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Hansjörg Schneider

Das Paar im Kahn

Hunkelers dritter Fall

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien

1999 im Ammann Verlag, Zürich

Eine erste Ausgabe im Diogenes Verlag

ist 2011 im Taschenbuch erschienen

Umschlagfoto von Jan Geerk (Ausschnitt)

Copyright © Jan Geerk/

SchweizFotos.com

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24233 1 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60292 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Peter Hunkeler, Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, gewesener Familienvater, jetzt geschieden, lag im Wasser des Thermalbads Neuwiller im Elsass und dachte nach.

Vor drei Tagen, genau am 8. November, einem Dienstagabend, war er ins St. Johann-Quartier an die Murbacherstraße gerufen worden, wo in einer Zweizimmer-Altwohnung eine übel zugerichtete Frauenleiche lag, deren Gesicht nicht mehr kenntlich war. Ein Wohnungsnachbar, ein Türke namens Fazil Sengün, hatte angerufen, und in dessen Wohnung hatte Hunkeler auch den Ehemann der getöteten Frau gefunden, der mit versteinertem Gesicht am Küchentisch saß und den Oberkörper langsam vor und zurück wiegte. Ali Aydin, so hieß dieser Mann laut Angaben des Wohnungsnachbarn, stammte aus Anatolien, aus Konya, und arbeitete in einer der chemischen Fabriken. Ein guter Mensch, wie der Nachbar mehrmals insistierte, ein sehr guter Mensch. Und er habe seine Frau heiß geliebt.

Hunkeler hatte in jener Küche drei Tassen türkischen Kaffee getrunken und versucht, mit Ali Aydin in ein Gespräch zu kommen. Vergeblich, dem Mann war kein Wort zu entlocken gewesen. Nur einmal hatte er kurz aufgeschaut, aus seltsam hellen Augen direkt in des Kommissärs Gesicht, in jenem Moment nämlich, als Hunkeler gefragt hatte, ob denn die in der Wohnung nebenan liegende Aische Aydin keine gute Frau gewesen sei. Da hatte Hunkeler [6] gemerkt, dass Herr Aydin ihn genau verstand und beinahe etwas gesagt hätte. Aber auf die Frage, warum man denn das Gesicht der Toten so übel entstellt habe, senkte Aydin den Kopf wieder.

Hunkeler war nur kurz in die Wohnung hinübergegangen, wo das Opfer auf dem Ehebett lag. Die Arbeit hatte er Detektivwachtmeister Michael Madörin übergeben. Die kriminaltechnische Abteilung war da und der Gerichtsarzt. Aber Hunkeler interessierten nicht Fingerabdrücke und Schmauchspuren, sondern Menschen. Und er hatte sogleich wahrgenommen, dass es hier in diesem ärmlichen St. Johann-Milieu nicht um Macht und Geld gegangen war, sondern um Eifersucht, Liebe und Ehre.

Nur, warum hatte man der jungen Frau das Gesicht entstellt?

Hunkeler, im Thermalwasser Neuwillers liegend, atmete tief durch, schloss die Augen und rollte sich ein. Er versank in der braunen Brühe, eine lebende Kugel, treibend im Urschlamm, aus dem jedes Leben gekrochen war. Nach einer Weile spürte er, wie sein Nacken langsam auftauchte, dann der Rücken, emporgehoben von der Luftblase im Brustkorb. So blieb er schweben, solange es ging, dreißig Sekunden, vierzig Sekunden, bis die Atemnot seine Nase an die Luft zurückzwang. Er hob den Kopf und schaute sich um.

Was er sah, war ihm wohlvertraut und doch seltsam fremd. Drei Elsässer Frauen lagen nebenan im Bassin, schwere Leiber, auf den Köpfen farbige Badekappen mit [7] Blumendessins, Seerosen der schönen, alten Art. Sie redeten in breitem Elsässer Deutsch über eine bevorstehende Hochzeit, wobei die eine die Meinung vertrat, die Braut sei ein Luder und werde immer ein Luder bleiben und der Bräutigam hätte eigentlich etwas Besseres verdient. Hinter der angelaufenen Fensterscheibe lag Nebel, in dem schwach die Umrisse eines verkrüppelten Apfelbaums zu sehen waren.

Frauen, dachte Hunkeler, sind seltsame Wesen. Aber warum bringt jemand eine Frau um?

