Peter Orullian

Das Gewölbe

des Himmels

Der Ausgestoßene

Aus dem Englischen

von Maike Claußnitzer

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Vault of Heaven 2. Trial of Intentions (Part One)«

bei Tor Books, New York.

1. Auflage

Oktober 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen

der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Peter Orullian

Copyright ©der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Melanie Miklitza, Inkcraft, München

Umschlagillustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft, München

Karte © by Peter Orullian

Redaktion: Alexander Groß

Lektorat: Holger Kappel

Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-10992-9

www.blanvalet.de

Landkarte

Für Mom und Dad.

Euer Vorbild bedeutet mir alles.

Prolog

EIN DRITTER ZWECK

Ermutigung schöpft man aus Lebendigem – Bäumen, Gräsern, Tieren. Vor allem und am besten aus der eigenen Familie. Alle nähren einen. Ihre Abwesenheit richtet einen zugrunde.

(Aus der Wirkung von Abwesenheiten, einer Kriegsdoktrin der Wechselbeziehungen, die ihren Ursprung im Born hat)

Nach langen Jahren in den Landen des Mals erkannte Tahn Junell, dass ihre Patrouillen noch einem dritten Zweck dienten.

Der erste und offensichtlichste war der, dass sie für rechtzeitige Warnung sorgten, wenn Besucher oder Fremde ins Mal kamen. Die Patrouillenrouten gestatteten einen weiten Blick ins offene, öde Land. Neuankömmlinge konnten so mühelos schon von weitem erspäht und gemeldet werden.

Der zweite praktische Zweck, den die Patrouillen erfüllten, bestand darin, Ausdauer für Kämpfe aufzubauen und zu erhalten. Jedes Mündel des Mals im Alter zwischen drei und neunzehn Jahren verbrachte nicht weniger als sechs Stunden täglich mit ritualisierten Waffenübungen.

Erst später wurde Tahn schließlich klar, dass es noch einen dritten, unausgesprochenen Grund für die Patrouillen gab. Sie ermöglichten es den Mündeln des Mals, einander im Auge zu behalten und zu verhüten, dass eines von ihnen sich allein von zu Hause fortstahl.

Um sich das Leben zu nehmen.

Tahn und Alemdra rannten schnell und erreichten den Schluchtengrat weit vor Sonnenaufgang. Sie verlangsamten ihre Schritte, schöpften Atem und tauschten ein Lächeln.

»Du bist für mich mittlerweile ein Klotz am Bein«, neckte ihn Alemdra. »Ich glaube, das liegt daran, dass ich zur Frau werde, während du noch ein Junge bist.«

Er lachte. »Na, wenn wir weiter zusammen Patrouille laufen, lege ich dir einfach einen Sattel auf.«

Sie verpasste ihm einen Schlag gegen den Arm, und sie setzten sich gemeinsam hin und ließen die Beine von einer der wenigen nennenswerten Erhebungen im Mal baumeln. Alemdra wurde heute zwölf Jahre alt, kaum älter als Tahn. Und er hatte vor, sie zu küssen. Angesichts des Funkelns ihrer Augen fragte er sich, ob sie seine Absicht erraten hatte. Aber wenn ja, dann steigerte das unausgesprochene Geheimnis die Vorfreude nur.

Sie wackelten entspannt mit den Zehen und blickten nach Osten.

»Siehst du den?« Er zeigte auf den hellsten Stern der östlichen Hemisphäre. Sie nickte. »Das ist Pilona Soray, der Morgenstern. In Wirklichkeit ist er ein Planet.«

»Ach so?« Sie kniff die Augen zusammen, als könnte sie den fernen Stern so schärfer sehen.

»Pilona Soray heißt auf Dimnisch so viel wie ›liebeskrank‹.« Kaum etwas bereitete ihm mehr Vergnügen, als über den Himmel zu reden. »Es gibt eine ganze Geschichte darüber, wie ein Pflüger sich in eine Hofdame verliebte.«

Sie bemühte sich gar nicht erst zu verbergen, wie verdächtig sie es fand, dass er gerade jetzt die Geschichte ausgerechnet dieses Planeten erzählte. »Vielleicht wird eines Tages ein guter Pflüger aus dir. Natürlich nur, wenn du dich anstrengst.«

»Eigentlich«, konterte er, »wird die Geschichte nur vollständig, wenn er in Konjunktion mit Rych Symone steht – dem Planeten, der nach dem Gott der Fülle und Gunst benannt ist. Du weißt schon, reiche Ernten und überbordende Herbstfeste.« Bei Letzterem errötete er fast, da er mittlerweile wusste, wie ausschweifend die Rituale bei diesen Festen werden konnten. »Rych ist der größte Planet …«

Sie bedachte ihn mit einem Blick. Mit dem Blick. »Du scheinst ja zu glauben, dass du jetzt klüger bist als wir.«

»Was soll das heißen – jetzt?« Und er begann zu lachen.

Sie brach ebenfalls in Gelächter aus. »Es hat dir dort wirklich gefallen, nicht wahr? In Albenhain.«

»Ich würde schon morgen dorthin zurückkehren, wenn das nicht hieße, dich zurückzulassen.« Es klang aufrichtiger, als er es sich hatte anmerken lassen wollen, aber das machte ihn nicht verlegen. Er hielt den Blick weiter unverwandt auf Katia in der Ferne gerichtet. »Es ist ganz wunderbar, Alemdra. Keine Patrouillen. Keine Kampfübungen. Nur Bücher. Lernen. Durchs Fernrohr den Himmel betrachten, um herauszufinden, was dort oben ist.« Er wies mit großer Geste auf den östlichen Himmel.

Sie lächelte und konnte seine Begeisterung für die wenigen Jahre nachempfinden, die er fort gewesen war, bevor man ihn hierher zurückgerufen hatte. »Glaubst du, dass du das Mal je endgültig verlassen wirst?« Ein fast unheilvoller Unterton lag in ihrer Stimme.

Tahn drehte sich um und sah ihren Gesichtsausdruck – den, den sie immer aufsetzte, wenn sie über Grant sprachen. Während alle Mündel gewissermaßen Grants Adoptivkinder waren, war Tahn der leibliche Sohn des Mannes. Er vermutete, dass er diesen Ort möglicherweise irgendwann verlassen würde, besonders, wenn er je herausfand, wer seine Mutter war und ob sie vielleicht sogar noch lebte.

