Cover

 

Teresa Simon

Die H olunder

S chwestern

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Das Buch

Zwei ungleiche Schwestern. Eine tragische Epoche. Eine Liebe, die nicht sein darf.

München. Die talentierte Restauratorin Katharina Raith hat sich gerade einen Traum erfüllt und ihre eigene Werkstatt eröffnet. Da steht eines Tages Alex Bluebird aus London vor Ihrer Tür und übergibt ihr die Tagebücher ihrer Urgroßmutter Fanny. Sie reichen zurück bis in Jahr 1918, als Fanny nach München kam und sich in den vornehmen Kreisen einen Namen als Köchin machte. Ihre sensible Zwillingsschwester Fritzi ließ sie in der Provinz zurück. Doch eines Tages stand Fritzi vor Fannys Tür – und setzte eine fatale Kette von Ereignissen in Gang …

Die Autorin

Teresa Simon ist das Pseudonym einer bekannten deutschen Autorin. Sie reist gerne (auch in die Vergangenheit), ist neugierig auf ungewöhnliche Schicksale, hat ein Faible für Katzen, bewundert alles, was grünt und blüht, und lässt sich immer wieder von stimmungsvollen historischen Schauplätzen inspirieren.

Lieferbare Titel

Die Frauen der Rosenvilla

 

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S. 6 und S. 414 : Else Lasker-Schüler, »Dein Herz ist wie die Nacht so hell«, aus: Sämtliche Gedichte © 2016 Fischer Taschenbuch Verlag
Copyright © 2016 by Teresa Simon
Copyright © 2016 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH München,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Nejron Photo
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-16813-1
V008
www.heyne.de

 

Für Therese und Maria

 

 

Dein Herz ist wie die Nacht so hell,

ich kann es sehn

– Du denkst an mich – es bleiben alle Sterne stehn.

Und wie der Mond von Gold dein Leib

Dahin so schnell

Von weit er scheint.

Else Lasker-Schüler (186 9– 1945)

 

 

Prolog

München, April 1936

Wenn du entdeckst, was ich dir angetan habe, wirst du mich hassen bis in alle Ewigkeit. Deshalb bin ich schon fort, wenn du diese Zeilen liest, hoch in den Bergen jenseits der Grenze, im Schoß von Mutter Kirche, die seit jeher gefallenen Sünderinnen Obhut gewährt hat. Du wirst mich nicht finden, dafür habe ich gesorgt, auch wenn mir das Herz blutet angesichts dessen, was ich hier zurücklassen muss.

Aber ich weiß keinen anderen Weg.

Ich kann dir nicht einmal genau sagen, was mich dazu getrieben hat, aber es brodelt schon viel zu lange in mir, jenes unselige Gemisch aus Neid, Eifersucht und ja, auch Rachsucht. Und es wurde immer giftiger, je fremder wir uns im Lauf der Jahre geworden sind. Tief in mir hat es geschwappt und alles verätzt- bis eine weitere Kränkung wie ein nachlässig weggeworfenes Streichholz genügt hat, um die Explosion herbeizuführen.

Hätte es jene unselige Nacht doch niemals gegeben!

Wie lange hatte ich sie herbeigesehnt. Und wie tief bereue ich sie inzwischen! Ich wusste, was er dir bedeutet, so geschickt du es auch verborgen hast, das hat mich schier in den Wahnsinn getrieben. Ich konnte nicht anders – verzeih mir, verzeih mir! Niemals habe ich mit den Folgen gerechnet, die ich nun zu tragen habe. Doch auch meine flehentlichsten Gebete werden sie nicht wieder ungeschehen machen, und ich kann nicht einmal mein Herz damit erleichtern, dir alles zu gestehen.

Dabei wollte ich immer so sein wie du, aber es ist mir leider nie gelungen. Du warst stets die Entschlossenere, die, die trotz aller Widrigkeiten vorangekommen ist, ohne sich dabei über Schwächere zu erheben. Dafür bewundere und liebe ich dich. Auch als ich am Boden lag, hast du dich um mich gekümmert. Dabei hast du mich vor einer großen Dummheit bewahrt, die nicht nur mein Leben ausgelöscht hätte. Wenn ich nun unser groß gewordenes Kind betrachte, erkenne ich erst, was ich dir alles zu verdanken habe. Noch mehr aber liebe ich dich für die kleinen Schwächen, die auch du manchmal zeigst: deine Ungeduld, deine Sturheit, deine trotzige Genauigkeit, vor allem jedoch deine Angst vor großen Gefühlen, in denen ich bisweilen so gern schwelge.