Als er an diesem 11. November über den unbewachten Grenzübergang nach Basel zurückfuhr, sah er wegen des Nebels keine zehn Meter weit. Er hielt sich dicht am rechten Straßenrand, um nicht mit den heimkehrenden Grenzgängern, die in Basel arbeiteten, zu kollidieren. Einen Augenblick lang glaubte er das zerschlagene Gesicht der toten Aische Aydin vor sich zu haben, ein schwankendes, zerstörtes Antlitz im Licht der Scheinwerfer, die sich in den Nebel bohrten. Er bremste scharf ab, um es nicht zu überfahren, und kam im Straßengraben zu stehen. Der Motor starb ab.

»Nein«, sagte er laut, »dies ist nicht mein Fall. Dies ist der Fall von Kollege Madörin.«

Er startete den Motor neu und fuhr auf die Straße zurück. Er beschloss, obschon Freitagabend war, noch schnell auf dem Lohnhof vorbeizuschauen.

[8] Er fand die ganze Gruppe in Madörins Büro versammelt. Haller mit der geschwungenen Luzerner Pfeife im Mund, Korporal Lüdi und Detektivwachtmeister Madörin, der aus einem Pappbecher Kaffee schlürfte. Staatsanwalt Suter war der Einzige, der stand. Er hielt die Arme ausgebreitet, als hätte er zu einem Flug in seine alles niederwalzende Rhetorik ansetzen wollen. So blieb er stehen, stumm, bis sich Hunkeler gesetzt hatte. Dann ließ er die Arme sinken.

»Ach so, der Kriminalkommissär«, sagte er. »Nett, Sie zu sehen.«

»Erstens ist es Freitagabend«, sagte Hunkeler, »und zweitens bin ich abkommandiert, um ein Gutachten über die grenzüberschreitende Jugendkriminalität in der Region Basel auszuarbeiten. Als Verstärkung des Jugendanwalts, wie Sie wissen.«

»Wie ich Sie kenne, haben Sie den Nachmittag in Ihrem Haus im Elsass verbracht, um Feldstudien zu betreiben, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Hunkeler, »ich habe in Neuwiller gebadet. Ich habe nämlich Rückenprobleme.«

»Hier in Basel bringen die Türken ihre Frauen um. Und Sie entspannen sich im warmen Thermalwasser. Haben Sie das Antlitz der toten Frau nicht gesehen?«

»Doch. Im Nebel, in der Nähe des Grenzübergangs.«

Das verschlug dem Staatsanwalt einen Moment lang die Sprache.

»Sind Sie betrunken?«

»Noch nicht«, sagte Hunkeler. »Ich betrinke mich erst um Mitternacht.«

Staatsanwalt Suter erstarrte, mit offenem Mund, so dass [9] sein tadelloses Gebiss zu sehen war. Er überlegte kurz, schluckte leer und ging entschlossenen Schrittes zur Tür, riss sie auf und warf sie schmetternd hinter sich zu.

Hunkeler griff in die Jackentasche, holte eine Zigarette heraus, steckte sie an, rauchte und hustete. »Was gibt es Neues?«, fragte er munter. »Wie sieht es aus?«

Madörin schaute angewidert zum Fenster, hinter dem nichts war als Schwärze.

»Warum?«

»Komm schon«, sagte Hunkeler. »Dieser Totschlag interessiert mich.«

Madörin nahm den Pappbecher, trank ihn aus und warf ihn Richtung Mülleimer, allerdings ohne zu treffen. Er erhob sich umständlich, ging hin, nahm den Becher vom Boden und ließ ihn in den Eimer fallen. »Ich habe gemeint«, sagte er, »du hast mir den Fall übergeben.« Er kam zum Tisch zurück und setzte sich griesgrämig. Es herrschte Schweigen.

Haller griff sich Streichhölzer und riss eines dreimal an, bis es endlich brannte. Er stieß weiße Rauchschwaden in die Luft. »Suter«, meinte er, »ist der Auffassung, der Fall sei abgeschlossen.«

»Warum? Hat Ali Aydin gestanden?«

»Nein. Er hat bis jetzt kein Wort gesprochen.«

»Wo ist er?«

»Er sitzt unten in Einzelhaft.«

»Und wenn er sich umbringt?«

»Er bringt sich nicht um. Türken sind vieles gewohnt.«

»Er war es nicht«, sagte Hunkeler.

