Für Björn.
Und für Paula und Milan.
Diese Welt!
Als ob es eine andere gäbe.
Susan Sontag,
Gegen Interpretation
She never stumbles
She’s got no place to fall
Bob Dylan,
She belongs to me
Siehst du, es schlägt noch. Ada löste die Fingerkuppen von ihrer Halsschlagader und ließ die Hand sinken, nicht zu weit, nur bis zum Schlüsselbein. Sie starrte durch das staubige Fenster auf die Straße. Die blasse Februarsonne spielte den Passanten auf dem Bordstein ihre Schatten zu, synchron und maßstabgerecht, jedem sein Quentchen Schablonenschwarz. Alles, wie es sich gehörte, zumindest draußen, selbst die fetten Tauben schleppten ihre kleinen Schatten durch den Rinnstein, in dem der letzte Schnee versickerte. Es war beinahe still in dem kleinen Raum. Nur das Blubbern der Aquarien war zu hören. Und ab und zu das Summen des Kühlschranks aus der Küche. Ada wusste nicht, wie lange sie schon im Pyjama am Fenster stand und auf dem Ende ihres Zopfs herumkaute, das nach Shampoo schmeckte und Rauch, sie wusste nur, dass es lange sein musste, dass es Zeit war, die kalten Füße zu bewegen und den Tag zu beginnen. Stattdessen zerknautschte sie mit der linken Hand die künstliche Kopfhaut ihrer blonden Kurzhaarperücke. Sie hatte sie zum Proben aufsetzen wollen und es dann vergessen. Das kam öfter vor in letzter Zeit, dass ihre Vorhaben sich in ihren Gedanken verhedderten.
Aus dem Augenwinkel konnte Ada das Stethoskop sehen, das zusammengerollt auf dem Tischchen neben dem Fenster lag. Nicht, dachte sie, nicht schon wieder. Sie lehnte ihre Stirn gegen die kühle Scheibe und versuchte, die Schatten auf dem Asphalt zu zählen. Doch die Schatten verschoben sich ständig, weshalb sie es mit den Laternen versuchte, den Autos, Antennen, Passanten, aber ihr Blick rutschte ab und ab und ab am glatten Glas und verfing sich im schwarzen Plastikschlauch des Stethoskops.
Das Herz eines Walfischs, dachte Ada, ist so groß wie ein VW-Käfer; ungeheuer stabil musste ein solches Herz sein. Ob je ein Walfisch einen Herzinfarkt erlitten hatte, fragte sie sich, und wie das aussehen mochte, wenn solch ein Koloss sich vor Schmerzen krümmte und auf den Meeresboden sank, mit der Schwanzflosse Sand aufwirbelte und schließlich reglos liegen blieb. Ada schloss die Augen. Da war wieder diese Taucherglocke aus trübem Glas, die sie vom Tag trennte, die ihr den Kopf und das Atmen schwermachte. Dieses taumlige Gefühl, wie manche es haben, wenn sie aus dem Tiefschlaf gerissen werden und die Bilder im Kopf noch stärker sind als das, was die müden Augen wahrnehmen. Ada hob ihre rechte Hand auf Brusthöhe, hielt sie einen Moment so und schaute sie an: Die Hand zitterte. Und wenn die Hand jetzt schon zitterte, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis die Taucherglocke ihr den Kopf unter Wasser drückte, tief in ihr eigenes Angstwasser hinein. Und während sie von außen betrachtet, etwa von einem der gegenüberliegenden Fenster aus, nur aussehen würde wie eine junge Frau, die etwas starräugig den Tauben auf dem Gehsteig zusah, würde sie innerlich strampeln gegen den Druck in die Tiefe. Und es wäre ihr nicht anzusehen, dieses Unterwasserstehen und das Ringen nach Luft, nicht von einem der gegenüberliegenden Fenster aus und auch nicht aus der Nähe; denn selbst jemand, der neben ihr gestanden hätte, ganz nahe, so nahe, dass er die trockenen Hautschüppchen auf ihrer Lippe hätte sehen können, die sie noch nicht abgebissen hatte, selbst so jemand hätte nur etwas irritiert gefragt, woran sie denke.