Nein, ich werde dir keine Schande mehr bereiten, darauf kannst du dich verlassen. Wenn ich dieses Mal gehe, dann ganz leise, ohne Abschiedsgetöse, und es wird dir vielleicht nicht gleich auffallen. Ich habe keine Angst, dass du mich jemals vergessen könntest. Dazu waren wir uns von Anfang an zu nah und werden es eines Tages vielleicht erneut sein, wenn meine Sünden gebüßt sind und wir uns an einem anderen, glücklicheren Ort wiederbegegnen.

Es tut mir leid, so unendlich leid, dass ich dir wehtun muss!

Das und nur das wollte ich dir mit diesem Brieflein sagen. Ich habe es so eingerichtet, dass es dich nicht zu früh erreicht, damit du mich nicht noch einmal umstimmen kannst. Hätte ich gekonnt, so hätte ich ein anderes Leben gelebt – allein schon deinetwegen. Aber nun ist es zu spät, um noch etwas daran zu ändern.

Du bist und bleibst mein Herzensmensch, mein Ein und Alles, und ich wünsche dir jedes erdenkliche Glück dieser Welt.

Denk nicht zu schlecht von mir!

Deine F.

 

 

1

München, Mai 2015

Heute würden ihr die Dampfnudeln gelingen. Katharina Raith hatte die Arbeit an der lädierten Biedermeierkommode schon vor einer Weile unterbrochen, gründlich ihre Hände gewaschen und sich dann von der Werkstatt zum Kochen in den ersten Stock zurückgezogen. Im dritten und kleinsten Zimmer ihrer neuen Wohnung stand der letzte halb ausgepackte Karton, und einige Wände warteten noch immer auf die richtigen Bilder. In der geräumigen Küche jedoch war bereits alles so, wie es sein sollte: An der Stirnseite prangte die Kredenz aus den Zwanzigerjahren, frisch lackiert in leuchtendem Zitronengelb. Gegenüber befand sich der Herd mit ultramoderner Abzugshaube, links flankiert von einer Arbeitsplatte aus Granit, in die ein längliches Feld aus Zwetschgenholz eingelassen war, auf dem sich ganz nach Wunsch kneten und schneiden ließ. Mittelpunkt aber war der längliche Tisch, der ursprünglich aus einem sardischen Bauernhaus stammte und von Katharina so gekonnt restauriert worden war, dass die Beine nicht mehr wackelten und die schwere Platte aus Olivenholz wie geölt wirkte. Er war ihr Lieblingsmöbel. In ihren nunmehr vier Berufsjahren als Restauratorin, die auf die Meisterschule für das Schreinerhandwerk gefolgt waren, hatte sie schon einige alte Schätze aufgearbeitet, aber keiner davon lag ihr so sehr am Herzen wie dieser Bauerntisch, an dem sie jeden Morgen ihren Kaffee trank.

Die schwarze Kladde, die aufgeschlagen darauf lag, trug ihre alten Fettflecken würdevoll, wenngleich sie mittlerweile vom häufigen Umblättern brüchig geworden war. Eine Handschrift prägte die zerlesenen, teilweise eingerissenen Seiten, die schon durch viele Hände gegangen waren – die steilen, fast überkorrekten Schriftzüge ihrer Urgroßmutter Franziska Raith, genannt Fanny, die hier ihre wichtigsten Rezepte niedergeschrieben hatte. Es hatte einiges an Überredungskunst gekostet, bis Paula, Fannys jüngste und einzige noch lebende Tochter bereit gewesen war, diesen Schatz an ihre Großnichte abzutreten, die ebenso gern kochte wie die Ahnin. Inzwischen waren beide gleichermaßen glücklich über diese Entscheidung.