»Das ist genau das«, sagte Madörin, »was mir an dir so [10] auf den Nerv geht. Du platzt da rein und behauptest irgendwas, was du nicht beweisen kannst. Einfach so, aus dem hohlen Bauch heraus.« Er grinste, ziemlich schief, wie Hunkeler fand. Dann setzte er neu an, überzeugt, den entscheidenden Schlag zu landen. »Frau Aydin hat in fremden Haushalten geputzt. Wir haben das untersucht, es sind nicht die besten Adressen. Schwarzarbeit natürlich, sie hat keinen Rappen versteuert. Außerdem hat sie Männerbesuch empfangen. Wir wissen noch nicht genau, wer das war. Aber es ist regelmäßig geschehen. Für jeweils eine Stunde. Wir wissen das von Frau Lüthi, die im Parterre wohnt. Es scheint sich also um Eifersucht zu handeln, Totschlag im Affekt, ziemlich eindeutig. Findest du nicht?«

Hunkeler schloss die Augen. Er sah vor sich das Ehebett, auf dem die tote Frau gelegen hatte. Den Mann in der Küche des Nachbarn, seinen hellen, verzweifelten Blick. Er bewegte langsam den Kopf, von links nach rechts und von rechts nach links, als wollte er den steifen Nacken lockern.

»Ich bin auch der Meinung, dass er’s nicht war«, sagte Haller.

Hunkeler spürte Übelkeit. Sein Mageninhalt drängte nach oben, er hätte sich übergeben wollen. Ein Bier wäre gut, dachte er, oder zwei oder drei. Sanfter Gerstensaft, wohltuend und nährend. Er öffnete die Augen und sah mitten auf dem Tisch einen Anhänger mit Schnur liegen. Er erhob sich und schaute genau hin. Der Anhänger war flach und zeigte zwei Figuren, eine Frau und einen Mann, Seite an Seite, die aus einem Boot oder Nachen herauswuchsen, Bronze vermutlich.

»Rühr es nicht an«, warnte Madörin.

[11] Hunkeler blieb ruhig stehen, die Augen auf den Anhänger gerichtet. Ein wunderschönes Stück, aus einer Kultur stammend, die aus der Kraft der Magie lebte.

»Das ist ein Amulett«, sagte Lüdi, »das Paar im Kahn, so nennen wir es. Es hat am Hals der toten Frau gehangen. Wir wissen nicht, woher es stammt. Türkisch ist es nicht, wir haben uns erkundigt.«

»Was ist mit der Tatwaffe?«

»Keine Ahnung. Wir wissen nur, dass die Täterschaft mehrmals zugeschlagen hat.«

»Wann genau?«

»Es muss über Mittag geschehen sein.«

»Hat Herr Aydin über Mittag zu Hause gegessen?«

»In der Regel nicht. Er hat sich üblicherweise in der Kantine verpflegt.«

Madörin beugte sich vor und tippte mit dem rechten Zeigefinger auf den Tisch.

»Stell dir vor«, sagte er, »er kommt über Mittag überraschend heim. Stell dir vor, er findet seine Frau in der Küche, zusammen mit einem Freier. Der dreht doch durch.«

»Warum in der Küche?«, fragte Hunkeler.

»Weil Frau Aydin in der Küche totgeschlagen wurde. Neben dem Gasherd. Dort will sie Herr Aydin gefunden haben, am Abend. Das stinkt doch zum Himmel. Aydin ist nämlich über Mittag nicht in der Kantine gewesen.«

Hunkeler erinnerte sich an das Bild, das über dem Ehebett gehangen hatte. Eine Moschee vor türkisblauem Nachthimmel, neben den Minaretten der Halbmond.

»Was ist mit dem Freier? Warum hat er sich nicht gewehrt? Warum meldet er sich nicht?«

[12] »Warum wohl«, grinste Madörin.

Hunkeler erhob sich und schmiss den Stuhl um.

»Seid ihr übergeschnappt?«, schrie er. »Seid ihr wahnsinnig geworden?«

Da öffnete sich die Tür. Herein trat Staatsanwalt Suter, gefasst und ruhig, seiner selbst sicher, auch in Zeiten von Gefahr und Krise. Er betrachtete sorgenvoll den umgefallenen Stuhl.

»Stellen Sie den Stuhl auf, Kommissär Hunkeler.«

Hunkeler packte den Stuhl und stellte ihn auf die vier Beine.

»Wer schreit, hat unrecht«, sagte Suter, »das wissen Sie.«

Er schüttelte traurig den Kopf, ging zum Fenster und schaute in den dunklen Nebel hinaus. »Das ist der islamische Fundamentalismus«, sagte er. »Die Frau ist in dieser Kultur, wenn man es so nennen will, nichts weiter als ein Gebrauchsgegenstand, ein Tier, ein Hund. Die Frau wird gesteinigt, wenn sie einen fremden Mann auch nur anlächelt. Und dann kommen diese Machos hierher nach Basel, um Schweizer Franken zu verdienen, die sie natürlich nicht hier ausgeben, sondern zurückschicken nach Kleinasien und damit ihre Brut aufziehen, wenn ich so sagen darf. Das dürfen wir nicht zulassen, meine Herren. Da müssen wir durchgreifen. Und das ist die Aufgabe unserer Polizei.«

Er drehte sich um, zog ein Taschentuch aus seiner Hose und wischte sich die Hände.