Ada ließ die Zitterhand auf ihren Oberschenkel sinken. Und wenn schon, so weit wirst du es heute nicht kommen lassen. Zieh dich an, fang an mit deinem Tag, fang irgendetwas an, und hör auf, in dich hineinzufallen.
Sie versuchte, an etwas Beruhigendes zu denken. An die Enten, unten im Hafenbecken, an die Weinreben, oben, in den windigen Tüllinger Hügeln, an die Zuversicht der wandernden Lachse, an all die frischgebackenen Brote in den Bäckereiregalen und daran, dass die anderen am Abend zu Besuch kommen würden, an dampfende Nudeln und Wein vom Bodensee. Aber eben, dachte sie, sterben bedeutet, nie wieder. Nie wieder Wind und Wein und frischgebackenes Brot, nie wieder Enten füttern, falsche Falten schminken, sich nie wieder stundenlang hässlich finden, den eigenen Speck zwischen den Fingern rollen, nie wieder dem Meer entgegenfahren, mit Sonnenbrand in den Armen eines Fremden erwachen und etwas nur sagen, weil es schön klingt. Nie wieder ein Zuhause vermuten irgendwo, nie wieder Fische beneiden um ihre Gleichgültigkeit. Sich nie wieder schuldig fühlen für Erfolge und daraufhin die Bühne meiden, nie wieder sich fürchten vor dem eigenen Mut und sich sagen: Morgen ist auch noch ein Tag. Überhaupt nie wieder etwas aufschieben können, mit Serien die Leere zerpixeln im Kopf, sich Folge für Folge hineinwarten in den Schlaf, den Tag nie wieder zu spät beginnen. Nie wieder die Mutter nicht anrufen, die Bewerbung nicht abschicken, sondern ein letztes Mal ringen nach Luft und dann: einfach stillstehen – stillliegen wohl eher –, mitten in einer Falschheit, einer Unfertigkeit womöglich; und das wäre mit Sicherheit das Schlimmste überhaupt: unfertig sterben; irgendwo auf halbem Weg abhandenkommen.
Ada schob ihre Hand in die Bauchtasche ihrer Pyjamajacke und ballte die Faust, als ließe sich das Zittern darin zusammenpressen. Sie fragte sich, ob eine Zigarette jetzt helfen würde, vielleicht, dachte sie, vielleicht hilft das Klicken des Feuerzeugs und das Knistern der Glut: eine Handvoll zu tun für sieben Minuten, immerhin.
Das Scheppern der Klingel riss Ada aus ihren Gedanken, sie zuckte zusammen. Im nächsten Moment aber schon erleichterte sie die bevorstehende Ablenkung.
Hinter der Milchglasscheibe der Wohnungstür zeichnete sich einer der Bordsteinschatten von eben ab, die Silhouette einer dicklichen Gestalt. Ada schaute auf ihre Hände. Das Zittern hatte aufgehört. Die Klingel hatte das Trennglas um ihren Kopf zerscheppert, und der Tag war wieder da, wie ein Gegenstand, auf den man unvermutet stößt, nachdem man überall vergeblich nach ihm gesucht hat.
Ada öffnete die Tür und blickte in ein faltiges, aber freundliches Gesicht.
»Fräulein Ada«, sagte der Mann, »nicht wahr, das sind Sie.«
Ada nickte.
»Matuschek«, sagte der Mann und rieb sich verlegen die Hände, »Sie müssten mich eigentlich kennen. Wir haben uns schon mal, also, mir gehört das hier.« Er machte eine ungeschickte Handbewegung Richtung Treppenhaus. Jetzt erinnerte sich Ada und wurde unruhig, sie rieb ihren rechten Fußrücken an der linken Wade warm.
»Ein schönes Haus«, sagte sie.
