der Ausbruch am anderen Ende, wie ein verächtliches Zischen, betäubte ihn kurz; er verstand Colemans Worte nicht. »Tut mir leid, aber könnten Sie das noch einmal sagen?«
Colemans angespannte, gewöhnliche amerikanische Stimme wiederholte in gelangweiltem Ton: »Ich sagte: ›Höchste Zeit, daß Sie Inez kennenlernen.‹ Bis um halb neun im Da Colombo, Ray.« Coleman legte auf.
Ray war wütend. Sollte er zurückrufen und sagen, daß er zum Abendessen nicht kommen, daß er ihn sonst irgendwann treffen werde? Er ging auf sein Zimmer, weil er nachdenken wollte, beschloß aber gleich darauf, nicht anzurufen und um halb neun zu erscheinen.