»Früher oder später. Wenn mein Vater einst in die Erde zurückgekehrt ist. Ich glaube nicht, dass ich ihn hier allein lassen könnte.« Tahn warf einen Stein und lauschte, um zu hören, wie er weit unter ihnen auftraf. Er begann im Kopf Berechnungen anzustellen, um die Höhe des Grats herauszufinden. Anfangsgeschwindigkeit, bis sechs gezählt, bis der Stein aufgetroffen ist, Beschleunigung durch die Schwerkraft …

»Er wird nie allein sein, Tahn«, sagte sie und unterbrach so seine Berechnungen. »Nicht, solange es die Wiege gibt.«

Tahn nickte grimmig. Die Vergessene Wiege. Sie rief allen Mündeln des Mals eindringlich ins Gedächtnis, dass sie ausgesetzt worden waren. Und sie war der Weg, auf dem die meisten von ihnen hierhergelangten. In jedem Zyklus des ersten Mondes wurde ein Säugling in die Höhlung im Stamm einer toten Grannen-Kiefer gelegt. Waisen. Findelkinder. Und manchmal auch Kinder, deren Eltern sie einfach nicht mehr wollten. Grant holte das Kind ab und versuchte, ein angemessenes Zuhause außerhalb des Mals zu finden. Diejenigen, für die sich keine solche Regelung treffen ließ, kamen zu ihnen, um mit ihnen auf dem Mal zu leben. Da sie ihren eigentlichen Geburtstag nicht kannten, feierten Mündel ihren Wiegentag – den Tag, an dem sie aus dem Baum gerettet worden waren. So, wie sie es heute für Alemdra taten.

»Ich weiß nicht, warum du überhaupt genug Loyalität ihm gegenüber empfindest, um zu bleiben.« Sie sah beiseite, dorthin, wo die Sonne sich gleich über die Berge im Osten erheben würde. »Nicht nach allem, was er dir angetan hat.«

Sein Vater setzte ihn stärker unter Druck als die anderen. Tahns Lehrstunden waren weniger berechenbar. Schwieriger. Man hätte sich fragen können, ob sein Vater seine Verbannung an ihm ausließ, weil er sein Sohn war. Tahns Vater hatte sich diese Verurteilung eingehandelt, weil er der Regentin getrotzt hatte, und er konnte das Mal niemals verlassen, denn wer hätte sonst die Säuglinge aus der Wiege holen sollen?

Ihr besonderer Morgen hatte einen düsteren Beigeschmack angenommen. Aber Tahn konnte Alemdras Bemerkung nicht einfach so stehen lassen, obwohl er ihr von Herzen zustimmte. »Er hat einfach eine andere Art zu unterrichten.«

Alemdra schien zu erkennen, dass sie einen wunden Punkt berührt hatte, was uneingestandene Unsicherheiten betraf. »Wenn du fortgehst, nimmst du mich dann mit?«

Tahn lächelte, dankbar dafür, dass ihre morgendliche Plauderei eine andere Richtung eingeschlagen hatte. »Glaubst du, dass du da mithalten kannst? Ich war ja schließlich schon auf der Akademie und so weiter.«

Diesmal versetzte sie ihm einen Schlag gegen die Schulter, sanft genug, um ihn wissen zu lassen, dass sie nicht beleidigt war, aber zugleich fest genug, um ihm deutlich zu machen, dass sie kein Dummkopf war. Dann verfielen sie wieder in freundschaftliches Schweigen. Die Sonne würde bald aufgehen. Sie würden nichts mehr sagen, bis ihre Strahlen ihnen in den Augen funkelten. Dies war Tahns liebste Tageszeit auf dem Mal. Dem Morgen wohnte etwas Wunderbares inne – so als könnte der neue Tag vielleicht anders enden als der vorangegangene. Er nahm sich täglich die Zeit, Zeuge des Augenblicks zu werden, in dem die Sonne zum ersten Mal den Himmel erhellte, und ihm gefielen diese Sonnenaufgangsaugenblicke dann am besten, wenn Alemdra bei ihm war.

Er wollte sie küssen, wenn die Sonne hervorzubrechen begann. Vielleicht war das Gefühlsduselei, aber es erschien ihm trotzdem richtig. Als der Zeitpunkt näher kam, begann sein linkes Bein von selbst unruhig hin und her zu rutschen.

Was, wenn er ihre sich vertiefende Freundschaft missdeutet hatte? Was, wenn sie seinen Kuss zurückwies? Dann würde er sich alle künftigen Gelegenheiten verbauen, mit ihr die Morgenpatrouille zu laufen.

Als die ersten Sonnenstrahlen am Horizont hervorbrachen, wandte er sich Alemdra zu. Seine Gedanken überschlugen sich, um die richtigen Worte zu finden, und er rang mit sich, ob er sie einfach an den Schultern packen und es tun sollte.

Er sprach nicht und packte sie auch nicht. In derselben Sekunde, als er sich umdrehte, beugte Alemdra sich rasch und anmutig vor und drückte den Mund auf seinen. Ihre Augen waren geöffnet, und sie ließ ihre Lippen lange Zeit dort ruhen, bevor sie sie schloss und voll unschuldigem Entzücken seufzte.

Das Geräusch ließ Tahns Herz dröhnend bis zum Hals klopfen, und er wusste, dass er sie liebte. Die anderen Mündel würden ihn damit aufziehen und vielleicht gar versuchen, ihm einzureden, dass er bloß ein kleiner Junge war und solche Gefühle gar nicht kennen konnte. Sollten sie nur. Denn selbst, wenn Alemdra und er niemals einen intimeren Augenblick als diesen einen erlebten, würde er sich immer an ihren Kuss und an ihr Seufzen erinnern.

Etwas später löste sie sich von ihm und schlug die Augen, die sie geschlossen hatte, wieder auf. Sie lächelte – nicht verlegen, sondern glücklich. Und gemeinsam sahen sie zu, wie die Sonne ihren Aufgang am Himmel vollendete.

Dann durchbrach ein eiliger Rhythmus die Stille. Ferne Schritte. Jemand rannte. Gemeinsam wandten sie sich dem Geräusch zu. Hundert Schritt weit östlich tauchte hinter einem Wäldchen aus abgestorbenen Bäumen eine Gestalt auf und rannte in halsbrecherischem Tempo auf die Klippe zu. Sie sahen entsetzt mit an, wie ihre Freundin Devin von der Kante sprang. Ihre Arme und Beine ruderten kurz, bevor sie sich in den Fall schickte und ihr Körpergewicht sie gen Boden auf die gezackten Felsen weit unten zustürzen ließ.

Alemdra schrie. Das schrille Geräusch hallte in der tiefen Felsschlucht wider, während ihre Freundin fiel. Und fiel. Tahn stand instinktiv auf, konnte aber auch nur zusehen, wie Devin gen Himmel starrte und die Erdanziehungskraft ihr schreckliches Werk tun ließ. Anfangsgeschwindigkeit, Beschleunigung durch die Schwerkraft …

Wenige Augenblicke später schlug Devin mit einem kurzen Schrei auf dem vorstehenden Stein tief unten auf. Und lag sofort still.