»Ja«, sagte Matuschek, »den Garten habe ich vierundneunzig eigenhändig, den hätten Sie vorher mal, ich kann Ihnen sagen, aber deswegen bin ich ja nicht, also ich sag’s jetzt rundheraus.« Er holte tief Luft. »Ich nehme an, Sie wissen, worum es geht?«
Matuschek tat ihr leid. Trotzdem lächelte Ada und sagte: »Vielen Dank, dass Sie das mit der Klingel so schnell geregelt haben. Wollen wir uns vielleicht in den Garten setzen, mit einer Tasse Kaffee?«
Matuschek wehrte mit beiden Händen ab. »Ach«, sagte er, »das darf ich gar nicht, mein Arzt, wissen Sie, aber deswegen bin ich auch nicht – sehen Sie, Sie sind in Verzug, über drei Monate, Sie wissen schon, mit der Miete, und Sie haben ja auch nicht auf all die Briefe … also, das zwingt mir Maßnahmen auf, gewisse.« Er machte dabei ein Gesicht, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er sie geweckt hatte.
»Ärzte sind schlichtweg humorlose und genussfeindliche Menschen«, sagte Ada und schüttelte den Kopf, »die sind Einschüchterer von Beruf, Einschüchterer und Spaßverderber, allesamt.«
»Fräulein Ada«, sagte Matuschek gequält, »das gehört doch gar nicht, sehen Sie, es bleibt mir nichts anderes übrig, ich werde Ihnen das aufkünden müssen.« Er deutete mit dem Kinn in ihre Wohnung.
Ada verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich dachte, Sie hätten Verständnis für uns Künstler«, sagte sie, »für unser unregelmäßiges Einkommen.«
Matuschek seufzte. »Sehen Sie«, sagte er, »ich schätze das Theater, ich gehe da gerne, aber wir müssen halt alle, es tut mir leid, Fräulein Ada, Ende des Monats müssen Sie wirklich, sonst, eben, das macht dann Frau Sacher, meine Sekretärin. Aber wir müssen das ja nicht im Treppenhaus«, sagte er, »vielleicht ist es besser, wenn wir das drinnen –«
Mit einer Handbewegung, die sie gleichzeitig beruhigte und erschreckte, gab Ada der Tür einen leichten Stoß. Sie fiel langsam zu, leise klickend, gerade so.
Es tut mir leid, hätte sie gerne gesagt, das war Notwehr. Ich kann auf keinen Fall zulassen, dass Sie durch meine Wohnung stiefeln, womöglich noch ins hintere Zimmer, ich wäre nicht in der Lage, Ihnen das Geringste zu erklären. Aber Ada wusste, dass Matuschek das falsch verstanden hätte, dass er bis jetzt überhaupt alles hatte falsch verstehen müssen. Also schwiegen sie beide, atmeten, standen da für eine Weile, jeder auf seiner Seite der Tür, bis Ada schließlich davonschlich und sich in das Zimmer rettete, aus dem sie gekommen war.
Sie ging zum Fenster und öffnete es. Vielleicht würde frischer Stadtwind jetzt helfen. Kalte Februarluft schwappte ihr entgegen und griff zwischen die Fotos, Computerausdrucke und Zeitungsartikel, die mit Reißzwecken oder Tesafilm an der linken Zimmerwand angebracht waren und diese fast vollständig bedeckten. Eines der Blätter löste sich und segelte aufs Parkett. Ada bückte sich danach. Es war ein Bericht aus der Apothekenrundschau über Netzhautablösung. In wochenlanger Arbeit hatte sie diese Wand bepflastert, mit allem, was ihr Angst machte, alphabetisch geordnet von Attentat bis Zyste. Sie betrachtete das raschelnde Mosaik, die offenen Wunden und Erdbebentrümmer. Wenn sie nur lange genug und immer wieder ihre Therapietapete studierte, die Fotos betrachtete und die Artikel las, davon versuchte sie überzeugt zu sein, dann würde mit all diesen Bedrohungen dasselbe geschehen wie mit einem Wort, das man immer und immer wieder ausspricht: Sie würden sich auflösen in Bedeutungslosigkeit.