Obwohl Fanny schon zu Beginn der Achtzigerjahre gestorben war, war die Erinnerung an sie in der Familie bis heute lebendig geblieben. Ihre Lebensweisheiten wurden gern zitiert, ihre Kochkunst gelobt. Jeder, der sie noch persönlich gekannt hatte, sprach mit liebevollem Respekt von ihr. Wenn man den Raith-Frauen ein ganz besonderes Kompliment machen wollte, dann sagte man, sie sähen ihr ähnlich. Bei Katharina traf dies in besonderem Maße zu. Sie hatte Fannys weit auseinanderstehende Augen geerbt, die je nach Stimmung und Lichteinfall zwischen Grün und Grau changieren konnten, ihre aschblonden Haare, die sie seit ein paar Wochen kinnlang trug, sowie die kurze, gerade Nase. Auch im Körperbau gab es einige Gemeinsamkeiten wie die schön geformten Schultern, die schlanken Beine und die ebenso schmalen wie äußerst empfindlichen Füße, die rasch mit Blasen gegen unbequemes Schuhwerk protestieren konnten. Nur in der Größe unterschieden sie sich, denn die Urenkelin hätte Fanny um nahezu einen Kopf überragt.

Katharina zog das karierte Küchentuch von der Schüssel und nahm den Teig heraus. Er war prächtig gegangen und zerfiel nicht in kleine Brösel wie bei früheren Versuchen, sondern bildete eine goldene Masse, die glatt und geschmeidig in der Hand lag. Vielleicht hatte sie den Hefeteig ja dieses Mal endlich lange genug aufgeschlagen. Sie stach Kugeln in Eigröße aus, legte sie auf die bemehlte Arbeitsfläche und bedeckte sie erneut, um sie für eine weitere halbe Stunde gehen zu lassen.

Die Zwischenzeit nutzte sie für eine Tasse Espresso auf dem Balkon. Nicht weit entfernt plätscherte der Auer Mühlbach, und sie blickte gedankenverloren auf den Holzboden der Küche. Mit Unterstützung ihrer Freundin und Geschäftspartnerin Isi war das einst so trübe PVC mittlerweile hellen Bambusplanken gewichen, die exotisches Flair verströmten und sich perfekt zum Barfußgehen eigneten. Katharina hasste es, sich eingezwängt zu fühlen, und hätte ihr Leben wohl am liebsten ganz ohne Schuhe verbracht. Isabel von Thalheim, genannt Isi, hatte dafür ohne Murren ein ganzes Wochenende geopfert. Da war es das Mindeste, dass sich Katharina mit Uromas sagenumwobener Mehlspeise revanchierte, die Isi für ihr Leben gern aß.

Ob sie rechtzeitig zurück sein würde?

Versprochen hatte sie es hoch und heilig, aber bei ihren Raubzügen ins bayerische Hinterland konnte man nie ganz sicher sein. Was hatte Isi von dort nicht schon alles angeschleppt! Wurmstichige Holzbänke, bucklige Bauernschränke, Wirtshaustische, die unzählige Arbeitshände und Kartenspiele im Lauf der Jahrzehnte blank gescheuert hatten. In manchen Dörfern wurden die Türen verrammelt, sobald der rote Transporter mit dem Münchner Kennzeichen erneut auftauchte. Anderenorts dagegen öffneten die Leute bereitwillig Scheunen und Dachböden, weil sie nirgendwo ihr altes Zeug besser loswerden konnten. Großer Einsatz, aber nur wenige echte Treffer, so präsentierte sich bislang die Ausbeute. Eigentlich als Zwischenlager für Aufträge gedacht, die auf die Abholung warteten, war der längliche Schuppen im Hinterhof, den der Hausbesitzer ihnen zusätzlich zur Werkstatt vermietet hatte, mittlerweile zu einer Art Sammellager verkommen. Hier stapelten sich die kuriosesten Fundstücke, Isi jedoch dachte noch lange nicht ans Aufhören.