»Devin!«, wimmerte Tahn und wünschte sich, seine Freundin hätte das zurücknehmen können. Tränen des Zorns und der Enttäuschung schossen ihm in die Augen.

Alemdra drehte sich zu ihm um. Sie tauschten einen langen, schmerzerfüllten Blick. Sie hatten den dritten Zweck nicht erfüllt. Sie waren so mit Alemdras Wiegentag, dem Frieden des Sonnenaufgangs und ihrem ersten Kuss beschäftigt gewesen, dass sie jegliche Spur von Devin übersehen hatten, die eine ihrer engsten Freundinnen gewesen war.

Alemdra sank auf die Knie. Schluchzer schüttelten ihren Körper. Tahn legte die Arme um sie, und gemeinsam weinten sie um Devin. Am Schluchtengrat, in den ersten Sonnenstrahlen des Tages, während Pilona Soray noch im Osten aufging, weinten sie um ein weiteres Mündel, das seinen Kampf mit dem Mal verloren hatte.

Der dritte Zweck. Tahn verstand die Gefühle, die diejenigen überkamen, die diesen Entschluss fassten. Jedes Mündel hatte irgendeine Art, sich dagegen zu wehren, oder versuchte das zumindest. Tahns Verteidigung waren der Himmel, der Morgen und der Sonnenaufgang. Diese Augenblicke schenkten ihm etwas, worauf er sich freuen und woraus er Hoffnung schöpfen konnte.

Ein wenig später stiegen sie langsam hinab, um den Leichnam einzusammeln, und schwiegen unterwegs, wie es sich für Trauernde schickte. Die Sonne brannte schon heiß vom Himmel, als sie Devin erreichten. Sie standen eine Weile da, bevor Alemdra das Schweigen brach. »Letzte Woche ist sie fünfzehn geworden.«

Mündel, die den Weg aus dem Mal suchten, taten das oft kurz nach ihrem Wiegentag.

Alemdra zog die Nase hoch und wischte sich die Tränen ab. In ihrer Stimme lag die altbekannte Besorgnis, als sie flüsterte: »Sie war stark. Stärker als die meisten.«

Tahn wusste, dass sie das in geistiger Hinsicht meinte. Er nickte. »Das ist es, was mir Angst macht.«

Sie verstummten wieder, in dem Wissen, dass sie bald eine Bahre würden bauen müssen, um den Leichnam nach Hause zu bringen. In Devins Tasche steckte sicher ein Brief. Es gab immer einen Brief. Er würde eine Entschuldigung enthalten, von Reue zeugen, von der Unfähigkeit, das Mal auch nur einen Tag länger zu ertragen. Es würde keine Schuldzuweisung an Grant erfolgen. Ihm würde vielmehr dafür gedankt werden, dass er sich um sie alle kümmerte, dass er sich bemühte, ihnen beizubringen, in der Welt zu überleben. Aber vor allem würde es in dem Brief um das gehen, was nicht auf dem Papier stand. Es würde darum gehen, dass das Mal irgendwie die Verlassenheit verstärkte, die ein Mündel überhaupt erst in die Vergessene Wiege gebracht hatte.

Die Briefe waren alle gleich und ohnehin immer an Grant gerichtet. Die Patrouillen machten sich meist nicht die Mühe, nach ihnen zu suchen.

Alemdra trat langsam neben Devin und kniete sich hin. Über den Leichnam gebeugt, strich sie Devin zärtlich übers Haar und sprach in tröstendem Ton auf sie ein – so wie man es einem Kind oder einem Schwerkranken gegenüber tat. Ihre Schultern begannen vor Schluchzen, das sie nicht länger zurückhalten konnte, zu zittern.

Tahn trat vor, legte einen Arm um sie und versuchte, diesmal stark zu sein.

»Es nistet sich ein.« Alemdra klopfte sich auf die Brust. »Man kann das Mal nie wirklich verlassen, nicht wahr? Selbst dann nicht, wenn man fortgeht.« Sie schaute zu Tahn hoch. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie wollte, dass er ihr widersprach und sie vom Gegenteil überzeugte.

Tahn konnte ihren Blick nur starr erwidern. Er hatte das Mal verlassen – zumindest ein bisschen –, als er in Albenhain gelebt hatte. Vielleicht.

Diesmal suchte Alemdra doch nach dem Brief. Er war nicht schwer zu finden. Aber als sie das quadratische Pergament auseinanderfaltete, war es anders als alle anderen: überhaupt keine Worte, sondern eine Zeichnung, die eine Frau im Alter von etwa vierzig Jahren zeigte, gekonnt mit tiefen Lachfältchen um Augen und Mund und recht großer Nase dargestellt. Devin war in dieser Hinsicht begabt gewesen. Sie hatte zeichnen können, ohne alles nach einem Hirngespinst aussehen zu lassen.

Das Porträt ließ Alemdra in neuerliches Schluchzen ausbrechen. »So hat sie sich ihre Mutter vorgestellt!«

Das brachte Tahns Tapferkeit ins Wanken. Er konnte in der Zeichnung einen Hauch von Devin als reiferer Frau erahnen. Es war etwas so Einfaches, die Gesichter seiner Eltern kennen zu wollen. Bei den toten Göttern, Devin, es tut mir leid.

1

DER RECHTE SCHUSS

Gnade hat viele Gesichter. Eines von ihnen gleicht der Grausamkeit.

(Versöhnungskirchliche Apologie der Ausweisung der Stilletreuen in den Born durch die Götter)

Tahn Junell rannte über die Solielebene nach Norden, und seine Vergangenheit rannte mit. Er lief durch die Kälte vor Sonnenaufgang. Ein helles Sternenzelt funkelte am klaren Himmel über ihm. Und unter ihm trommelten seine Stiefel einen eiligen Rhythmus auf den Schiefer. Mit der linken Hand umklammerte er seinen Bogen. In seinem Kopf verdrängte wachsende Furcht die Last seiner kurz zuvor zurückerlangten Erinnerungen. Vor ihm, noch außer Sichtweite, marschierten die Stilletreuen auf die Stadt Naltus Fern zu.