Ihr Blick fiel auf die blauschwarze Röntgenaufnahme eines Gehirntumors, die sie vergangene Woche an einem Flohmarktstand gekauft hatte. Wenn sie es lange genug aushielt, hinzuschauen, erkannte sie darin mal den Panzer eines Hirschkäfers, mal den wässrigen Körper einer Qualle. Im Grunde aber wusste Ada, dass ihre Angst auch trotz der Tapete weiterwuchern würde. Sobald eine Bedrohung abklang, bildete sich an anderer Stelle eine neue. Ihre Angst war wie das Krebsgeschwür dort vor ihr, das im Verborgenen immer neue Metastasen bildete, und die Therapietapete eine stets lückenhafte Dokumentation der Ängste, die sie befielen. Ada musste an die Schatten der Passanten denken und daran, dass Wurfschatten die Existenz ihrer Werfer bezeugten; Schatten im Inneren des Körpers hingegen bedeuteten Zysten, Tumore, Gerinnsel und gefährdeten die Existenz, löschten sie aus.
Ada klebte den Artikel zurück an seinen Platz, dicht neben dem Foto einer kalifornischen Nervenheilanstalt. Matuscheks Schritte waren verstummt. Ihre Hände zitterten wieder. Neben dem Stethoskop lag ein Stapel rosafarbener Einzahlungsscheine, lauter unbezahlte Rechnungen, ein Stapel stummer Drohungen, zu denen sich nun auch noch jene von Matuschek gesellte. Was, wenn sie aus der Wohnung musste, was dann. Und vor allem: Wohin.
Einmal noch, dachte sie und ging zu dem Tischchen neben dem Fenster. Sie griff nach dem Stethoskop, stellte den Holzstuhl in die Mitte des Raumes und setzte sich hin, mit dem Rücken zum Fenster. Sie zog die Beine an den Körper und den Saum ihrer Pyjamajacke bis über die Füße, hängte sich das Stethoskop um den Hals und drehte das trichterförmige Bruststück in den Händen. Als sie die Plastikpfropfen in die Ohren schob, war es ein paar Sekunden lang vollkommen still. Sie schob das Bruststück unter die Pyjamajacke, am Schlüsselbein vorbei, an die Stelle, unter der sich ihr Herz befand. Die Membran lag kühl auf ihrer Haut. Ada schloss die Augen und lauschte dem Bass in ihrem Brustkorb, der nun von beiden Seiten in ihren Kopf drang und ihn ausfüllte. Hörst du, es schlägt. Es schlägt und schlägt und schlägt und – Was denn sonst, dachte sie, reiß dich zusammen, reiß dich los und hör auf, deine Zeit so dumm zu verschwenden.
Ada stand auf und ging zum kleinsten der fünf Aquarien, sie öffnete die Abdeckung, hielt sich mit beiden Händen am dünnen Glasrand fest und beugte ihren Kopf, an dem das Stethoskop baumelte, über das Aquarium. Tiefer, und noch ein bisschen, bis ihr Kinn das Wasser berührte und das Bruststück Richtung Grund sank. Von oben schaute sie auf die bunten Rücken der Neonsalmler, die den silbernen Fremdkörper umzuckten. Sie atmete tief durch, und ihr Kopf füllte sich mit gleichmäßigem Rauschen. Jetzt war sie selbst da unten, im gefilterten Wasser, ein Fisch unter Fischen. Und einen Moment lang gedächtnislos genug, um sich keine Sorgen zu machen.
Nach einer Weile, als die Neonsalmler sich schon nicht mehr um das Stethoskop kümmerten, hob Ada den Kopf. Sie nahm die Plastikpfropfen aus den Ohren, zog das Bruststück aus dem Wasser und wischte es an ihrer Pyjamajacke trocken. Die Quartierglocke schlug Viertel vor. Ada wusste nicht, Viertel vor was. Sie griff nach einer der Futterdosen und schraubte den Deckel ab.