»Ich bin nun mal ein Trüffelschwein, wenn es um Trödel geht, und erkenne Schätze, an denen andere blindlings vorbeilaufen. Irgendwann gelingt uns der ganz große Coup, das weiß ich genau.« Ihre wasserblauen Augen bekamen einen schwärmerischen Ausdruck. »Und dann wirst du mir bis zum Ende aller Tage dankbar sein!«

»Oder wir ersticken über kurz oder lang in all den nutzlosen Gerätschaften«, hatte Katharina gekontert. »Und gehen verarmt, aber stilvoll pleite.«

Isis rauchige Lache, mit der sie diesen Einwand pariert hatte, war einzigartig. Manchmal wünschte sich Katharina, selbst etwas mehr von der Lässigkeit zu besitzen, die ihrer Freundin so eigen war wie die winzigen, fast immer zerschrammten Hände und die kastanienbraune Mähne, die sie meistens wie eine Tänzerin im strengen Knoten trug. Aber schließlich war sie ja auch nicht als Comtesse auf einem verfallenen burgenländischen Schloss geboren worden, sondern hatte vor 32 Jahren in der beschaulichen Münchner Maxvorstadt das Licht der Welt erblickt. Dass sie sich trotzdem schon seit der Lehrzeit, die beide nach dem Abitur gemeinsam in den Werkstätten der Münchner Staatsoper absolviert hatten, so gut verstanden, war ein kleines Wunder, an das sich beide im Laufe der Jahre gewöhnt hatten.

Katharina vertiefte sich für die nächsten Schritte noch einmal in Uroma Fannys Rezept. Milch, Zucker und Butter kamen fingergliedhoch in den schweren Topf und wurden auf kleiner Flamme erhitzt. Sie setzte die Teigstücke nebeneinander in die Flüssigkeit, deckte sie zu und legte zusätzlich ein altes Küchengewicht darauf, damit ja kein Dampf entwich. Vorsichtig öffnete sie eines von Paulas heiligen Einmachgläsern und füllte etwas von dem Holunderkompott in eine Schüssel. Danach kratzte sie mit einem kleinen Messer das Innere einer Vanilleschote aus und gab es in den Topf mit Sahne und Milch. Zwischendrin schlug sie Eigelb mit Zucker auf, schüttete zwei Kellen Milch dazu und rührte das Gemisch vorsichtig unter.

Wann genau war Vanillesauce eigentlich fertig?

Fanny Raith hatte vor fast 100 Jahren einen einfachen Trick dazu niedergeschrieben: »Wenn man auf einem Holzlöffel eine Rose pusten kann.«

Katharina wollte es gerade ausprobieren, als sie von unten Geräusche hörte. Die Werkstatt war abgesperrt, aber es gab eine Treppe, die vom Hausgang direkt heraufführte, und sie hatte die Wohnungstür angelehnt gelassen. Sie kannte Isi nur zu gut. Wahrscheinlich hatte sie wie so oft ihren Schlüssel vergessen, und so würde sie ohne Probleme in die Wohnung kommen.

»Servus, Contessina!«, rief sie. »Essen ist fertig. Du kommst also goldrichtig …«

Doch es war nicht Isi, die plötzlich auf der Schwelle stand, sondern ein Mann, den Katharina noch nie gesehen hatte. Er war groß, hatte dunkle Haare, trug Jeans und ein graues T-Shirt. Seine markanten Züge wurde von der schwarzen Sonnenbrille noch betont.

»Sorry«, sagte er, bevor Katharina auch nur einen Ton herausbrachte. »The door was open …« Er begann zu schnuppern. »What are you cooking? It smells great …«

»Dampfnudeln«, erwiderte sie nicht gerade überfreundlich. »Was wollen Sie denn hier? Das ist eine Privatwohnung!«

»Daempfnoodeln.« In seinem Mund schienen die Buchstaben immer mehr zu werden. »What a funny word!« Er schüttelte den Kopf, dann wechselte er ins Deutsche. »Verzeihen Sie bitte meinen Überfall, aber ich bin auf der Suche nach Katharina Raith.« Sein Deutsch war flüssig, der britische Akzent jedoch unüberhörbar. »Sind Sie das möglicherweise?«

»Ja, das bin ich.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ihre Urgroßmutter hieß Franziska? Fanny Raith, geborene Haller?«

Katharinas Haut begann zu prickeln. »Ja«, sagte sie, noch immer zurückhaltend. »Das ist ebenfalls richtig. Weshalb wollen Sie das wissen? Und wer sind Sie überhaupt?«

Er lächelte erleichtert, nahm die Brille ab, und sofort erschien er Katharina jünger.