Bei den entschwundenen Göttern! Die Stilletreuen. Noch vor ein paar Mondzyklen waren diese sagenumwobenen Völker für Tahn nur das gewesen: Sagen. Geschichten, an die er zwar geglaubt hatte, aber nur auf die entfernte Art, wie der Tod die Lebenden betrifft. Ihre Geschichte handelte davon, wie sie zusammengetrieben und weit im fernen Nordwesten eingesperrt worden waren, in abgelegenen Landen, die man als den Born bezeichnete, an einem Ort, der von den Göttern erschaffen worden war, bevor sie die Welt als verloren im Stich gelassen hatten.

Einer seiner Ferngefährten klopfte ihm auf die Schulter und deutete mit dem Finger. »Dorthin.«

Links vor ihnen erhob sich ein Dolmen aus großen Schieferplatten.

Tahn sammelte sich, achtete gut darauf, wohin er die Füße setzte, und versuchte, möglichst unauffällig weiterzulaufen. Die drei Fern von der Stadtwache rannten dicht bei ihm und huschten leise wie ein Flüstern über die Steine der Ebene dahin. Sie hatten darauf bestanden, ihn zu begleiten. Es war keine Zeit geblieben zu widersprechen.

Sie rannten durch die leichte Brise, die den Geruch von Schiefer und Salbei mit sich trug. Hundert Schritt weiter duckten sie sich in eine flache Senke neben dem Hünengrab. Auf der windabgewandten Seite des Grabes blieb Tahn keuchend stehen, während die Fern kaum außer Atem waren.

»Ich bin Daen«, sagte der Fernhauptmann leise. Er schenkte Tahn ein schiefes Lächeln – sie machten sich erst hier und jetzt miteinander bekannt – und streckte die Hand aus.

»Tahn.« Er umfasste die Hand des Fern in freundschaftlichem Griff.

»Ich weiß. Das hier sind Jarron und Aelos.« Daen wies auf die zwei Fern hinter ihm. Beide nickten zum Gruß. »Willst du uns jetzt erzählen, warum du Hals über Kopf auf mehrere Cullach Bar’dyn zugestürmt bist?« Daens Lächeln wurde fragend.

Tahn sah in Richtung der vorrückenden Armee. Sie war immer noch weit entfernt. Aber er malte sie sich vor seinem inneren Auge aus: Ein Cullach allein war tausend Mann stark. Und mehrere von ihnen … Bei den tauben Göttern! Und die Bar’dyn: Ein Volk von Stilletreuen, zwei Köpfe größer als die meisten Menschen und doppelt so kräftig, mit Haut, die wie Ulmenrinde, aber zäher und dehnbarer war.

Er lauschte. Nur die Schritte schwerer Füße auf Schiefer in der Ferne. Die Bar’dyn schlugen keine Trommel, stießen in kein Horn. Das Fehlen der Geräusche ging ihm unter die Haut wie die Stille eines Spätherbstmorgens, bevor Vieh geschlachtet wurde, um Vorräte für den Winter anzulegen.

Tahn sah wieder Daen an. Sie hatten eine gewisse Wartezeit zu überbrücken, und der Fernhauptmann hatte eine Antwort verdient. »Es wirkt tollkühn, nicht wahr?« Er bedachte jeden Einzelnen von ihnen mit einem freudlosen Lächeln. »Die Wahrheit? Ich konnte einfach nicht anders.«

Keiner der Fern antwortete. Es war keine Herablassung. Eher so etwas wie entwaffnende Geduld, was Tahn seltsam erschien, da die Fern über geradezu übernatürliche Schnelligkeit und Anmut verfügten. Gaben der Götter. Und sie brachten ihr ganzes Leben mit der Vorbereitung auf den Krieg zu. Endlose Waffenübungen und Wachsamkeit, um eine alte Sprache zu beschützen.

»Ich wäre überhaupt nicht in Naltus, wenn die Stilletreuen nicht wären.« Tahn blickte auf den Bogen auf seinem Schoß hinab und wusste plötzlich nicht mehr, was er eigentlich vorhatte. Sein Bogen – jeder Bogen – war ihm ein sehr teurer, sehr alter Freund. Er schoss schon mit dem Bogen, seit er stark genug war, einen zu spannen. Aber sein Bogen gegen eine Armee? Vielleicht bin ich am Ende doch noch zu tief in die Jauchegrube gewatet.

»Das haben wir uns schon gedacht«, sagte Daen.

Tahn sah dem Fernhauptmann in die Augen, der seinen Blick fragend erwiderte. »Vor zwei Zyklen habe ich noch ein glückliches, nicht weiter bemerkenswertes Leben geführt. In einem Dorf namens Helligtal. Das einzig Interessante an mir war ein quälender Mangel an Erinnerungen. Ich konnte mich an nichts vor meinem zwölften Lebensjahr erinnern. Kurz bevor ich achtzehn wurde … tauchte dann plötzlich ein Sheson auf.«

Der Fern Jarron schnappte nach Luft.

Tahn nickte angesichts dieser Reaktion. »An dem Tag, als ich Vendanji kennenlernte, wurde mir bewusst, dass die Geschichten über die Sheson der Wahrheit entsprechen. Ich sah ihn den Willen lenken. Gegenstände bewegen. Töten. Mit kaum mehr als einem Gedanken.«

»Vendanji ist ein Freund des Königs«, sagte Daen. »Nicht jeder misstraut ihm.«

Tahn lächelte zur Antwort darauf schwach. »Auch in mein Dorf ist er gekommen, unmittelbar bevor die Stilletreuen es erreichten.«

Dann blickte er nach Südwesten, auf Naltus, eine prächtige Stadt, die größtenteils aus dem schwarzen Schiefer errichtet war, der die ausgedehnten Ebenen prägte. Auch im Dämmerlicht vor Sonnenaufgang bot sie einen imposanten Anblick. Sie würde nie funkeln. Sie wurde nicht von tausend Lichtern erhellt wie Decalam oder jede andere große Stadt. Hier herrschte auch kein geschäftiges Treiben von Handwerkern und Händlern. Naltus hatte seinen Ruf nicht Kunst und Kultur zu verdanken. Aber die Stadt selbst war ein eindrucksvolles Gebilde mit starren Umrissen, die von Dauerhaftigkeit und Unerschütterlichkeit zeugten. Sie war einer jener Orte, an denen man sein wollte, wenn ein Sturm losbrach, an denen man weder Wind noch Gewitter fürchtete und an denen der Regen den frischen Geruch sauberer Steine aufsteigen ließ – aber ganz anders als Helligtal mit seinen Hartholzwäldern und seinem Lehmboden.

Was hätte Tahn nicht um trockenen Apfelwein und einen Schwung Lügen in Form von Helligtaler Klatsch gegeben! »Vendanji hat mich überredet, ihm zum Tillinghast zu folgen.«

Diesmal war Aelos derjenige, der einen kehligen Laut ausstieß, der wie eine Warnung klang. Er erinnerte Tahn daran, dass selbst das Volk der Fern – trotz seiner Kampfbegabung und seiner Berufung zu Wächtern der Bundessprache – niemals den Tillinghast aufsuchte.