»Ihr bekommt bald ein schöneres Zimmer«, sagte sie zu den Salmlern, während sie die bunten Futterflocken auf die Wasseroberfläche streute, »bald werde ich das alles hier drin nicht mehr brauchen, ich werde den ganzen Plunder entsorgen und euch nicht mehr als Lockmittel ausnutzen, um diesen Raum überhaupt zu betreten.« Die guten Fische dachte sie, die guten, genügsamen Fische.
Schon als Kind konnte sie sich nicht für Pinguine, Flamingos oder Affen begeistern. Sie hatte schon immer nur die Fetzenfische sehen wollen, die Rochen, Stechrochen, Adlerrochen, das träge Pulsieren der Quallen hinter Glas: wie sie kopflos ihre giftigen, mit Spitzen besetzten Nachthemden durchs Wasser zogen.
Adas Kinderhände hinterließen flüchtige Abdrücke auf den Scheiben der Aquarien im Zoo und der Fischtheke im Supermarkt. Sie verstand nicht, warum ihre Mutter ihr die Dorade nicht kaufen wollte, die jeden Samstag in der Auslage schimmerte und zum Glas gekehrt das sichelförmige Goldband auf ihrer Stirn präsentierte. Es mochte sie ja sonst niemand haben. Woche für Woche brach sie vor der Theke in Tränen aus, bis ihre Mutter sich weigerte, sie zum Einkaufen mitzunehmen.
An einem verregneten Tag im Herbst lag Adas Mutter mit Grippe im Bett und konnte sie nicht vom Kindergarten abholen. Ada trug ihre blaugelb getupfte Pelerine. Wenn sie die Arme ausbreitete, sah sie damit aus wie ein Blaupunktrochen. Sie schwamm direkt vor die Fischtheke im Supermarkt, die Hosentasche schwer vom Kleingeld aus ihrem Sparschwein. Die Frau hinter der Theke sah selbst ein wenig aus wie ein Fisch mit ihrem fleckigen Gesicht und dem faltigen Mund, den sie öffnete und schloss, ohne ein Wort zu sagen. Ada stellte sich auf die Zehenspitzen, um größer zu wirken, und verlangte nach der Dorade. Doch die Alte beachtete sie kaum. Sie griff mit ihren runzligen Händen nach dem goldwangigen Fisch und packte ihn in eine Tüte, die sie Ada über die Theke reichte. Die Kassiererin schaute sie misstrauisch an, sagte aber nichts, auch nicht, als Ada ihr das ganze Kleingeld in die Hand klirren ließ. Die Kassiererin zählte gut drei Viertel davon ab und gab ihr den Rest zurück.
Zu Hause riss sie ungeduldig die Tüte auf. Die Dorade war herrlich anzusehen. Ada streichelte die kühlen Schuppen, die goldenen Wangen. Sie verstaute den Fisch in einer Schuhschachtel und schob die Schachtel unters Bett.
Am übernächsten Morgen übergab sich die Mutter in den Wäschekorb am Fußende des Bettes. Der Vater schnitt die Dorade mit der Gartenschere in vier Stücke und warf sie ins Klo.
Ada schraubte den Deckel zurück auf die Futterdose. Unten auf dem Bordstein zogen die Passanten noch immer ihre beschatteten Werktagslinien. Jede Schädeldecke eine Kompassscheibe, jeder Scheitel eine verlässliche Nadel. An Tagen wie diesem fehlte Ada der schmutzige Bühnenboden der Brotbüchse mehr als sonst. Sie hätte gerne gewusst, wohin der Regisseur mit den ausstehenden Gehältern abgehauen war. Mittlerweile hielt sie sich mit dem Engagement bei Mord an Bord mehr schlecht als recht über Wasser, einem Dinnerspektakel auf dem Zwischendeck der Andromeda, bei dem sich die Schauspieler unter die speisenden Gäste mischten. Ihr Auftritt war auf wenige Minuten beschränkt. Sie spielte die schüchterne Helene, die schon nach kurzer Zeit reglos unter der gedeckten Tafel lag.