»Der Fall ist abgeschlossen«, sagte er. »Ali Aydin hat sich in seiner Zelle erhängt.«

[13] Um neun Uhr am selben Abend traf Hunkeler im Restaurant Kunsthalle seine Freundin Hedwig. Er hatte sich eine halbe Stunde verspätet und sah sie schon vom Eingang aus hinten rechts an einem weiß gedeckten Tisch sitzen.

»Schau an«, sagte sie, »der Freund und Helfer. Die Pünktlichkeit in Person.«

»Entschuldigung, aber ich kann nichts dafür. Ich frage mich wirklich, ob ich den richtigen Beruf gewählt habe. Von Haus aus bin ich nämlich ein frohes Gemüt und durchaus pünktlich, wenn mich eine charmante Frau erwartet.«

Sie schüttelte den Kopf, lachte missmutig. Aber er sah ihren genauen Blick.

»Du und ein frohes Gemüt, dass ich nicht lache. Du bist der personifizierte Griesgram, besonders im November. Aber es macht nichts. Ich werde dich umstimmen und aufheitern heute Abend. Dazu bin ich ja da, nicht wahr?«

Er starrte sie an, überrascht.

»Schau nicht so blöd«, sagte sie. »Schenk mir ein Lachen. Mir geht es nämlich blendend.«

»Ich glaube nicht, dass ich heute Abend lachen werde.«

Sie griff sich über den Tisch weg seine rechte Hand.

»Sei bitte nicht stur. Gib dich für einmal der fraulichen Fröhlichkeit hin. Sie wird dir guttun, alter Mann.«

Er spürte ihre Hand in der seinen, die kühle, sanfte Haut. Er schaute auf die Fältchen beidseits ihrer Lippen.

Als der Kellner mit geübten Bewegungen den Loup de mer zerteilte, spürte er, wie seine Augen nass wurden. Eine Träne lief ihm über die Wange. Er wischte sie nicht weg.

Hedwig erschrak.

»Was ist los?«

[14] »Nichts.«

»Ich weiß, der Nebel, der aus der Aare aufsteigt und die Menschen schwermütig macht. Warum nur habe ich mich in einen Aargauer vergafft?«

Er zuckte mit den Achseln, er wusste es auch nicht.

»Hör jetzt auf«, befahl sie. »Die Arbeitswoche ist vorbei, es ist Freitagabend. Die Frauen sind müde und freuen sich auf eine Nacht voll Liebe. Ich will nicht vor einem weinenden Mann sitzen.«

»Es ist nicht der November«, sagte er. »Und ich will dir nicht den Abend kaputtmachen. Aber wenn die Tränen hervordrücken, so kann ich nichts dagegen tun. Das liegt bei uns in der Familie.«

Sie schenkte ihm Weißwein nach.

»Trink. Betrink dich meinetwegen. Aber hör mit den Tränen auf.«

Sie begann von ihrer Arbeit im Kindergarten zu erzählen. Drei Kinder aus Kosovo, vier aus Spanien, sieben aus der Türkei und fünf von Basler Eltern. Und keines könne mit dem andern reden. Sie mitten drin, sie rede und rede, aber sie könne weder Albanisch noch Spanisch noch Türkisch.

»Was soll ich da machen?«, fragte sie. »Wie soll ich den Kindern helfen?«

»Hör mal«, sagte er, als der Kellner die Teller abgeräumt hatte. »Ich wollte dir den Appetit nicht verderben. Aber jetzt muss ich es dir erzählen. Im St. Johann ist eine tote Türkin mit zerschmettertem Gesicht gefunden worden. Ihr Mann, auch er aus der Türkei, wurde verhaftet und hat sich vor zwei Stunden in der Zelle erhängt. Suter behauptet, damit sei der Fall gelöst, der Ehemann sei der Täter gewesen. [15] Er ist es aber nicht gewesen. Sondern er hat sich aus Verzweiflung erhängt. Das ist der Grund meiner Tränen.«

»Ach du lieber Himmel«, sagte sie und schob ihr Glas weg. »Hört das nie auf? Mord und Totschlag und Männer, die sich erhängen. Das habe ich nicht verdient. Ich will einen Mann, der lacht.«

Er grinste schief.

»Nach Neujahr vielleicht, dann werde ich lachen.«

»Und bis dann?«

»Ich habe die tote Frau gesehen. Ich habe die Wohnung gesehen, ein trautes türkisches Heim in der fremden Stadt Basel. Ich habe den Mann am Tisch sitzen sehen. Der war voll Trauer.«

Sie winkte den Kellner an den Tisch und bestellte Kaffee.