»Bist du bis an den äußersten Rand gelangt?«, fragte Daen.

Tahn drehte sich um und sah in Richtung der Saeculoren. Die Bergkette ragte als dunkler, gezackter Schattenriss im Osten auf. Unglaublich hoch. Ja, er war dorthin gelangt, und mit ihm die wenigen Freunde, die ihn aus Helligtal begleitet hatten. Doch nur er allein hatte an der Kante am äußersten Rand von allem gestanden, an einem Ort, wo die Erde sich erneuerte – oder einst erneuert hatte.

Er hatte dort einem Draethmorte gegenübergestanden, einem der alten Diener des Gotts des Widerspruchs. Mehr noch: Er hatte sich der schrecklichen Umarmung der sonderbaren Wolken gestellt, die jenseits der Klippe des Tillinghast hingen. Sie hatten ihm irgendwie alle Entscheidungen seines Lebens vor Augen geführt – die, die er getroffen hatte, und die, die er nicht gefällt hatte. Es war schrecklich zu sehen, dass man die Gelegenheit versäumt hatte, einem Freund zu helfen. Oder einem Fremden. Als diese Wolken ihn umschlungen hatten, hatten sie ihm auch die Folgen seiner Entscheidungen gezeigt, mögliche Zukünfte. Die schwere Last dieses Wissens hatte ihn beinahe umgebracht.

Sie schmerzte noch immer.

Aber er hatte den Draethmorte überlebt. Und die Wolken. Es war ihm gelungen, indem er herausgefunden hatte, dass er über eine besondere Fähigkeit verfügte: die, einen leeren Bogen zu spannen, einen Teil von sich selbst zu verschießen. Er konnte es nicht besser erklären. Es war, als würde man eine seltsame Mischung aus Gedanken und Gefühlen verschießen, und er fühlte sich danach kalt bis ins Mark und unvollständig. Vermindert. Wenigstens für eine Weile. Vielleicht war ihm in der Wildnis von Steinsberg irgendetwas zugestoßen. Vielleicht hatte der gespenstische Grabräuber, dem er dort begegnet war, ihn berührt: seinen Verstand oder seine Seele, womöglich gar beides. Ob nun der Grabräuber oder etwas anderes, irgendetwas hatte ihm geholfen, sich am Tillinghast selbst zu verschießen, obwohl er sich verdammt sicher war, es nicht noch einmal tun zu wollen, und er es ohnehin nicht recht zu beherrschen vermochte.

»Ja, wir sind an den äußersten Rand gelangt«, sagte er schließlich.

Er sah Daen an, dass dieser einiges darüber wusste, was jenseits der Saeculoren lag. Aber der Fernhauptmann war so höflich, nicht weiter nachzuhaken.

Doch es verschaffte Tahn eine gewisse Erleichterung, sich einiges von dem, was geschehen war, von der Seele zu reden. »Nahe beim Gipfel hat Vendanji mein Gedächtnis wiederhergestellt. Er dachte, es würde mir helfen, dort oben zu überleben.«

Jarron warf einen Blick auf die Bergkette der Saeculoren. »Hat es geholfen?«

Tahn wusste keine Antwort darauf und zuckte nur die Achseln.

Daen legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Der Sheson glaubte, dass du ihm, wenn du den Tillinghast überleben würdest, helfen könntest, die Stille diesmal zurückzuschlagen. Lerne nun diejenigen kennen, die dem Gott des Widerspruchs ergeben sind … und für ihn in den Krieg ziehen.« Er wies mit dem Kopf in Richtung der Armee, die auf sie zumarschierte.

Schon zweimal – in den Kriegen des Ersten und Zweiten Eides – hatten die Völker der Ostlande die Stilletreuen zurückgeschlagen und so die Tyrannei verhindert, auf die sie es anscheinend abgesehen hatten. Doch nun kehrten die Stilletreuen zurück.

»Das trifft mehr oder minder zu«, sagte Tahn, »aber seit dem Tillinghast kämpfe ich eigentlich nur gegen einen Kopf voll schrecklicher Erinnerungen. Seit zwei verdammten Tagen tue ich nichts anderes, als im Anwesen eures Königs herumzusitzen und mich zu erinnern.« Sein Griff um den Bogen verstärkte sich, und er fuhr mit zusammengebissenen Zähnen fort: »Da ist es besser, sich zu bewegen. Besser, jemanden … oder etwas für diese Vergangenheit zur Verantwortung zu ziehen.«

»Untätigkeit macht Erinnerungen bitter.« Daens Bemerkung klang nach einem Sprichwort, das eine Mutter gebrauchen mochte, um ein träges Kind auszuschimpfen.

Tahn zwang sich zu einem Lächeln, aber es fühlte sich wie das eines Wahnsinnigen an. »Vendanji war derjenige, der mir die Erinnerungen überhaupt erst genommen hat. Er dachte, es würde mich schützen …«

»Vor der Stille«, vollendete Daen. »Also bist du aus einer Art blinder Rache hier. Zornig auf die Welt. Zornig auf das, was du für schlechte Entscheidungen der Leute hältst, denen du etwas bedeutest.«

Der Wind erstarb und umhüllte sie mit mürrischem Schweigen, einem Schweigen, das nur vom dumpfen Dröhnen Tausender schwerer Füße durchbrochen wurde, die über die Schieferebene auf sie zukamen.

In das Schweigen hinein sagte Tahn: »Nein.«

»Nein?« Daen neigte skeptisch den Kopf zur Seite.

»Ich bin kein wütender Junge.« Tahns Lächeln wurde sanfter, und er bedachte den Fernhauptmann mit einem ernsten Blick. »Wenn ich tollkühn bin, dann deshalb, weil ich Angst habe. Und zornig bin. Ob ich ein paar Stilletreue hiermit niederstrecken will?« Er klopfte auf seinen Bogen. »Bei den stummen Höllen, ja! Aber als ich sie heute Morgen von meinem Fenster im Anwesen des Königs aus gesehen habe … Ich will zum Abort eines toten Gottes werden, wenn ich zulasse, dass die Fern dieser Armee, die vermutlich meinetwegen hier ist, ohne mich entgegentreten.« Er deutete auf das Heer der Stilletreuen, das von Nordosten her anrückte.