Den Rest der Zeit, der ein großer Rest war, verbrachte sie damit, die Fertigstellung ihrer Bewerbungsunterlagen hinauszuschieben. Und also streifte sie stattdessen durch die unterirdischen Gänge des Vivariums im zoologischen Garten oder zwischen den Weinreben hindurch den Tüllinger Hügel hinauf, sie saß auf Mauern und Brückenköpfen, mal mit Schirm, mal ohne und maß die verstrichene Zeit in Zigarettenstummeln, sie saß in Cafés vor brösligen Kuchen, mal Karotte, mal Blaubeer, sie setzte sich zur Mittagsvorstellung ins Kino und blieb da bis nach Mitternacht, bis zum letzten Buchstaben im letzten Abspann, sie saß stundenlang bei ihren Fischen, lernte die Muster auf ihren Rücken auswendig und spielte dabei mit ihrem rechten Ohrring, so lange, bis er sich löste und zu Boden fiel, sie höhlte Brote von innen aus, kämmte ihre Perücken und warf mit Hilfe der Schreibtischlampe oder des Feuerzeugs Schattenfische an die Wand, Rochen, Flundern, Tigerhaie. Sie rief, wenn das Geld mal dazu reichte, in unruhigen Nächten ein Taxi und ließ sich durch die leergeschlafene Stadt fahren, in all die bedrohlichen, scheintoten Winkel, manchmal trank und tanzte sie auch bis zum Einsatz der ersten Putzmaschine mit Leuten, die sie gern hatte, oder solchen, die ihr gestohlen bleiben konnten, denn alles war besser, als allein zu sein mit dieser ohrenbetäubenden Stille im Kopf. Auch deshalb nahm sie manchmal einen Mann mit nach Hause und zehrte ein paar Tage von dem Mut, der sie befiel, wenn einer von ihnen sich in sie verliebte und ihr die Möglichkeit gab, sich für kurze Zeit neu zu erfinden für ihn und darüber alles andere zu vergessen. Im Wesentlichen aber versuchte sie, niemandem zu nahe zu kommen.
Manchmal verfluchte sie es, wie leicht es ihr in Gesellschaft fiel, jemand anderes zu sein, von einem Satz in den nächsten, alles eine Frage der Stimmlagen und Gangarten, vor allem auch der Auslassungen. Wie herrlich war die Ablenkung gewesen, als sie für Felix, einen Biologiestudenten aus Freiburg, ein paar Tage lang die italienische Gastdozentin aus Genua gegeben hatte, die an die Musikakademie gebeten worden war, um Vorträge über Puccinis verschollene Flötensonaten zu halten. Oder als sie Geoffrey, einen erfolglosen Dubliner Barpianisten, als bodenständige Bäckerin mit französischem Akzent und Segelschein fast um den Verstand gebracht hatte. Es hatte sich angefühlt wie das Sprechen einer Fremdsprache, die man gut beherrscht: Durch den Gebrauch dieser Sprache wurde das Altvertraute mit einem Mal aufregend und biegsam. Bis dieser Effekt sich schließlich abnützte, nach und nach. Nicht wirklich Fremdsprache, dachte Ada, Fremdkörper. Aber sobald sie alleine war, verwandelte sich diese angenehme Fremde des eigenen Körpers in eine bedrohliche zurück.
Sie versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass das alles vielleicht bald besser, und wenn nicht besser, dann zumindest anders werden würde, weil sie in ein paar Wochen nach München reisen, vorsprechen und vielleicht ein Engagement ergattern würde. Vielleicht, dachte Ada, endlich auf die Welt kommen. Aber sie dachte es ganz weit hinten im Kopf und auch nur, weil sie sich daran gewöhnt hatte, es zu denken.