»Warum war denn das Gesicht zerschmettert?«

»Das weiß ich nicht.«

»Dass jemand eine Frau umbringt, und sei es die eigene, das kann ich verstehen. Aber das mit dem Gesicht, das verstehe ich nicht. Das muss einen Grund haben.«

»Stimmt«, sagte er.

»Was war es für eine Wohnung?«

»Zwei Zimmer mit Küche. Billig eingerichtet, viel Kitsch. Aber bewohnt von Leuten, die gut ausgekommen sind miteinander. Alles war an seinem Platz. Ich meine damit, dass sich die beiden geliebt haben.«

»Vielleicht war es Eifersucht? Er ist durchgedreht und hat ihr mehrmals eine Pfanne ins Gesicht gehauen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das hätte der Mann gesagt. Er war keiner, der lügen kann. Besonders nicht in so wichtigen Dingen. Er hatte [16] einen Blick, ohne jede Reserve. Er hätte es gestanden und sich erst dann erhängt.«

Sie goss Rahm in den Kaffee, rührte ihn um, schüttelte traurig den Kopf.

»Wieso kann sich überhaupt jemand umbringen in Untersuchungshaft? Das müsste doch verhindert werden.«

»Wenn sich jemand unbedingt umbringen will, findet er meistens einen Weg. Mit dem Leintuch, mit dem eigenen Hemd.«

»Und schon bin ich wieder mitten in einer Mordgeschichte«, sagte sie. »Ich will das gar nicht. Ich verstehe schon, dass du das nicht einfach so hinnehmen willst oder kannst. Du bist nun einmal ein sturer Bock. Was übrigens ein Grund ist, dass ich dich liebe.«

Sie streichelte seine Hand, diesmal die linke.

»Du bist also wieder einmal dabei, dir Feinde zu schaffen, nicht wahr? Suter wird sich ja freuen, und Madörin auch.«

Er zuckte mit den Achseln, entschuldigend, flehend fast.

»Soll ich es lassen? Schwamm darüber und fertig?«

Sie zog ihre Hand zurück, und er sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht.

»Es wird also nichts mit unserem Wochenende im Elsass. Der Gerechtigkeit wegen, nicht wahr?«

Wieder zuckte er mit den Achseln, dann nickte er.

»Hör mal«, sagte sie, »ich verstehe dich schon. Du tust das, was du tun musst. Sonst müsste ich dich ja verachten. Das wäre die härteste Strafe für mich. Aber ich tue auch, was ich tun will. Und ich rufe jemanden an und fahre mit ihm ins Elsass, wenn du gestattest.«

Sie erhob sich langsam, müde und schwerfällig plötzlich. [17] Als er keine Anstalten machte, mit ihr zu gehen, versuchte sie zu lächeln, freundlich und süß.

»Bezahlst du für mich?«

Er schaute ihr nach, wie sie vorn beim Kleiderständer in ihre Jacke schlüpfte, ihm kurz zunickte und verschwand.

Er ließ sich von einem Taxi in die Elsässerstraße fahren, stieg aus und bog in die Murbacherstraße ein. Es nieselte aus dem Nebel, der Asphalt glänzte schwarz. Eine Katze sprang auf den Gehsteig, stellte den Schwanz senkrecht, versperrte ihm den Weg. Er beugte sich zu ihr nieder, kraulte sie unter dem Flohband. Sie rannte durch einen Vorgarten zur Haustür, rieb das Fell an der Mauer.

»Tut mir leid«, sagte er, »bei mir hast du kein Glück. Ich habe den Schlüssel nicht.«

Er ging weiter bis zum Haus, in dem das Ehepaar Aydin gewohnt hatte. Vier klapprige Fahrräder lehnten an der Hauswand, gesichert mit einer Kette. Er las die Namen unter den Klingelknöpfen. Drei waren offenbar türkisch, fünf kroatisch oder serbisch. Im Weiteren wohnten noch eine Verena Lüthi hier und ein Jost Meier. Er klingelte bei Fazil Sengün, wartete, bis die Tür aufsprang, und ging hinein. Ein schmales Treppenhaus mit Kunststeinstufen und dünnem Metallgeländer, die Wände fleckig, auf den Etagen ausgefranste Bastvorleger. Ein seltsamer Geruch, in dem ein Gewürz mitschwang, das exotisch anmutete.

Fazil Sengün stand vor seiner offenen Wohnungstür, mit verweinten Augen.

[18] »Kommen Sie herein«, sagte er, »ich weiß es schon.«

In der Küche stellte er ein Kupferkännchen aufs brennende Gas, holte zwei Tassen und Zucker.

