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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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Neue Rechtschreibung

© 2020 by Obelisk Verlag, Innsbruck Wien

Lektorat: Regina Zwerger

Coverentwurf: Caroline Hamann

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-85197-949-7

eISBN 978-3-85197-981-7

www.obelisk-verlag.at

Heidi Troi

Lola reicht‘s

Mit Illustrationen von
Caroline Hamann

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Inhalt

DIE AUTORIN

DIE ILLUSTRATORIN

„Zwerg, hol doch mal den Ahornsirup“, sagt Max und zieht Lola an ihrem Rattenzopf.

„Hol ihn dir doch selbst“, knurrt Lola. Sie hasst es, wenn ihr Bruder sie „Zwerg“ nennt. Und noch mehr hasst sie es, wenn er sie an den Zöpfen zieht.

„Du sitzt aber auf dem Stuhl und ich bin hier in der Bank eingequetscht“, sagt Max und legt bittend den Kopf schief. Er lächelt sie mit einem Engelslächeln an, wie es nur Max zustande bringt. Lola will schon aufstehen, da sagt er etwas, was er besser nicht gesagt hätte: „Und für deine Pummelbeine ist es auch nur gut, wenn sie ein bisschen bewegt werden.“

„Max!“, sagt die Mutter mahnend.

Lola schießt die Wärme in die Wangen. Ist es nicht genug, dass sie sich von den Jungs in ihrer Klasse ständig sagen lassen muss, dass sie fett ist? Muss jetzt auch noch Max damit anfangen? Wütend verschränkt sie die Arme und blitzt ihren Bruder an: „Ich bin nicht deine Dienerin!“

„Ach, bitte, Schwesterlein.“ Max blinkert mit seinen Augendeckeln.

„Du kannst mich mal!“

„Lola!“ Mutter legt entrüstet ihr Messer hin. „Jetzt reicht’s aber! Solche Ausdrücke will ich nicht hören, das weißt du. Wir leben schließlich nicht in der Gosse. Und jetzt hol deinem Bruder den Ahornsirup – er bittet dich doch so nett drum.“

Tief in Lola drin beginnt es zu grummeln. Wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch steht. Und genauso heiß wie Magma kocht das Blut in Lolas Wangen hoch. Sie will diesem Blödian von einem Bruder den Ahornsirup nicht holen und sie wird ihn auch nicht holen! Mit zusammengekniffenen Augen funkelt sie ihn an. Und plötzlich verzieht er seinen Mund zu einem spöttischen Grinsen und zwinkert ihr zu.

Vulkan Lola bricht aus.

„Mir reicht’s auch!“, schreit sie. „Hol dir deinen verdammten Ahornsirup doch selbst, du dreimal verdammter Idiot!“

Und dann schreit sie alle verbotenen Wörter, die sie kennt und von denen sie genau weiß, dass sie nicht an den Tisch gehören, nicht einmal in die Gosse gehören sie – allerhöchstens ins Klo.

Klatsch! – macht es da neben ihr. Lola zuckt zusammen. Mama sitzt mit verkniffenem Gesicht da. Der Schlag auf den Tisch hat ihr sicher weh getan. Ihre Hand krallt sich um die Serviette.

„Es reicht jetzt wirklich, Lola! Geh auf dein Zimmer. Ich will dich heute nicht mehr sehen.“

Lola wirft einen Blick auf ihren Papa. Wird er ihr beistehen? Aber Papa verzieht nur bedauernd die Miene.

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Jetzt musst du auslöffeln, was du dir eingebrockt hast, sagt dieser Blick.

Na dann lass es doch, denkt Lola und fühlt heißes Blut in ihre Wangen hochsteigen. Betont langsam steht sie auf.

„Ihr könnt mich alle mal!“, sagt sie. „Alle! Du! Und du! Und du!“

Der Reihe nach zeigt sie auf Max, ihre Mama und ihren Papa. Und dann dreht sie sich um und sagt alle die verbotenen Wörter noch einmal mit lauter Stimme, während sie den Raum verlässt und die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufsteigt. Dann knallt sie ihre Zimmertür zu und wirft sich aufs Bett. Von ganz weit unten aus ihrem Bauch kommt ein Schluchzer. So ein riesengroßer Schluchzer, dass er es beinahe nicht durch ihren Hals nach draußen schafft. Dann rutscht er doch durch. Es ist, als würde ein Damm brechen, und Lola weint, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hat.

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Zuerst weint Lola ganz leise. Sie weint in ihr Kopfkissen hinein. Sie stellt sich vor, dass der ganze Kummer, den sie mit sich herumträgt, aus ihr herausrinnt. Aus ihren Augen und aus ihrer Nase in ihr Kopfkissen hinein. Wenn der Kummer aus ihrem Herzen herausgeronnen ist, kann sie das Kopfkissen nehmen und es in die Waschmaschine werfen. Dann wird der Kummer herausgewaschen und mit dem Schmutzwasser aus dem Haus gespült. Lola stellt sich vor, wie der Kummer durch die Abwasserrohre in die Kläranlage rinnt, die sie mit der Klasse besichtigt haben, und von dort in die Flüsse. Die Fische schwimmen in ihrem Kummer und er schleift die Steine im Bach rund. Irgendwann kommt der Kummer ins Meer und dort bleibt er dann und sammelt sich mit all dem Kummer, den andere Menschen ins Meer gespült haben.

Erschrocken hält Lola inne. Die Lehrerin hat gesagt, dass das Wasser aus dem Meer irgendwann verdunstet und als Regen wieder zur Erde fällt. Der Kummer würde dann mit dem Wasser in den Himmel steigen und in Millionen kleiner Tröpfchen wieder zur Erde fallen. Tipp-tapp-tipp-tapp … Manche Menschen würden sich mit einem Regenschirm vor dem Kummer schützen, anderen würde der Kummer auf die Haare platschen, aufs Gesicht …

Lola hört auf zu weinen.

Auf dem Flur hört sie leise Schritte. Max. Vor ihrer Zimmertür bleibt er stehen.

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„Pummelchen?“

Sofort kneift Lola wieder das Gesicht zusammen. Sie hasst ihren Bruder!