Sie schloss das Fenster. Wasser, dachte sie, schwere, schwimmende Bäuche, warum nicht, proben konnte sie auch später noch, mit leichterem Kopf; und Geld, um die Rechnungen zu bezahlen, hatte sie ohnehin nicht. Sie entschied, unten auf dem Asphalt ihren Schatten einzufordern, fürs Abendessen einzukaufen, Nudeln und Wein vom Bodensee und dann in den Zoo zu gehen, ins Vivarium.
Es war sehr warm, so zu viert, in Adas kleiner Küche. Die Fenster, hinter denen es längst eingedunkelt hatte, waren von innen beschlagen, es roch nach Pesto und Rauch, Nick Drake besang zum fünften Mal den Mond, und Ada stellte die leergegessenen Teller zusammen, um Platz zu machen, für einen zweiten Aschenbecher. Allmählich begann sie zu schwitzen mit dem angeklebten Bart, den künstlichen Haaren auf der Brust und der Perücke mit dem Modellnamen Luigi, die an der Stirn etwas zu eng saß.
»Obwohl du aussiehst wie ein Zuhälter«, sagte Lukas zu Ada, »und obwohl du, wie wir vielfach am eigenen Leib erfahren durften, eigentlich nicht kochen kannst, das Essen heute war vorzüglich.«
Bettina lachte, sie saß mittlerweile im Unterhemd am Tisch und sah mit ihrer Schneewittchenhaut im Kerzenlicht noch makelloser aus, als sie ohnehin war. »Das kannst du laut sagen«, sagte sie, schob den halbvollen Teller von sich weg und leckte sich die schmalen Finger, wobei sie nicht widerstehen konnte, ihr Spiegelbild im Küchenfenster zu betrachten, einen Moment verharrte sie in ihrer Bewegung, die Finger zwischen den geschürzten Lippen, die Stellung ihres Kinns leicht korrigierend, als würde sie für ein Foto posieren. Ada konnte ihr dieses Verhalten nicht wirklich verübeln. Bettina war einfach schön, so schön, dass es schwer war, sie darum nicht zu beneiden, weshalb die meisten Frauen ihr aus dem Weg gingen. Im Grunde war Bettina zutiefst verunsichert deswegen und versuchte, die mangelnde Zuneigung der Frauen durch jene der Männer auszugleichen. Immer wieder äugte sie über Lukas’ Schulter hinweg in den Fensterspiegel, als hätte sie Angst, sich in einer unbedachten Sekunde in irgendetwas Hässliches zu verwandeln.
»Du hast ja deinen Ziegenkäse gar nicht aufgegessen«, sagte Lukas und wies auf Bettinas Teller, »das war doch das Beste am Ganzen.«
»Ich wollte ihn mir bis zum Schluss aufsparen«, sagte Bettina, »ich mache das immer so, ich spare mir das Beste immer auf bis zum Schluss. Aber jetzt habe ich keinen Hunger mehr.«
Ada stellte die anderen Teller in die Spüle und versuchte, nicht an ihren Kontostand zu denken, der mit diesem Einkauf ins Minus gerutscht war.
»Gib her«, sagte Lukas, »das Beste ist für mich gerade gut genug.«
Bettina beugte sich über den Tisch und fütterte Lukas von ihrer Gabel. Dabei rutschte ihr der linke Träger ihres Unterhemds über die Schulter. Sie tat, als hätte sie es nicht bemerkt. Lukas schaute auf ihre halbentblößte linke Brust, dann verlegen auf seinen leeren Teller und zupfte ein paar Fusseln von seiner Kaschmirweste.