Daen musterte Tahn eine ganze Weile. »Es ist tollkühn … aber vernünftig.« Er grinste. »Was rede ich da! Ich klinge so widersprüchlich wie ein Mann aus Helligtal.« Sein Grinsen verblasste zu einer Art dankbarer Ernsthaftigkeit. »Ich bin froh, dass du wach warst und sie von deinem Fenster aus gesehen hast, Tahn. Aus irgendeinem Grunde haben unsere Kundschafter es versäumt, uns darüber zu unterrichten.«

Tahn war früh aufgestanden. Das tat er immer, um die Morgendämmerung zu begrüßen oder sie sich vielmehr auszumalen, bevor sie kam. Diese tröstlichen Momente waren ihm mittlerweile wichtiger denn je, da ihn Tag und Nacht Bilder quälten. Bilder aus dem Tillinghast. Bilder aus einer Vergangenheit, an die er sich seit kurzem wieder erinnern konnte. Manchmal ließen ihn die Bilder am ganzen Körper zittern. Gelegentlich brach ihm der Schweiß aus.

Tahn blickte wieder nach Osten und freute sich auf den Sonnenaufgang. Die Farbe des Mondes stach ihm ins Auge. Ein rötlicher Schimmer. Mondfinsternis. So wie es aussah, war die Mondfinsternis vor einigen Stunden vollständig gewesen. Secula, der erste Mond, zog seine Bahn durch die Penumbra der Sonne. Tahn hatte schon einmal eine vollständige Mondfinsternis gesehen, in … Albenhain! Es nahm kein Ende mit den Erinnerungen. Er hatte mehrere Jahre seines jungen Lebens im Hain verbracht, einem Ort, der dem Studium des Himmels gewidmet war, in einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern. Diese eine Erinnerung zumindest war glücklich.

Hat die Mondfinsternis irgendetwas mit der Armee der Stilletreuen zu tun?

Ein interessanter Gedanke, doch es blieb keine Zeit, ihn weiter zu verfolgen. Das dumpfe Dröhnen der Füße Tausender Stilletreuer, die über die steinige Ebene marschierten, wurde lauter und kam näher.

»Wir warten, bis die Erste Legion auf dem Schiefer zu uns stößt.« Daen sprach mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. »Alles, was wir beobachten, melden wir unseren Schlachtenstrategen.«

Sie hatten kein Verständnis für Tahns Bedürfnis hinauszurennen und sich dieser Armee zu stellen, ebenso wenig, wie seine Freunde es verstanden hätten, insbesondere Sutter und Mira – Sutter, weil er schon mit Tahn befreundet war, seit dieser in Helligtal angekommen war, und Mira, weil sie ihn (wenn er sich nicht irrte) liebte. Also hatte er nur gemeldet, dass die Stille anrückte, und sich dann unbemerkt aus dem Anwesen des Königs davongeschlichen.

»Ich tue schon nichts Törichtes«, versicherte Tahn Daen und begann, an den Rand der Senke zu kriechen.

Der Fernhauptmann packte Tahn am Arm. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Warum bist du so erpicht darauf zu sterben?«

Tahn warf einen Blick auf den Bogen in seiner Hand und sah dann unvermittelt wieder den Fern an. »Ich will nicht sterben. Und ich will auch nicht, dass ihr meinetwegen sterbt.«

Der Fernhauptmann ließ ihn nicht los. »Ich habe die Blutrünstigkeit des Menschen noch nie verstanden, selbst dann nicht, wenn sie einem guten Zweck gilt. Sie macht ihn töricht.«

Tahn seufzte; er konnte die Einschätzung nachvollziehen. »Mir geht es nicht um Ruhm und Ehre.« Er biss wieder die Zähne zusammen, da die Unzufriedenheit, mit der er sich nun schon seit Tagen herumschlug, ihn erneut übermannte – Erinnerungen an eine vergessene Vergangenheit, Bilder aus möglichen Zukünften. »Aber irgendetwas muss ich tun.«

Der Fern hielt ihn weiter fest und wägte ab. Am Ende nickte er. »Versprich mir nur, dass du dich nicht ins Getümmel stürzt, bevor wir den König mit der Ersten Legion durch die Stadtmauer vorrücken sehen.«

Tahn stimmte zu, und die beiden krochen zum Rand der Senke und spähten über die Kante auf die felsige Ebene hinab. Was sie sahen, verschlug Tahn den Atem: mehr Bar’dyn, als er sich je hätte vorstellen können. Die Reihe erstreckte sich bis an den Rand seines Gesichtsfelds, und dahinter kam Reihe um Reihe um Reihe … »Liebe tote Götter«, flüsterte Tahn kaum hörbar. Naltus würde fallen. Trotz der beträchtlichen Fähigkeiten der Fern. Trotz Vendanjis Hilfe und seiner Shesonkräfte.

Wir können nicht gewinnen. Verzweiflung durchströmte ihn, wie er es bisher nur ein einziges Mal erlebt hatte – am Tillinghast.

Und sie rückten weiter vor. Keine Schlachtrufe. Kein Hörnerschall. Lediglich der stetige Marsch über trockenes, dunkles Gestein. Nur noch hundert Schritt entfernt stampften zahllose Füße auf den Schiefer wie eine Kriegsmaschine und kamen immer näher. Tahn schlug das Herz bis zum Hals.

Neben ihm sagte Daen etwas in einer Sprache, die Tahn nicht verstand. Es klang nach einem Gebet … und einem Fluch.

Dann sah er etwas, das ihn in seinen Träumen noch lange Zeit verfolgen sollte. Die Armee der Stille machte dreißig Schritt von ihm entfernt Halt. Die vorderste Reihe der Bar’dyn teilte sich, und eine langsame Prozession schritt aus der Horde hervor, angeführt von einer hochgewachsenen, verdorrten Gestalt, die in durchscheinende Gewänder in der Farbe getrockneten Blutes gehüllt war. Velle! Bei den stillen Höllen! Die Velle waren wie die Sheson Willenslenker, nur dass sie nicht bereit waren, den Preis für ihr Lenken selbst zu zahlen. Sie schöpften ihn aus anderen Quellen.

Die Kleider des Velle raschelten, als der Wind wieder auffrischte und über die Schieferebene fegte. Tahns Kehle war wie zugeschnürt. Nicht wegen des Velle, oder zumindest nicht wegen des Velle allein, sondern wegen dem, was er umklammert hielt: eine Handvoll schwarzer Führleinen, an deren Ende jeweils … ein Kind von nicht mehr als acht Jahren stand.

»Nein«, flüsterte Tahn. Er senkte das Gesicht auf den Schiefer, weil er den Blick abwenden musste und sich nicht eingestehen wollte, zu welchem Zweck die Kinder dem Velle offensichtlich dienten.