»Well«, sagte er. »Dann bin ich hier wohl endlich an der richtigen Adresse. Mein Name ist Alex Bluebird, und ich komme aus London. Nice to meet you!«

»Alex Bluebird?«, wiederholte sie kopfschüttelnd. »Noch nie gehört.«

»Das glaube ich Ihnen gern, denn bis vor Kurzem hatten auch wir nicht die geringste Ahnung von Ihrer Existenz. Aber dann ist meine Grandma hochbetagt gestorben, und in ihrem Nachlass fand sich etwas, das mein Großonkel Fanny Raith bereits 1945 zurückgeben wollte.« Er deutete auf die schwarze Aktentasche, die neben ihm stand.

»1945?«, fragte Katharina verblüfft. »Als der Krieg vorbei war?«

»That’s correct.« Sein Lächeln war erloschen. »Dazu ist es allerdings leider nicht mehr gekommen.«

»Was ist passiert?« Unwillkürlich begann sie zu frösteln.

»Eine lange Geschichte. Sie wollen sie hören?«

Sie wusste nicht genau, was sie mit der Frage anfangen sollte, aber dieser Alex Bluebird hatte etwas an sich, dem sie sich nur schwer entziehen konnte. Und was sollte ihre Urgroßmutter, die, soweit sie wusste, Deutschland nie verlassen hatte, mit einer Londoner Familie zu tun haben?

»Ja«, sagte Katharina, schloss die Kladde mit den Rezepten und schob sie zur Seite. »Das möchte ich allerdings, wenn Sie schon die Mühe eines so weiten Wegs auf sich genommen haben.«

»Ich musste unbedingt persönlich kommen«, sagte er, was ihre Neugier nur noch weiter anstachelte. Beim Reden fielen ihm die Haare in die Stirn, und er strich sie mit einer ungeduldigen Geste zurück. »Alles andere wäre mir verkehrt erschienen. Und jetzt habe ich Sie einfach so überfallen …«

»Es klingt, als hätten Sie gute Gründe dafür.« Katharina dachte an die Freundin und das Versprechen, das sie einlösen wollte. Aber Isi würde sicherlich Verständnis haben, wenn etwas derart Spannendes passierte. »Setzen Sie sich doch bitte.« Sie überwand ihre Schüchternheit. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

Er nahm Platz am Tisch. Die Aktentasche legte er auf den Stuhl neben sich.

»A coffee would be …« Er hielt inne. »Eine Tasse Kaffee wäre wunderbar. Und vielleicht …« Sein Blick glitt sehnsüchtig zum Herd.

»Sie möchten meine Dampfnudeln probieren? Aber gerne doch!«

Katharina hob vorsichtig den Deckel hoch. Sie waren perfekt geworden, golden, duftend, wohlgeformt. Zum Glück hatte sie den Topf mit der Vanillesauce abgeschaltet, bevor er gekommen war, aber sie besaß noch immer genau die richtige Temperatur.

Sie richtete eine großzügige Portion für ihn an.

»Möchten Sie dazu vielleicht Holunderkompott? Nicht ganz klassisch, aber in meiner Familie essen wir die Dampfnudeln immer mit Holunderkompott. Es ist eine spezielle Rezeptvariante meiner Urgroßmutter.«

Er zog die Brauen fragend nach oben.

»Ho-what?«

Jetzt musste sie tief in ihrem Gedächtnis kramen. Isi hatte es einmal für ihre Tante Berthe übersetzt, die nach dem Krieg nach Arizona ausgewandert war und bei ihrem Münchenbesuch gar nicht genug davon bekommen konnte – und plötzlich war es wieder da.

»Stewed elderberry«, sagte sie. »Ich glaube, so müsste es in Ihrer Sprache heißen.«

Alex Bluebird war plötzlich ganz still geworden.