»Lässt du uns heute endlich mal in deine ominöse Kammer?«, fragte Hendrik, der von der Toilette zurückkam. Er lehnte sich gegen den Kühlschrank und drehte umständlich eine Zigarette. »Mich persönlich«, sagte er, »machen verschlossene Türen hibbelig.«
Ada schüttelte den Kopf. »Da drinnen probe ich«, sagte sie, »da will ich keine fremden Gedanken.« Sie nahm Hendrik die fertiggedrehte Zigarette aus der Hand: »Manche Türen bleiben sogar dir verschlossen«, sagte sie, »stell dir vor.«
Bettina ließ geräuschvoll ihre Schuhe von den Füßen plumpsen und streckte die Beine, länger und höher als nötig. »Du probst jeden Tag, oder«, sagte sie, »jeden verdammten Tag, einfach so ins Blaue hinein.«
Ada nickte. Sie fand, dass eine pantomimische Lüge eine Lüge war, die weniger ins Gewicht fiel. Bettina band sich die dunklen Locken energisch zusammen, ein paar Sekunden später löste sie die Frisur wieder auf. Lukas’ und Hendriks Augen folgten der Bewegung ihrer Hände. Wahrscheinlich sind sie beide in Bettina verliebt, dachte Ada. Und ein wenig störte es sie, obwohl sie wusste, dass Hendriks Haut auch beim nächsten Mal nur nach den Kleidern riechen würde, die sie ihm ausgezogen hatte, nach Waschmittel eben, fremd, fast steril, und dass der einzige Grund dafür, dass sie manchmal miteinander schliefen, eine Langeweile war, das selbstsüchtige Verlangen nach einer Steigerung des eigenen Wohlbefindens, wobei der jeweils andere nichts als ein austauschbarer Statist blieb. Und doch ertappte sie sich dabei, wie sie trotz ihrer Verkleidung versuchte, beim Rauchen schön auszusehen. Begehrt zu werden bedeutete eine gesteigerte Form der Existenz, bedeutete ein Zusatzleben im Kopf eines anderen, eine weitere Anlegestelle.
»Und«, fragte Bettina, »wirst du uns eigentlich bald verlassen.«
Ada nickte, »ein paar Angebote gibt es«, sagte sie, »aber ich will nicht zu schnell entscheiden.« Schon die zweite Lüge an diesem Abend. Vielleicht, dachte Ada, ist es mit meiner Zukunft wie mit dem Käse auf Bettinas Teller. Ich schiebe sie an den Tellerrand und lasse sie so lange da liegen, bis ich keinen Hunger mehr auf sie habe. So ist es am einfachsten.
»Ada macht das schon«, sagte Hendrik, »die macht das schon.«
Ada schwieg, stand auf, öffnete mit den Zähnen die Popcornpackung und ließ eine Handvoll Maiskörner auf den ölbedeckten Pfannenboden rasseln. Lukas streckte sich, »ich drehe ja morgen einen Werbespot für Brotaufstrich«, sagte er, »so viel zu meiner Karriere. Deshalb sollte ich jetzt auch langsam los.«
»Von wegen«, sagte Ada und entkorkte eine neue Flasche Wein, »das bisschen Wein wird deiner Persönlichkeit nichts anhaben, außerdem wolltet ihr alle unbedingt Popcorn mit Karamellzucker haben. Und du«, sie zeigte auf Lukas, »glaub ja nicht, dass du mir davonkommst, wolltest du nicht tätowiert werden?«
Lukas fuhr sich durch die Haare, »ich weiß nicht«, sagte er, »du willst das echt nur mit einer Nadel und so ein bisschen Tinte machen, ja?«
Ada nickte, »klar, wie bei mir«, sagte sie und fuhr mit den Fingerspitzen über die Tätowierung an ihrem linken Unterarm, die ein bisschen aussah, als hätte jemand einen fast leeren Kugelschreiber mit hektischem Gekritzel reaktivieren wollen.
»Was ist das eigentlich?«, fragte Lukas, »hat das irgendeine Bedeutung?«
Ada schüttelte den Kopf. Auf eine Lüge mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. »Ist doch hübsch«, sagte sie, »oder?«
»Ich weiß nicht«, sagte Lukas noch einmal, »ich glaube, ich bring das nicht.«
»Feigling«, sagte Ada und knibbelte sich die Kunsthaare von der Brust. Sie füllte Lukas’ Glas auf und verpflichtete ihn und die anderen damit zu mindestens zwanzig weiteren Bleibeminuten.
Mord an Bord