»Ich dürfte eigentlich nicht hier sein«, sagte Hunkeler, »es ist nicht meine Aufgabe, diesen Fall zu lösen.«

»Es ist der Fall von Herrn Madörin, ich weiß. Er hat mich vor zwei Stunden angerufen. Ich muss morgen um zehn im Lohnhof sein, um die Geschichte mit den Papieren zu regeln.«

Hunkeler setzte sich.

»Wo haben Sie eigentlich so gut Deutsch gelernt?«

»Ich habe sieben Jahre in Dortmund gearbeitet.«

»Wie lange kannten Sie Herrn Aydin?«

»Drei Jahre.«

»Hatte er Kinder?«

»Ja, ein Mädchen und einen Jungen. Sie leben bei den Großeltern in Konya.«

»Wo soll das Ehepaar Aydin begraben werden?«

»Hier in Basel. Das ist am billigsten.«

Fazil Sengün stellte das Gas ab und goss den Kaffee in die Tässchen. Er tat das sehr langsam, als ob etwas hätte zerbrechen können. Den Blick hielt er gesenkt.

Hunkeler schlürfte den heißen Kaffee.

»Ich will den Mörder der Aische Aydin finden«, sagte er. »Der Staatsanwalt hat den Fall übrigens abgeschlossen. Aber ich will die Wahrheit herausfinden.«

»Die Wahrheit ist, dass beide tot sind. Es gibt nichts mehr herauszufinden.«

»Ich ertrage es nicht«, sagte Hunkeler, »wenn jemand das Gesicht einer Frau zerstört. Es war ein Mann, nicht wahr?«

[19] »Die Schläge sind mit großer Gewalt geführt worden. Also war es ein Mann.«

»Womit sind die Schläge geführt worden?«

»Ich weiß von nichts«, sagte Fazil. »Ich bin am Abend heimgekommen von der Arbeit, Ali hat an meiner Tür geklingelt, ich habe ihn in die Küche genommen und die Polizei angerufen. Das habe ich Herrn Madörin schon alles erzählt.«

»Hat sie Männerbesuche empfangen?«

»Sie ist in der Türkei Lehrerin gewesen und hat hier Türkischstunden gegeben. Privat.«

»Bei wem hat sie geputzt?«

»Das waren vier Haushalte. Ich habe die Namen Herrn Madörin mitgeteilt. Sie hängen übrigens dort an der Wand.« Er hob kurz den Kopf und zeigte zum Telefon, neben dem Zettel hingen.

»Ali hat kein eigenes Telefon gehabt, er war unter meiner Nummer erreichbar. Trinken Sie noch eine Tasse?«

»Nein«, sagte Hunkeler, »sonst kann ich nicht schlafen. Die beiden hatten ziemlich viel gespart, nicht wahr?«

Sengün nickte.

»Sie hatten vor, in zwei Jahren in die Türkei zurückzukehren und am Mittelmeer eine Pension aufzumachen. Daraus wird jetzt nichts.« Es war deutlich zu sehen, wie eine Träne über seine Wange lief. »Ein Mann weint nicht«, sagte er, »das ist die Regel. Und jetzt weine ich doch.«

»Sie müssen mir helfen«, sagte Hunkeler. »Ich will nicht, dass der Mörder frei herumläuft.«

Sengün schüttelte den Kopf. »Sein schlechtes Gewissen wird ihn bestrafen.«

[20] »War es ein Schweizer?«

»Ein Mann ist ein Mann, ob Türke oder Schweizer. Ein Mann braucht Gewalt, wenn er schlecht ist.«

Hunkeler erhob sich, ging zum Telefon und las die Namen. Jost Meier, Beat Spälti, Theo Ruf, Alice Odermatt. Er nahm sein Notizbuch heraus und schrieb sie hinein.

»Wen hat Frau Aydin unterrichtet?«

»Zwei junge Leute aus der Reisebranche. Die eine heißt Erika Frösch, der andere Fritz Stampfli. Ich bin sicher, Herr Madörin hat sich bei ihnen erkundigt.«

Hunkeler nickte. Er war zu spät dran, das wusste er. »Hat Herr Aydin nach dem Tod seiner Frau mit Ihnen geredet?«

»Nein, kein Wort. Er hat die Sprache verloren. Es war auch nicht nötig, etwas zu sagen.«

»Weil Sie wussten, dass er nicht der Täter sein konnte, nicht wahr?«

Sengün rührte sich nicht.

