Jodi Picoult

BIS ANS ENDE
DER
GESCHICHTE

Aus dem Amerikanischen
von Elfriede Peschel

Roman

C. Bertelsmann

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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»The Storyteller« bei Atria Books,
a Division of Simon & Schuster, Inc., New York.

© 2015 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Bürosüd
Coverillustration: Bürosüd

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15939-9
V003

www.cbertelsmann.de

Für meine Mutter Jane Picoult,
weil du mir gezeigt hast, dass es nichts Wichtigeres
als die Familie gibt.
Und weil du nach zwanzig Jahren mal
wieder dran bist.

Mein Vater wurde nicht müde, mir die Wünsche für seine eigene Beerdigungszeremonie zu schildern. »Ania«, pflegte er zu sagen, »keinen Whiskey auf meiner Beerdigung. Ich möchte den besten Brombeerwein. Und keine Tränen, denk dran. Und ich möchte unter Trompetenfanfaren und umschwirrt von weißen Schmetterlingen in die Erde hinabgelassen werden.« Eine echte Persönlichkeit, mein Vater. Er war der Dorfbäcker und backte jeden Tag zusätzlich zu den Laiben für die Dorfbewohner ein einzelnes Brötchen für mich, das so einzigartig wie köstlich war: Der mit süßem Zimt und reichhaltiger Schokolade vermischte Teig war geflochten wie eine Prinzessinnenkrone. Und die geheime Zutat, sagte er, sei seine Liebe zu mir, weshalb dieses Gebäck besser schmeckte als alles andere, was ich je gegessen hatte.

Wir wohnten am Rande eines Dorfes, das so klein war, dass jeder jeden beim Namen kannte. Unser Haus war aus Natursteinen erbaut und hatte ein Strohdach; der Ofen, mit dem mein Vater backte, heizte das ganze Haus. Ich saß meist am Küchentisch und pulte Erbsen, die ich in dem kleinen Garten hinter dem Haus anbaute. Mein Vater öffnete dann die Tür des gemauerten Ofens und holte mit dem Brotschieber die krossen, runden Brotlaibe heraus. Im Schein der roten Glut zeichneten sich seine kräftigen Rückenmuskeln unter dem vom Schweiß nassen Bäckerhemd ab. »Ich möchte keine Beerdigung im Sommer, Ania«, ergänzte er. »Sorg dafür, dass sie an einem kühlen Tag stattfindet, wenn ein leichtes Lüftchen weht. Noch bevor die Vögel südwärts fliegen, damit sie für mich singen können.«

Ich gab vor, seine Wünsche aufzuschreiben. Dieses makabre Gespräch machte mir nichts aus, denn ich hielt meinen Vater für so stark und unverwüstlich, dass ich nicht daran glaubte, eine seiner Bitten jemals erfüllen zu müssen. Einige andere im Dorf fanden diese Art von Beziehung zu meinem Vater, die Tatsache, dass wir über so etwas scherzen konnten, merkwürdig, aber meine Mutter war gestorben, als ich noch ein Kind war, und wir hatten nur noch uns.

Die Probleme begannen an meinem achtzehnten Geburtstag. Anfangs beklagten sich nur die Bauern, die, wenn sie zum Füttern ihrer Hühner herauskamen, nur noch ein wildes Gestöber blutiger Federn im Hühnerstall vorfanden oder ein fast völlig ausgeweidetes Kalb, um dessen Kadaver die Fliegen schwirrten. »Ein Fuchs«, meinte Baruch Beiler, der Steuereintreiber, der in einem herrschaftlichen Haus wohnte, das mitten auf dem Dorfplatz prunkte wie ein Edelstein am Hals eines Königs. »Oder auch eine Wildkatze. Zahlt mir, was ihr mir schuldet, und als Gegenleistung wird man euch beschützen.«

Eines Tages kam er zu unserem Häuschen, als wir nicht auf ihn vorbereitet waren, und damit meine ich, dass wir es nicht mehr geschafft hatten, die Türen zu verbarrikadieren, das Feuer zu löschen und somit den Anschein zu erwecken, gar nicht zu Hause zu sein. Mein Vater formte herzförmige Laibe, wie er das immer an meinem Geburtstag tat, damit die ganze Stadt erfuhr, dass es ein besonderer Tag war. Baruch Beiler kam in die Küche gestiefelt, hob seinen Stock mit der goldenen Spitze und schlug damit auf den Arbeitstisch. Eine Mehlwolke stieg auf, und als sie sich wieder legte, fiel mein Blick auf den Teig zwischen den Händen meines Vaters, auf das zweigeteilte Herz.