»Ihre Sprache war früher einmal auch unsere Sprache«, sagte er schließlich belegt. »Ein Zweig meiner mütterlichen Familie stammt aus Deutschland. Über Generationen haben sie in Regensburg und München gelebt, bevor sie vor den Nazis fliehen mussten.«

Jetzt war Katharina froh, dass sie an der Kaffeemaschine zu hantieren hatte. Schließlich stellte sie zwei Tassen, seinen Teller mit den Dampfnudeln und der Vanillesauce sowie das Kompottschälchen auf den Tisch. »Guten Appetit«, sagte sie und fügte hinzu: »Enjoy your meal!«

»Und Sie?«, fragte er.

»Ich warte noch auf meine Freundin, die eigentlich jeden Moment zurück sein müsste. Fangen Sie doch bitte an! Ich sehe Ihrer Nasenspitze an, dass Sie es kaum erwarten können.«

Bereits nach dem ersten Löffel entspannte sich sein Gesicht, und als er weiteraß, sah er fast glücklich aus. Jetzt hatte sie Zeit, sich in Ruhe seine Augen anzusehen, die goldbraun wie Bernstein waren und leicht melancholisch wirkten.

»Diese Süße und dazu das Herbe der dunklen Beeren«, stieß er zwischendrin aus. »Einfach göttlich!«

Katharina beobachtete ihn weiter, während sie ihren Kaffee trank.

»Und jetzt will ich alles wissen«, sagte sie, nachdem sein Teller leer war. »Wieso sind Sie extra aus London gekommen? Und was konnte Ihr Großonkel meiner Urgroßmutter nicht mehr geben? Was hat Fanny Raith überhaupt mit England zu tun? Meines Wissens ist sie dort doch niemals gewesen.«

Alex legte den Löffel beiseite. Sein Blick wurde ernst, fast feierlich. Dann öffnete er die Aktentasche und zog einige vergilbte Fotos aus einer Mappe. Das erste zeigte einen Mann in Uniform mit kurzen, dunklen Locken, der gewisse Ähnlichkeit mit ihm besaß.

»Diese Zeugnisse der Vergangenheit sind viel zu kostbar, um sie fremden Händen anzuvertrauen«, sagte er. »Geschweige denn, um sie auf den Postweg zu bringen und somit der Gefahr auszusetzen, unterwegs verloren zu gehen. Wir können uns glücklich schätzen, dass sie überhaupt noch existieren, wo so vieles andere doch zerstört wurde.«

Katharina spürte plötzlich einen Kloß im Hals, ohne zu wissen, worauf sich Alex bezog.

»Das ist Ruben Rosengart«, fuhr er langsam fort, als koste ihn jedes Wort Kraft. »Der jüngere Bruder von Fannys Freundin Alina, verehelichte Cantor. Mein Großonkel.«

Jetzt sah Katharina ihn noch gespannter an.

»Ruben hatte sich als Freiwilliger für die US-Army verpflichtet. Er war dabei, als die amerikanischen Streitkräfte im Frühling 1945 München eingenommen haben«, fuhr er fort. »Dort wollte er sich auch mit Fanny Raith treffen, die er seit Kindertagen kannte, aber bevor es dazu kam, wurde sein Jeep in die Luft gesprengt.«

»Er hat es nicht überlebt?«, fragte Katharina betroffen.

Alex Bluebirds rechtes Lid begann zu zucken. Er war also offenbar ebenso angespannt und aufgeregt wie sie.

»Der feige Anschlag konnte nicht aufgeklärt werden«, sagte er. »Es gibt dazu jede Menge Theorien und einen ganzen Sack voller Indizien. Aber bedauerlicherweise bis heute keinen überführten Täter.«

Er legte zwei weitere Fotografien auf den Tisch.

»Alina mit ihrem Mann Leo Cantor, einem Münchner Kunsthändler auf ihrer Hochzeitsreise in Venedig im April 1920. Leider kam er nur wenige Jahre später bei einem Autounfall ums Leben.«

Eine strahlende junge Frau in einem eleganten Mantel mit Pelzkragen auf der Piazetta, das dunkle Haar im modischen Bubikopf der Zwanzigerjahre frisiert. Neben ihr ein stattlicher Mann, ebenfalls in Mantel und Hut, offenbar einige Jahre älter als sie.