»Was ist das für ein Amulett«, fragte Hunkeler, »das Frau Aydin am Hals trug? Von wem hat sie es bekommen?«

»Sie hat dieses Amulett geliebt. Ich weiß nicht, woher sie es hatte.«

»Sie lügen«, sagte Hunkeler leise, »und Sie wissen genau, dass ich das weiß.«

Sengün schüttelte den Kopf, sehr langsam, ein gebrochener Mann. »Lüge ist, wenn das Leben sein Versprechen nicht hält. Wenn zwei, die sich lieben, sterben müssen, durch Gewalt.«

»Sie hat einen Geliebten gehabt, nicht wahr?«

Sengün hob den Kopf und schaute dem Kommissär direkt in die Augen, ohne Falsch, ohne Arg.

[21] »Aische war eine gute Frau. Sie hätte ihrem Mann diese Schande nie angetan.«

»Vielleicht hat er nichts gewusst von diesem Geliebten. Sie hat ihre Liebe versteckt.«

Er wartete auf eine Antwort. Dann hob er die Tasse an die Lippen und ließ den süßen Kaffeesatz in den Mund rinnen. Dieser Mann würde nichts sagen, auch wenn er etwas zu sagen gehabt hätte, das war klar. Verständlich war sein Schweigen, denn es gab nichts mehr zu retten, außer der Ehre vielleicht.

»Vielen Dank«, sagte Hunkeler. »Ich werde mir erlauben, Sie noch einmal zu besuchen, wenn ich Fragen habe.«

Sengün erhob sich, mit einer leichten Verbeugung.

Hunkeler ging durch die Lothringerstraße. Er schlug den Kragen hoch und drückte den Hut in die Stirn. Ein scharfer Wind wehte. Bestimmt würde es regnen diese Nacht, ein richtiger Landregen würde einsetzen und Basel einwässern. Vorne an der Ecke sah er, wie das Einer-Tram vorbeifuhr. Im vorderen Wagen saßen drei Menschen und schienen zu schlafen, der hintere Wagen war leer. Er überquerte die Voltastraße und betrat die Wirtschaft Zur Neuen Brücke. Eine einschlägige Kneipe für Alkis und Kiffer, gut und sauber geführt. Gedrückt wurde hier nicht, darauf achtete der Wirt, der auf ein gutes Verhältnis zur Polizei Wert legte.

Die Wirtschaft war halbvoll, sieben Tische waren besetzt. Der Stammtisch gleich neben dem Eingang, zwei Tische [22] links, drei Tische rechts. Hinten in der Ecke saß ein junges Paar, das Händchen hielt und schmuste.

Die Leute am Stammtisch, vorwiegend junge, vergammelte Ware, drehten den Kopf, als Hunkeler unter der Tür stehen blieb und sich umschaute. Ein brandmagerer Kerl von knapp zwanzig Jahren in fleckiger Jeansjacke erhob sich, verbeugte sich leicht gegen den Kommissär und wischte hinaus. Hunkeler ging zum Stammtisch und setzte sich auf den leeren Stuhl neben Pedro.

»Wer war das?«

»Das war der schmale Freddy«, sagte Pedro. »Ein Kleindealer. Harmlos, kein Grund zur Aufregung. Was verschafft uns die Ehre?«

Pedro trug wie immer einen sauber gebügelten Zweireiher samt weißem Hemd und Krawatte. Woher er seine Anzüge hatte, wusste niemand genau. Man munkelte, er habe einen guten Freund aus irgendeiner Chefetage, der ihm seine alten Kleider überließ und ihn auch sonst mit dem Nötigsten versorgte. Eine Invalidenrente bezog er jedenfalls nicht, dazu wäre er zu stolz gewesen. Pedro war Berufsmann, jedenfalls behauptete er das. Er hatte vor fast vierzig Jahren mit Hunkeler zusammen die Universität besucht. Ein alter Freund also, der das Studium aufgegeben hatte und erst Werbetexter, dann Übersetzer aus dem Spanischen geworden war. Er saß wie immer vor einem Einer Roten.

»Der Nebel schlägt mir aufs Gemüt«, sagte Hunkeler, »und mein Beruf gibt mir den Rest.«

Er bestellte bei der Kellnerin, einer rundlichen, lebhaften Jugoslawin, eine Flasche Bier.

»Der Lohn aller Rechthaber«, sagte Pedro. »Erst bringen [23] sie gefallene Frauen und Männer, die Mut hatten zur Tat, hinter Gitter. Dann kommen sie hierher zum Abschaum der Stadt, und wir müssen sie trösten.«

»Stimmt«, sagte Hunkeler, »du hast recht wie immer.«

Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte, hustete.

»Kannst du nicht endlich aufhören mit dem Nikotin, in deinem Alter, mit deinem Husten?«, fragte Pedro.