Als er wieder aufschaute, waren zwei weitere Velle vorgetreten. Einer wirkte weiblich und war in ein majestätisches, mitternachtsblaues Kleid gehüllt. Das Gewand hatte breite Ärmel- und Rockaufschläge und polierte schwarze Knöpfe, die in Dreierreihen an der Vorderseite hinab verliefen. Die breit gepolsterten Schultern des Kleides verliehen der Velle ein eindrucksvolles, königliches Aussehen. Der dritte Velle hätte ein beliebiger Knecht von jedem Bauernhof in Helligtal sein können. Er war in einen schlichten Mantel gekleidet, der bequem, warm und abgetragen wirkte. Auch seine Hose und seine Stiefel waren nicht weiter bemerkenswert. Er schien nicht ausgehungert zu sein. Auch nicht verärgert. Er stand einfach da und betrachtete die Stadt, wie es wohl jeder nach einer langen Wanderung getan hätte.

Und in den Händen dieser Velle lagen die Leinen von sechs Kindern, die sich unter ihren Fesseln krümmten. Zerlumpte, behelfsmäßige Kittelschürzen hingen ihnen von den dürren Schultern. Jeder Windstoß riss an den zu weiten, verschmutzten Kleidern und enthüllte Haut, die sich straff über Rippen spannte, oder knotige Beine, die wirkten, als könnten sie bei der ersten Berührung zerbrechen.

Am schlimmsten war der Gesichtsausdruck der Kinder – gehetzt, verängstigt und fürs Leben gezeichnet. Es war ein Gesichtsausdruck, den Tahn kannte. Ein Gesichtsausdruck, der dem vieler Kinder auf dem Mal glich, einem öden Ort, an den er sich erst kürzlich wieder erinnert hatte. Einem Ort, an dem er einen Großteil seiner Kindheit verbracht hatte. Dort hatte er gelernt zu kämpfen. Misstrauisch zu sein. Das, was Verlassene eben lernten.

Allerdings war nicht jede Erinnerung an das Mal schlecht. Ein Name und ein Gesicht blitzten in seinen Gedanken auf: Alemdra. Aber die schöne Erinnerung an ihr Gesicht wandelte sich rasch. Alte Trauer regte sich erneut, als er an den Grat dachte, zu dem sie gelaufen waren, um den Sonnenaufgang zu beobachten, nur um stattdessen mit anzusehen, wie eine Freundin ihren Tagen ein Ende setzte. Devin. Von manchen Wunden konnte man, wie er erkannte, einfach nicht genesen. Keine Wiedergutmachung war vollständig genug.

Die Velle rissen an den Fesseln und zogen die Kleinen von beiden Seiten eng an sich. Die Kinder schrien nicht auf und beklagten sich nicht, aber einige verzogen vor Schmerz das Gesicht. Die meisten versuchten nur, das Gleichgewicht zu halten und nicht schwer auf den Schiefer zu stürzen.

Dann griffen die Velle nach unten und schlangen die Finger um die Handgelenke der Kleinen.

Die Legion des Fernkönigs war noch nicht aus der Stadtmauer vorgerückt. Die Belagerung von Naltus hatte noch nicht begonnen. Aber Tahn wusste, dass der Angriff, den diese Velle ins Werk setzten und mit dem Leben der sechs Kinder speisten, vernichtend sein würde. Naltus würde vielleicht zerstört werden, bevor auch nur ein einziges Schwert gehoben wurde.

Neben ihm fluchte der Fernhauptmann erneut und kroch zum Hünengrab hinunter, um sich mit seinen Gefährten zu beraten. Was soll ich nur tun? Tahns Griff krampfte sich fester um seinen Bogen. Die Geschichten über einsame Helden, die sich gegen ganze Armeen stellten, waren nichts als Märchen der Autoren, unterhaltsam zu lesen, aber unwahr. Völlig unwahr. Er könnte ein paar Pfeile auf die Willenslenker abschießen, bevor auch nur einer der Bar’dyn reagieren konnte. Aber das würde nicht ausreichen, sie aufzuhalten oder die Kinder zu retten.

Jeder Velle streckte eine Hand nach Naltus aus. Tahn musste etwas tun. Jetzt.

Ohne weiter nachzudenken, kletterte er auf die Schieferebene und baute sich breitbeinig auf. Er hob den Bogen mit einer fließenden, schnellen Bewegung, während er einen Pfeil anlegte.

Leise begann er: »Den Bogen spannen meine Arme, doch der Wille …«

Er brach ab und vollendete den Satz nicht, den er schon sein Leben lang sprach, wann immer er den Bogen spannte, einen Satz, den sein Vater ihn gelehrt hatte, um herauszufinden, ob ein Schuss statthaft war. Ob es richtig war zu töten. Sein Vater und Vendanji hatten gewollt, dass er nie die Schuld auf sich lud, unrechtmäßig Mensch oder Tier zu töten, weil sie geglaubt hatten, dass er eines Tages für sie zum Tillinghast würde gehen müssen. Es war wahrscheinlicher gewesen, dass er dort überleben würde, wenn er nicht mit dem Makel eines falschen oder selbstsüchtigen Schusses behaftet war.

Solange er sich erinnern konnte, hatte er diese Worte gesprochen und war in der Lage gewesen, die stumme Bestätigung zu spüren, dass das, worauf er zielte, sterben sollte. Oder eben nicht. Gewöhnlich war es nur ein Hirsch, um die Vorräte im Fleischkeller aufzustocken. Aber nicht immer. Vor seinem inneren Auge sah er den Bar’dyn, der sich über seine Schwester Wendra gebeugt und das Kind gepackt hatte, das sie gerade zur Welt gebracht hatte. Er sah sich mit dem Bogen auf ihn zielen, spürte, dass seine Worte ihm rieten, das Geschöpf nicht zu erschießen. Tahn hatte den Wink befolgt, und das vergiftete seither sein Verhältnis zu Wendra.

Er hatte genug von den alten Worten. Die Velle sollten sterben. Er wollte sie töten. Aber er wusste auch, dass er sie niemals alle niederstrecken würde, nicht einmal mit seiner neugewonnenen Fähigkeit, einen Teil seiner selbst zu verschießen, die er noch nicht zu beherrschen gelernt hatte. Er würde nicht verhindern können, dass sie aus den Kleinen schöpften.

Weitere Bilder. Gesichter, die er vergessen hatte. Gesichter älterer Kinder – dreizehn, vierzehn –, die still ruhten. Für immer still. Von eigener Hand verstummt. Die Verzweiflung des Mals hatte ihnen alle Hoffnung geraubt … Wie Devin, die er nicht hatte retten können.