»Und das sind Fanny und Alina um 1933 vor Fannys Schwabinger Wirtshaus. Zum bunten Eck, so hat sie es genannt. Ein mutiger Name in braunen Zeiten, wie ich finde. Ihre Urgroßmutter muss eine wunderbare Frau gewesen sein. Haben Sie sie noch gekannt?«

»Als sie starb, war ich erst drei«, sagte Katharina, die den Blick kaum von dem Foto lösen konnte. »Aber meine Mutter und meine Großmutter, die leider auch nicht mehr lebt, haben oft von ihr erzählt. Ja, ich trage ein Bild von ihr in mir, aber es ist leicht verschwommen.«

Sofort war das Gefühl wieder da, das stets mit der Erinnerung an die Uroma verknüpft war: heimelige Wärme und der Geruch nach Vanille. Für einen Moment wandte Katharina den Kopf zu Seite, weil sie einem Fremden nicht so viel von sich preisgeben wollte. Dann jedoch sah sie sich das Foto noch einmal genauer an.

Beide Frauen trugen ein schlichtes Dirndl mit Schürze, doch während Fanny die Arme vor der Brust verschränkt hatte und so selbstbewusst und stolz dastand, als wäre sie darin schon zur Welt gekommen, wirkte die zarte Frau neben ihr in der bayerischen Tracht wie verkleidet. Hatte sie sich die Haare gefärbt?

Auf diesem Foto wirkten sie viel heller.

Alinas Mund war leicht verzogen, als bemühe sie sich um ein Lächeln, das nicht ganz gelingen wollte. Die schlanken Hände spielten mit dem weißen Schürzenband. Zwischen ihnen duckte sich ein dünnes dunkelhaariges Kind in einem geblümten Kleid, das schüchtern an der Kamera vorbeischaute.

»Die Kleine zwischen ihnen ist Grandma Maxie«, sagte Alex Bluebird. »Damals muss sie ungefähr zehn gewesen sein. Sehen Sie, wie sie den Kopf einzieht, als würde sie versuchen, sich unsichtbar zu machen? Im späteren Leben war sie dann alles andere als scheu. Aber über jene Jahre hat sie niemals mit uns geredet.«

Nur ein wenig jünger als damals Oma Clara, dachte Katharina. Und ziemlich genauso alt wie Großtante Marie. Ob die Kinder auch Freundinnen gewesen waren? Aber ein Mädchen aus so reichem Haus und die Töchter einer einfachen Köchin ….

»Wie passt das denn zusammen?«, fragte sie laut. »Diese elegante Dame und meine Urgroßmutter, die ihr Leben lang Köchin war, soviel ich weiß … das waren zu jener Zeit doch zwei ganz verschiedene Welten!«

Bluebirds Blick wurde warm.

»Sie werden es besser verstehen, wenn Sie das hier gelesen haben«, sagte er und legte zwei dickere schwarze Kladden auf den Tisch. »Und verzeihen Sie bitte, dass meine Mutter und ich es auch getan haben, obwohl uns bewusst war, dass es sich um sehr persönliche Aufzeichnungen handelt. Aber wir mussten einfach wissen, was damals in München passiert war.«

Schon auf den ersten Blick erkannte Katharina, dass es die gleiche Sorte Kladde war wie jene, die Fannys Rezepte enthielt. Sie streckte die Hand aus und berührte sie vorsichtig. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vor Aufregung wurde ihr eiskalt. Alex Bluebird, der zu spüren schien, was in ihr vorging, nickte ihr aufmunternd zu.

Dann schlug sie die erste Kladde auf.

Dieselbe steile, penible Schrift – ja, das hatte ihre Urgroßmutter zweifelsfrei mit eigener Hand geschrieben …

Weiden, Oktober 1918

Jetzt, da wir die Mutter zu Grabe tragen mussten, hält mich nichts mehr hier. Selbst die Schläge, die der Vater mir angedroht hat, sollte ich nicht endlich zur Vernunft kommen, ändern etwas an meinem Entschluss. Nicht einmal Fritzi könnte mich noch umstimmen. Ich muss weg aus diesem Weiden, bevor es mich noch erstickt, und so habe ich seit Wochen meine Flucht bis in jede Einzelheit geplant. Ich schäme mich, während ich diese Worte niederschreibe, weil ich mich ihr gegenüber wie eine Verräterin fühle, aber ich kann nun einmal nicht anders …