»Warum? Hier rauchen doch alle.«

»Die haben was davon. Die kiffen.«

»Ich habe auch etwas davon«, behauptete Hunkeler.

»Ja, Lungenkrebs.«

Die Kellnerin brachte das Bier und wollte einschenken, aber Hunkeler ließ es nicht zu. Er nahm die Flasche und ließ helles Bier ins Glas fließen, so dass ein luftiger Schaumkragen entstand.

»Zum Wohl«, sagte er.

»Prost. Bezahlst du mir einen?«

Hunkeler nickte und trank. Er liebte diesen ersten Schluck, er liebte den zweiten, und er liebte auch den zehnten Schluck.

Die Leute am Tisch hatten geschwiegen, als er sich gesetzt hatte, und ihn misstrauisch gemustert. Einige kannten ihn, er kannte sie auch. Von der Gasse, vom Lohnhof, in dem hin und wieder einer von ihnen auftauchte wegen öffentlicher Ruhestörung, wegen Sachbeschädigung. Das waren keine schweren Fälle. Harmloses Pack, aus der bürgerlichen Ordnung herausgefallen, überlebend dank Invalidenrente und anderen Sozialleistungen, junge Borderliners, die sich bis jetzt immer wieder vor dem endgültigen Abtauchen hatten retten können.

[24] Er wusste, dass man ihn nicht gern hatte an diesem Tisch. Er wusste aber auch, dass ihn niemand richtig hasste, da er im Ruf stand, im Zweifelsfall einen Delinquenten laufenzulassen.

Er schwieg, er schloss die Augen und hörte dem Gespräch zu, das wieder eingesetzt hatte. Es ging um Zigeuner im nahegelegenen Elsass, um die Kinder dieser Zigeuner genauer, von denen einige regelrechte Raubzüge nach Basel unternahmen, in Wohnungen einbrachen oder alten Damen die Handtaschen entrissen. Und wenn man sie erwischte, musste man sie nach wenigen Tagen wieder laufenlassen, da sie zu jung waren für den normalen Strafvollzug. Er kannte dieses Problem genau, er hatte die letzten Wochen darüber gearbeitet. Aber dass diese Leute hier sich darüber so sehr ereiferten, erstaunte ihn doch.

»Hast du etwas über die erschlagene Türkin gehört?«, fragte er.

Pedro trank einen Schluck Wein. Er ließ sich Zeit, bis er das Glas absetzte, als ob es ein besonders guter Schluck gewesen wäre. Dann schaute er mit wasserblauen Augen auf.

»Was für eine Türkin?«

»Murbacherstraße«, sagte Hunkeler. »Ihr Mann hat sich heute Abend im Lohnhof erhängt.«

Etwas zuckte in Pedros Augen, kaum wahrnehmbar. Dann waren sie wieder wie reines Wasser.

»Davon weiß ich nichts.«

Hunkeler schenkte sich Bier nach, sorgfältig, bis der Schaumkragen stand.

»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte er.

[25] »Du weißt, dass ich keinen festen Wohnsitz habe. Sonst würde ich ja schon längst eine Invalidenrente erhalten.«

»Wenn ein fester Wohnsitz die Voraussetzung für die IV ist, verstehe ich nicht, dass du immer noch herumstromerst. Es würde dir doch kein Zacken aus deiner Krone fallen, wenn du dich ganz normal niederlassen und anmelden würdest. Die IV wäre nur noch Formsache, bei deinem Lebenswandel.«

»Sehe ich aus wie ein IV-Rentner?«

»Nein. Aber ich weiß, dass du am Anschlag lebst.«

Er nahm das Portemonnaie aus der Tasche und legte einen Schein auf den Tisch. Das Gespräch am Tisch verstummte, alle schauten zu.

»Wenn du meinst«, sagte Pedro, »du kannst mich mit hundert Franken kaufen, so ist das eine Beleidigung.«

Er nahm den Schein und zerriss ihn zu kleinen Fetzen, die er in den Aschenbecher fallen ließ.

»Das ist nur Geld«, sagte Hunkeler, »das du zerstörst. Aber der Türkin haben sie das Gesicht zerschmettert.«

Pedro schluckte leise. Dann hob er sein Glas an die Lippen und trank es in einem Zug aus.

»Bezahlst du mir noch einen? Im Übrigen weiß ich wirklich nichts.«

»Du bist doch in diesem Quartier zu Hause«, sagte Hunkeler. »Da musst du etwas wissen.«

»Ich schlafe in der Damentoilette des Parkhauses Heuwaage. Dort liegt eine Warmwasserleitung unter dem Boden. Die wärmt mich. Und fließendes Wasser habe ich auch.«