Und was war mit den Kindern in den Händen dieser Velle? Mit ihrer zerstörten Kindheit? Den langen Nächten, die sie damit verbracht hatten, darauf zu hoffen, dass ihre Eltern kommen und sie retten würden? Der bis ins Mark reichenden Verzweiflung, die denen vorbehalten blieb, die lernten, die Hoffnung aufzugeben? Tahn spürte auch das Ende, das auf jedes einzelne der Kinder wartete, den blendenden Schmerz, der ihnen die Seele aus dem Fleisch reißen und sie in eine zerstörerische Waffe verwandeln würde. Und sie würden nicht einfach nur sterben: Ihre Seelen würden verbraucht sein. Wenn es ein Jenseits gab und dort Verwandte auf sie warteten, würden diese Kleinen nie dorthin finden, weil sie einfach aufgehört haben würden zu existieren.

Leid aus seiner Vergangenheit.

Dieser Augenblick des Leids.

Eine schreckliche Last aus Trauer und Entmutigung.

Dann flüsterte eine Stimme in seinem Verstand das Undenkbare. Etwas Entsetzliches. Etwas nicht Wiedergutzumachendes. Er rang damit. Schrie stumm dagegen an. Aber die düstere Logik war unerbittlich. Und die Velle waren fast bereit.

Er holte tief Atem, verlagerte sein Ziel nur leicht. Und ließ seine abscheuliche Gnade fliegen.

Der Pfeil segelte vor den Schatten des Morgens und den kohlschwarzen Farbspielen des Schiefertals entlang. Und das erste Kind fiel zu Boden.

Durch heiße, stumme Tränen hindurch zielte Tahn schnell erneut, und dann noch einmal. Die Stilletreuen brauchten einige Augenblicke, um zu verstehen, was vorging. Und als sie Tahn schließlich im grauen Dämmerlicht neben dem Dolmen stehen sahen, wirkten sie kurzzeitig verwirrt. Bar’dyn sprangen wie Schutzschilde vor die Velle. Sie verstehen es immer noch nicht.

Wie eine Vogelscheuche – leicht und nachgiebig – fiel ein Kind nach dem anderen. Tahn verfehlte keines. Kein einziges.

Als es getan war, stieß er einen lauten, inbrünstigen Schrei aus, der in die Morgenluft emporstieg – die einzige Stimme auf der ganzen Ebene.

Bar’dyn begannen auf ihn zuzustürmen. Tahn sank auf die Knie, ließ seinen Bogen los und wartete auf sie. Er beobachtete, wie sie näher kamen, während er über die erbärmliche Tat nachsann, die er gerade begangen hatte.

Es spielte keine Rolle, dass er wusste, dass er den Kindern eine beträchtliche Gnade erwiesen hatte, und auch nicht, dass er selbst den Entschluss dazu gefasst hatte. In diesem Augenblick war es noch nicht einmal wichtig, ob das, was er getan hatte, Naltus gerettet hatte.

Diese Kleinen, ihre erstaunten Mienen, bevor seine Pfeile sie getroffen hatten – oder war es etwa Hoffnung, als sie mich erblickt haben? Sie dachten, ich würde sie retten … Bis seine Pfeile dann ihr Ziel gefunden hatten.

Der Schiefer erbebte unter dem Anrücken der Bar’dyn, die mit ruhigen, vernünftigen Gesichtern auf ihn zustürmten. Tahn fragte sich bereits, was er getan hätte, wenn er noch einmal vor diesen Schüssen gestanden hätte. Die Bitterkeit übermannte ihn, und er sehnte sich plötzlich nach der Erlösung, die ihm die Bar’dyn mit einem raschen Tod bescheren würden. Dann rissen ihn starke Hände an den Füßen zurück, und ein zweites Paar Hände hob seinen Bogen auf. Die Fern schleuderten Tahn in die Sicherheit des Hünengrabs. Er drehte sich um und beobachtete, wie Daen und sein Trupp den Eingang zum Grab verteidigten, während die Bar’dyn auf sie eindrangen.

Jarron fiel fast sofort, so dass nur Daen und Aelos blieben, um gegen drei Stilletreue zu kämpfen.

Tahn konnte nicht aufhören zu zittern. Es hatte nichts mit der Schlacht zu tun, die den Soliel bald dunkel vor Blut färben würde. Es lag daran, auf welche Weise die Stilletreuen ihren Krieg führen würden. Daran, wozu die Menschen gezwungen sein würden, um sich zu wehren. An Entscheidungen wie der, die er gerade gefällt hatte.

Schlagartig wichen die Bar’dyn zurück. Die beiden Fern tauschten einen verwirrten Blick, die Schwerter immer noch vor sich in Verteidigungshaltung erhoben. Dann kam langsam einer der Velle in Sicht. Er blieb stehen und spähte an den Fern vorbei ins Hünengrab.

»Du lässt dich zu sehr von deiner eigenen Furcht verzehren, Quilleszent. Ungeschliffen und unerprobt, obwohl du den Tillinghast überlebt hast.« Seine Worte schwebten durch die Luft wie ein leises, unheilvolles Gebet. »Hast du herausgefunden, was du bist? Was du tun solltest?« Der Velle presste den Mund zu einer grimmigen Linie zusammen.

Tahn schüttelte voller Trotz und Verwirrung den Kopf. Ganz gleich, ob der Tillinghast Vendanji nun bewiesen haben mochte, dass Tahn in der Lage sein würde, sich gegen die Stille zu stellen, der Gedanke an seine eigene Zukunft erschien ihm als Belastung. Er wollte es lieber gar nicht wissen.

»Du bist eine Marionette, Quilleszent. Oder warst es. Aber du hast deine Schnüre durchtrennt, nicht wahr? Indem du diese Kinder getötet hast. Und für uns bist du …«

Ein Schwall schwarzer Galle schoss aus dem Mund der Kreatur, überzog ihre zerstörten Lippen und lief ihr übers Kinn. Eine Klinge drang aus ihrem Bauch hervor. Noch im Fallen reckte der Velle Tahn eine dürre Hand entgegen, und eine Energieexplosion schleuderte Tahn rückwärts gegen den höchsten Stein des Hünengrabs. Blut spritzte ihm aus Nase und Mund, und ein stechender Schmerz zuckte hinter seinen Augen. Die Prellungen, die die Muskeln und Knochen seines Rückens davontrugen, gingen tief und waren sofort zu spüren.

Er ging zu Boden. Ihm verschwamm alles vor den Augen, aber er sah noch, wie Daen und Aelos und die Bar’dyn schnell den Blick nach links wandten, auf das Wispern zahlloser Füße zu, die über den Schiefer der Armee der Stille entgegeneilten. Die Fernlegion zog in die Schlacht.