»Bitte«, sagte mein Vater, der sonst nie bettelte. »Ich weiß, was ich versprochen habe. Aber das Geschäft lief schlecht. Wenn Sie mir noch etwas mehr Zeit geben …«

»Du bist in Verzug, Emil«, sagte Beiler. »Ich besitze das Pfandrecht für dieses Rattenloch.« Er kam näher heran. Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich meinen Vater nicht für unbesiegbar. »Weil ich ein großzügiger Mann, ein edelmütiger Mann bin, gebe ich dir Aufschub bis Ende der Woche. Aber wenn du dann nicht mit dem Geld beikommst, nun, ich kann nicht sagen, was dann geschehen wird.« Er hob seinen Stock an und ließ ihn wie eine Waffe durch die Hände gleiten. »Es gab in letzter Zeit so viele … Unglücksfälle.«

»Genau das ist der Grund, weshalb wir so wenig Kundschaft haben«, warf ich kleinlaut ein. »Es traut sich keiner mehr, zum Markt zu gehen, weil die Leute Angst vor dem Tier da draußen haben.«

Baruch Beiler drehte sich um, als würde er meine Anwesenheit zum ersten Mal bemerken, und musterte mich – von meinen dunklen Haaren, die in einem Zopf zusammengefasst waren, bis zu den Lederstiefeln an meinen Füßen, deren Löcher mit dicken Stoffflicken repariert worden waren. Ich erschauderte unter seinem Blick, der jedoch anders als der Damians war, der Hauptmann der Wache, der mich mit seinen Blicken verfolgte, wenn ich den Dorfplatz verließ – als wäre ich Sahne und er die Katze. Nein, dieser Blick war geschäftsmäßiger, taxierender. Ich fühlte mich, als versuchte Baruch Beiler abzuschätzen, welchen Wert ich haben könnte.

Er griff über meine Schulter hinweg zum Drahtgestell, auf dem die letzte Ladung Brotlaibe zum Auskühlen lag, nahm sich einen herzförmigen Laib vom Regal und klemmte ihn sich unter den Arm. »Für unterwegs«, verkündete er und verließ das Haus, wobei er die Tür sperrangelweit geöffnet ließ, einfach nur deshalb, weil er es sich erlauben konnte.

Mein Vater sah ihm hinterher und zuckte mit den Schultern. Dann nahm er die nächste Handvoll Teig und begann, ihn zu formen. »Achte nicht auf ihn. Er ist ein kleiner Mann, der einen großen Schatten wirft. Eines Tages werde ich auf seinem Grab tanzen.« Und mit einem Lächeln, das sein Gesicht weich werden ließ, wandte er sich mir zu. »Ach, übrigens, Ania, da fällt mir etwas ein. Auf meiner Beerdigung soll es eine Prozession geben. Erst die Kinder, die Rosenblüten streuen. Dann edelste Damen, mit Sonnenschirmen, so bunt wie exotische Blüten. Dann natürlich mein Sarg, gezogen von vier – nein – von fünf schneeweißen Pferden. Und schließlich hätte ich Baruch Beiler gern als Schlusslicht, der den Pferdemist aufsammelt.« Dabei warf er den Kopf in den Nacken und lachte. »Außer natürlich, er stirbt zuerst. Je eher, desto besser.«

Mein Vater wurde nicht müde, mir die Wünsche für seine eigene Beerdigungszeremonie zu schildern … am Ende aber sollte ich zu spät kommen.

Teil I

Man kann unmöglich gläubig sein in einer Welt, die aufgehört hat, den Menschen als Menschen zu sehen, die einem »beweist«, dass man kein Mensch mehr ist.

Simon Wiesenthal, Die Sonnenblume